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Der Philanthrop

Das waren zwei liebe Geschwister,
Die Schwester war arm, der Bruder war reich.
Zum Reichen sprach die Arme:
»Gib mir ein Stückchen Brot.«
Zur Armen sprach der Reiche:
»Laß mich nur heut in Ruh'.
Heut geb ich mein jährliches Gastmahl
Den Herren vom großen Rat.
Der eine liebt Schildkrötensuppe,
Der andre Ananas,
Der dritte ißt gern Fasanen
Mit Trüffeln von Périgord.
Der vierte speist nur Seefisch,
Der fünfte verzehrt auch Lachs,
Der sechste, der frißt alles,
Und trinkt noch mehr dazu.«
Die arme, arme Schwester
Ging hungrig wieder nach Haus;
Sie warf sich auf den Strohsack
Und seufzte tief und starb.
Wir müssen alle sterben!
Des Todes Sense trifft
Am End' den reichen Bruder,
Wie er die Schwester traf.
Und als der reiche Bruder
Sein Stündlein kommen sah,
Da schickt' er zum Notare
Und macht' sein Testament.
[224]
Beträchtliche Legate
Bekam die Geistlichkeit,
Die Schulanstalten, das große
Museum für Zoologie.
Mit edlen Summen bedachte
Der große Testator zumal
Die Judenbekehrungsgesellschaft
Und das Taubstummeninstitut.
Er schenkte eine Glocke
Dem neuen Sankt-Stephans-Turm;
Die wiegt fünfhundert Zentner
Und ist vom besten Metall.
Das ist eine große Glocke
Und läutet spat und früh;
Sie läutet zum Lob und Ruhme
Des unvergeßlichen Manns.
Sie meldet mit eherner Zunge,
Wieviel er Gutes getan
Der Stadt und seinen Mitbürgern
Von jeglicher Konfession.
Du großer Wohltäter der Menschheit!
Wie im Leben, soll auch im Tod
Jedwede deiner Wohltaten
Verkünden die große Glock'!
Das Leichenbegängnis wurde
Gefeiert mit Prunk und Pracht;
Es strömte herbei die Menge
Und staunte ehrfurchtsvoll.
[225]
Auf einem schwarzen Wagen,
Der gleich einem Baldachin
Mit schwarzen Straußfederbüscheln
Gezieret, ruhte der Sarg.
Der strotzte von Silberblechen
Und Silberstickerei'n;
Es machte auf schwarzem Grunde
Das Silber den schönsten Effekt.
Den Wagen zogen sechs Rosse,
In schwarzen Decken vermummt;
Die fielen gleich Trauermänteln
Bis zu den Hufen hinab.
Dicht hinter dem Sarge gingen
Bediente in schwarzer Livree,
Schneeweiße Schnupftücher haltend
Vor dem kummerroten Gesicht.
Sämtliche Honoratioren
Der Stadt, ein langer Zug
Von schwarzen Paradekutschen,
Wackelte hintennach.
In diesem Leichenzuge,
Versteht sich, befanden sich auch
Die Herren vom hohen Rate,
Doch waren sie nicht komplett.
Es fehlte jener, der gerne
Fasanen mit Trüffeln aß;
War kurz vorher gestorben
An einer Indigestion.
[226]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Heine, Heinrich. Gedichte. Gedichte 1853 und 1854. 12. Der Philanthrop. 12. Der Philanthrop. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-47A8-C