[26] Die Manen

Ein Fragment


Schüler.


Weiser Meister! ich war gestern in den Katakomben der Könige von Schweden. Tags zuvor hatte ich die Geschichte Gustav Adolphs gelesen, und ich nahte mich seinem Sarge mit einem äusserst sonderbaren und schmerzlichen Gefühl, sein Leben und seine Thaten gingen vor meinem Geiste vorüber, ich sah zugleich sein Leben und seinen Tod, seine große Thätigkeit und seine tiefe Ruhe in der er schon dem zweiten Jahrhundert entgegen schlummert. Ich rief mir die dunkle grausenvolle Zeit zurück in welcher er gelebt hat, und mein Gemüth glich einer Gruft, aus welcher die Schatten der Vergangenheit bleich und schwankend herauf steigen. Ich weinte um seinen Tod mit heissen Thränen, als sey er heute erst gefallen. Dahin! Verlohren! Vergangen! sagte ich mir selbst, sind das alle Früchte eines großen Lebens? Diese Gedanken, diese Gefühle überwältigten mich, ich mußte die Gruft verlassen, ich suchte Zerstreuung, ich suchte andere Schmerzen, aber der unterirdische trübe Geist verfolgt mich allenthalben, ich kann diese Wehmuth nicht los werden, sie legt sich wie ein Trauerflohr über meine Gegenwart; dies Zeitalter däucht mir schaal und leer, ein sehnsuchtsvoller Schmerz zieht mich gewaltig in die [27] Vergangenheit. Dahin! Vergangen! ruft mein Geist. O möchte ich mit vergangen seyn! und diese schlechte Zeit nicht gesehen haben, in der die Vorwelt vergeht, an der ihre Größe verlohren ist.


Lehrer.


Verlohren junger Mensch? Es ist nichts verlohren, und in keiner Rücksicht; nur unser Auge vermag die lange unendliche Kette von der Ursache zu allen Folgen nicht zu übersehen. Aber wenn du auch dieses nicht bedenken willst, so kannst du doch das nicht verlohren und dahin nennen, was dich selbst so stark bewegt, und so mächtig auf dich wirkt. Schon lange kenne ich dich, und mich däucht, dein eignes Schicksal und die Gegenwart haben dich kaum so heftig bewegt, als das Andenken dieses großen Königs. Lebt er nicht jetzt noch in dir! oder nennst du nur Leben, was im Fleisch und in dem Sichtbaren fortlebt? und ist dir das dahin und verlohren, was noch in Gedanken wirkt, und da ist?


Schüler.


Wenn dies ein Leben ist, so ist es doch nicht mehr, als ein bleiches Schattenleben; dann ist die Erinnerung des Gewesenen, Wirklichen, mehr, als ihre bleiche Schatten dieser Wirklichkeit!


Lehrer.


Die positive Gegenwart ist der kleinste und flüchtigste Punkt; indem du die Gegenwart gewahr wirst,[28] ist sie schon vorüber, das Bewußtseyn des Genusses liegt immer in der Erinnerung. Das Vergangene kann in diesem Sinn nur betrachtet werden, ob es nun längst oder so eben vergangen, gleichviel.


Schüler.


Es ist wahr. So lebt und wirkt aber ein großer Mensch nicht nach seiner Weise in mir fort, sondern nach meiner, nach der Art wie ich ihn aufnehme, wie ich mich und ob ich mich seiner erinnern will.


Lehrer.


Freilich lebt er nur fort in dir, in sofern du Sinn für ihn hast, in sofern deine Anlage dich fähig macht ihn zu empfangen in deinem Innern, in sofern du etwas mit ihm Homogenes hast, das Fremdartige in dir tritt mit ihm in keine Verbindung, und er kann nicht auf es wirken; und nur mit dieser Einschränkung wirken alle Dinge. Das, wofür du keinen Sinn hast, geht für dich verlohren, wie die Farbenwelt dem Blinden.


Schüler.


Hieraus folgt, daß nichts ganz verlohren geht, daß die Ursachen in ihren Folgen fortwirken, (oder wie du dich ausdrückst, fortleben), daß sie aber nur auf dasjenige wirken können, das Empfänglichkeit, oder Sinn für sie hat.


Meister.


Ganz recht.

[29] Schüler.


Gut! die Welt und die Vernunft möge genug haben an diesem nicht verlohren seyn, an dieser Art fort zu leben, aber mir ist es nicht genug; eine tiefe Sehnsucht führt mich zurück in den Schoos der Vergangenheit, ich mögte in einer unmittelbaren Verbindung mit den Manen der großen Vorzeit stehn.


Lehrer.


Hälst du es denn für möglich?

Schüler.


Ich hielt es für unmöglich, als noch kein Wunsch mich dahin zog, ja, ich hätte noch vor Kurzem jede Frage der Art für thöricht gehalten, heute wünsche ich schon, eine Verbindung mit der Geisterwelt möchte möglich seyn, ja mir dünkt, ich sey geneigt sie glaublich zu finden.


Lehrer.


Mir däucht die Manen Gustav Adolphs haben deinem innern Auge zu einer glücklichen Geburt verholfen, und du scheinst mir reif, meine Meynung über diese Gegenstände zu vernehmen. So gewiß alle harmonische Dinge in einer gewissen Verbindung stehen, sie mag nun sichtbar oder unsichtbar seyn, so gewiß stehen auch wir in einer Verbindung mit dem Theil der Geisterwelt der mit uns harmonieret; ein ähnlicher oder gleicher Gedanke in verschiedenen Köpfen, auch wenn sie nie von einander [30] wußten, ist im geistigen Sinne schon eine Verbindung. Der Tod eines Menschen der in einer solchen Verbindung mit mir stehet, hebt diese Verbindung nicht auf. Der Tod ist ein chemischer Prozeß, eine Scheidung der Kräfte, aber kein Vernichter, er zerreißt das Band zwischen mir und ähnlichen Seelen nicht, das Fortschreiten des Einen und das Zurückbleiben des Andern aber kann wohl diese Gemeinschaft aufheben, wie ein Mensch, der in allem Vortrefflichen fortgeschritten ist, mit seinem unwissenden und roh gebliebenen Jugendfreund nicht mehr harmonieren wird. Du wirst das Gesagte leicht ganz allgemein, und ganz aufs Besondere anwenden können?


Schüler.


Vollkommen! du sagst Harmonie der Kräfte ist Verbindung, der Tod hebt diese Verbindung nicht auf, indem er nur scheidet nicht vernichtet.


Lehrer.


Ich fügte noch hinzu: das Aufheben dessen, was eigentlich diese Harmonie ausmachte (z.B. Veränderung der Ansichten und Meynungen, wenn die Harmonie gerade darin bestand) müßte auch nothwendig diese Verbindung aufheben.


Schüler.


Ich hab' es nicht aus der Acht gelassen.

[31] Lehrer.


Gut. Eine Verbindung mit Verstorbenen kann also statt haben, in so fern sie nicht aufgehört haben, mit uns zu harmonieren?


Schüler.


Zugegeben.

Lehrer.


Es kommt nur darauf an, diese Verbindung gewahr zu werden. Blos geistige Kräfte können unsern äussern Sinnen nicht offenbar werden; sie wirken nicht durch unsere Augen und Ohren auf uns, sondern durch das Organ, durch das allein eine Verbindung mit ihnen möglich ist, durch den innern Sinn, auf ihn wirken sie unmittelbar. Dieser innere Sinn, das tiefste und feinste Seelenorgan, ist bei fast allen Menschen gänzlich unentwickelt und nur dem Keim nach da; das Geräusch der Welt, das Getreibe der Geschäfte, die Gewohnheit nur auf der Oberfläche, und nur die Oberfläche zu betrachten, lassen es zu keiner Ausbildung, zu keinem deutlichen Bewußtseyn kommen, und so wird es nicht allgemein anerkannt, und was sich hier und da zu allen Zeiten in ihm offenbahret hat, hat immer so viele Zweifler und Schmäher gefunden; und bis jetzt ist sein Empfangen und Wirken in äußerst seltnen Menschen die seltenste Individualität. – Ich bin weit davon entfernt, so manchen lächerlichen Geistererscheinungen und Gesichten das Wort zu reden; [32] aber ich kann es mir deutlich denken, daß der innere Sinn zu einem Grade afficirt werden kann, nach welchem die Erscheinung des Innern vor das körperliche Auge treten kann, wie gewöhnlich umgekehrt, die äussere Erscheinung vor das Auge des Geistes tritt. So brauche ich nicht alles Wunderbare, durch Betrug oder Täuschung der Sinnen zu erklären. Doch ich erinnere mich, man nennt in der Sprache der Welt diese Entwicklung des innern Sinns, überspannte Einbildung.

Wem also der innere Sinn, das Auge des Geistes, aufgegangen ist, der sieht dem Andern unsichtbare mit ihm verbundene Dinge. Aus diesem innern Sinn sind die Religionen hervorgegangen, und so manche Apokalipsen der alten und neuen Zeit. Aus dieser Fähigkeit des innern Sinnes, Verbindungen, die andern Menschen (deren Geistesauge verschlossen ist) unsichtbar sind, wahrzunehmen, entsteht die Prophezeihung, denn sie ist nichts anders als die Gabe, die Verbindung der Gegenwart und Vergangenheit mit der Zukunft, den nothwendigen Zusammenhang der Ursachen und Wirkungen zu sehen. Prophezeihung ist Sinn für die Zukunft. Man kann die Wahrsagerkunst nicht erlernen, der Sinn für sie ist Geheimnißvoll, er entwickelt sich auf eine geheimnißvolle Art; er offenbahrt sich oft nur wie ein schneller Blitz der dann von dunkler Nacht wieder begraben wird. Man kann Geister nicht durch Beschwörungen rufen, aber sie können sich dem Geiste offenbahren, [33] das Empfängliche kann sie empfangen, dem innern Sinn können sie erscheinen.

Der Lehrer schwieg, und sein Zuhörer verließ ihn. Mancherlei Gedanken bewegten sein Inneres, und seine ganze Seele strebte sich das Gehörte zum Eigenthum zu machen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Günderode, Karoline von. Gedichte. Gedichte und Phantasien. Die Manen. Die Manen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-2024-8