367. Die Wanderung der Ansivaren

Die Friesen waren in einen leeren Landstrich unweit des Rheines vorgedrungen, hatten schon ihre Stätte genommen und die Äcker besäet, da wurden sie von den Römern mit Gewalt wieder ausgetrieben. Das Erdreich stand von neuem leer, die Ansivaren rückten hinein: ein nicht zahlreiches Volk, aber stark durch den Beistand, den ihm die umliegenden Stämme mitleidig leisteten, weil es heimatlos und von den Chauken aus seinem Sitz verjagt worden war. Bojokal, der Ansivaren Führer, wollte sich und sein Volk unter den Schutz der Römer stellen, wenn sie diesen leeren und öden Platz ihnen für Menschen und Viehherden lassen würden. Das Land habe vorzeiten den Chamaven, dann den Tubanten und hierauf den Usipiern gehört; und weil den Göttern der Himmel, den Menschen die Erde zustehe, so dürfe jedes Volk ein leeres Land besetzen. Darauf wandte Bojokal (die Abneigung der Römer voraussehend) seine Augen zur Sonne, rief die übrigen Gestirne an und stellte sie öffentlich zur Rede: Ob sie den leeren Grund und Boden bescheinen wollten? Sie möchten lieber das Meer wider diejenigen ausschütten, welche also den Menschen das Land entzögen. Die Römer aber schlugen das Gesuch ab und wollten keinen andern Richter anerkennen über das, was sie zu geben oder zu nehmen hätten, als sich selbst. Das antworteten sie den Ansivaren öffentlich und boten doch zugleich dem Bojokal ein Grundstück für ihn selbst, als ihrem guten Freund, an (den sie sich durch ein solches Geschenk geneigt zu erhalten trachteten). Bojokal verachtete das, um dessentwillen er sein Volk hätte verraten sollen, und sagte: »Haben wir gleich keine Erde, auf der wir leben können, so soll uns doch keine gebrechen, auf der wir sterben.« Darauf zogen sie feindlich ab und riefen ihre Bundesgenossen, die Brukterer, Tenkterer und noch andere, zum Kriege auf. Der Römerfeldherr überzog schnell die Tenkterer, daß sie abstehen mußten, und wie diese sich lossagten, befiel auch die Brukterer und die andern Furcht. Da wichen die verlassenen Ansivaren in das Gebiet der Usipier und Tubanten; [343] die wollten sie nicht leiden. Von da vertrieben, kamen sie zu den Katten und dann zu den Cheruskern. Über dem langen unsteten Herumziehen auf fremdem Boden, bald als Gäste, bald als Dürftige, bald als Feinde, wurde ihre Mannschaft und mannbare Jugend aufgerieben. Die Unmündigen fielen als Beute andern zuteil.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Zweiter Band. 367. Die Wanderung der Ansivaren. 367. Die Wanderung der Ansivaren. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0334-C