[146] [An Melchior Michael]

Werthgeschäzter Herr Bruder.


Jezt leb ich in Schmiedeberg und, wo Gott will, bis künftige Ostermeße. Meiner Gemüthsruhe fehlt hier nichts weiter als Du und die Gesellschaft aller meiner aufrichtigen Gönner, Brüder und Freunde aus Landeshutt. Den Tag über ergöze ich mich in meinem einsamen Zimmer mit den gelehrten Unterredungen etlicher lehrbegieriger und warheitliebender Gemüther. Von der Nacht bringe ich die erste Hälfte mit vernünftigen Selbstgesprächen und mit den Tröstungen meiner in allem Wetter aufgeräumten Musen zu. Die andere Hälfte unterhält meine Seele mit den angenehmsten Träumen von Sachen, welche die Lust zur Wißenschaft und die Sehnsucht, solche mit ehrlichen Freunden zu theilen, wachend wüntschet. Übrigens brenne ich vor Begierde, Euch allerseits bald wieder zu küßen, in Hofnung, dadurch einen großen Theil des Ärgernüßes zu verschmerzen, womit mich seit vielen Jahren die Leichtsinnigkeit und Boßheit vieler Misgünstigen empfindlich gerühret. Der Herr Bruder vermelde unbeschwert der ganzen Rasperischen Abendgesellschaft meine Ergebenheit und versichere einen jeglichen davon, daß ich bey erschienenem Jahreswechsel auf sein Wohlergehen schon soviel Wüntsche gethan als mir binnen 2. Tagen Theilchen von dem Tabackdampfe in die Luft geflogen. Die beygelegten Gedichte kan die Güte des Herrn Bruders so, wie sie gezeichnet sind, abgeben. Ich erwarthe von Dir mit dem grösten Verlangen eine etwas ausführliche Nachricht von unterschiedlichen bey Euch vorgegangenen neuen Begebenheiten, und dies zwar sobald als es ohne des Herrn Bruders Verhindernüß geschehen kan, weil ich wohl unter 14. Tagen wegen einiger Unpäßligkeit nicht so glücklich seyn dürfte, Eurer Gegenwarth wieder zu genießen. Du darfst die Briefe nur allemahl hier bey Herrn Seidel abgeben laßen. Bin ich es würdig, so erhalt mir durch Dein Zureden bei Euch die gute Neigung aller Gönner und Freunde. Deinem lieben Weibchen wüntsche ich zum [147] Neuen Jahre die Art des Palmbaums, der, je mehr er gedrückt wird, immer höher wächst und desto mehr Äste zeuget, Dir aber den Traum Jacobs aus dem 1. B. Mos. am 31. V. 10. Lebe wohl und liebe mich so als

Dein ehrlicher . . . . . . . .

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TextGrid Repository (2012). Günther, Johann Christian. Gedichte. Gedichte. Freundschaftsgedichte und -briefe. Landeshut Oktober 1721 - Jena 15. März 1723. [An Melchior Michael]. [An Melchior Michael]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-2609-0