[214] An Leonoren, als sie sich betrübte, dasz Leute ihres Geschlechts des Studirens beraubt wären, und dahero eine Deutschgeschriebene Anleitung zu den höhern Wiszenschaften von Gott und dem Weltgebäude verlangte

Begehre nicht so viel zu hören;
Wer wenig weis, der sündigt schlecht,
Der Umfang unsrer Weißheitslehren
Ist nicht vor jeden Kopf gerecht.
Die Warheit schadet viel Gemüthern
Wie blöden Augen scharfes Licht;
Behilf dich mit geringern Gütern,
Zu diesem Schaze kommst du nicht.
Du kanst gleichwohl zufrieden leben
Und einmahl froh zu Grabe gehn
Und brauchst, ach glaube doch, nicht eben
Den hohen Leibniz zu verstehn.
Du hast genung vor dein Geschlechte,
Nachdem dein lobenswerther Fleiß
Die Wirthschaft und des Höchsten Rechte
So wie des Umgangs Regeln weis.
Verrichte nur dein Amt mit Freuden,
Mit Zuversicht auf Gottes Schuz;
Kommt ohngefehr ein schweres Leiden,
So bieth ihm mit der Hofnung Truz.
Verliere nie den wahren Glauben,
Er dient dir zur Gerechtigkeit,
Und wenn dich lose Mäuler schrauben,
So siege mit Gelaßenheit.
Ein klug- und thätiges Erbarmen
Kan wider Sünd und Fluch bestehn;
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Las, wenn du kanst, nicht einen Armen
Betrübt und hülflos von dir gehn.
Vergieb und habe mit den Schwachen
So viel als mit dir selbst Gedult;
Will Glück und Wetter gar nicht lachen,
So sey dein Trost: Ich bin nicht schuld.
Ergöze dich mit Hofnungsblicken
An jenes Lebens Lust und Pracht;
Dort wird dich andre Schönheit schmücken
Als die, so hier dich lieblich macht.
Dort wirstu nicht mehr Stückwerck wißen,
Du wirst der Wunder Ursprung sehn,
Dort werd ich dich noch reiner küßen,
Als niemahls unter uns geschehn.
So wird dein Wandel auf der Erden
Gott und der Welt gefällig seyn.
Was nie genug gelernt kan werden,
Das prägt man nie zu häufig ein;
Darum ermahnt dich meine Liebe:
Gedencke fleißig an den Tod,
Empfang ihn mit gelaßnem Triebe
Und seufze dies in lezter Noth:
Hier lieg ich, großer Gott, und schwize
Das Waßer meines Unrechts aus;
Ich fühle deines Eifers Hize,
Sie kehrt den Leib in Asch und Graus.
Es plagen Satan und Gewißen;
Herr, geh nicht zornig ins Gericht;
Du thatest mir dein Wort zu wißen,
Ich glaubte, mehr vermocht ich nicht.
Ich habe nach dem kleinen Maaße
Von Geist, Erfahrung und Verstand
Den Weg der engen Himmelsstraße
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So weit beschritten als erkand.
Verdien ich keine Gnadenblicke,
So sieh doch, eh du mich verbannst,
Vorher auf Golgatha zurücke
Und dann verstoß mich, wenn du kanst.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Günther, Johann Christian. Gedichte. Gedichte. Liebesgedichte und Studentenlieder. Leonore [1]. An Leonoren [5]. An Leonoren [5]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-218B-7