[96] Der Lesehalle deutscher Studenten in Prag, zur 25jährigen Feier ihres Bestehens

Pfingsten 1873.


Glückauf! Die Stufen sind erklommen
Zum ersten Halt, zur schönen Rast!
Die Eurem Zug vorangeglommen,
Die Leuchte flammt noch unverblaßt;
Sie ist im Aeltsten wie im Jüngsten
Zur Gluth des Einen Geists entbrannt,
Der einst, ein neues andres Pfingsten,
Den Hader Babels siegreich bannt.
Wenn heut die Jubelbecher klingen,
Wenn heut die Bundesfahnen wehn,
Nachhallen rings wird Euer Singen
Und jedes Herz auch wird's verstehn.
Doch von der Warte, die erklommen,
O blickt aufs bunte Feld der Zeit,
Seht die da gingen, die da kommen,
Die Wandrer vor Euch weit, gar weit!
Das junge Völklein Eurer Ahnen,
Die Tausend', die sich selbst verbannt,
Sie nahmen auf des Elends Bahnen
Im Busen mit solch leuchtend Pfand;
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Drum, wo sich ihre Pfade wanden,
Zog Lichtgeleis die helle Spur,
Und wo ihr neues Heim sie fanden
Glühn Ruhmessterne im Azur.
Die spätre Schaar an ihrer Stelle,
Die rüstig zu dem Bauwerk stand,
Sie führt' in einer Hand die Kelle,
Das Schwert doch in der andern Hand.
Zum mächt'gen Quadernbau im Grunde
Wahrzeichen legt' sie in den Stein:
Gepräg' vollgültig noch zur Stunde,
Den Freibrief für ein stolzes Sein.
Sie baut' in deutscher Art und Sitte;
Der Mörtel, erst noch mild und weich,
Erhartet bald zum festen Kitte,
Der aufrecht hält den Bau: dieß Reich. –
So baut auch Ihr! Denn nicht verderbe
Der alte Feind das Werk aufs Neu;
Der deutschen Väter heilig Erbe
Behüten wollt Ihr wach und treu.
Ein Erbe, nicht blos Einem Stamme,
Der ganzen Menschheit kostbar Gut,
Des Völkerbundes Oriflamme,
Nur anvertraut der treu'sten Hut.
Mit Allen wollt Ihr freudig theilen
Das lautre Gold, wonach Ihr grabt;
Das Weh auch Andrer soll er heilen
Der Jungborn, der Euch stählt und labt.
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Deutsch sein heißt: offne Freundesarme
Für alle Menschheit ausgespannt,
Im Herzen doch die ewigwarme,
Die einz'ge Liebe: Vaterland!
Deutsch sein heißt: sinnen, ringen, schaffen,
Gedanken sä'n, nach Sternen spähn
Und Blumen ziehn, – doch stets in Waffen
Für das bedrohte Eigen stehn.
Im Zweifel stark, im Glauben schwächer,
Festhalten, was als wahr erfaßt,
Gebeugtem Recht erstehn als Rächer,
Zur That voll Kraft, doch ohne Hast;
Nicht blind auf stolze Größen bauen,
Nur hoch die ehren, die erprobt;
Erst strenges Prüfen, dann Vertrauen,
Ist deutsche Weise hochgelobt.
Drum in den Waffen, die Euch schmücken,
Die schärfer doch als schärfster Stahl,
Seh' ich das Leuchten blos; es zücken
Die Musen nur des Lichtes Strahl.
Die blanke Wölbung Eurer Schilder
Sie wird ein aufgeschlag'nes Buch,
In das die Schönheit ihre Bilder,
Die Wahrheit eingrub ihren Spruch.
Dem Wald verkündet Wipfelsausen
Im Morgenhauch den nahen Tag;
So zieht durch Völkerstämm' ein Brausen
Und weckt, was noch im Schlummer lag.
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Der Priester grüßt die heil'gen Brode
Schon in der grünend weh'nden Saat;
Es krönt manch Festkranz heut als Bote
Schon künft'ge, kranzeswürd'ge That.
So zieht denn ins Jahrhundert weiter,
Der Väter, wie der Enkel werth,
Bauleute Ihr und Glaubensstreiter,
Friedsinnend und doch kampfbewehrt.
Hinan! Voran! so gehn die Bahnen,
Die Euch der Gott im Busen weist,
Der deutsche Geist rausch' in den Fahnen,
Denn er auch ist ein heil'ger Geist.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Gedichte. In der Veranda. Zeitklänge. Der Lesehalle deutscher Studenten in Prag. Der Lesehalle deutscher Studenten in Prag. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0EE5-2