[180] Der letzte Dichter

»Wann werdet ihr, Poeten,
Des Dichtens einmal müd'?
Wann wird einst ausgesungen
Das alte, ew'ge Lied?
Ist nicht schon längst zur Neige
Des Ueberflusses Horn?
Gepflückt nicht jede Blume,
Erschöpft nicht jeder Born?«
So lang der Sonnenwagen
Im Azurgleis noch zieht,
Und nur Ein Menschenantlitz
Zu ihm empor noch sieht;
So lang der Himmel Stürme
Und Donnerkeile hegt,
Und bang vor ihrem Grimme
Ein Herz noch zitternd schlägt;
[181]
So lang nach Ungewittern
Ein Regenbogen sprüht,
Ein Busen noch dem Frieden
Und der Versöhnung glüht;
So lang die Nacht den Aether
Mit Sternensaat besät,
Und noch Ein Mensch die Züge
Der goldnen Schrift versteht;
So lang der Mond noch leuchtet,
Ein Herz noch sehnt und fühlt;
So lang der Wald noch rauschet
Und einen Müden kühlt;
So lang noch Lenze grünen
Und Rosenlauben blühn,
So lang noch Wangen lächeln
Und Augen Freude sprühn;
So lang noch Gräber trauern
Mit den Cypressen dran,
So lang Ein Aug' noch weinen,
Ein Herz noch brechen kann:
So lange wallt auf Erden
Die Göttin Poesie,
Und mit ihr wandelt jubelnd
Wem sie die Weihe lieh.
Und singend einst und jubelnd
Durchs alte Erdenhaus
Zieht als der letzte Dichter
Der letzte Mensch hinaus. –
[182]
Noch hält der Herr in Händen
Die Schöpfung, ungeknickt
Wie eine frische Blume,
Auf die er lächelnd blickt.
Wenn diese Riesenblume
Dereinstens abgeblüht
Und Erden, Sonnenbälle
Als Blüthenstaub versprüht:
Erst dann fragt, wenn zu fragen
Die Lust euch noch nicht mied,
Ob endlich ausgesungen
Das alte, ew'ge Lied?

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Gedichte. Gedichte. Lied und Leben. Der letzte Dichter. Der letzte Dichter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0EFA-3