Klein und groß

In Asien, in dem Gebirge Taurus und an andern Orten lebt eine Art von wilden Schafen, Argali genannt, die sind sehr groß, stark und scheu, und haben sehr große Hörner. Wenn ein solches Tier im Kampf oder durch ein anderes[160] Unglück ein Horn verliert, was jezuweilen geschieht, so kommt es den dortigen Füchslein zugut. Diese haben alsdann nicht nötig, einen Bau in die Erde zu graben, meinen, das Horn sei wegen ihnen da, schlupfen hinein, und wohnen darin. Worüber muß man sich mehr verwundern, über die großen Hörner oder über die kleinen Füchse?

Die kleinsten Vögel, die man kennt, heißen Kolibri. Sie sind in Südamerika daheim, haben wunderschöne Farben von Gold- und Silberglanz, legen Eilein, so nicht größer sind, als eine Erbse; und werden nicht mit Schroten geschossen, sondern mit kleinen Sandkörnlein, weil sonst nichts Ganzes an ihnen bliebe. Neben ihnen wohnt eine Spinne, die ist so groß, daß sie diese armen Tierlein wie Mucken fängt und aussaugt. Doch das weiß der geneigte Leser schon, denn er ist ein belesener Mann.

Andern Respekt flößt der Herr Lämmergeier seiner Nachbarschaft ein, der in den Tiroler- und Schweizergebirgen daheim ist. Denn mit seinen ausgespannten Flügeln bedeckt er eine Länge von 8 bis 9 Fuß, und ist stark genug, Gemsen, Ziegen und Kinder anzupacken, zu überwältigen und davonzutragen.

Der größte unter allen Vögeln, die fliegen können, ist der Kondur, ein Landsmann des Kolibri. Dieser mißt mit ausgespannten Flügeln 16 Fuß, seine Flügelfedern sind vorne fingersdick, also, daß man schön Fraktur damit schreiben könnte; und das Rauschen seiner Flügel gleicht einem fernen Donner.

Aber der allergrößte Vogel ist der Strauß in den Wüsteneien von Asien und Afrika, der aber wegen seiner Schwere und wegen der Kürze seiner Fittige gar nicht fliegen kann, sondern immer muß auf der Erde bleiben. Doch trägt er seinen Kopf 9 bis 10 Fuß hoch in der Luft, kann weit herum schauen, und könnte, wie ein guter Freund neben einem Reiter auf seinem Roß herlaufen und mit ihm reden, wenn ihm nicht Vernunft und Sprache versagt wären.

In Asien lebt eine Art von Hirschen, Zwerghirschlein genannt, deren Füßlein sind fingerslang, und so dünn, wie der Stiel einer kölnischen Tabakspfeife. Das Spitzmäuslein, ebenfalls[161] in Asien, wiegt ein halbes Quintlein, und ist das kleinste unter allen bekannten Tieren, die auf 4 Beinen gehen und ihre Jungen säugen. Der Elefant aber ist 12 bis 14 Fuß hoch, 15 bis 17 Fuß lang, wiegt seine 7 000 Pfund; und ein fleißiger Schüler soll mir ausrechnen: Wieviel Spitzmäuslein müßte man haben, die zusammen so schwer sind, als ein einziger Elefant?

Das kleinste Tierlein auf der Erde hat auch mit dem stärksten Vergrößerungsglas wohl noch kein Mensch gesehen. Aber das größte ist der Walfisch, der bis zu einer Länge von 120 Fuß wachsen kann, und seine 1 000 Zentner und drüber wiegt.

In den fabelhaften Zeiten hat man geglaubt, daß es eine ganze Nation von Menschen gehe, die von dem Boden weg nur 2 Fuß hoch seien. Der Lügenprophet Mahomet aber behauptete einmal, er habe den Erzengel Gabriel gesehen, und es sei von seinem rechten Auge über den Nasenwinkel bis zum linken, ein Zwischenraum von 70 000 Tagreisen.

[1809]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Hebel, Johann Peter. Prosa. Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Klein und groß. Klein und groß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-43C0-1