[287] Sturmsegen 1

Der Sturm braust über Helgoland,
Und kann er nicht splittern Eich' und Palme,
So rüttelt und knickt er verdorrte Halme
Und ächzt im Schlot und wühlt im Sand
Und schleudert hinan, die rothe Wand
Mit mauerbrechenden Widdern zu fällen,
Wuthschäumende, weißbevließte Wellen.
Der laute Sturm ist ein schlimmer Gast,
Ein schlimmrer doch sein stummer Begleiter,
Der Hunger. Er zieht euch so bald nicht weiter,
Wenn ihm dieß Eiland zur Wohnstatt paßt.
Er hat die Schlüssel der Hausfrau erfaßt,
Er löscht des Herdes Gluth, die ihm peinlich,
Und scheuert die Schüsseln graunhaft reinlich.
Der Loots' am Fall'm blickt aus ins Meer,
Ins Meer, das er sonst mit Wohlgefallen
Sah als sein Kornfeld wogen und wallen;
Die Ernte versagt's jetzt. – Sorgenschwer
Späht er nach Verdienst, nach Brod umher;
Zwar ruft in manch Schiff in Noth und Bedrängniß,
Ans Land doch bannt ihn des Sturms Verhängniß.
[288]
Dort steht sein Weib, sonst unverzagt;
Jetzt denkt's an die leere Vorrathkammer,
Ein gräßlich Bild, wie der »lange Jammer!«
Ihr Kind hat die letzte Kartoffel genagt;
Kein Schiff aus Elb' und Weser sich wagt
Zur Insel herein, zu stillen den Mangel,
Kein Boot kann hinaus mit Netz und Angel.
Das Eiland umgürtet der tosende Wall,
Schon Wochen währt's und noch kein Ende!
Wie Sterbende drücken sich Männer die Hände,
Die Kinder vergaßen Spiel und Ball;
Kein Rauch entsteigt den Kaminen all,
An Salz nur fehlt's nicht; Salzschäume stürzen
Wie Hohn, wo keine Speise zu würzen.
Fort braust der Sturm. – Sieh, dort im Orkan
Rollt näher ein schwarzes Ungeheuer,
Ein Riese von Wrack, ohne Mast und Steuer;
Zum Eiland treibt's, an Bord ist kein Mann.
Jetzt bäumt sich's zum letzten Sprung hinan
Gleich einem zu Tod getroffenen Rosse,
Dann fällt's! – Rings schäumen die Wogenkolosse.
Ein Krach! Geborsten stößt's auf den Strand,
Rothdunkles Blut entströmt der Wunde,
Doch lieblicher Weinduft quillt im Runde.
Ein Ruck! Da rollen in rothen Sand
Bordüber die Tonnen aus Cypern entsandt,
Da kollern bis vor des Lootsen Schwelle
Granaten und goldne Orangenbälle.
[289]
Da rieselt das blonde Reiskorn sacht,
Da taucht viel Edelfrucht aus dem Raume
Von Dattelpalm' und vom Feigenbaume.
Messina lud und versandte die Fracht,
Die Rettung der Frieseninsel gebracht;
Dem Nord füllt Süd die Vorrathkammer,
Sein Theil auch fällt dem »langen Jammer«.
Nun übe dein Strandrecht, Helgoland,
Befrachte die Körbe und fülle die Flaschen!
Die Alten zechen, die Jungen naschen
Und spielen Granatenball am Strand.
Ein Zauber verwandelt das Inselland,
Daß wie ein Orangenhain in Düften
Es schwimmt, umhaucht von italischen Lüften.
Am Fall'm lehnt, nicht mehr sorgenschwer,
Doch wortkarg stets und unbeweglich
Der Lootse heut' noch, wie alltäglich,
Berechnet stumm Gewinn und Beschwer,
Und blickt hinaus ins weite Meer
Und sieht mit stillem Wohlgefallen
Sein reiches Kornfeld wogen und wallen.

Fußnoten

1 »Der lange Jammer« ist die volksthümliche Benennung des Armenhauses auf Helgoland.

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TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Gedichte. In der Veranda. Bilder und Gestalten. Sturmsegen. Sturmsegen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0CB5-B