Heinrich Heine
Reisebilder. Vierter Teil

Die Stadt Lucca

Kapitel 1
Erstdruck in den »Reisebildern«.
Kapitel I

Die umgebende Natur wirkt auf den Menschen – warum nicht auch der Mensch auf die Natur, die ihn umgibt? In Italien ist sie leidenschaftlich wie das Volk, das dort lebt; bei uns in Deutschland ist sie ernster, sinniger und geduldiger. Hatte einst, wie die Menschen, auch die Natur mehr inneres Leben? Die Gemütskraft eines Orpheus, sagt man, konnte Bäume und Steine nach begeisterten Rhythmen bewegen. Könnte noch jetzt dergleichen geschehen? Menschen und Natur sind phlegmatisch geworden und gähnen sich einander an. Ein königl. preuß. Poet wird nimmermehr, mit den Klängen seiner Leier, den Templower Berg oder die Berliner Linden zum Tanzen bringen können.

Auch die Natur hat ihre Geschichte, und das ist eine andere Naturgeschichte als wie die, welche in Schulen gelehrt wird. [359] Irgendeine von jenen grauen Eidechsen, die schon seit Jahrtausenden in den Felsenspalten des Apennins leben, sollte man als ganz außerordentliche Professorin bei einer unserer Universitäten anstellen, und man würde ganz außerordentliche Dinge zu hören bekommen. Aber der Stolz einiger Herren von der juristischen Fakultät würde sich gegen eine solche Anstellung auflehnen. Hegt doch einer von ihnen schon jetzt eine geheime Eifersucht gegen den armen Fido Savant, fürchtend, daß dieser ihn einst im gelehrten Apportieren ersetzen könnte.

Die Eidechsen mit ihren klugen Schwänzchen und spitzfündigen Äuglein haben mir wunderbare Dinge erzählt, wenn ich einsam zwischen den Felsen der Apenninen umherkletterte. Wahrlich, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht bloß unsere Philosophen, sondern sogar die gewöhnlichsten Dummköpfe nicht begreifen.

Die Eidechsen haben mir erzählt, es gehe eine Sage unter den Steinen, daß Gott einst Stein werden wolle, um sie aus ihrer Starrheit zu erlösen. Eine alte Eidechse meinte aber, diese Steinwerdung würde nur dann stattfinden, wenn Gott bereits in alle Tier- und Pflanzenarten sich verwandelt und sie erlöst habe.

Nur wenige Steine haben Gefühl, und nur im Mondschein atmen sie. Aber diese wenige Steine, die ihren Zustand fühlen, sind schrecklich elend. Die Bäume sind viel besser daran, sie können weinen. Die Tiere aber sind am meisten begünstigt, denn sie können sprechen, jedes nach seiner Art und die Menschen am besten. Einst, wenn die ganze Welt erlöst ist, werden alle anderen Erschaffnisse ebenfalls sprechen können, wie in jenen uralten Zeiten, wovon die Dichter singen.

Die Eidechsen sind ein ironisches Geschlecht und betören gern die anderen Tiere. Aber sie waren gegen mich so demütig, sie seufzten so ehrlich, sie erzählten mir Geschichten von Atlantis, die ich nächstens aufschreiben will, zu Nutz und Frommen der Welt. Es ward mir so innig zumute bei den kleinen Wesen, die gleichsam die geheimen Annalen der Natur aufbewahren. Sind es etwa verzauberte Priesterfamilien, gleich denen des alten Ägyptens, die ebenfalls naturbelauschend in labyrinthischen [360] Felsengrotten wohnten? Auf ihren Köpfchen, Leibchen und Schwänzchen blühen so wunderbare Zeichenbilder wie auf ägyptischen Hieroglyphenmützen und Hierophantenröcken.

Meine kleinen Freunde haben mich auch eine Zeichensprache gelehrt, vermittelst welcher ich mit der stummen Natur zu sprechen vermag. Dieses erleichtert mir oft die Seele, besonders gegen Abend, wenn die Berge in schaurig-süßen Schatten gehüllt stehen und die Wasserfälle rauschen und alle Pflanzen duften und hastige Blitze hin und her zucken –

O Natur! du stumme Jungfrau! wohl verstehe ich dein Wetterleuchten, den vergeblichen Redeversuch, der über dein schönes Antlitz dahinzuckt, und du dauerst mich so tief, daß ich weine. Aber alsdann verstehst du auch mich, und du heiterst dich auf und lachst mich an aus goldnen Augen. Schöne Jungfrau, ich verstehe deine Sterne, und du verstehst meine Tränen!

Kapitel 2
Kapitel II

»Nichts in der Welt will rückwärts gehen«, sagte mir ein alter Eidechs, »alles strebt vorwärts, und am Ende wird ein großes Naturavancement stattfinden. Die Steine werden Pflanzen, die Pflanzen werden Tiere, die Tiere werden Menschen und die Menschen werden Götter werden.«

»Aber«, rief ich, »was soll denn aus diesen guten Leuten, aus den armen alten Göttern werden?«

»Das wird sich finden, lieber Freund«, antwortete jener; »wahrscheinlich danken sie ab oder werden auf irgendeine ehrende Art in den Ruhestand versetzt.«

Ich habe von meinem hieroglyphenhäutigen Naturphilosophen noch manches andre Geheimnis erfahren; aber ich gab mein Ehrenwort, nichts zu enthüllen. Ich weiß jetzt mehr als Schelling und Hegel.

»Was halten Sie von diesen beiden?« frug mich der alte Eidechs mit einem höhnischen Lächeln, als ich mal diese Namen gegen ihn erwähnte.

[361] »Wenn man bedenkt«, antwortete ich, »daß sie bloß Menschen und keine Eidechsen sind, so muß man über das Wissen dieser Leute sehr erstaunen. Im Grunde lehren sie eine und dieselbe Lehre, die Ihnen wohlbekannte Identitätsphilosophie, nur in der Darstellungsart unterscheiden sie sich. Wenn Hegel die Grundsätze seiner Philosophie aufstellt, so glaubt man jene hübschen Figuren zu sehen, die ein geschickter Schulmeister, durch eine künstliche Zusammenstellung von allerlei Zahlen, zu bilden weiß, dergestalt, daß ein gewöhnlicher Beschauer nur das Oberflächliche, nur das Häuschen oder Schiffchen oder absolute Soldätchen sieht, das aus jenen Zahlen formiert ist, während ein denkender Schulknabe in der Figur selbst vielmehr die Auflösung eines tiefen Rechenexempels erkennen kann. Die Darstellungen Schellings gleichen mehr jenen indischen Tierbildern, die aus allerlei anderen Tieren, Schlangen, Vögeln, Elefanten und dergleichen lebendigen Ingredienzien, durch abenteuerliche Verschlingungen, zusammengesetzt sind. Diese Darstellungsart ist viel anmutiger, heiterer, pulsierend wärmer, alles darin lebt, statt daß die abstrakt Hegelschen Chiffern uns so grau, so kalt und tot anstarren.«

»Gut, gut«, erwiderte der alte Eidechserich, »ich merke schon, was Sie meinen; aber sagen Sie mir, haben diese Philosophen viele Zuhörer?«

Ich schilderte ihm nun, wie in der gelehrten Karawanserei zu Berlin die Kamele sich sammeln um den Brunnen Hegelscher Weisheit, davor niederknien, sich die kostbaren Schläuche aufladen lassen und damit weiterziehen durch die märk'sche Sandwüste. Ich schilderte ihm ferner, wie die neuen Athener um den Springquell des Schellingschen Geistestranks sich drängen, als wäre es das beste Bier, Breihahn des Lebens, Gesöffe der Unsterblichkeit –

Den kleinen Naturphilosophen überlief der gelbe Neid, als er hörte, daß seine Kollegen sich so großen Zuspruchs erfreuen, und ärgerlich frug er: »Welchen von beiden halten Sie für den größten?« – »Das kann ich nicht entscheiden«, gab ich zur Antwort, »ebensowenig wie ich entscheiden [362] könnte, ob die Schechner größer sei als die Sontag, und ich denke –«

»Denke!« rief der Eidechs mit einem scharfen, vornehmen Tone der tiefsten Geringschätzung, »denken! wer von euch denkt? Mein weiser Herr, schon an die dreitausend Jahre mache ich Untersuchungen über die geistigen Funktionen der Tiere, ich habe besonders Menschen, Affen und Schlangen zum Gegenstand meines Studiums gemacht, ich habe soviel Fleiß auf diese seltsamen Geschöpfe verwendet wie Lyonnet auf seine Weidenraupen, und als Resultat aller meiner Beobachtungen, Experimente und anatomischen Vergleichungen kann ich Ihnen bestimmt versichern: Kein Mensch denkt, es fällt nur dann und wann den Menschen etwas ein, solche ganz unverschuldete Einfälle nennen sie Gedanken, und das Aneinanderreihen derselben nennen sie Denken. Aber in meinem Namen können Sie es wiedersagen: Kein Mensch denkt, kein Philosoph denkt, weder Schelling noch Hegel denkt, und was gar ihre Philosophie betrifft, so ist sie eitel Luft und Wasser, wie die Wolken des Himmels, ich habe schon unzählige solcher Wolken, stolz und sicher, über mich hinziehen sehen, und die nächste Morgensonne hat sie aufgelöst in ihr ursprüngliches Nichts; – es gibt nur eine einzige wahre Philosophie, und diese steht, in ewigen Hieroglyphen, auf meinem eigenen Schwanze.«

Bei diesen Worten, die mit einem dedaignanten Pathos gesprochen wurden, drehte mir der alte Eidechs den Rücken, und indem er langsam fortschwänzelte, sah ich darauf die wunderlichsten Charaktere, die sich in bunter Bedeutsamkeit bis über den ganzen Schwanz hinabzogen.

Kapitel 3
Kapitel III

Auf dem Wege zwischen den Bädern von Lucca und der Stadt dieses Namens, unweit von dem großen Kastanienbaume, dessen wildgrüne Zweige den Bach überschatten, und in Gegenwart [363] eines alten, weißbärtigen Ziegenbocks, der dort einsiedlerisch weidete, wurde das Gespräch geführt, das ich im vorigen Kapitel mitgeteilt habe. Ich ging nach der Stadt Lucca, um Franscheska und Mathilde zu suchen, die ich unserer Verabredung gemäß schon vor acht Tagen dort treffen sollte. Ich war aber, zur bestimmten Zeit, vergebens hingereist, und ich hatte mich jetzt zum zweiten Male auf den Weg gemacht. Ich ging zu Fuße, längs den schönen Bergen und Baumgruppen, wo die goldnen Orangen, wie Sterne des Tages, aus dem dunklen Grün hervorleuchteten und Girlanden von Weinreben, in festlichen Windungen, sich meilenweit hinzogen. Das ganze Land ist dort so gartenhaft und geschmückt wie bei uns die ländlichen Szenen, die auf dem Theater dargestellt werden; auch die Landleute selbst gleichen jenen bunten Gestalten, die uns dann als singende, lächelnde und tanzende Staffage ergötzen. Nirgends Philistergesichter. Und gibt es hier auch Philister, so sind es doch italienische Orangenphilister und keine plump deutschen Kartoffelphilister. Pittoresk und idealisch wie das Land sind auch die Leute, und dabei trägt jeder Mann einen so individuellen Ausdruck im Gesicht und weiß in Stellung, Faltenwurf des Mantels und nötigenfalls in Handhabung des Messers seine Persönlichkeit geltend zu machen. Dagegen bei uns zulande lauter Menschen mit allgemeinen, gleichförmlichen Physiognomien; wenn ihrer zwölf beisammen sind, bilden sie ein Dutzend, und wenn einer sie dann angreift, rufen sie die Polizei.

Auffallend war mir, im Luccesischen, wie im größten Teile Toskanas, tragen die Frauenzimmer große, schwarze Filzhüte mit herabwallend schwarzen Straußfedern; sogar die Strohflechterinnen tragen dergleichen schwere Hauptbedeckung. Die Männer hingegen tragen meistens einen leichten Strohhut, und junge Burschen erhalten solchen zum Geschenk von einem Mädchen, das ihn selbst verfertigt, ihre Liebesgedanken und vielleicht auch manchen Seufzer hineingeflochten. So saß einst Franscheska unter den Mädchen und Blumen des Arnotals und flocht einen Hut, für ihren caro Cecco, und küßte jeden Strohhalm, [364] den sie dazu nahm, und trillerte ihr hübsches »Occhie, stelle mortale«; – das lockichte Haupt, das den hübschen Hut nachher so hübsch trug, hat jetzt eine Tonsur, und der Hut selbst hängt, alt und abgenutzt, im Winkel eines trüben Abatestübchens zu Bologna.

Ich gehöre zu den Leuten, die immer gern einen kürzeren Weg nehmen, als die Landstraße bietet, und denen es alsdann wohl begegnet, daß sie sich auf engen Holz- und Felsenpfaden verirren. Das geschah auch hier, und ich habe zu meiner Reise nach Lucca gewiß doppelt soviel Zeit gebraucht als gewöhnliche Landstraßmenschen. Ein Sperling, den ich um den Weg frug, zwitscherte und zwitscherte und konnte mir doch keinen rechten Bescheid geben. Vielleicht auch wußte er ihn selbst nicht. Den Schmetterlingen und Libellen, die auf großen Glockenblumen saßen, konnte ich kein Wort abgewinnen; sie waren schon davongeflattert, ehe sie noch meine Fragen vernommen, und die Blumen schüttelten ihre tonlosen Glockenhäupter. Manchmal weckten mich die wilden Myrten, die, mit feinen Stimmchen, aus der Ferne kicherten. Hastig erklomm ich dann die höchsten Felsenspitzen und rief: »Ihr Wolken des Himmels! Segler der Lüfte! sagt mir, wo geht der Weg nach Franscheska? Ist sie in Lucca? Sagt mir, was tut sie? was tanzt sie? Sagt mir alles, und wenn ihr mir alles gesagt habt, so sagt es mir nochmals!«

Bei solcher Überfülle von Torheit konnte es wohl geschehen, daß ein ernster Adler, den mein Ruf aus seinen einsamen Träumen aufgestört, mich mit geringschätzendem Unmute ansah. Aber ich verzieh's ihm gerne; denn er hatte niemals Franscheska gesehen, und daher konnte er noch immer so erhabenmütig auf seinem festen Felsen sitzen und so seelenfrei zum Himmel emporstarren oder so impertinent ruhig auf mich herabglotzen. So ein Adler hat einen unerträglich stolzen Blick und sieht einen an, als wollte er sagen: »Was bist du für ein Vogel? Weißt du wohl, daß ich noch immer ein König bin, ebensogut wie in jenen Heldenzeiten, als ich Jupiters Blitze trug und Napoleons Fahnen schmückte? Bist du etwa ein gelehrter [365] Papagoi, der die alten Lieder auswendig gelernt hat und pedantisch nachplappert? Oder eine vermüffte Turteltaube, die schön fühlt und miserabel gurrt? Oder eine Almanachsnachtigall? Oder ein abgestandener Gänserich, dessen Vorfahren das Kapitol gerettet? Oder gar ein serviler Haushahn, dem man, aus Ironie, das Emblem des kühnen Fliegens, nämlich mein Miniaturbild, um den Hals gehängt hat und der sich deshalb so mächtig spreizt, als wäre er nun selbst ein Adler?« Du weißt, lieber Leser, wie wenig Ursache ich habe, mich beleidigt zu fühlen, wenn ein Adler dergleichen von mir dachte. Ich glaube, der Blick, den ich ihm zurückwarf, war noch stolzer als der seinige, und wenn er sich bei dem ersten besten Lorbeerbaume erkundigt hat, so weiß er jetzt, wer ich bin.

Ich war wirklich im Gebirge verirrt, als schon die Dämmerung hereinbrach und die bunten Waldlieder allmählich verstummten und die Bäume immer ernsthafter rauschten. Eine erhabene Heimlichkeit und innige Feier zog, wie der Odem Gottes, durch die verklärte Stille. Hie und da, aus dem Boden, blickte ein schönes dunkles Auge zu mir herauf und verschwand im selben Augenblick. Zärtliches Flüstern tändelte mir ums Herz, und unsichtbare Küsse berührten luftig meine Wangen. Das Abendrot umhüllte die Berge wie mit Purpurmänteln, und die letzten Sonnenstrahlen beleuchteten ihre Gipfel, daß es aussah, als wären sie Könige mit goldenen Kronen auf den Häuptern. Ich aber stand wie ein Kaiser der Welt in der Mitte dieser gekrönten Vasallen, die schweigend mir huldigten.

Kapitel 4
Kapitel IV

Ich weiß nicht, ob der Mönch, der mir unfern Lucca begegnete, ein frommer Mann ist. Aber ich weiß, sein alter Leib steckt arm und nackt in einer groben Kutte, jahraus, jahrein; die zerrissenen Sandalen können seine bloßen Füße nicht genug schützen, wenn er, durch Dorn und Gestrippe, die Felsen hinaufklimmt,[366] um droben in den Bergdörfern Kranke zu trösten oder Kinder beten zu lehren; – und er ist zufrieden, wenn man ihm dafür ein Stückchen Brot in den Sack steckt und ihm ein bißchen Stroh gibt, um darauf zu schlafen.

»Gegen den Mann will ich nicht schreiben«, sprach ich zu mir selbst. »Wenn ich wieder zu Hause in Deutschland, auf meinem Lehnsessel, am knisternden Öfchen, bei einer behaglichen Tasse Tee, wohlgenährt und warm sitze und gegen die katholischen Pfaffen schreibe – gegen den Mann will ich nicht schreiben.« –

Um gegen die katholischen Pfaffen zu schreiben, muß man auch ihre Gesichter kennen. Die Originalgesichter sieht man aber nur in Italien. Die deutschen katholischen Priester und Mönche sind bloß schlechte Nachahmungen, oft sogar Parodien der italienischen; eine Vergleichung derselben würde ebenso ausfallen, als wenn man römische oder florentinische Heiligenbilder vergleichen wollte mit jenen heuschrecklichen, frommen Fratzen, die etwa dem spießbürgerlichen Pinsel eines Nürenberger Stadtmalers oder gar der lieben Einfalt eines Gemütsbeflissenen aus der langhaarig christlich neudeutschen Schule ihr trauriges Dasein verdanken.

Die Pfaffen in Italien haben sich schon längst mit der öffentlichen Meinung abgefunden, das Volk dort ist längst daran gewöhnt, die geistliche Würde von der unwürdigen Person zu unterscheiden, jene zu ehren, wenn auch diese verächtlich ist. Eben der Kontrast, den die idealen Pflichten und Ansprüche des geistlichen Standes und die unabweislichen Bedürfnisse der sinnlichen Natur bilden müssen, jener uralte, ewige Konflikt zwischen dem Geiste und der Materie, macht die italienischen Pfaffen zu stehenden Charakteren des Volkshumors, in Satiren, Liedern und Novellen. Ähnliche Erscheinungen zeigen sich uns überall, wo ein ähnlicher Priesterstand vorhanden ist, z.B. in Hindostan. In den Komödien dieses urfrommen Landes, wie wir schon in der »Sakontala« bemerkt und in der neulich übers setzten »Vasantasena« bestätigt finden, spielt immer ein Brahmine die komische Rolle, sozusagen den Priestergrazioso, ohne [367] daß dadurch die Ehrfurcht, die man seinen Opferverrichtungen und seiner privilegierten Heiligkeit schuldig ist, im mindesten beeinträchtigt wird – ebensowenig wie ein Italiener mit minderer Andacht bei einem Priester Messe hört oder beichtet, den er noch tags zuvor betrunken im Straßenkote gefunden hat. In Deutschland ist das anders, der katholische Priester will da nicht bloß seine Würde durch sein Amt, sondern auch sein Amt durch seine Person repräsentieren; und weil er es vielleicht anfangs mit seinem Berufe wirklich ganz ernsthaft gemeint hat und er nachher, wenn seine Keuschheits- und Demutsgelübde etwas mit dem alten Adam kollidieren, sie dennoch nicht öffentlich verletzen will, besonders auch, weil er unserem Freunde Krug in Leipzig keine Blöße geben will, so sucht er wenigstens den Schein eines heiligen Wandels zu bewahren. Daher Scheinheiligkeit, Heuchelei und gleisendes Frömmeln bei deutschen Pfaffen; bei den italienischen hingegen viel mehr Durchsichtigkeit der Maske und eine gewisse feiste Ironie und behagliche Weltverdauung.

Doch was helfen solche allgemeine Reflexionen! Sie können dir wenig nutzen, lieber Leser, wenn du etwa Lust hättest, gegen das katholische Pfaffentum zu schreiben. Zu diesem Zwecke muß man, wie gesagt, mit eignen Augen die Gesichter sehen, die dazu gehören. Wahrlich, es ist nicht einmal hinreichend, wenn man sie im königlichen Opernhause zu Berlin gesehen hat. Der vorige Generalintendanz tat zwar immer das Seinige, um den Krönungszug in der »Jungfrau von Orleans« so täuschend treu als möglich darzustellen, seinen Landsleuten die Idee einer Prozession zu veranschaulichen und ihnen Pfaffen von allen Couleuren vor Augen zu bringen. Doch das getreueste Kostüm kann nicht die Originalgesichter ersetzen, und vertrödelte man sogar noch extra 100000 Taler für goldne Bischofsmützen, festonierte Chorhemden, buntgestickte Meßgewänder und ähnlichen Kram – so würden doch die protestantisch vernünftigen Nasen, die unter jenen Bischofsmützen hervorprotestieren, die dünnen denkgläubigen Beine, die aus den weißen Spitzen dieser Chorhemden herausgucken, die [368] aufgeklärten Bäuche, denen jene Meßgewänder viel zu weit, alles würde unsereinen daran erinnern, daß keine katholische Geistliche, sondern Berliner Weltliche über die Bühne wandeln.

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob der Generalintendant jenen Zug nicht viel besser darstellen und uns das Bild einer Prozession viel treuer vor Augen bringen könnte, wenn er die Rollen der katholischen Pfaffen nicht mehr von den gewöhnlichen Statisten, sondern von jenen protestantischen Geistlichen spielen ließe, die in der theologischen Fakultät, in der »Kirchenzeitung« und auf den Kanzeln am orthodoxesten gegen Vernunft, Weltlust, Gesenius und Teufeltum zu predigen wissen. Es würden dann Gesichter zum Vorschein kommen, deren pfäffisches Gepräge gewiß jenen Rollen viel täuschender entspräche. Ist es doch eine bekannte Bemerkung, daß die Pfaffen in der ganzen Welt, Rabbinen, Muftis, Dominikaner, Konsistorialräte, Popen, Bonzen, kurz, das ganze diplomatische Korps Gottes, im Gesichte eine gewisse Familienähnlichkeit haben, wie man sie immer findet bei Leuten, die ein und dasselbe Gewerbe treiben. Schneider, in der ganzen Welt, zeichnen sich aus durch Zartheit der Glieder, Metzger und Soldaten tragen wieder überall denselben farouchen Anstrich, Juden haben ihre eigentümlich ehrliche Miene, nicht weil sie von Abraham, Isaak und Jakob abstammen, sondern weil sie Kaufleute sind, und der Frankfurter christliche Kaufmann sieht dem Frankfurter jüdischen Kaufmanne ebenso ähnlich wie ein faules Ei dem andern. Die geistlichen Kaufleute, solche, die von Religionsgeschäften ihren Unterhalt gewinnen, erlangen daher auch im Gesichte eine Ähnlichkeit. Freilich, einige Nuancen entstehen durch die Art und Weise, wie sie ihr Geschäft treiben. Der katholische Pfaffe treibt es mehr wie ein Kommis, der in einer großen Handlung angestellt ist; die Kirche, das große Haus, dessen Chef der Papst ist, gibt ihm bestimmte Beschäftigung und dafür ein bestimmtes Salär; er arbeitet lässig, wie jeder, der nicht für eigne Rechnung arbeitet und viele Kollegen hat und im großen Geschäftstreiben leicht unbemerkt bleibt – [369] nur der Kredit des Hauses liegt ihm am Herzen und noch mehr dessen Erhaltung, da er bei einem etwaigen Bankerotte seinen Lebensunterhalt verlöre. Der protestantische Pfaffe hingegen ist überall selbst Prinzipal, und er treibt die Religionsgeschäfte für eigene Rechnung. Er treibt keinen Großhandel wie sein katholischer Gewerbsgenosse, sondern nur einen Kleinhandel; und da er demselben allein vorstehen muß, darf er nicht lässig sein, er muß seine Glaubensartikel den Leuten anrühmen, die Artikel seiner Konkurrenten herabsetzen, und als echter Kleinhändler steht er in seiner Ausschnittbude, voll von Gewerbsneid gegen alle großen Häuser, absonderlich gegen das große Haus in Rom, das viele tausend Buchhalter und Packknechte besoldet und seine Faktoreien hat in allen vier Weltteilen.

Solches hat nun freilich auch seine physiognomische Wirkungen, aber diese sind doch nicht vom Parterre aus bemerkbar, die Familienähnlichkeit in den Gesichtern katholischer und protestantischer Pfaffen bleibt doch in ihren Hauptzügen unverändert, und wenn der Generalintendant die obenerwähnten Herren gut bezahlt, so werden sie ihre Rolle, wie immer, recht täuschend spielen. Auch ihr Gang wird zur Illusion beitragen, obgleich ein feines, geübtes Auge wohl merkt, daß er sich von dem Gange katholischer Priester und Mönche ebenfalls durch feine Nuancen unterscheidet.

Ein katholischer Pfaffe wandelt einher, als wenn ihm der Himmel gehöre; ein protestantischer Pfaffe hingegen geht herum, als wenn er den Himmel gepachtet habe.

Kapitel 5
Kapitel V

Es war schon Nacht, als ich die Stadt Lucca erreichte.

Wie ganz anders erschien sie mir die Woche vorher, als ich am Tage durch die widerhallend öden Straßen wandelte und mich in eine jener verwunschenen Städte versetzt glaubte, wovon mir einst die Amme soviel erzählt. Da war die ganze Stadt [370] still wie das Grab, alles war so verblichen und verstorben, auf den Dächern spielte der Sonnenglanz, wie Goldflitter, auf dem Haupte einer Leiche, hie und da aus den Fenstern eines altverfallenen Hauses hingen Efeuranken, wie vertrocknet grüne Tränen, überall glimmernder Moder und ängstlich stockender Tod, die Stadt schien nur das Gespenst einer Stadt, ein steinerner Spuk am hellen Tage. Da suchte ich lange vergebens die Spur eines lebendigen Wesens. Ich erinnere mich nur, vor einem alten Palazzo lag ein schlafender Bettler mit ausgestreckt offner Hand. Auch erinnere ich mich, oben am Fenster eines schwärzlich morschen Häuslein sah ich einen Mönch, der den roten Hals mit dem feisten Glatzenhaupt recht lang aus der braunen Kutte hervorreckte, und neben ihm kam ein vollbusig nacktes Weibsbild zum Vorschein; unten, in die halb offne Haustüre, sah ich einen kleinen Jungen hineingehen, der als ein schwarzer Abate gekleidet war und mit beiden Händen eine mächtig großbäuchige Weinflasche trug. – In demselben Augenblick läutete unfern ein feines ironisches Glöcklein, und in meinem Gedächtnisse kicherten die Novellen des Boccaccio. Diese Klänge konnten aber keineswegs das seltsame Grauen, das meine Seele durchschauerte, ganz verscheuchen. Es hielt mich vielleicht um so gewaltiger befangen, da die Sonne, so warm und hell, die unheimlichen Gebäude beleuchtete; und ich merkte wohl, Gespenster sind noch furchtbarer, wenn sie den schwarzen Mantel der Nacht abwerfen und sich im hellen Mittagslichte sehen lassen.

Als ich jetzt, acht Tage später, wieder nach Lucca kam, wie erstaunte ich über den veränderten Anblick dieser Stadt! »Was ist das?« rief ich, als die Lichter mein Auge blendeten und die Menschenströme durch die Gassen sich wälzten. »Ist ein ganzes Volk als nächtliches Gespenst aus dem Grabe gestiegen, um im tollsten Mummenschanz das Leben nachzuäffen? Die hohen, trüben Häuser sind mit Lampen verziert, überall aus den Fenstern hängen bunte Teppiche, die morschgrauen Wände fast bedeckend, und darüber lehnen sich holde Mädchengesichter, so frisch, so blühend, daß ich wohl merke, es ist das Leben [371] selbst, das sein Vermählungsfest mit dem Tode feiert und Schönheit und Jugend dazu eingeladen hat.« Ja, es war so ein lebendes Totenfest, ich weiß nicht, wie es im Kalender genannt wird, auf jeden Fall so ein Schindungstag irgendeines geduldigen Martyrers, denn ich sah nachher einen heiligen Totenschädel und noch einige Extraknochen mit Blumen und Edelsteinen geziert und unter hochzeitlicher Musik herumtragen. Es war eine schöne Prozession.

Voran gingen die Kapuziner, die sich von den anderen Mönchen durch lange Bärte auszeichneten und gleichsam die Sappeurs dieser Glaubensarmee bildeten. Darauf folgten Kapuziner ohne Bärte, worunter viele männlich edle Gesichter, sogar manch jugendlich schönes Gesicht, das die breite Tonsur sehr gut kleidete, weil der Kopf dadurch wie mit einem zierlichen Haarkranz umflochten schien und samt dem bloßen Nacken recht anmutig aus der braunen Kutte hervortrat. Hierauf folgten Kutten von anderen Farben, schwarz, weiß, gelb, panaché, auch herabgeschlagene dreieckige Hüte, kurz, all jene Klosterkostüme, womit wir durch die Bemühungen unseres Generalintendanten längst bekannt sind. Nach den Mönchsorden kamen die eigentlichen Priester, weiße Hemde über schwarze Hosen, und farbige Käppchen; hinter ihnen kamen noch vornehmere Geistliche, in buntseidne Decken gewickelt und auf dem Haupte eine Art hoher Mützen, die wahrscheinlich aus Ägypten stammen und die man auch aus dem Denonschen Werke, aus der »Zauberflöte« und aus dem Belzoni kennenlernt; es waren altgediente Gesichter, und sie schienen eine Art von alter Garde zu bedeuten. Zuletzt kam der eigentliche Stab, ein Thronhimmel und darunter ein alter Mann mit einer noch höheren Mütze und in einer noch reicheren Decke, deren Zipfel von zwei ebenso gekleideten alten Männern, nach Pagenart, getragen wurden.

Die vorderen Mönche gingen mit gekreuzten Armen ernsthaft schweigend; aber die mit den hohen Mützen sangen einen gar unglücklichen Gesang, so näselnd, so schlürfend, so kollerend, daß ich überzeugt bin, wären die Juden die größere [372] Volksmenge und ihre Religion wäre die Staatsreligion, so würde man obiges Gesinge mit dem Namen »Mauscheln« bezeichnen. Glücklicherweise konnte man es nur zur Hälfte vernehmen, indem hinter der Prozession, mit lautem Trommeln und Pfeifen, mehrere Kompanien Militär einherzogen, so wie überhaupt an beiden Seiten neben den wallenden Geistlichen auch immer je zwei und zwei Grenadiere marschierten. Es waren fast mehr Soldaten als Geistliche; aber zur Unterstützung der Religion gehören heutzutage viel Bajonette, und wenn gar der Segen gegeben wird, dann müssen in der Ferne auch die Kanonen bedeutungsvoll donnern.

Wenn ich eine solche Prozession sehe, wo unter stolzer Militäreskorte die Geistlichen so gar trübselig und jammervoll einherwandeln, so ergreift es mich immer schmerzhaft, und es ist mir, als sähe ich unseren Heiland selbst, umringt von Lanzenträgern, zur Richtstätte abführen. Die Sterne zu Lucca dachten gewiß wie ich, und als ich seufzend nach ihnen hinaufblickte, sahen sie mich so übereinstimmend an mit ihren frommen Augen, so hell, so klar. Aber man bedurfte nicht ihres Lichtes, tausend und aber tausend Lampen und Kerzen und Mädchengesichter flimmerten aus allen Fenstern, an den Straßenecken standen lodernde Pechkränze aufgepflanzt, und dann hatte auch jeder Geistliche noch seinen besonderen Kerzenträger zur Seite. Die Kapuziner hatten meistens kleine Buben, die ihnen die Kerze trugen, und die jugendlich frischen Gesichtchen schauten bisweilen recht neugierig vergnügt hinauf nach den alten, ernsten Bärten; so ein armer Kapuziner kann keinen großen Kerzenträger besolden, und der Knabe, den er das Ave Maria lehrt oder dessen Muhme ihm beichtet, muß bei Prozessionen wohl gratis dieses Amt übernehmen, und es wird darum gewiß nicht mit geringerer Liebe verrichtet. Die folgenden Mönche hatten nicht viel größere Buben, einige vornehmere Orden hatten schon erwachsene Rangen, und die hochmütigen Priester hatten wirkliche Bürgersleute zu Kerzenträgern. Aber endlich gar der Herr Erzbischof – denn das war wohl der Mann, der in vornehmer Demut unter dem Thronhimmel ging [373] und sich die Gewandzipfel von greisen Pagen nachtragen ließ –, dieser hatte an jeder Seite einen Lakaien, die beide in blauen Livreen mit gelben Tressen prangten und zeremoniös, als servierten sie bei Hof, die weißen Wachskerzen trugen.

Auf jeden Fall schien mir solche Kerzenträgerei eine gute Einrichtung, denn ich konnte dadurch um so heller die Gesichter besehen, die zum Katholizismus gehören. Und ich habe sie jetzt gesehen, und zwar in der besten Beleuchtung. Und was sah ich denn? Nun ja, der klerikale Stempel fehlte nirgends. Aber dieses abgerechnet, waren die Gesichter untereinander ebenso verschieden wie andre Gesichter. Das eine war blaß, das andre rot, diese Nase erhob sich stolz, jene war niedergeschlagen, hier ein funkelnd schwarzes, dort ein schimmernd graues Auge – aber in allen diesen Gesichtern lagen die Spuren derselben Krankheit, einer schrecklichen, unheilbaren Krankheit, die wahrscheinlich Ursache sein wird, daß mein Enkel, wenn er hundert Jahr später die Prozession in Lucca zu sehen bekommt, kein einziges von jenen Gesichtern wiederfindet. Ich fürchte, ich bin selbst angesteckt von dieser Krankheit, und eine Folge derselben ist jene Weichheit, die mich wunderbar beschleicht, wenn ich so ein sieches Mönchsgesicht betrachte und darauf die Symptome jener Leiden sehe, die sich unter der groben Kutte verstecken: – gekränkte Liebe, Podagra, getäuschter Ehrgeiz, Rückendarre, Reue, Hämorrhoiden, die Herzwunden, die uns vom Undank der Freunde, von der Verleumdung der Feinde und von der eignen Sünde geschlagen worden, alles dieses und noch viel mehr, was ebenso leicht unter einer groben Kutte wie unter einem feinen Modefrack seinen Platz zu finden weiß. Oh! es ist keine Übertreibung, wenn der Poet in seinem Schmerze ausruft: »Das Leben ist eine Krankheit, die ganze Welt ein Lazarett!«

»Und der Tod ist unser Arzt –« Ach! ich will nichts Böses von ihm reden und nicht andre in ihrem Vertrauen stören; denn da er der einzige Arzt ist, so mögen sie immerhin glauben, er sei auch der beste, und das einzige Mittel, das er anwendet, [374] seine ewige Erdkur, sei auch das beste. Wenigstens kann man von ihm rühmen, daß er immer gleich bei der Hand ist und trotz seiner großen Praxis nie lange auf sich warten läßt, wenn man ihn verlangt. Manchmal folgt er seinen Patienten sogar zur Prozession und trägt ihnen die Kerze. Es war gewiß der Tod selbst, den ich an der Seite eines blassen, bekümmerten Priesters gehen sah; in dünnen zitternden Knochenhänden trug er diesem die flimmernde Kerze, nickte dabei gar gutmütig besänftigend mit dem ängstlich kahlen Köpfchen, und so schwach er selbst auf den Beinen war, so unterstützte er doch noch zuweilen den armen Priester, der bei jedem Schritte noch bleicher wurde und umsinken wollte. Er schien ihm Mut einzusprechen: »Warte nur noch einige Stündchen, dann sind wir zu Hause, und ich lösche die Kerze aus, und ich lege dich aufs Bett, und die kalten, müden Beine können ausruhen, und du sollst so fest schlafen, daß du das wimmernde Sankt-Michaels-Glöckchen nicht hören wirst.«

›Gegen den Mann will ich auch nicht schreiben‹, dacht ich, als ich den armen, bleichen Priester sah, dem der leibhaftige Tod zu Bette leuchtete.

Ach! man sollte eigentlich gegen niemanden in dieser Welt schreiben. Jeder ist selbst krank genug in diesem großen Lazarett, und manche polemische Lektüre erinnert mich unwillkürlich an ein widerwärtiges Gezänk in einem kleineren Lazarett zu Krakau, wobei ich mich als zufälliger Zuschauer befand und wo entsetzlich anzuhören war, wie die Kranken sich einander ihre Gebrechen spottend vorrechneten, wie ausgedörrte Schwindsüchtige den aufgeschwollenen Wassersüchtling verhöhnten, wie der eine lachte über den Nasenkrebs des andern und dieser wieder über Maulsperre und Augenverdrehung seiner Nachbaren, bis am Ende die Fiebertollen nackt aus den Betten sprangen und den andern Kranken die Decken und Laken von den wunden Leibern rissen und nichts als scheußliches Elend und Verstümmlung zu sehen war.

[375]
Kapitel 6
Kapitel VI

Jener schenkte nunmehr auch der übrigen Götterversammlung,

Rechtshin, lieblichen Nektar dem Mischkrug emsig entschöpfend.

Doch unermeßliches Lachen erscholl den seligen Göttern,

Als sie sahn, wie Hephästos im Saal so gewandt umherging.

Also den ganzen Tag bis spät zur sinkenden Sonne

Schmausten sie; und nicht mangelt' ihr Herz des

gemeinsamen Mahles,

Nicht des Saitengetöns von der lieblichen Leier Apollons,

Noch des Gesangs der Musen mit holdantwortender Stimme.

Vulgata


Da plötzlich keuchte heran ein bleicher, bluttriefender Jude, mit einer Dornenkrone auf dem Haupte und mit einem großen Holzkreuz auf der Schulter; und er warf das Kreuz auf den hohen Göttertisch, daß die goldnen Pokale zitterten und die Götter verstummten und erblichen und immer bleicher wurden, bis sie endlich ganz in Nebel zerrannen.

Nun gab's eine traurige Zeit, und die Welt wurde grau und dunkel. Es gab keine glücklichen Götter mehr, der Olymp wurde ein Lazarett, wo geschundene, gebratene und gespießte Götter langweilig umherschlichen und ihre Wunden verbanden und triste Lieder sangen. Die Religion gewährte keine Freude mehr, sondern Trost; es war eine trübselige, blutrünstige Delinquentenreligion.

War sie vielleicht nötig für die erkrankte und zertretene Menschheit? Wer seinen Gott leiden sieht, trägt leichter die eignen Schmerzen. Die vorigen heiteren Götter, die selbst keine Schmerzen fühlten, wußten auch nicht, wie armen gequälten Menschen zumute ist, und ein armer gequälter Mensch könnte auch, in seiner Not, kein rechtes Herz zu ihnen fassen. Es waren Festtagsgötter, um die man lustig herumtanzte und denen man nur danken konnte. Sie wurden deshalb auch nie so ganz von [376] ganzem Herzen geliebt. Um so ganz von ganzem Herzen geliebt zu werden – muß man leidend sein. Das Mitleid ist die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe selbst. Von allen Göttern, die jemals gelebt haben, ist daher Christus derjenige Gott, der am meisten geliebt worden. Besonders von den Frauen – –

Dem Menschengewühl entfliehend, habe ich mich in eine einsame Kirche verloren, und was du, lieber Leser, eben gelesen hast, sind nicht so sehr meine eignen Gedanken als vielmehr einige unwillkürliche Worte, die in mir laut geworden, während ich, dahingestreckt auf einer der alten Betbänke, die Töne einer Orgel durch meine Brust ziehen ließ. Da liege ich, mit phantasierender Seele, der seltsamen Musik noch seltsamere Texte unterdichtend; dann und wann schweifen meine Blicke durch die dämmernden Bogengänge und suchen die dunkeln Klangfiguren, die zu jenen Orgelmelodien gehören. Wer ist die Verschleierte, die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna? Die Ampel, die davor hängt, beleuchtet grauenhaft süß die schöne Schmerzenmutter einer gekreuzigten Liebe, die Venus dolorosa; doch kupplerisch geheimnisvolle Lichter fallen zuweilen wie verstohlen auf die schönen Formen der verschleierten Beterin. Diese liegt zwar regungslos auf den steinernen Altarstufen, doch in der wechselnden Beleuchtung bewegt sich ihr Schatten, läuft manchmal zu mir heran, zieht sich wieder hastig zurück, wie ein stummer Mohr, der ängstliche Liebesbote in einem Harem – und ich verstehe ihn. Er verkündet mir die Gegenwart seiner Herrin, der Sultanin meines Herzens.

Es wird aber allmählich immer dunkler im leeren Hause, hie und da huscht eine unbestimmte Gestalt den Pfeilern entlang, dann und wann steigt leises Murmeln aus einer Seitenkapelle, und ihre langen, langgezogenen Töne stöhnt die Orgel wie ein seufzendes Riesenherz –

Es war aber, als ob jene Orgeltöne niemals aufhören, als ob jene Sterbelaute, jener lebende Tod ewig dauern wollte, ich fühlte so unsägliche Beklommenheit, so namenlose Angst, als wäre ich scheintot begraben worden, ja als wäre ich, ein Längstverstorbener, [377] aus dem Grabe gestiegen und sei, mit unheimlichen Nachtgesellen, in die Gespensterkirche gegangen, um die Totengebete zu hören und Leichensünden zu beichten. Manchmal war mir, als sähe ich sie wirklich neben mir sitzen, in geisterhaftem Dämmerlichte, die abgeschiedene Gemeinde, in verschollen altflorentinischen Trachten, mit langen, blassen Gesichtern, goldbeschlagene Gebetbücher in dünnen Händen, heimlich wispernd und melancholisch einander zunickend. Der wimmernde Ton eines fernen Sterbeglöckchens mahnte mich wieder an den kranken Priester, den ich bei der Prozession gesehen, und ich sprach zu mir selber: »Der ist jetzt auch gestorben und kommt hierher, um die erste Nachtmesse zu lesen, und da beginnt erst recht der traurige Spuk.« Plötzlich aber erhob sich, von den Stufen des Altars, die holde Gestalt der verschleierten Beterin –

Ja, sie war es, schon ihr lebendiger Schatten verscheuchte die weißen Gespenster, ich sah jetzt nur sie, ich folgte ihr rasch zur Kirche hinaus, und als sie vor der Türe den Schleier zurückschlug, sah ich in Franscheskas beträntes Antlitz. Es glich einer sehnsüchtig weißen Rose, angeperlt vom Tau der Nacht und beglänzt vom Strahl des Mondes. »Franscheska, liebst du mich?« Ich frug viel, und sie antwortete wenig. Ich begleitete sie nach dem Hotel Croce di Malta, wo sie und Mathilde logierten. Die Straßen waren leer geworden, die Häuser schliefen mit geschlossenen Fensteraugen, nur hie und da, durch die hölzernen Wimpern, blinzelte ein Lichtchen. Oben am Himmel aber trat ein breiter hellgrüner Raum aus den Wolken hervor, und darin schwamm der Halbmond, wie eine silberne Gondel in einem Meer von Smaragden. Vergebens bat ich Franscheska, nur ein einziges Mal hinaufzusehen zu unserem alten, lieben Vertrauten; sie hielt aber das Köpfchen träumend gesenkt. Ihr Gang, der sonst so heiter dahinschwebend, war jetzt wie kirchlich gemessen, ihr Schritt war düster katholisch, sie bewegte sich wie nach dem Takte einer feierlichen Orgel, und wie in früheren Nächten die Sünde, so war ihr jetzt die Religion in die Beine gefahren. Unterwegs vor jedem Heiligenbilde bekreuzte [378] sie sich Haupt und Busen; vergebens versuchte ich, ihr dabei zu helfen. Als wir aber auf dem Markte der Kirche San Michele vorbeikamen, wo die marmorne Schmerzensmutter mit den vergoldeten Schwertern im Herzen und mit der Lämpchenkrone auf dem Haupte aus der dunkeln Nische hervorleuchtete, da schlang Franscheska ihren Arm um meinen Hals, küßte mich und flüsterte: »Cecco, Cecco, caro Cecco!«

Ich nahm diese Küsse ruhig in Empfang, obgleich ich wohl wußte, daß sie im Grunde einem bolognesischen Abate, einem Diener der römisch-katholischen Kirche, zugedacht waren. Als Protestant machte ich mir kein Gewissen daraus, mir die Güter der katholischen Geistlichkeit zuzueignen, und auf der Stelle säkularisierte ich die frommen Küsse Franscheskas. Ich weiß, die Pfaffen werden hierüber wütend sein, sie schreien gewiß über Kirchenraub und würden gern das französische Sakrilegiengesetz auf mich anwenden. Leider muß ich gestehen, daß besagte Küsse das einzige waren, was ich in jener Nacht erbeuten konnte. Franscheska hatte beschlossen, diese Nacht nur zum Heile ihrer Seele, kniend und betend, zu benutzen. Vergebens erbot ich mich, ihre Andachtsübungen zu teilen; – als sie ihr Zimmer erreichte, schloß sie mir die Türe vor der Nase zu. Vergebens stand ich draußen noch eine ganze Stunde und bat um Einlaß und seufzte alle möglichen Seufzer und heuchelte fromme Tränen und schwor die heiligsten Eide – versteht sich, mit geistlichem Vorbehalte, ich fühlte, wie ich allmählich ein Jesuit wurde, ich wurde ganz schlecht und erbot mich endlich sogar, katholisch zu werden für diese einzige Nacht –

»Franscheska!« rief ich, »Stern meiner Gedanken! Gedanke meiner Seele! vita della mia vita! meine schöne, oftgeküßte, schlanke, katholische Franscheska! für diese einzige Nacht, die du mir noch gewährst, will ich selbst katholisch werden – aber auch nur für diese einzige Nacht! Oh, die schöne, selige, katholische Nacht! Ich liege in deinen Armen, strengkatholisch glaube ich an den Himmel deiner Liebe, von den Lippen küssen wir uns das holde Bekenntnis, das Wort wird Fleisch, der [379] Glaube wird versinnlicht, in Form und Gestalt, welche Religion! Ihr Pfaffen! jubelt unterdessen eu'r Kyrie eleison, klingelt, räuchert, läutet die Glocken, laßt die Orgel brausen, laßt die Messe von Palestrina erklingen. ›Das ist der Leib!‹ – ich glaube, ich bin selig, ich schlafe ein – aber sobald ich des anderen Morgens erwache, reibe ich mir den Schlaf und den Katholizismus aus den Augen und sehe wieder klar in die Sonne und in die Bibel und bin wieder protestantisch vernünftig und nüchtern, nach wie vor.«

Kapitel 7
Kapitel VII

Als am anderen Tage die Sonne wieder herzlich vom Himmel herablachte, erloschen gänzlich die trübseligen Gedanken und Gefühle, die von der Prozession des vorhergehenden Abends in mir erregt worden und mir das Leben wie eine Krankheit und die Welt wie ein Lazarett ansehen ließen.

Die ganze Stadt wimmelte von heiterem Volk. Geputzt bunte Menschen, dazwischen hüpfte hie und da ein schwarz Pfäfflein. Das brauste und lachte und schwatzte, man hörte fast nicht das Glockengebimmel, das zu einer großen Messe einlud, in die Kathedrale. Diese ist eine schöne, einfache Kirche, deren buntmarmorne Fassade mit jenen kurzen, übereinandergebauten Säulchen geziert ist, die uns so witzig trübe ansehen. Inwendig waren Pfeiler und Wände mit rotem Tuche überkleidet, und heitere Musik ergoß sich über die wogende Menschenmenge. Ich führte Signora Franscheska am Arm, und als ich ihr beim Eintritt das Weihwasser reichte und durch die süßfeuchte Fingerberührung unsere Seelen elektrisiert wurden, bekam ich auch zu gleicher Zeit einen elektrischen Schlag ans Bein, daß ich vor Schreck fast hinpurzelte über die knienden Bäuerinnen, die, ganz weiß gekleidet und mit langen 0hrringen und Halsketten von gelbem Golde belastet, in dichten Haufen den Boden bedeckten. Als ich mich umsah, erblickte ich ein ebenfalls kniendes Frauenzimmer, das sich fächerte, [380] und hinter dem Fächer erspähte ich Myladys kichernde Augen. Ich beugte mich zu ihr hinab, und sie hauchte mir schmachtend ins Ohr: »Delightful!«

»Um Gottes willen!« flüsterte ich ihr zu, »bleiben Sie ernsthaft, lachen Sie nicht; sonst werden wir wahrhaftig hinausgeschmissen!«

Aber da half kein Bitten und Flehen. Zum Glück verstand man unsre Sprache nicht. Denn als Mylady aufstand und uns durch das Gedränge zum Hauptaltar folgte, überließ sie sich ihren tollen Launen, ohne die mindeste Rücksicht, als stünden wir allein auf den Apenninen. Sie mokierte sich über alles, sogar die armen gemalten Bilder an den Wänden waren vor ihren Pfeilen nicht sicher.

»Sieh da!« rief sie, »auch Lady Eva, geborne von Rippe, wie sie mit der Schlange diskuriert! Es ist ein guter Einfall des Malers, daß er der Schlange einen menschlichen Kopf mit einem menschlichen Gesichte gab; es wäre jedoch noch weit sinnreicher gewesen, wenn er dieses Verführungsgesicht mit einem militärischen Schnurrbart verziert hätte. Sehen Sie, Doktor, dort den Engel, welcher der hochgebenedeiten Jungfrau ihren gesegneten Zustand verkündigt und dabei so ironisch lächelt? Ich weiß, was dieser Ruffiano denkt! Und diese Maria, zu deren Füßen die heilige Allianz des Morgenlandes, mit Gold- und Weihrauchgaben, niederkniet, sieht sie nicht aus wie die Catalani?«

Signora Franscheska, welche von diesem Geschwätz, wegen ihrer Unkenntnis des Englischen, nichts verstand als das Wort Catalani, bemerkte hastig, daß die Dame, wovon unsre Freundin spreche, jetzt wirklich den größten Teil ihrer Renommee verloren habe. Unsre Freundin aber ließ sich nicht stören und kommentierte auch die Passionsbilder, bis zur Kreuzigung, einem überaus schönen Gemälde, worauf unter anderen drei dumme untätige Gesichter abgebildet waren, die dem Gottesmärtyrtum gemächlich zusahen und von denen Mylady durchaus behauptete, es seien die bevollmächtigten Kommissarien von Östreich, Rußland und Frankreich.

[381] Indessen die alten Freskos, die zwischen den roten Decken der Wände zum Vorschein kamen, vermochten einigermaßen mit ihrem inwohnenden Ernste die britische Spottlust abzuwehren. Es waren darauf Gesichter aus jener heldenmütigen Zeit Luccas, wovon in den Geschichtsbüchern Machiavells, des romantischen Sallusts, soviel die Rede ist und deren Geist uns aus den Gesängen Dantes, des katholischen Homers, so feurig entgegenweht. Wohl sprechen aus jenen Mienen die strengen Gefühle und barbarischen Gedanken des Mittelalters; wenn auch auf manchem stummen Jünglingsmunde das lächelnde Bekenntnis schwebt, daß damals nicht alle Rosen so ganz steinern und umflort gewesen sind, und wenn auch durch die fromm gesenkten Augenwimpern mancher Madonna aus jener Zeit ein so schalkhafter Liebeswink blinzelt, als ob sie uns gern noch ein zweites Christkindlein schenken möchte. Jedenfalls ist es aber ein hoher Geist, der uns aus jenen altflorentinischen Gemälden anspricht, es ist das eigentlich Heroische, das wir auch in den marmornen Götterbildern der Alten erkennen und das nicht, wie unsre Ästhetiker meinen, in einer ewigen Ruhe ohne Leidenschaft, sondern in einer ewigen Leidenschaft ohne Unruhe besteht. Auch durch einige spätere Ölbilder, die im Dome von Lucca hängen, zieht sich, vielleicht als traditioneller Nachhall, jener altflorentinische Sinn. Besonders fiel mir auf eine Hochzeit zu Kana, von einem Schüler des Andrea del Sarto, etwas hart gemalt und schroff gestaltet. Der Heiland sitzt zwischen der weichen schönen Braut und einem Pharisäer, dessen steinernes Gesetztafelgesicht sich wundert über den genialen Propheten, der sich heiter mischt in die Reihen der Heiteren und die Gesellschaft mit Wundern regaliert, die noch größer sind als die Wunder des Moses; denn dieser konnte, wenn er noch so stark gegen den Felsen schlug, nur Wasser hervorbringen, jener aber brauchte nur ein Wort zu sprechen, und die Krüge füllten sich mit dem besten Wein. Viel weicher, fast venezianisch koloriert, ist das Gemälde von einem Unbekannten, das daneben hängt und worin der freundlichste Farbenschmelz von einem durchbebenden Schmerze gar[382] seltsam gedämpft wird. Es stellt dar, wie Maria ein Pfund Salbe nahm, von ungefälschter köstlicher Narde, und damit die Füße Jesu salbte und sie mit ihren Haaren trocknete. Christus sitzt da, im Kreise seiner Jünger, ein schöner, geistreicher Gott, menschlich wehmütig fühlt er eine schaurige Pietät gegen seinen eignen Leib, der bald soviel dulden wird und dem die salbende Ehre, die man den Gestorbenen erweist, schon jetzt gebührt und schon jetzt widerfährt; er lächelt gerührt hinab auf das kniende Weib, das, getrieben von ahnender Liebesangst, jene barmherzige Tat verrichtet, eine Tat, die nie vergessen wird, solange es leidende Menschen gibt, und die zur Erquickung aller leidenden Menschen durch die Jahrtausende duftet. Außer dem Jünger, der am Herzen Christi lag und der auch diese Tat verzeichnet hat, scheint keiner von den Aposteln ihre Bedeutung zu fühlen, und der mit dem roten Barte scheint sogar, wie in der Schrift steht, die verdrießliche Bemerkung zu machen: »Warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihundert Groschen und den Armen gegeben?« Dieser ökonomische Apostel ist eben derjenige, der den Beutel führt, die Gewohnheit der Geldgeschäfte hat ihn abgestumpft gegen alle uneigennützigen Nardendüfte der Liebe, er möchte Groschen dafür einwechseln zu einem nützlichen Zweck, und eben er, der Groschenwechsler, er war es, der den Heiland verriet – um dreißig Silberlinge. So hat das Evangelium auch symbolisch, in der Geschichte des Bankiers unter den Aposteln, die unheimliche Verführungsmacht, die im Geldsacke lauert, offenbart und vor der Treulosigkeit der Geldgeschäftsleute gewarnt. Jeder Reiche ist ein Judas Ischariot.

»Sie schneiden ja ein verbissen gläubiges Gesicht, teurer Doktor«, flüsterte Mylady, »ich habe Sie eben beobachtet, und verzeihen Sie mir, wenn ich Sie etwa beleidige, Sie sahen aus wie ein guter Christ.«

»Unter uns gesagt, das bin ich; ja, Christus –«

»Glauben Sie vielleicht ebenfalls, daß er ein Gott sei?«

»Das versteht sich, meine gute Mathilde. Es ist der Gott, den ich am meisten liebe – nicht weil er so ein legitimer Gott ist, [383] dessen Vater schon Gott war und seit undenklicher Zeit die Welt beherrschte, sondern weil er, obgleich ein geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demokratisch gesinnt, keinen höfischen Zeremonialprunk liebt, weil er kein Gott einer Aristokratie von geschorenen Schriftgelehrten und galonierten Lanzenknechten und weil er ein bescheidener Gott des Volks ist, ein Bürgergott, un bon dieu citoyen. Wahrlich, wenn Christus noch kein Gott wäre, so würde ich ihn dazu wählen, und viel lieber als einem aufgezwungenen absoluten Gott würde ich ihm gehorchen, ihm, dem Wahlgotte, dem Gotte meiner Wahl.«

Kapitel 8
Kapitel VIII

Der Erzbischof, ein ernster Greis, las selber die Messe, und ehrlich gestanden, nicht bloß ich, sondern einigermaßen auch Mylady, wir wurden heimlich berührt von dem Geiste, der in dieser heiligen Handlung wohnt, und von der Weihe des alten Mannes, der sie vollzog; – ist ja doch jeder alte Mann an und für sich ein Priester, und die Zeremonien der katholischen Messe, sind sie doch so uralt, daß sie vielleicht das einzige sind, was sich aus dem Kindesalter der Welt erhalten hat und als Erinnerung an die ersten Vorfahren aller Menschen unsere Pietät in Anspruch nimmt. »Sehen Sie, Mylady«, sagte ich, »jede Bewegung, die Sie hier erblicken, die Art des Zusammenlegens der Hände und des Ausbreitens der Arme, dieses Knicksen, dieses Händewaschen, dieses Beräuchertwerden, dieser Kelch, ja die ganze Kleidung des Mannes, von der Mitra bis zum Saume der Stola, alles dieses ist altägyptisch und Überbleibsel eines Priestertums, von dessen wundersamem Wesen nur die ältesten Urkunden etwas weniges berichten, eines frühesten Priestertums, das die erste Weisheit erforschte, die ersten Götter erfand, die ersten Symbole bestimmte und die junge Menschheit –«

»Zuerst betrog«, setzte Mylady bitteren Tones hinzu, »und ich glaube, Doktor, aus dem frühesten Weltalter ist uns nichts [384] übriggeblieben als einige triste Formeln des Betrugs. Und sie sind noch immer wirksam. Denn sehen Sie dort die stockfinsteren Gesichter? Und gar jenen Kerl, der dort auf seinen dummen Knien liegt und mit seinem aufgesperrten Maule so ultradumm aussieht?«

»Um des lieben Himmels willen!« begütigte ich leise, »was ist daran gelegen, daß dieser Kopf so wenig von der Vernunft erleuchtet ist? Was geht das uns an? Was irritiert Sie dabei? Sehen Sie doch täglich Ochsen, Kühe, Hunde, Esel, die ebenso dumm sind, ohne daß Sie durch solchen Anblick aus Ihrem Gleichmut aufgestört und zu unmutigen Äußerungen angeregt werden?«

»Ach, das ist was anderes«, fiel mir Mylady in die Rede, »diese Bestien tragen hinten Schwänze, und ich ärgre mich eben, daß ein Kerl, der ebenso bestialisch dumm ist, dennoch hinten keinen Schwanz hat.«

»Ja, das ist was andres, Mylady.«

Kapitel 9
Kapitel IX

Nach der Messe gab's noch allerlei zu schauen und zu hören, besonders die Predigt eines großen, vierstämmigen Mönchs, dessen befehlend kühnes, altrömisches Gesicht gegen die grobe Bettelkutte gar wundersam abstach, so daß der Mann aussah wie ein Imperator der Armut. Er predigte von Himmel und Hölle und geriet zuweilen in die wütendste Begeisterung. Seine Schilderung des Himmels war ein bißchen barbarisch überladen, und es gab da viel Gold, Silber, Edelsteine, köstliche Speisen und Weine von den besten Jahrgängen; dabei machte er ein so verklärt schlürfendes Gesicht, und er schob sich vor Wonne in der Kutte hin und her, wenn er unter den Englein mit weißen Flüglein sich selber dachte als ein Englein mit weißen Flüglein. Minder ergötzlich, ja sogar sehr praktisch ernsthaft war seine Schilderung der Hölle. Hier war der Mann weit mehr in seinem Elemente. Er eiferte besonders über die Sünder, [385] die nicht mehr so recht christlich ans alte Feuer der Hölle glauben und sogar wähnen, sie habe sich in neuerer Zeit etwas abgekühlt und werde nächstens ganz und gar erlöschen. »Und wäre auch«, rief er, »die Hölle am Erlöschen, so würde ich, ich mit meinem Atem, die letzten glimmenden Kohlen wieder anfachen, daß sie wieder auf lodern sollten zu ihrer alten Flammenglut.« Hörte man nun die Stimme, die gleich dem Nordwind diese Worte hervorheulte, sah man dabei das brennende Gesicht, den roten, büffelstarken Hals und die gewaltigen Fäuste des Mannes, so hielt man jene höllische Drohung für keine Hyperbel.

»I like this man«, sagte Mylady.

»Da haben Sie recht«, antwortete ich, »auch mir gefällt er besser als mancher unserer sanften, homöopathischen Seelenärzte, die 1/10000 Vernunft in einem Eimer Moralwasser schütten und uns damit des Sonntags zur Ruhe predigen.«

»Ja, Doktor, für seine Hölle habe ich Respekt; aber zu seinem Himmel hab ich kein rechtes Vertrauen. Wie ich mich denn überhaupt in Ansehung des Himmels schon sehr früh in geheimen Zweifel verfing. Als ich noch klein war, in Dublin, lag ich oft auf dem Rücken im Gras und sah in den Himmel und dachte nach, ob wohl der Himmel wirklich so viele Herrlichkeiten enthalten mag, wie man davon rühmt. Aber, dacht ich, wie kommt's, daß von diesen Herrlichkeiten niemals etwas herunterfällt, etwa ein brillantener Ohrring oder eine Schnur Perlen oder wenigstens ein Stückchen Ananaskuchen, und daß immer nur Hagel oder Schnee oder gewöhnlicher Regen uns von oben herabbeschert wird? Das ist nicht ganz richtig, dacht ich –«

»Warum sagen Sie das, Mylady? Warum diese Zweifel nicht lieber verschweigen? Ungläubige, die keinen Himmel glauben, sollten nicht Proselyten machen; minder tadelnswert, sogar lobenswert ist die Proselytenmacherei derjenigen Leute, die einen süperben Himmel haben und dessen Herrlichkeiten nicht selbstsüchtig allein genießen wollen und deshalb ihre Nebenmenschen einladen, dran teilzunehmen, und sich nicht [386] eher zufriedengeben, bis diese ihre gütige Einladung angenommen.«

»Ich habe mich aber immer gewundert, Doktor, daß manche reiche Leute dieser Gattung, die wir, als Präsidenten, Vizepräsidenten oder Sekretäre von Bekehrungsgesellschaften, eifrigst bemüht sehen, etwa einen alten verschimmelten Betteljuden himmelfähig zu machen und seine einstige Genossenschaft im Himmelreich zu erwerben, dennoch nie dran denken, ihn schon jetzt auf Erden an ihren Genüssen teilnehmen zu lassen, und ihn z.B. nie des Sommers auf ihre Landhäuser einladen, wo es gewiß Leckerbissen gibt, die dem armen Schelm ebensogut schmecken würden, als genösse er sie im Himmel selbst.«

»Das ist erklärlich, Mylady, die himmlischen Genüsse kosten sie nichts, und es ist ein doppeltes Vergnügen, wenn wir so wohlfeilerweise unsre Nebenmenschen beglücken können. Zu welchen Genüssen aber kann der Ungläubige jemanden einladen?«

»Zu nichts, Doktor, als zu einem langen, ruhigen Schlafe, der aber zuweilen für einen Unglücklichen sehr wünschenswert sein kann, besonders wenn er vorher mit zudringlichen Himmelseinladungen gar zu sehr geplagt worden.«

Dieses sprach das schöne Weib mit stechend bitteren Akzenten, und nicht ganz ohne Ernst antwortete ich ihr: »Liebe Mathilde, bei meinen Handlungen auf dieser Welt kümmert mich nicht einmal die Existenz von Himmel und Hölle, ich bin zu groß und zu stolz, als daß der Geiz nach himmlischen Belohnungen oder die Furcht vor höllischen Strafen mich leiten sollten. Ich strebe nach dem Guten, weil es schön ist und mich unwiderstehlich anzieht, und ich verabscheue das Schlechte, weil es häßlich und mir zuwider ist. Schon als Knabe, wenn ich den Plutarch las – und ich lese ihn noch jetzt alle Abend im Bette und möchte dabei manchmal aufspringen und gleich Extrapost nehmen und ein großer Mann werden –, schon damals gefiel mir die Erzählung von dem Weibe, das durch die Straßen Alexandriens schritt, in der einen Hand einen Wasserschlauch, in der andern eine brennende Fackel tragend, und den [387] Menschen zurief, daß sie mit dem Wasser die Hölle auslöschen und mit der Fackel den Himmel in Brand stecken wolle, damit das Schlechte nicht mehr aus Furcht vor Strafe unterlassen und das Gute nicht mehr aus Begierde nach Belohnung ausgeübt werde. Alle unsre Handlungen sollen aus dem Quell einer uneigennützigen Liebe hervorsprudeln, gleichviel, ob es eine Fortdauer nach dem Tode gibt oder nicht.«

»Sie glauben also auch nicht an Unsterblichkeit.«

»Oh, Sie sind schlau, Mylady! Ich daran zweifeln? Ich, dessen Herz in die entferntesten Jahrtausende der Vergangenheit und der Zukunft immer tiefer und tiefer Wurzel schlägt, ich, der ich selbst einer der ewigsten Menschen bin, jeder Atemzug ein ewiges Leben, jeder Gedanke ein ewiger Stern – ich sollte nicht an Unsterblichkeit glauben?«

»Ich denke, Doktor, es gehört eine beträchtliche Portion Eitelkeit und Anmaßung dazu, nachdem wir schon soviel Gutes und Schönes auf dieser Erde genossen, noch obendrein vom lieben Gott die Unsterblichkeit zu verlangen! Der Mensch, der Aristokrat unter den Tieren, der sich besser dünkt als alle seine Mitgeschöpfe, möchte sich auch dieses Ewigkeitsvorrecht, am Throne des Weltkönigs, durch höfische Lob- und Preisgesänge und kniendes Bitten auswirken. – Oh, ich weiß, was dieses Zucken mit den Lippen bedeutet, unsterblicher Herr!«

Kapitel 10
Kapitel X

Signora bat uns, mit ihr nach dem Kloster zu gehn, worin das wundertätige Kreuz, das Merkwürdigste in ganz Toskana, bewahrt wird. Und es war gut, daß wir den Dom verließen, denn Myladys Tollheiten würden uns doch zuletzt in Verlegenheiten gestürzt haben. Sie sprudelte von witziger Laune; lauter lieblich närrische Gedanken, so übermütig wie junge Kätzchen, die in der Maisonne herumspringen. Am Ausgang des Doms tunkte sie den Zeigefinger dreimal ins Weihwasser, besprengte mich jedesmal und murmelte: »Dem Zefardeyim [388] Kinnim«, welches nach ihrer Behauptung die arabische Formel ist, womit die Zauberinnen einen Menschen in einen Esel verwandeln.

Auf der Piazza vor dem Dome manövrierte eine Menge Militär, beinah ganz östreichisch uniformiert und nach deutschem Kommando. Wenigstens hörte ich die deutschen Worte: »Präsentiert's Gewehr! Fuß Gewehr! Schultert 's Gewehr! Rechtsum! Halt!« Ich glaube, bei allen Italienern, wie noch bei einigen andern europäischen Völkern, wird auf deutsch kommandiert. Sollen wir Deutschen uns etwas darauf zugute tun? Haben wir in der Welt so viel zu befehlen, daß das Deutsche sogar die Sprache des Befehlens geworden? Oder wird uns so viel befohlen, daß der Gehorsam am besten die deutsche Sprache versteht?

Mylady scheint von Paraden und Revuen keine Freundin zu sein. Sie zog uns mit ironischer Furchtsamkeit von dannen. »Ich liebe nicht«, sprach sie, »die Nähe von solchen Menschen mit Säbeln und Flinten, besonders wenn sie in großer Anzahl, wie bei außerordentlichen Manövern, in Reih und Glied aufmarschieren. Wenn nun einer von diesen Tausenden plötzlich verrückt wird und mit der Waffe, die er schon in der Hand hat, mich auf der Stelle niedersticht? Oder wenn er gar plötzlich vernünftig wird und nachdenkt: ›Was hast du zu riskieren? zu verlieren? selbst wenn sie dir das Leben nehmen? Mag auch jene andre Welt, die uns nach dem Tode versprochen wird, nicht so ganz brillant sein, wie man sie rühmt, mag sie noch so schlecht sein, weniger, als man dir jetzt gibt, weniger als sechs Kreuzer per Tag, kann man dir auch dort nicht geben – drum mach dir den Spaß und erstich jene kleine Engländerin mit der impertinenten Nase!‹ Bin ich da nicht in der größten Lebensgefahr? Wenn ich König wäre, so würde ich meine Soldaten in zwei Klassen teilen. Die einen ließe ich an Unsterblichkeit glauben, um in der Schlacht Mut zu haben und den Tod nicht zu fürchten, und ich würde sie bloß im Kriege gebrauchen. Die andern aber würde ich zu Paraden und Revuen bestimmen, und damit es ihnen nie in den Sinn komme, daß sie nichts [389] riskieren, wenn sie des Spaßes wegen jemanden umbrächten, so würde ich ihnen bei Todesstrafe verbieten, an Unsterblichkeit zu glauben, ja, ich würde ihnen sogar noch etwas Butter zu ihrem Kommißbrot geben, damit sie das Leben recht liebgewinnen. Erstern hingegen, jenen unsterblichen Helden, würde ich das Leben sehr sauer machen, damit sie es recht verachten lernen und die Mündung der Kanonen für einen Eingang in eine bessere Welt ansehen.«

»Mylady«, sprach ich, »Sie wären ein schlechter Regent. Sie wissen wenig vom Regieren, und von der Politik verstehen Sie gar nichts. Hätten Sie die ›Politischen Annalen‹ gelesen –«

»Ich verstehe dergleichen vielleicht besser als Sie, teurer Doktor. Schon früh suchte ich mich darüber zu unterrichten. Als ich noch klein war, in Dublin –«

»Und auf dem Rücken lag, im Gras – und nachdachte oder auch nicht, wie in Ramsgate –«

Ein Blick, wie leiser Vorwurf der Undankbarkeit, fiel aus Myladys Augen, dann aber lachte sie wieder und fuhr fort: »Als ich noch klein war, in Dublin, und auf einem Eckchen von dem Schemel sitzen konnte, worauf Mutters Füße ruhten, da hatte ich immer allerlei zu fragen, was die Schneider, die Schuster, die Bäcker, kurz, was die Leute in der Welt zu tun haben. Und die Mutter erklärte dann: ›Die Schneider machen Kleider, die Schuster machen Schuhe, die Bäcker backen Brot‹ – Und als ich nun frug: ›Was tun denn die Könige?‹, da gab die Mutter zur Antwort: ›Die regieren.‹ – ›Weißt du wohl, liebe Mutter‹, sagte ich da, ›wenn ich König wäre, so würde ich mal einen ganzen Tag gar nicht regieren, bloß um zu sehen, wie es dann in der Welt aussieht.‹ – ›Liebes Kind‹, antwortete die Mutter, ›das tun auch manche Könige, und es sieht auch dann danach aus.‹«

»Wahrhaftig, Mylady, Ihre Mutter hatte recht. Besonders hier in Italien gibt es solche Könige, und man merkt es wohl in Piemont und Neapel –«

»Aber, lieber Doktor, es ist so einem italienischen König nicht zu verargen, wenn er manchen Tag gar nicht regiert, [390] wegen der allzu großen Hitze. Es ist nur zu befürchten, daß die Karbonari so einen Tag benutzen möchten; denn in der neuesten Zeit ist es mir besonders aufgefallen, daß die Revolutionen immer an solchen Tagen ausgebrochen sind, wo nicht regiert wurde. Irrten sich einmal die Karbonari und glaubten sie, es wäre so ein unregierter Tag, und gegen alle Erwartung wurde dennoch regiert, so verloren sie die Köpfe. Die Karbonari können daher nie vorsichtig genug sein und müssen sich genau die rechte Zeit merken. Dagegen aber ist es die höchste Politik der Könige, daß sie es ganz geheimhalten, an welchen Tagen sie nicht regieren, daß sie sich an solchen Tagen wenigstens einigemal auf den Regierstuhl setzen und etwa Federn schneiden oder Briefkuverts versiegeln oder weiße Blätter liniieren, alles zum Schein, damit das Volk draußen, das neugierig in die Fenster des Palais hineinguckt, ganz sicher glaube, es werde regiert.«

Während solche Bemerkungen aus Myladys feinem Mündchen hervorgaukelten, schwamm eine lächelnde Zufriedenheit um die vollen Rosenlippen Franscheskas. Sie sprach wenig. Ihr Gang war jedoch nicht mehr so seufzend entsagungsselig wie am verflossenen Abend, sie trat vielmehr siegreich einher, jeder Schritt ein Trompetenton; es war indessen mehr ein geistlicher Sieg als ein weltlicher, der sich in ihren Bewegungen kundgab, sie war fast das Bild einer triumphierenden Kirche, und um ihr Haupt schwebte eine unsichtbare Glorie. Die Augen aber, wie aus Tränen hervorlachend, waren wieder ganz weltkindlich, und in dem bunten Menschenstrom, der uns vorbeiflutete, ist auch kein einziges Kleidungsstück ihrem Forscherblick entgangen. »Ecco!« war dann ihr Ausruf, »welcher Schal! der Marchese soll mir ebensolchen Kaschmir zu einem Turbane kaufen, wenn ich die Roxelane tanze. Ach! er hat mir auch ein Kreuz mit Diamanten versprochen!«

Armer Gumpelino! zu dem Turbane wirst du dich leicht verstehen, jedoch das Kreuz wird dir noch man che saure Stunde machen; aber Signora wird dich so lange quälen und auf die Folter spannen, bis du dich endlich dazu bequemst.

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Kapitel 11
Kapitel XI

Die Kirche, worin das wundertätige Kreuz von Lucca zu sehen ist, gehört zu einem Kloster, dessen Namen mir diesen Augenblick nicht im Gedächtnisse.

Bei unserem Eintritt in die Kirche lagen vor dem Hauptaltare ein Dutzend Mönche auf den Knien, in schweigendem Gebet. Nur dann und wann, wie im Chor, sprachen sie einige abgebrochene Worte, die in den einsamen Säulengängen etwas schauerlich widerhallten. Die Kirche war dunkel, nur durch kleine gemalte Fenster fiel ein buntes Licht auf die kahlen Häupter und braunen Kutten. Glanzlose Kupferlampen beleuchteten spärlich die geschwärzten Freskos und Altarbilder, aus den Wänden traten hölzerne Heiligenköpfe, grell bemalt und bei dem zweifelhaften Lichte wie lebendig grinsend – Mylady schrie laut auf und zeigte zu unseren Füßen einen Grabstein, worauf in Relief das starre Bild eines Bischofs mit Mitra und Hirtenstab, gefalteten Händen und abgetretener Nase. »Ach!« flüsterte sie, »ich selbst trat ihm unsanft auf die steinerne Nase, und nun wird er mir diese Nacht im Traume erscheinen, und da gibt's eine Nase.«

Der Sakristan, ein bleicher, junger Mönch, zeigte uns das wundertätige Kreuz und erzählte dabei die Mirakel, die es verrichtet. Launisch, wie ich bin, habe ich vielleicht kein ungläubiges Gesicht dazu gemacht; ich habe dann und wann Anfälle von Wunderglauben, besonders wo, wie hier, Ort und Stunde denselben begünstigt. Ich glaube dann, daß alles in der Welt ein Wunder sei und die ganze Weltgeschichte eine Legende. War ich angesteckt von dem Wunderglauben Franscheskas, die das Kreuz mit wilder Begeisterung küßte? Verdrießlich wurde mir die ebenso wilde Spottlust der witzigen Britin. Vielleicht verletzte mich solche um so mehr, da ich mich selbst nicht davon frei fühlte und sie keineswegs als etwas Lobenswertes er achtete. Es ist nun mal nicht zu leugnen, daß die Spottlust, die Freude am Widerspruch der Dinge, etwas Bösartiges in sich trägt, statt daß der Ernst mehr mit den besseren Gefühlen verwandt [392] ist – die Tugend, der Freiheitssinn und die Liebe selbst sind sehr ernsthaft. Indessen, es gibt Herzen, worin Scherz und Ernst, Böses und Heiliges, Glut und Kälte sich so abenteuerlich verbinden, daß es schwer wird, darüber zu urteilen. Ein solches Herz schwamm in der Brust Mathildens; manchmal war es eine frierende Eisinsel, aus deren glattem Spiegelboden die sehnsüchtig glühendsten Palmenwälder hervorblühten, manchmal war es wieder ein enthusiastisch flammender Vulkan, der plötzlich von einer lachenden Schneelawine überschüttet wird. Sie war durchaus nicht schlecht bei all ihrer Ausgelassenheit, nicht einmal sinnlich; ja, ich glaube, von der Sinnlichkeit hatte sie nur die witzige Seite aufgefaßt und ergötzte sich daran wie an einem närrischen Puppenspiele. Es war ein humoristisches Gelüste, eine süße Neugier, wie sich der oder jener bunte Kauz in verliebten Zuständen gebärden würde. Wie ganz anders war Franscheska! In ihren Gedanken, Gefühlen war eine katholische Einheit. Am Tage war sie ein schmachtend blasser Mond, des Nachts war sie eine glühende Sonne – Mond meiner Tage! Sonne meiner Nächte! ich werde dich niemals wiedersehen!

»Sie haben recht«, sagte Mylady, »ich glaube auch an die Wundertätigkeit eines Kreuzes. Ich bin überzeugt, wenn der Marchese an den Brillanten des versprochenen Kreuzes nicht zu sehr knickert, so bewirkt es gewiß bei Signoren ein brillantes Wunder; sie wird am Ende noch so sehr davon geblendet werden, daß sie sich in seine Nase verliebt. Auch habe ich oft gehört von der Wundertätigkeit einiger Ordenskreuze, die einen ehrlichen Mann zum Schufte machen konnten.«

So spöttelte die hübsche Frau über alles, sie kokettierte mit dem armen Sakristan, machte dem Bischof mit der abgetretenen Nase noch drollige Exküsen, wobei sie sich seinen etwaigen Gegenbesuch höflichst verbat, und als wir an den Weihkessel gelangten, wollte sie mich durchaus wieder in einen Esel verwandeln.

War es nun wirkliche Stimmung, die der Ort einflößte, oder wollte ich diesen Spaß, der mich im Grunde verdroß, so scharf [393] als möglich ablehnen, genug, ich warf mich in das gehörige Pathos und sprach:

»Mylady, ich liebe keine Religionsverächterinnen. Schöne Frauen, die keine Religion haben, sind wie Blumen ohne Duft; sie gleichen jenen kalten, nüchternen Tulpen, die uns aus ihren chinesischen Porzellantöpfen so porzellanhaft ansehen und, wenn sie sprechen könnten, uns gewiß auseinandersetzen würden, wie sie ganz natürlich aus einer Zwiebel entstanden sind, wie es hinreichend sei, wenn man hienieden nur nicht übel riecht, und wie übrigens, was den Duft betrifft, eine vernünftige Blume gar keines Duftes bedarf.«

Schon bei dem Wort Tulpe geriet Mylady in die heftigsten Bewegungen, und während ich sprach, wirkte ihre Idiosynkrasie gegen diese Blume so stark, daß sie sich verzweiflungsvoll die Ohren zuhielt. Zur Hälfte war es wohl Komödie, zur Hälfte aber auch wohl pikierter Ernst, daß sie mich mit bitterem Blicke ansah und aus Herzensgrund spottscharf mich frug: »Und Sie, teure Blume, welche von den vorhandenen Religionen haben Sie?«

»Ich, Mylady, ich habe sie alle, der Duft meiner Seele steigt in den Himmel und betäubt selbst die ewigen Götter!«

Kapitel 12
Kapitel XII

Indem Signora unser Gespräch, das wir größtenteils auf englisch führten, nicht verstehen konnte, geriet sie, Gott weiß wie! auf den Gedanken, wir stritten über die Vorzüglichkeit unserer respektiven Landsleute. Sie lobte nun die Engländer ebenso wie die Deutschen, obgleich sie im Herzen die ersteren für nicht klug und die letzteren für dumm hielt. Sehr schlecht dachte sie von den Preußen, deren Land, nach ihrer Geographie, noch weit über England und Deutschland hinausliegt, besonders schlecht dachte sie vom Könige von Preußen, dem großen Federigo, den ihre Feindin, Signora Seraphina, in ihrem Benefizballette vorig Jahr getanzt hatte; wie denn, sonderbar genug, [394] dieser König, nämlich Friedrich der Große, auf den italienischen Theatern und im Gedächtnisse des italienischen Volks noch immer lebt.

»Nein«, sagte Mylady, ohne auf Signoras süßes Gekose hinzuhören, »nein, diesen Menschen braucht man nicht erst in einen Esel zu verwandeln; nicht nur, daß er jede zehn Schritte seine Gesinnung wechselt und sich beständig widerspricht, wird er jetzt sogar ein Bekehrer, und ich glaube gar, er ist ein verkappter Jesuit. Ich muß, meiner Sicherheit wegen, jetzt devote Gesichter schneiden, sonst gibt er mich an bei seinen Mitheuchlern in Christo, bei den heiligen Inquisitionsdilettanten, die mich in effigie verbrennen, da ihnen die Polizei noch nicht erlaubt, die Personen selbst ins Feuer zu werfen. Ach, ehrwürdiger Herr! glauben Sie nur nicht, daß ich so klug sei, wie ich aussehe, es fehlt mir durchaus nicht an Religion, ich bin keine Tulpe, beileibe keine Tulpe, nur um des Himmels willen keine Tulpe, ich will lieber alles glauben! Ich glaube jetzt schon das Hauptsächlichste, was in der Bibel steht, ich glaube, daß Abraham den Isaak und Isaak den Jakob und Jakob wieder den Juda gezeugt hat, sowie auch, daß dieser wieder seine Schnur Tamar auf der Landstraße erkannt hat. Ich glaube auch, daß Lot mit seinen Töchtern zuviel getrunken. Ich glaube, daß die Frau des Potiphar den Rock des frommen Josephs in Händen behalten. Ich glaube, daß die beiden Alten, die Susannen im Bade überraschten, sehr alt gewesen sind. Außerdem glaub ich noch, daß der Erzvater Jakob erst seinen Bruder und dann seinen Schwiegervater betrogen, daß König David dem Uria eine gute Anstellung bei der Armee gegeben, daß Salomo sich tausend Weiber angeschafft und nachher gejammert, es sei alles eitel. Auch an die Zehn Gebote glaube ich und halte sogar die meisten; ich laß mich nicht gelüsten meines Nächsten Ochsen noch seiner Magd, noch seiner Kuh, noch seines Esels. Ich arbeite nicht am Sabbat, dem siebenten Tage, wo Gott geruht; ja, aus Vorsicht, da man nicht mehr genau weiß, welcher dieser siebente Ruhetag war, tue ich oft die ganze Woche nichts. Was aber gar die Gebote Christi betrifft, so übte ich immer das[395] wichtigste, nämlich daß man sogar seine Feinde lieben soll – denn ach! diejenigen Menschen, die ich am meisten geliebt habe, waren immer, ohne daß ich es wußte, meine schlimmsten Feinde.«

»Um Gottes willen, Mathilde, weinen Sie nicht!« rief ich als wieder ein Ton der schmerzhaftesten Bitterkeit aus der heitersten Neckerei, wie eine Schlange aus einem Blumenbeete, hervorschoß. Ich kannte ja diesen Ton, wobei das witzige Kristallherz der wunderbaren Frau zwar immer gewaltig, aber nicht lange erzitterte, und ich wußte, daß er ebenso leicht, wie er entsteht, auch wieder verscheucht wird, durch die erste beste lachende Bemerkung, die man ihr mitteilte oder die ihr selbst durch den Sinn flog. Während sie, gelehnt an das Portal des Klosterhofes, die glühende Wange an die kalten Steine preßte und sich mit ihren langen Haaren die Tränenspur aus den Augen wischte, suchte ich ihre gute Laune wieder zu erwecken, indem ich, in ihrer eignen Spottweise, die arme Franscheska zu mystifizieren suchte und ihr die wichtigsten Nachrichten mitteilte über den Siebenjährigen Krieg, der sie so sehr zu interessieren schien und den sie noch immer unbeendigt glaubte. Ich erzählte ihr viel Interessantes von dem großen Federigo, dem witzigen Kamaschengott von Sanssouci, der die preußische Monarchie erfunden und in seiner Jugend recht hübsch die Flöte blies und auch französische Verse gemacht hat. Franscheska frug mich, ob die Preußen oder die Deutschen siegen werden. Denn, wie schon oben bemerkt, sie hielt erstere für ein ganz anderes Volk, und es ist auch gewöhnlich, daß in Italien unter dem Namen Deutsche nur die Östreicher verstanden werden. Signora wunderte sich nicht wenig, als ich ihr sagte, daß ich selbst lange Zeit in der Capitale della Prussia gelebt habe, nämlich in Berelino, einer Stadt, die ganz oben in der Geographie liegt, unfern vom Eispol. Sie schauderte, als ich ihr die Gefahren schilderte, denen man dort zuweilen ausgesetzt ist, wenn einem die Eisbären auf der Straße begegnen. »Denn, liebe Franscheska«, erklärte ich ihr, »in Spitzbergen liegen gar zu viele Bären in Garnison, und diese kommen zuweilen auf [396] einen Tag nach Berlin, um etwa aus Patriotismus den ›Bär und den Bassa‹ zu sehen oder einmal bei Beyerman, im ›Cafe Royal‹, gut zu essen und Champagner zu trinken, was ihnen oft mehr Geld kostet, als sie mitgebracht; in welchem Falle einer von den Bären so lange dort angebunden wird, bis seine Kameraden zurückkehren und bezahlen, woher auch der Ausdruck ›einen Bären anbinden‹ entstanden ist. Viele Bären wohnen in der Stadt selbst, ja man sagt, Berlin verdanke seine Entstehung den Bären und hieße eigentlich Bärlin. Die Stadtbären sind aber übrigens sehr zahm und einige darunter so gebildet, daß sie die schönsten Tragödien schreiben und die herrlichste Musik komponieren. Die Wölfe sind dort ebenfalls häufig, und da sie, der Kälte wegen, Warschauer Schafpelze tragen, sind sie nicht so leicht zu erkennen. Schneegänse flattern dort umher und singen Bravourarien, und Renntiere rennen da herum als Kunstkenner. Übrigens leben die Berliner sehr mäßig und fleißig, und die meisten sitzen bis am Nabel im Schnee und schreiben Dogmatiken, Erbauungsbücher, Religionsgeschichten für Töchter gebildeter Stände, Katechismen, Predigten für alle Tage im Jahr, Elohagedichte und sind dabei sehr moralisch, denn sie sitzen bis am Nabel im Schnee.«

»Sind die Berliner denn Christen?« rief Signora voller Verwundrung.

»Es hat eine eigne Bewandtnis mit ihrem Christentum. Dieses fehlt ihnen im Grunde ganz und gar, und sie sind auch viel zu vernünftig, um es ernstlich auszuüben. Aber da sie wissen, daß das Christentum im Staate nötig ist, damit die Untertanen hübsch demütig gehorchen und auch außerdem nicht zuviel gestohlen und gemordet wird, so suchen sie mit großer Beredsamkeit wenigstens ihre Nebenmenschen zum Christentume zu bekehren, sie suchen gleichsam Remplaçants in einer Religion, deren Aufrechthaltung sie wünschen und deren strenge Ausübung ihnen selbst zu mühsam wird. In dieser Verlegenheit benutzen sie den Diensteifer der armen Juden, diese müssen jetzt für sie Christen werden, und da dieses Volk für Geld und gute Worte alles aus sich machen läßt, so haben sich die Juden [397] schon so ins Christentum hineinexerziert, daß sie ordentlich schon über Unglauben schreien, auf Tod und Leben die Dreieinigkeit verfechten, in den Hundstagen sogar daran glauben, gegen die Rationalisten wüten, als Missionäre und Glaubensspione im Lande herumschleichen und erbauliche Traktätchen verbreiten, in den Kirchen am besten die Augen verdrehen, die scheinheiligsten Gesichter schneiden und mit so viel hohem Beifalle frömmeln, daß sich schon hie und da der Gewerbsneid regt und die älteren Meister des Handwerks schon heimlich klagen, das Christentum sei jetzt ganz in den Händen der Juden.«

Kapitel 13
Kapitel XIII

Wenn mich Signora nicht verstand, so wirst du, lieber Leser, mich gewiß besser verstehen. Auch Mylady verstand mich, und dies Verständnis weckte wieder ihre gute Laune. Doch als ich – ich weiß nicht mehr, ob mit ernsthaftem Gesichte – der Meinung beipflichten wollte, daß das Volk einer bestimmten Religion bedürfe, konnte sie wieder nicht umhin, mir in ihrer Weise entgegenzustreiten.

»Das Volk muß eine Religion haben!« rief sie. »Eifrig höre ich diesen Satz predigen von tausend dummen und aber tausend scheinheiligen Lippen –«

»Und dennoch ist es wahr, Mylady. Wie die Mutter nicht alle Fragen des Kindes mit der Wahrheit beantworten kann, weil seine Fassungskraft es nicht erlaubt, so muß auch eine positive Religion, eine Kirche vorhanden sein, die alle übersinnlichen Fragen des Volks, seiner Fassungskraft gemäß, recht sinnlich bestimmt beantworten kann.«

»O weh! Doktor, eben Ihr Gleichnis bringt mir eine Geschichte ins Gedächtnis, die am Ende nicht günstig für Ihre Meinung sprechen würde. Als ich noch klein war, in Dublin –«

»Und auf dem Rücken lag –«

»Aber, Doktor, man kann doch mit Ihnen kein vernünftig Wort sprechen. Lächeln Sie nicht so unverschämt und hören [398] Sie: Als ich noch klein war, in Dublin, und zu Mutters Füßen saß, frug ich sie einst, was man mit den alten Vollmonden anfange ›Liebes Kind‹, sagte die Mutter, ›die alten Vollmonde schlägt der liebe Gott mit dem Zuckerhammer in Stücke und macht daraus die kleinen Sterne.‹ Man kann der Mutter diese offenbar falsche Erklärung nicht verdenken, denn mit den besten astronomischen Kenntnissen hätte sie doch nicht vermocht, mir das ganze Sonne-, Mond- und Sternesystem auseinanderzusetzen, und die übersinnlichen Fragen beantwortete sie sinnlich bestimmt. Es wäre aber doch besser gewesen, sie hätte die Erklärung für ein reiferes Alter verschoben oder wenigstens keine Lüge ausgedacht. Denn als ich mit der kleinen Lucie zusammenkam und der Vollmond am Himmel stand und ich ihr erklärte, wie man bald kleine Sterne draus machen werde, lachte sie mich aus und sagte, daß ihre Großmutter, die alte O'Meara, ihr erzählt habe, die Vollmonde würden in der Hölle als Feuermelonen verzehrt, und da man dort keinen Zucker habe, müsse man Pfeffer und Salz draufstreuen. Hatte Lucie vorher über meine Meinung, die etwas naiv evangelisch war, mich ausgelacht, so lachte ich noch mehr über ihre düster katholische Ansicht, vom Auslachen kam es zu ernstem Streit, wir pufften uns, wir kratzten uns blutig, wir bespuckten uns polemisch, bis der kleine O'Donnel aus der Schule kam und uns auseinanderriß. Dieser Knabe hatte dort besseren Unterricht in der Himmelskunde genossen, verstand sich auf Mathematik und belehrte uns ruhig über unsere beiderseitigen Irrtümer und die Torheit unseres Streits. Und was geschah? Wir beiden Mädchen unterdrückten vorderhand unseren Meinungsstreit und vereinigten uns gleich, um den kleinen, ruhigen Mathematikus durchzuprügeln.«

»Mylady, ich bin verdrießlich, denn Sie haben recht. Aber es ist nicht zu ändern, die Menschen werden immer streiten über die Vorzüglichkeit derjenigen Religionsbegriffe, die man ihnen früh beigebracht, und der Vernünftige wird immer doppelt zu leiden haben. Einst war es freilich anders, da ließ sich keiner einfallen, die Lehre und die Feier seiner Religion besonders [399] anzupreisen oder gar sie jemanden aufzudringen Die Religion war eine liebe Tradition, heilige Geschichten, Erinnerungsfeier und Mysterien, überliefert von den Vorfahren gleichsam Familiensakra des Volks, und einem Griechen wäre es ein Greuel gewesen, wenn ein Fremder, der nicht von seinem Geschlechte, eine Religionsgenossenschaft mit ihm verlangt hätte; noch mehr würde er es für eine Unmenschlichkeit gehalten haben, irgend jemand, durch Zwang oder List, dahin zu bringen, seine angeborene Religion aufzugeben und eine fremde dafür anzunehmen. Da kam aber ein Volk aus Ägypten, dem Vaterland der Krokodile und des Priestertums, und außer den Hautkrankheiten und den gestohlenen Gold- und Silbergeschirren brachte es auch eine sogenannte positive Religion mit, eine sogenannte Kirche, ein Gerüste von Dogmen, an die man glauben, und heiliger Zeremonien, die man feiern mußte, ein Vorbild der späteren Staatsreligionen. Nun entstand ›die Menschenmäkelei‹, das Proselytenmachen, der Glaubenszwang und all jene heiligen Greuel, die dem Menschengeschlechte soviel Blut und Tränen gekostet.«

»Goddam! dieses Urübelvolk!«

»Oh, Mathilde, es ist längst verdammt und schleppt seine Verdammnisqualen durch die Jahrtausende. Oh, dieses Ägypten! seine Fabrikate trotzen der Zeit, seine Pyramiden stehen noch immer unerschütterlich, seine Mumien sind noch so unzerstörbar wie sonst, und ebenso unverwüstlich ist jene Volkmumie, die über die Erde wandelt, eingewickelt in ihren uralten Buchstabenwindeln, ein verhärtet Stück Weltgeschichte, ein Gespenst, das zu seinem Unterhalte mit Wechseln und alten Hosen handelt – Sehen Sie, Mylady, dort jenen alten Mann, mit dem weißen Barte, dessen Spitze sich wieder zu schwärzen scheint, und mit den geisterhaften Augen –«

»Sind dort nicht die Ruinen der alten Römergräber?«

»Ja, ebenda sitzt der alte Mann, und vielleicht, Mathilde, verrichtet er eben sein Gebet, ein schauriges Gebet, worin er seine Leiden bejammert und Völker anklagt, die längst von der Erde verschwunden sind und nur noch in Ammenmärchen [400] leben – er aber, in seinem Schmerze, bemerkt kaum, daß er auf den Gräbern derjenigen Feinde sitzt, deren Untergang er vom Himmel erfleht.«

Kapitel 14
Kapitel XIV

Ich sprach im vorigen Kapitel von den positiven Religionen nur, insofern sie als Kirchen, unter den Namen Staatsreligionen, noch besonders vom Staate privilegiert werden. Es gibt aber eine fromme Dialektik, lieber Leser, die dir aufs bündigste beweisen wird, daß ein Gegner des Kirchtums einer solchen Staatsreligion auch ein Feind der Religion und des Staats sei, ein Feind Gottes und des Königs oder, wie die gewöhnliche Formel lautet, ein Feind des Throns und des Altars. Ich aber sage dir, das ist eine Lüge, ich ehre die innere Heiligkeit jeder Religion und unterwerfe mich den Interessen des Staates. Wenn ich auch dem Anthropomorphismus nicht sonderlich huldige, so glaube ich doch an die Herrlichkeit Gottes, und wenn auch die Könige so töricht sind, dem Geiste des Volks zu widerstreben, oder gar so unedel sind, die Organe desselben durch Zurücksetzungen und Verfolgungen zu kränken, so bleibe ich doch, meiner tiefsten Überzeugung nach, ein Anhänger des Königtums, des monarchischen Prinzips. Ich hasse nicht den Thron, sondern nur das windige Adelgeziefer, das sich in die Ritzen der alten Throne eingenistet und dessen Charakter uns Montesquieu so genau schildert mit den Worten: »Ehrgeiz im Bunde mit dem Müßiggange, die Gemeinheit im Bunde mit dem Hochmute, die Begierde, sich zu bereichern ohne Arbeit, die Abneigung gegen die Wahrheit, die Schmeichelei, der Verrat, die Treulosigkeit, der Wortbruch, die Verachtung der Bürgerpflichten, die Furcht vor Fürstentugend und das Interesse an Fürstenlaster!« Ich hasse nicht den Altar, sondern ich hasse die Schlangen, die unter dem Gerülle der alten Altäre lauern; die argklugen Schlangen, die unschuldig wie Blumen zu lächeln wissen, während sie heimlich ihr Gift spritzen in den Kelch des [401] Lebens und Verleumdung zischen in das Ohr des frommen Beters, die gleisenden Würmer mit weichen Worten –


Mel in ore, verba lactis,
Fel in corde, fraus in factis.

Eben weil ich ein Freund des Staats und der Religion bin, hasse ich jene Mißgeburt, die man Staatsreligion nennt, jenes Spottgeschöpf, das aus der Buhlschaft der weltlichen und der geistlichen Macht entstanden, jenes Maultier, das der Schimmel des Antichrists mit der Eselin Christi gezeugt hat. Gäbe es keine solche Staatsreligion, keine Bevorrechtung eines Dogmas und eines Kultus, so wäre Deutschland einig und stark, und seine Söhne wären herrlich und frei. So aber ist unser armes Vaterland zerrissen durch Glaubenszwiespalt, das Volk ist getrennt in feindliche Religionsparteien, protestantische Untertanen hadern mit ihren katholischen Fürsten oder umgekehrt, überall Mißtrauen ob Kryptokatholizismus oder Kryptoprotestantismus, überall Verketzerung, Gesinnungsspionage, Pietismus, Mystizismus, Kirchenzeitungsschnüffeleien, Sektenhaß, Bekehrungssucht, und während wir über den Himmel streiten, gehen wir auf Erden zugrunde. Ein Indifferentismus in religiösen Dingen wäre vielleicht allein imstande, uns zu retten, und durch Schwächerwerden im Glauben könnte Deutschland politisch erstarken.

Für die Religion selber, für ihr heiliges Wesen, ist es ebenso verderblich, wenn sie mit Privilegien bekleidet ist, wenn ihre Diener vom Staate vorzugsweise dotiert werden und zur Erhaltung dieser Dotationen ihrerseits verpflichtet sind, den Staat zu vertreten, und solchermaßen eine Hand die andere wäscht, die geistliche die weltliche und umgekehrt, und ein Wischwasch entsteht, der dem lieben Gott eine Torheit und den Menschen ein Greul ist. Hat nun der Staat Gegner, so werden diese auch Feinde der Religion, die der Staat bevorrechtet und die deshalb seine Alliierte ist; und selbst der harmlose Gläubige wird mißtrauisch, wenn er in der Religion auch politische Absicht wittert. Am widerwärtigsten aber ist der Hochmut der Priester, [402] wenn sie für die Dienste, die sie dem Staate zu leisten glauben, auch auf dessen Unterstützung rechnen dürfen, wenn sie für die geistige Fessel, die sie ihm, um die Völker zu binden, geliehen haben, auch über seine Bajonette verfügen können. Die Religion kann nie schlimmer sinken, als wenn sie solchermaßen zur Staatsreligion erhoben wird; es geht dann gleichsam ihre innere Unschuld verloren, und sie wird so öffentlich stolz wie eine deklarierte Mätresse. Freilich werden ihr dann mehr Huldigungen und Ehrfurchtsversicherungen dargebracht, sie feiert täglich neue Siege, in glänzenden Prozessionen, bei solchen Triumphen tragen sogar bonapartistische Generale ihr die Kerzen vor, die stolzesten Geister schwören zu ihrer Fahne, täglich werden Ungläubige bekehrt und getauft – aber dies viele Wasseraufgießen macht die Suppe nicht fetter, und die neuen Rekruten der Staatsreligion gleichen den Soldaten, die Falstaff geworben – sie füllen die Kirche. Von Aufopfrung ist gar nicht mehr die Rede, wie Kaufmannsdiener mit ihren Musterkarten, so reisen die Missionäre mit ihren Traktätchen und Bekehrungsbüchlein, es ist keine Gefahr mehr bei diesem Geschäfte, und es bewegt sich ganz in merkantilisch ökonomischen Formen.

Nur solange die Religionen mit anderen zu rivalisieren haben und weit mehr verfolgt werden als selbst verfolgen, sind sie herrlich und ehrenwert, nur da gibt's Begeisterung, Aufopferung, Märtyrer und Palmen. Wie schön, wie heilig lieblich, wie heimlich süß war das Christentum der ersten Jahrhunderte, als es selbst noch seinem göttlichen Stifter glich im Heldentum des Leidens. Da war's noch die schöne Legende von einem heimlichen Gotte, der in sanfter Junglingsgestalt unter den Palmen Palästinas wandelte und Menschenliebe predigte und jene Freiheit- und Gleichheitslehre offenbarte, die auch später die Vernunft der größten Denker als wahr erkannt hat und die, als französisches Evangelium, unsere Zeit begeistert. Mit jener Religion Christi vergleiche man die verschiedenen Christentümer, die in den verschiedenen Ländern als Staatsreligionen konstituiert worden, z.B. die römisch-apostolisch-katholische Kirche oder gar jenen Katholizismus ohne Poesie, [403] den wir als High Church of England herrschen sehen, jenes kläglich morsche Glaubensskelett, worin alles blühende Leben erloschen ist! Wie den Gewerben ist auch den Religionen das Monopolsystem schädlich, durch freie Konkurrenz bleiben sie kräftig, und sie werden erst dann zu ihrer ursprünglichen Herrlichkeit wieder erblühen, sobald die politische Gleichheit der Gottesdienste, sozusagen die Gewerbefreiheit der Götter eingeführt wird.

Die edelsten Menschen in Europa haben es längst ausgesprochen, daß dieses das einzige Mittel ist, die Religion vor gänzlichem Untergang zu bewahren; doch die Diener derselben werden eher den Altar selbst aufopfern, als daß sie von dem, was darauf geopfert wird, das mindeste verlieren möchten; ebenso wie der Adel eher den Thron selbst und Hochdenjenigen, der hochdarauf sitzt, dem sichersten Verderben überlassen würde, als daß er mit ernstlichem Willen die ungerechteste seiner Gerechtsame aufgäbe. Ist doch das affektierte Interesse für Thron und Altar nur ein Possenspiel, das dem Volke vorgegaukelt wird! Wer das Zunftgeheimnis belauert hat, weiß, daß die Pfaffen viel weniger als die Laien den Gott respektieren, den sie zu ihrem eignen Nutzen, nach Willkür, aus Brot und Wort zu kneten wissen, und daß die Adligen viel weniger, als es ein Roturier vermöchte, den König respektieren und sogar eben das Königtum, dem sie öffentlich so viele Ehrfurcht zeigen und dem sie soviel Ehrfurcht bei anderen zu erwerben suchen, in ihrem Herzen verhöhnen und verachten: – wahrlich, sie gleichen jenen Leuten, die dem gaffenden Publikum in den Marktbuden irgendeinen Herkules oder Riesen oder Zwerg oder Wilden oder Feuerfresser oder sonstig merkwürdigen Mann für Geld zeigen und dessen Stärke, Erhabenheit, Kühnheit, Unverletzlichkeit oder, wenn er ein Zwerg ist, dessen Weisheit mit der übertriebensten Ruhmredigkeit auspreisen und dabei in die Trompete stoßen und eine bunte Jacke tragen, während sie darunter, im Herzen, die Leichtgläubigkeit des staunenden Volkes verlachen und den armen Hochgepriesenen verspotten, der ihnen aus Gewohnheit des täglichen Anblicks [404] sehr uninteressant geworden und dessen Schwächen und nur andressierte Künste sie allzu genau kennen.

Ob der liebe Gott es noch lange dulden wird, daß die Pfaffen einen leidigen Popanz für ihn ausgeben und damit Geld verdienen, das weiß ich nicht; – wenigstens würde ich mich nicht wundern, wenn ich mal im »Hamb. Unpart. Korrespondenten« läse, daß der alte Jehova jedermann warne, keinem Menschen, es sei, wer es wolle, nicht einmal seinem Sohne, auf seinen Namen Glauben zu schenken. Überzeugt bin ich aber, wir werden's mit der Zeit erleben, daß die Könige sich nicht mehr hergeben wollen zu einer Schaupuppe ihrer adligen Verächter, daß sie die Etiketten brechen, ihren marmornen Buden entspringen und unwillig von sich werfen den glänzenden Plunder, der dem Volke imponieren sollte, den roten Mantel, der scharfrichterlich abschreckte, den diamantenen Reif, den man ihnen über die Ohren gezogen, um sie den Volksstimmen zu versperren, den goldnen Stock, den man ihnen als Scheinzeichen der Herrschaft in die Hand gegeben – und die befreiten Könige werden frei sein wie andre Menschen und frei unter ihnen wandeln und frei fühlen und frei heuraten und frei ihre Meinung bekennen, und das ist die Emanzipation der Könige.

Kapitel 15
Kapitel XV

Was bleibt aber den Aristokraten übrig, wenn sie der gekrönten Mittel ihrer Subsistenz beraubt werden, wenn die Könige ein Eigentum des Volks sind und ein ehrliches und sicheres Regiment führen, durch den Willen des Volks, der alleinigen Quelle aller Macht? Was werden die Pfaffen beginnen, wenn die Könige einsehen, daß ein bißchen Salböl keinen menschlichen Kopf guillotinenfest machen kann, ebenso wie das Volk täglich mehr und mehr einsieht, daß man von Oblaten nicht satt wird? Nun freilich, da bleibt der Aristokratie und der Klerisei nichts übrig, als sich zu verbünden und gegen die neue Weltordnung zu kabalieren und zu intrigieren.

[405] Vergebliches Bemühen! Eine flammende Riesin, schreitet die Zeit ruhig weiter, unbekümmert um das Gekläffe bissiger Pfäffchen und Junkerlein da unten. Wie heulen sie jedesmal, wenn sie sich die Schnauze verbrannt an einem Fuße jener Riesin oder wenn diese ihnen mal unversehens auf die Köpfe trat, daß das obskure Gift herausspritzte! Ihr Grimm wendet sich dann um so tückischer gegen einzelne Kinder der Zeit, und ohnmächtig gegen die Masse, suchen sie an Individuen ihr feiges Mütchen zu kühlen.

Ach! wir müssen es gestehen, manch armes Kind der Zeit fühlt darum nicht minder die Stiche, die ihm lauernde Pfaffen und Junker im Dunkeln beizubringen wissen, und ach! wenn auch eine Glorie sich zieht um die Wunden des Siegers, so bluten sie dennoch und schmerzen dennoch! Es ist ein seltsames Martyrtum, das solche Sieger in unseren Tagen erdulden, es ist nicht abgetan mit einem kühnen Bekenntnisse wie in früheren Zeiten, wo die Blutzeugen ein rasches Schafott fanden oder den jubelnden Holzstoß. Das Wesen des Martyrtums, alles Irdische aufzuopfern für den himmlischen Spaß, ist noch immer dasselbe; aber es hat viel verloren von seiner innern Glaubensfreudigkeit, es wurde mehr ein resignierendes Ausdauern, ein beharrliches Überdulden, ein lebenslängliches Sterben, und da geschieht es sogar, daß in grauen, kalten Stunden auch die heiligsten Märtyrer vom Zweifel beschlichen werden. Es gibt nichts Entsetzlicheres als jene Stunden, wo ein Marcus Brutus zu zweifeln begann an der Wirklichkeit der Tugend, für die er alles geopfert! Und ach! jener war ein Römer und lebte in der Blütenzeit der Stoa; wir aber sind modern weicheren Stoffes, und dazu sehen wir noch das Gedeihen einer Philosophie, die aller Begeisterung nur eine relative Bedeutung zuspricht und sie somit in sich selbst vernichtet oder sie allenfalls zu einer selbstbewußten Donquichotterie neutralisiert!

Die kühlen und klugen Philosophen! Wie mitleidig lächeln sie herab auf die Selbstquälereien und Wahnsinnigkeiten eines armen Don Quixote, und in all ihrer Schulweisheit merken sie [406] nicht, daß jene Donquichotterie dennoch das Preisenswerteste des Lebens, ja das Leben selbst ist und daß diese Donquichotterie die ganze Welt mit allem, was darauf philosophiert, musiziert, ackert und gähnt, zu kühnerem Schwunge beflügelt! Denn die große Volksmasse, mitsamt den Philosophen, ist, ohne es zu wissen, nichts anders als ein kolossaler Sancho Pansa, der, trotz all seiner nüchternen Prügelscheu und hausbackner Verständigkeit, dem wahnsinnigen Ritter in allen seinen gefährlichen Abenteuern folgt, gelockt von der versprochenen Belohnung, an die er glaubt, weil er sie wünscht, mehr aber noch getrieben von der mystischen Gewalt, die der Enthusiasmus immer ausübt auf den großen Haufen – wie wir es in allen politischen und religiösen Revolutionen und vielleicht täglich im kleinsten Ereignisse sehen können.

So z.B. du, lieber Leser, bist unwillkürlich der Sancho Pansa des verrückten Poeten, dem du, durch die Irrfahrten dieses Buches, zwar mit Kopfschütteln folgst, aber dennoch folgst.

Kapitel 16
Kapitel XVI

Seltsam! »Leben und Taten des scharfsinnigen Junkers Don Quixote von La Mancha, beschrieben von Miguel de Cervantes Saavedra« war das erste Buch, das ich gelesen habe, nachdem ich schon in ein verständiges Knabenalter getreten und des Buchstabenwesens einigermaßen kundig war. Ich erinnere mich noch ganz genau jener kleinen Zeit, wo ich mich eines frühen Morgens von Hause wegstahl und nach dem Hofgarten eilte, um dort ungestört den »Don Quixote« zu lesen. Es war ein schöner Maitag, lauschend im stillen Morgenlichte lag der blühende Frühling und ließ sich loben von der Nachtigall, seiner süßen Schmeichlerin, und diese sang ihr Loblied so karessierend weich, so schmelzend enthusiastisch, daß die verschämtesten Knospen aufsprangen und die lüsternen Gräser und die duftigen Sonnenstrahlen sich hastiger küßten und Bäume und Blumen schauerten, vor eitelem Entzücken. Ich aber setzte mich [407] auf eine alte moosige Steinbank in der sogenannten Seufzerallee unfern des Wasserfalls und ergötzte mein kleines Herz an den großen Abenteuern des kühnen Ritters. In meiner kindischen Ehrlichkeit nahm ich alles für baren Ernst; so lächerlich auch dem armen Helden von dem Geschicke mitgespielt wurde, so meinte ich doch, das müsse so sein, das gehöre nun mal zum Heldentum, das Ausgelachtwerden ebensogut wie die Wunden des Leibes, und jenes verdroß mich ebensosehr, wie ich diese in meiner Seele mitfühlte. Ich war ein Kind und kannte nicht die Ironie, die Gott in die Welt hineingeschaffen und die der große Dichter in seiner gedruckten Kleinwelt nachgeahmt hatte – und ich konnte die bittersten Tränen vergießen, wenn der edle Ritter, für all seinen Edelmut, nur Undank und Prügel genoß; und da ich, noch ungeübt im Lesen, jedes Wort laut aussprach, so konnten Vögel und Bäume, Bach und Blumen alles mit anhören, und da solche unschuldige Naturwesen, ebenso wie die Kinder, von der Weltironie nichts wissen, so hielten sie gleichfalls alles für baren Ernst und weinten mit über die Leiden des armen Ritters, sogar eine alte ausgediente Eiche schluchzte, und der Wasserfall schüttelte heftiger seinen weißen Bart und schien zu schelten auf die Schlechtigkeit der Welt. Wir fühlten, daß der Heldensinn des Ritters darum nicht mindere Bewundrung verdient, wenn ihm der Löwe ohne Kampflust den Rücken kehrte, und daß seine Taten um so preisenswerter, je schwächer und ausgedorrter sein Leib, je morscher die Rüstung, die ihn schützte, und je armseliger der Klepper, der ihn trug. Wir verachteten den niedrigen Pöbel, der den armen Helden so prügelroh behandelte, noch mehr aber den hohen Pöbel, der, geschmückt mit buntseidnen Mänteln, vornehmen Redensarten und Herzogstiteln, einen Mann verhöhnte, der ihm an Geisteskraft und Edelsinn so weit überlegen war. Dulcineas Ritter stieg immer höher in meiner Achtung und gewann immer mehr meine Liebe, je länger ich in dem wundersamen Buche las, was in demselben Garten täglich geschah, so daß ich schon im Herbste das Ende der Geschichte erreichte – und nie werde ich den Tag vergessen, wo ich von [408] dem kummervollen Zweikampfe las, worin der Ritter so schmählich unterliegen mußte!

Es war ein trüber Tag, häßliche Nebelwolken zogen dem grauen Himmel entlang, die gelben Blätter fielen schmerzlich von den Bäumen, schwere Tränentropfen hingen an den letzten Blumen, die gar traurig welk die sterbenden Köpfchen senkten, die Nachtigallen waren längst verschollen, von allen Seiten starrte mich an das Bild der Vergänglichkeit – und mein Herz wollte schier brechen, als ich las, wie der edle Ritter betäubt und zermalmt am Boden lag und, ohne das Visier zu erheben, als wenn er aus dem Grabe gesprochen hätte, mit schwacher kranker Stimme zu dem Sieger hinaufsprach: »Dulcinea ist das schönste Weib der Welt und ich der unglücklichste Ritter auf Erden, aber es ziemt sich nicht, daß meine Schwäche diese Wahrheit verleugne – stoßt zu mit der Lanze, Ritter!«

Ach! dieser leuchtende Ritter vom silbernen Monde, der den mutigsten und edelsten Mann der Welt besiegte, war ein verkappter Barbier!

Kapitel 17
Kapitel XVII

Das ist nun lange her. Viele neue Lenze sind unterdessen hervorgeblüht, doch mangelte ihnen immer ihr mächtigster Reiz, denn ach! ich glaube nicht mehr den süßen Lügen der Nachtigall, der Schmeichlerin des Frühlings, ich weiß, wie schnell seine Herrlichkeit verwelkt, und wenn ich die jüngste Rosenknospe erblicke, sehe ich sie im Geiste schmerzrot aufblühen, erbleichen und von den Winden verweht. Überall sehe ich einen verkappten Winter.

In meiner Brust aber blüht noch jene flammende Liebe, die sich sehnsüchtig über die Erde emporhebt, abenteuerlich herumschwärmt in den weiten, gähnenden Räumen des Himmels, dort zurückgestoßen wird von den kalten Sternen und wieder heimsinkt zur kleinen Erde und mit Seufzen und Jauchzen gestehen muß, daß es doch in der ganzen Schöpfung nichts Schöneres und Besseres gibt als das Herz der Menschen. Diese Liebe [409] ist die Begeisterung, die immer göttlicher Art, gleichviel, ob sie törichte oder weise Handlungen verübt – Und so hat der kleine Knabe keineswegs unnütz seine Tränen verschwendet, die er über die Leiden des närrischen Ritters vergoß, ebensowenig wie späterhin der Jüngling, als er manche Nacht im Studierstübchen weinte über den Tod der heiligsten Freiheitshelden, über König Agis von Sparta, über Cajus und Tiberius Gracchus von Rom, über Jesus von Jerusalem und über Robespierre und Saint-Just von Paris. Jetzt, wo ich die Toga virilis angezogen und selbst ein Mann sein will, hat das Weinen ein Ende, und es gilt, zu handeln wie ein Mann, nachahmend die großen Vorgänger und, will's Gott! künftig ebenfalls beweint von Knaben und Jünglingen. Ja, diese sind es, auf die man noch rechnen kann in unserer kalten Zeit, denn diese werden noch entzündet von dem glühenden Hauche, der ihnen aus den alten Büchern entgegenweht, und deshalb begreifen sie auch die Flammenherzen der Gegenwart. Die Jugend ist uneigennützig im Denken und Fühlen und denkt und fühlt deshalb die Wahrheit am tiefsten und geizt nicht, wo es gilt eine kühne Teilnahme an Bekenntnis und Tat. Die älteren Leute sind selbstsüchtig und kleinsinnig; sie denken mehr an die Interessen ihrer Kapitalien als an die Interessen der Menschheit; sie lassen ihr Schifflein ruhig fortschwimmen im Rinnstein des Lebens und kümmern sich wenig um den Seemann, der auf hohem Meere gegen die Wellen kämpft; oder sie erkriechen mit klebrichter Beharrlichkeit die Höhe des Bürgermeistertums oder der Präsidentschaft ihres Klubs und zucken die Achsel über die Heroenbilder, die der Sturm hinabwarf von der Säule des Ruhms, und dabei erzählen sie viel leicht, daß sie selbst in ihrer Jugend ebenfalls mit dem Kopf gegen die Wand gerennt seien, daß sie sich aber nachher mit der Wand wieder versöhnt hätten, denn die Wand sei das Absolute, das Gesetzte, das an und für sich Seiende, das, weil es ist, auch vernünftig ist, weshalb auch derjenige unvernünftig ist, welcher einen allerhöchst vernünftigen, unwidersprechbar seienden, festgesetzten Absolutismus nicht ertragen will. Ach! diese Verwerflichen, die uns in eine [410] gelinde Knechtschaft hineinphilosophieren wollen, sind immer noch achtenswerter als jene Verworfenen, die bei der Verteidigung des Despotismus sich nicht einmal auf vernünftige Vernunftgründe einlassen, sondern ihn geschichtskundig als ein Gewohnheitsrecht verfechten, woran sich die Menschen im Laufe der Zeit allmählich gewöhnt hätten und das also rechtsgültig und gesetzkräftig unumstößlich sei.

Ach! ich will nicht wie Ham die Decke aufheben von der Scham des Vaterlandes, aber es ist entsetzlich, wie man's bei uns verstanden hat, die Sklaverei sogar geschwätzig zu machen, und wie deutsche Philosophen und Historiker ihr Gehirn abmartern, um jeden Despotismus, und sei er noch so albern und tölpelhaft, als vernünftig oder als rechtsgültig zu verteidigen. »Schweigen ist die Ehre der Sklaven«, sagt Tacitus; jene Philosophen und Historiker behaupten das Gegenteil und zeigen auf die Ehrenbändchen in ihrem Knopfloch.

Vielleicht habt ihr doch recht, und ich bin nur ein Don Quixote, und das Lesen von allerlei wunderbaren Büchern hat mir den Kopf verwirrt, ebenso wie dem Junker von La Mancha, und Jean-Jacques Rousseau war mein Amadis von Gallien, Mirabeau war mein Roldan oder Agramant, und ich habe mich zu sehr hineinstudiert in die Heldentaten der französischen Paladine und der Tafelrunde des Nationalkonvents. Freilich, mein Wahnsinn und die fixen Ideen, die ich aus jenen Büchern geschöpft, sind von entgegengesetzter Art als der Wahnsinn und die fixen Ideen des Manchaners; dieser wollte die untergehende Ritterzeit wiederherstellen, ich hingegen will alles, was aus jener Zeit noch übriggeblieben ist, jetzt vollends vernichten, und da handeln wir also mit ganz verschiedenen Ansichten. Mein Kollege sah Windmühlen für Riesen an, ich hingegen kann in unseren heutigen Riesen nur prahlende Windmühlen sehen; jener sah lederne Weinschläuche für mächtige Zauberer an, ich aber sehe in unseren jetzigen Zauberern nur den ledernen Weinschlauch; jener hielt Bettlerherbergen für Kastelle, Eseltreiber für Kavaliere, Stalldirnen für Hofdamen, ich hingegen halte unsre Kastelle nur für Lumpenherbergen, [411] unsre Kavaliere nur für Eseltreiber, unsere Hofdamen nur für gemeine Stalldirnen; wie jener eine Puppenkomödie für eine Staatsaktion hielt, so halte ich unsre Staatsaktionen für leidige Puppenkomödien – doch ebenso tapfer wie der tapfere Manchaner schlage ich drein in die hölzerne Wirtschaft. Ach! solche Heldentat bekömmt mir oft ebenso schlecht wie ihm, und ich muß, ebenso wie er, viel erdulden für die Ehre meiner Dame. Wollte ich sie verleugnen, aus eitel Furcht oder schnöder Gewinnsucht, so könnte ich behaglich leben in dieser seienden vernünftigen Welt, und ich würde eine schöne Maritorne zum Altare führen und mich einsegnen lassen von feisten Zauberern und mit edlen Eseltreibern bankettieren und gefahrlose Novellen und sonstige kleine Sklävchen zeugen! Statt dessen, geschmückt mit den drei Farben meiner Dame, muß ich beständig auf der Mensur liegen und mich durch unsägliches Drangsal durchschlagen, und ich erfechte keinen Sieg, der mich nicht auch etwas Herzblut kostet. Tag und Nacht bin ich in Nöten; denn jene Feinde sind so tückisch, daß manche, die ich zu Tode getroffen, sich noch immer ein Air gaben, als ob sie lebten, und, in alle Gestalten sich verwandelnd, mir Tag und Nacht verleiden konnten. Wieviel Schmerzen habe ich durch solchen fatalen Spuk schon erdulden müssen! Wo mir etwas Liebes blühte, da schlichen sie hin, die heimtückischen Gespenster, und knickten sogar die unschuldigsten Knospen. Überall, und wo ich es am wenigsten vermuten sollte, entdecke ich am Boden ihre silbrichte Schleimspur, und nehme ich mich nicht in acht, so kann ich verderblich ausgleiten, sogar im Hause der nächsten Lieben. Ihr mögt lächeln und solche Besorgnis für eitel Einbildungen, gleich denen des Don Quixote, halten. Aber eingebildete Schmerzen tun darum nicht minder weh, und bildet man sich ein, etwas Schierling genossen zu haben, so kann man die Auszehrung bekommen, auf keinen Fall wird man davon fett. Und daß ich fett geworden sei, ist eine Verleumdung, wenigstens habe ich noch keine fette Sinekur erhalten, und ich hätte doch die dazu gehörigen Talente. Auch ist von dem Fett der Vetterschaft nichts an mir zu verspüren. [412] Ich bilde mir ein, man habe alles mögliche angewendet, um mich mager zu halten; als mich hungerte, da fütterte man mich mit Schlangen, als mich dürstete, da tränkte man mich mit Wermut, man goß mir die Hölle ins Herz, daß ich Gift weinte und Feuer seufzte, man kroch mir nach bis in die Träume meiner Nächte – und da sehe ich sie, die grauenhaften Larven, die noblen Lakaiengesichter mit fletschenden Zähnen, die drohenden Bankiernasen, die tödlichen Augen, die aus den Kapuzen hervorstechen, die bleichen Manschettenhände mit blanken Messern –

Auch die alte Frau, die neben mir wohnt, meine Wandnachbarin, hält mich für verrückt und behauptet, ich spräche im Schlafe das wahnsinnigste Zeug, und die vorige Nacht habe sie deutlich gehört, daß ich rief: »Dulcinea ist das schönste Weib der Welt und ich der unglücklichste Ritter auf Erden, aber es ziemt sich nicht, daß meine Schwäche diese Wahrheit verleugne – stoßt zu mit der Lanze, Ritter!«

Spätere Nachschrift

November 1830


Ich weiß nicht, welche sonderbare Pietät mich davon abhielt, einige Ausdrücke, die mir bei späterer Durchsicht der vorstehenden Blätter etwas allzu herbe erschienen, im mindesten zu ändern. Das Manuskript war schon so gelb verblichen wie ein Toter, und ich hatte Scheu, es zu verstümmeln. Alles verjährt Geschriebene hat solch inwohnendes Recht der Unverletzlichkeit, und gar diese Blätter, die gewissermaßen einer dunkeln Vergangenheit angehören. Denn sie sind fast ein Jahr vor der dritten bourbonischen Hedschira geschrieben, zu einer Zeit, die weit herber war als der herbste Ausdruck, zu einer Zeit, wo es den Anschein gewann, als könnte der Sieg der Freiheit noch um ein Jahrhundert verzögert werden. Es war wenigstens bedenklich, wenn man sah, wie unsere Ritter so sichere Gesichter bekamen, wie sie die verblaßten Wappen wieder [413] frischbunt anstreichen ließen, wie sie mit Schild und Speer zu München und Potsdam turnierten, wie sie so stolz auf ihren hohen Rossen saßen, als wollten sie nach Quedlinburg reiten, um sich neu auflegen zu lassen bei Gottfried Bassen. Noch unerträglicher waren die triumphierend tückischen Äugelein unserer Pfäffelein, die ihre langen Ohren so schlau unter der Kapuze zu verbergen wußten, daß wir die verderblichsten Kniffe erwarteten. Man konnte gar nicht vorher wissen, daß die edlen Ritter ihre Pfeile so kläglich verschießen würden und meistens anonym oder wenigstens im Davonjagen, mit abgewendetem Gesichte, wie fliehende Baschkiren. Ebensowenig konnte man vorher wissen, daß die Schlangenlist unserer Pfäffelein so zuschanden werde – ach! es ist fast Mitleiden erregend, wenn man sieht, wie schlecht sie ihr bestes Gift zu brauchen wissen, da sie uns, aus Wut, in großen Stücken den Arsenik an den Kopf werfen, statt ihn lotweis und liebevoll in unsere Suppen zu schütten, wenn man sieht, wie sie aus der alten Kinderwäsche die verjährten Windeln ihrer Feinde hervorkramen, um Unrat zu erschnüffeln, wie sie sogar die Väter ihrer Feinde aus dem Grabe hervorwühlen, um nachzusehen, ob sie etwa beschnitten waren – O der Toren! die da meinen, entdeckt zu haben, der Löwe gehöre eigentlich zum Katzengeschlecht, und die mit dieser naturgeschichtlichen Entdeckung noch so lang herumzischen werden, bis die große Katze das ex ungue leonem an ihrem eignen Fleische bewährt! O der obskuren Wichte, die nicht eher erleuchtet werden, bis sie selbst an der Laterne hängen! Mit den Gedärmen eines Esels möchte ich meine Leier besaiten, um sie nach Würden zu besingen, die geschorenen Dummköpfe!

Eine gewaltige Lust ergreift mich! Während ich sitze und schreibe, erklingt Musik unter meinem Fenster, und an dem elegischen Grimm der langgezogenen Melodie erkenne ich jene Marseiller Hymne, womit der schöne Barbaroux und seine Gefährten die Stadt Paris begrüßten, jener Kuhreigen der Freiheit, bei dessen Tönen die Schweizer in den Tuilerien das Heimweh bekamen, jener triumphierende Todesgesang der Gironde, das alte, süße Wiegenlied –

[414] Welch ein Lied! Es durchschauert mich mit Feuer und Freude und entzündet in mir die glühenden Sterne der Begeisterung und die Raketen des Spottes. Ja, diese sollen nicht fehlen, bei dem großen Feuerwerk der Zeit. Klingende Flammenströme des Gesanges sollen sich ergießen von der Höhe der Freiheitslust, in kühnen Kaskaden, wie sich der Ganges herabstürzt vom Himalaja! Und du, holde Satyra, Tochter der gerechten Themis und des bocksfüßigen Pan, leih mir deine Hülfe, du bist ja mütterlicher Seite dem Titanengeschlechte entsprossen und hassest gleich mir die Feinde deiner Sippschaft, die schwächlichen Usurpatoren des Olymps. Leih mir das Schwert deiner Mutter, damit ich sie richte, die verhafte Brut, und gib mir die Pickelflöte deines Vaters, damit ich sie zu Tode pfeife –

Schon hören sie das tödliche Pfeifen, und es er greift sie der panische Schrecken, und sie entfliehen wieder, in Tiergestalten, wie damals, als wir den Pelion stülpten auf den Ossa –


Aux armes, citoyens!


Man tut uns armen Titanen sehr unrecht, als man die düstre Wildheit tadelte, womit wir, bei jenem Himmelssturm, herauftobten – ach, da unten im Tartaros, da war es grauenhaft und dunkel, und da hörten wir nur Zerberusgeheul und Kettengeklirr, und es ist verzeihlich, wenn wir etwas ungeschlacht erschienen, in Vergleichung mit jenen Göttern comme il faut, die fein und gesittet, in den heiteren Salons des Olymps, soviel lieblichen Nektar und süße Musenkonzerte genossen.

Ich kann nicht weiterschreiben, denn die Musik unter meinem Fenster berauscht mir den Kopf, und immer gewaltiger greift herauf der Refrain:


Aux armes, citoyens! [415]

Englische Fragmente

1. Gespräch auf der Themse
Zuerst gedruckt in: Neue allgemeine politische Annalen, Jg. 1828, und in: Das Ausland, Jg. 1828 uns 1829.
I
Gespräch auf der Themse

– – – Der gelbe Mann stand neben mir auf dem Verdeck, als ich die grünen Ufer der Themse erblickte und in allen Winkeln meiner Seele die Nachtigallen erwachten. »Land der Freiheit«, rief ich, »ich grüße dich! – Sei mir gegrüßt, Freiheit, junge Sonne der verjüngten Welt! Jene ältere Sonnen, die Liebe und der Glaube, sind welk und kalt geworden und können nicht mehr leuchten und wärmen. Verlassen sind die alten Myrtenwälder, die einst so überbevölkert waren, und nur noch blöde Turteltauben nisten in den zärtlichen Büschen. Es sinken die alten Dome, die einst von einem übermütig frommen Geschlechte, das sei nen Glauben in den Himmel hineinbauen wollte, so riesenhoch aufgetürmt wurden; sie sind morsch und verfallen, und ihre Götter glauben an sich selbst nicht mehr. Diese Götter sind abgelebt, und unsere Zeit hat nicht Phantasie genug, neue zu schaffen. Alle Kraft der Menschenbrust wird jetzt zu Freiheitsliebe, und die Freiheit ist vielleicht die Religion der neuen Zeit, und es ist wieder eine Religion, die nicht den Reichen gepredigt wurde, sondern den Armen, und sie hat ebenfalls ihre Evangelisten, ihre Martyrer und ihre Ischariots!«

[416] »Junger Enthusiast«, sprach der gelbe Mann, »Sie werden nicht finden, was Sie suchen. Sie mögen recht haben, daß die Freiheit eine neue Religion ist, die sich über die ganze Erde verbreitet. Aber wie einst jedes Volk, indem es das Christentum annahm, solches nach seinen Bedürfnissen und seinem eigenen Charakter modelte, so wird jedes Volk von der neuen Religion, von der Freiheit, nur dasjenige annehmen, was seinen Lokalbedürfnissen und seinem Nationalcharakter gemäß ist.

Die Engländer sind ein häusliches Volk, sie leben ein begrenztes, umfriedetes Familienleben; im Kreise seiner Angehörigen sucht der Engländer jenes Seelenbehagen, das ihm schon durch seine angeborene gesellschaftliche Unbeholfenheit außer dem Hause versagt ist. Der Engländer ist daher mit jener Freiheit zu frieden, die seine persönlichsten Rechte verbürgt und seinen Leib, sein Eigentum, seine Ehe, seinen Glauben und sogar seine Grillen unbedingt schützt. In seinem Hause ist niemand freier als ein Engländer, um mich eines berühmten Ausdrucks zu bedienen, er ist König und Bischof in seinen vier Pfählen, und nicht unrichtig ist sein gewöhnlicher Wahlspruch: ›My house is my castle.‹

Ist nun bei den Engländern das meiste Bedürfnis nach persönlicher Freiheit, so möchte wohl der Franzose im Notfall diese entbehren können, wenn man ihm nur jenen Teil der allgemeinen Freiheit, den wir Gleichheit nennen, vollauf genießen lassen. Die Franzosen sind kein häusliches Volk, sondern ein geselliges, sie lieben kein schweigendes Beisammensitzen, welches sie une conversation anglaise nennen, sie laufen plaudernd vom Kaffeehaus nach dem Kasino, vom Kasino nach den Salons, ihr leichtes Champagnerblut und angeborenes Umgangstalent treibt sie zum Gesellschaftsleben, und dessen erste und letzte Bedingung, ja dessen Seele ist: die Gleichheit. Mit der Ausbildung der Gesellschaftlichkeit in Frankreich mußte daher auch das Bedürfnis der Gleichheit entstehen, und wenn auch der Grund der Revolution im Budget zu suchen ist, so wurde ihr doch zuerst Wort und Stimme verliehen von jenen geistreichen [417] Roturiers, die in den Salons von Paris mit der hohen Noblesse scheinbar auf einem Fuße der Gleichheit lebten und doch dann und wann, sei es auch nur durch ein kaum bemerkbares, aber desto tiefer verletzendes Feudallächeln, an die große, schmachvolle Ungleichheit erinnert wurden; – und wenn die canaille roturière sich die Freiheit nahm, jene hohe Noblesse zu köpfen, so geschah dieses vielleicht weniger, um ihre Güter, als um ihre Ahnen zu erben und statt der bürgerlichen Ungleichheit eine adlige Gleichheit einzuführen. Daß dieses Streben nach Gleichheit das Hauptprinzip der Revolution war, dürfen wir um so mehr glauben, da die Franzosen sich bald glücklich und zufrieden fühlten unter der Herrschaft ihres großen Kaisers, der, ihre Unmündigkeit beachtend, all ihre Freiheit unter seiner strengen Kuratel hielt und ihnen nur die Freude einer völligen, ruhmvollen Gleichheit überließ.

Weit geduldiger als der Franzose erträgt daher der Engländer den Anblick einer bevorrechteten Aristokratie; er tröstet sich, daß er selbst Rechte besitzt, die es jener unmöglich machen, ihn in seinen häuslichen Komforts und in seinen Lebensansprüchen zu stören. Auch trägt jene Aristokratie nicht jene Rechte zur Schau wie auf dem Kontinente. In den Straßen und öffentlichen Vergnügungssälen Londons sieht man bunte Bänder nur auf den Hauben der Weiber und goldne und silberne Abzeichen nur auf den Röcken der Lakaien. Auch jene schöne, bunte Livree, die bei uns einen bevorrechteten Wehrstand ankündigt, ist in England nichts weniger als eine Ehrenauszeichnung; wie ein Schauspieler sich nach der Vorstellung die Schminke abwischt, so eilt auch der englische Offizier, sich seines roten Rocks zu entledigen, sobald die Dienststunde vorüber ist, und im schlichten Rock eines Gentleman ist er wieder ein Gentleman. Nur auf dem Theater zu St. James gelten jene Dekorationen und Kostüme, die aus dem Kehricht des Mittelalters aufbewahrt worden; da flattern die Ordensbänder, da blinken die Sterne, da rauschen die seidenen Hosen und Atlasschleppen, da knarren die goldnen Sporen und altfranzösischen Redensarten, da bläht sich der Ritter, da spreizt sich das Fräulein.[418] – Aber was kümmert einen freien Engländer die Hofkomödie zu St. James! wird er doch nie davon belästigt, und verwehrt es ihm ja niemand, wenn er in seinem Hause ebenfalls Komödie spielt und seine Hausoffizianten vor sich knien läßt und mit dem Strumpfband der Köchin tändelt – honny soit qui mal y pense.

Was die Deutschen betrifft, so bedürfen sie weder der Freiheit noch der Gleichheit. Sie sind ein spekulatives Volk, Ideologen, Vor- und Nachdenker, Träumer, die nur in der Vergangenheit und in der Zukunft leben und keine Gegenwart haben. Engländer und Franzosen haben eine Gegenwart, bei ihnen hat jeder Tag seinen Kampf und Gegenkampf und seine Geschichte. Der Deutsche hat nichts, wofür er kämpfen sollte, und da er zu mutmaßen begann, daß es doch Dinge geben könne, deren Besitz wünschenswert wäre, so haben wohlweise seine Philosophen ihn gelehrt, an der Existenz solcher Dinge zu zweifeln. Es läßt sich nicht leugnen, daß auch die Deutschen die Freiheit lieben. Aber anders wie andere Völker. Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib, er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen, und wehe dem rotgeröckten Burschen, der sich in ihr heiliges Schlafgemach drängt – sei es als Galant oder als Scherge. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er glüht für sie, er flammt, er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerungen, er schlägt sich für sie auf Tod und Leben, er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine alte Großmutter.«

Gar wunderlich sind doch die Menschen! Im Vaterlande brummen wir, jede Dummheit, jede Verkehrtheit dort verdrießt uns, wie Knaben möchten wir täglich davonlaufen in die weite Welt; sind wir endlich wirklich in die weite Welt gekommen, so ist uns diese wieder zu weit, und heimlich sehnen wir uns oft wieder nach den engen Dummheiten und Verkehrtheiten der Heimat, und wir möchten wieder dort in der alten, [419] wohlbekannten Stube sitzen und uns, wenn es anginge, ein Haus hinter den Ofen bauen und warm drin hocken und den »Allgemeinen Anzeiger der Deutschen« lesen. So ging es auch mir auf der Reise nach England. Kaum verlor ich den Anblick der deutschen Küste, so erwachte in mir eine kuriose Nachliebe für jene teutonischen Schlafmützen- und Perückenwälder, die ich eben noch mit Unmut verlassen, und als ich das Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich es im Herzen wieder.

Daher mochte wohl meine Stimme etwas weich klingen, als ich dem gelben Mann antwortete: »Lieber Herr, scheltet mir nicht die Deutschen! Wenn sie auch Träumer sind, so haben doch manche unter ihnen so schöne Träume geträumet, daß ich sie kaum vertauschen möchte gegen die wachende Wirklichkeit unserer Nachbaren. Da wir alle schlafen und träumen, so können wir vielleicht die Freiheit entbehren; denn unsere Tyrannen schlafen ebenfalls und träumen bloß ihre Tyrannei. Nur damals sind wir erwacht, als die katholischen Römer unsere Traumfreiheit geraubt hatten; da handelten wir und siegten und legten uns wieder hin und träumten. O Herr! spottet nicht unserer Träumer, dann und wann, wie Somnambüle, sprechen sie Wunderbares im Schlafe, und ihr Wort wird Saat der Freiheit. Keiner kann absehen die Wendung der Dinge. Der spleenige Brite, seines Weibes überdrüssig, legt ihr vielleicht einst einen Strick um den Hals und bringt sie zum Verkauf nach Smithfield. Der flatterhafte Franzose wird seiner geliebten Braut vielleicht treulos und verläßt sie und tänzelt singend nach den Hofdamen (courtisanes) seines königlichen Palastes (palais royal). Der Deutsche wird aber seine alte Großmutter nie ganz vor die Türe stoßen, er wird ihr immer ein Plätzchen am Herde gönnen, wo sie den horchenden Kindern ihre Märchen erzählen kann – Wenn einst, was Gott verhüte, in der ganzen Welt die Freiheit verschwunden ist, so wird ein deutscher Träumer sie in seinen Träumen wieder entdecken.«

Während nun das Dampfboot, und auf demselben unser Gespräch, den Strom hinaufschwamm, war die Sonne untergegangen, [420] und ihre letzten Strahlen beleuchteten das Hospital zu Greenwich, ein imposantes palastgleiches Gebäude, das eigentlich aus zwei Flügeln besteht, deren Zwischenraum leer ist, und einen mit einem artigen Schlößlein gekrönten, waldgrünen Berg den Vorbeifahrenden sehen läßt. Auf dem Wasser nahm jetzt das Gewühl der Schiffe immer zu, und ich wunderte mich, wie geschickt diese großen Fahrzeuge sich einander ausweichen. Da grüßt im Begegnen manch ernsthaft freundliches Gesicht, das man nie gesehen hat und vielleicht auch nie wiedersehen wird. Man fährt sich so nahe vorbei, daß man sich die Hände reichen könnte zum Willkomm und Abschied zu gleicher Zeit. Das Herz schwillt beim Anblick so vieler schwellenden Segel und wird wunderbar aufgeregt, wenn vom Ufer her das verworrene Summen und die ferne Tanzmusik und der dumpfe Matrosenlärm herandröhnt. Aber im weißen Schleier des Abendnebels verschwimmen allmählich die Konturen der Gegenstände, und sichtbar bleibt nur ein Wald von Mastbäumen, die lang und kahl emporragen.

Der gelbe Mann stand noch immer neben mir und schaute sinnend in die Höhe, als suche er im Nebelhimmel die bleichen Sterne. Noch immer in die Höhe schauend, legte er die Hand auf meine Schulter, und in einem Tone, als wenn geheime Gedanken unwillkürlich zu Worten werden, sprach er: »Freiheit und Gleichheit! man findet sie nicht hier unten und nicht einmal dort oben. Dort jene Sterne sind nicht gleich, einer ist größer und leuchtender als der andere, keiner von ihnen wandelt frei, alle gehorchen sie vorgeschriebenen, eisernen Gesetzen – Sklaverei ist im Himmel wie auf Erden.«

»Das ist der Tower!« rief plötzlich einer unserer Reisegefährten, indem er auf ein hohes Gebäude zeigte, das aus dem nebelbedeckten London, wie ein gespenstisch dunkler Traum, hervorstieg.

[421]
2. London
II
London

Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer – noch immer starrt in meinem Gedächtnisse dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses – ich spreche von London.

Schickt einen Philosophen nach London, beileibe keinen Poeten! Schickt einen Philosophen hin und stellt ihn an eine Ecke von Cheapside, er wird hier mehr lernen als aus allen Büchern der letzten Leipziger Messe; und wie die Menschenwogen ihn umrauschen, so wird auch ein Meer von neuen Gedanken vor ihm aufsteigen, der ewige Geist, der darüber schwebt, wird ihn anwehen, die verborgensten Geheimnisse der gesellschaftlichen Ordnung werden sich ihm plötzlich offenbaren, er wird den Pulsschlag der Welt hörbar vernehmen und sichtbar sehen – denn wenn London die rechte Hand der Welt ist, die tätige, mächtige rechte Hand, so ist jene Straße, die von der Börse nach Downing Street führt, als die Pulsader der Welt zu betrachten.

Aber schickt keinen Poeten nach London! Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertriebene London erdrückt die Phantasie und zerreißt das Herz. Und wolltet ihr gar einen deutschen Poeten hinschicken, einen Träumer, der vor jeder einzelnen Erscheinung stehenbleibt, etwa vor einem zerlumpten Bettelweib oder einem blanken Goldschmiedladen – oh! dann geht es ihm erst recht schlimm, und er wird von allen Seiten fortgeschoben oder gar mit einem milden »God damn!« niedergestoßen. God damn! das verdammte Stoßen! Ich merkte bald, dieses Volk hat viel zu tun. Es lebt auf einem großen Fuße, es will, obgleich Futter und Kleider in seinem Lande teurer sind als bei uns, dennoch besser gefüttert und besser gekleidet sein als wir; wie zur Vornehmheit [422] gehört, hat es auch große Schulden, dennoch aus Großprahlerei wirft es zuweilen seine Guineen zum Fenster hinaus, bezahlt andere Völker, daß sie sich zu seinem Vergnügen herumboxen, gibt dabei ihren respektiven Königen noch außerdem ein gutes Douceur – und deshalb hat John Bull Tag und Nacht zu arbeiten, um Geld zu solchen Ausgaben anzuschaffen, Tag und Nacht muß er sein Gehirn anstrengen zur Erfindung neuer Maschinen, und er sitzt und rechnet im Schweiße seines Angesichts und rennt und läuft, ohne sich viel umzusehen, vom Hafen nach der Börse, von der Börse nach dem Strand, und da ist es sehr verzeihlich, wenn er an der Ecke von Cheapside einen armen deutschen Poeten, der, einen Bilderladen angaffend, ihm in dem Wege steht, etwas unsanft auf die Seite stößt. »God damn!«

Das Bild aber, welches ich an der Ecke von Cheapside angaffte, war der Übergang der Franzosen über die Beresina.

Als ich, aus dieser Betrachtung aufgerüttelt, wieder auf die tosende Straße blickte, wo ein buntscheckiger Knäul von Männern, Weibern, Kindern, Pferden, Postkutschen, darunter auch ein Leichenzug, sich brausend, schreiend, ächzend und knarrend dahinwälzte, da schien es mir, als sei ganz London so eine Beresinabrücke, wo jeder in wahnsinniger Angst, um sein bißchen Leben zu fristen, sich durchdrängen will, wo der kecke Reuter den armen Fußgänger niederstampft, wo derjenige, der zu Boden fällt, auf immer verloren ist, wo die besten Kameraden fühllos einer über die Leiche des andern dahineilen und Tausende, die, sterbensmatt und blutend, sich vergebens an den Planken der Brücke festklammern wollten, in die kalte Eisgrube des Todes hinabstürzen.

Wieviel heiterer und wohnlicher ist es dagegen in unserem lieben Deutschland! Wie traumhaft gemach, wie sabbatlich ruhig bewegen sich hier die Dinge! Ruhig zieht die Wache auf, im ruhigen Sonnenschein glänzen die Uniformen und Häuser, an den Fliesen flattern die Schwalben, aus den Fenstern lächeln dicke Justizrätinnen, auf den hallenden Straßen ist Platz genug: die Hunde können sich gehörig anriechen, die Menschen können [423] bequem stehenbleiben und über das Theater diskurieren und tief, tief grüßen, wenn irgendein vornehmes Lümpchen oder Vizelümpchen, mit bunten Bändchen auf dem abgeschabten Röckchen, oder ein gepudertes, vergoldetes Hofmarschälkchen gnädig wiedergrüßend vorbeitänzelt!

Ich hatte mir vorgenommen, über die Großartigkeit Londons, wovon ich soviel gehört, nicht zu erstaunen. Aber es ging mir wie dem armen Schulknaben, der sich vornahm, die Prügel, die er empfangen sollte, nicht zu fühlen. Die Sache bestand eigentlich in dem Umstande, daß er die gewöhnlichen Hiebe mit dem gewöhnlichen Stocke, wie gewöhnlich, auf dem Rücken erwartete und statt dessen eine ungewöhnliche Tracht Schläge auf einem ungewöhnlichen Platze mit einem dünnen Röhrchen empfing. Ich erwartete große Paläste und sah nichts als lauter kleine Häuser. Aber eben die Gleichförmigkeit derselben und ihre unabsehbare Menge imponiert so gewaltig.

Diese Häuser von Ziegelsteinen bekommen durch feuchte Luft und Kohlendampf gleiche Farbe, nämlich bräunliches Olivengrün; sie sind alle von derselben Bauart, gewöhnlich zwei oder drei Fenster breit, drei hoch und oben mit kleinen roten Schornsteinen geziert, die wie blutig ausgerissene Zähne aussehen, dergestalt, daß die breiten, regelrechten Straßen, die sie bilden, nur zwei unendlich lange kasernenartige Häuser zu sein scheinen. Dieses hat wohl seinen Grund in dem Umstande, daß jede englische Familie, und bestände sie auch nur aus zwei Personen, dennoch ein ganzes Haus, ihr eignes Kastell, bewohnen will und reiche Spekulanten, solchem Bedürfnis entgegenkommend, ganze Straßen bauen, worin sie die Häuser einzeln wieder verhökern. In den Hauptstraßen der City, demjenigen Teil Londons, wo der Sitz des Handels und der Gewerke, wo noch altertümliche Gebäude zwischen den neuen zerstreut sind und wo auch die Vorderseiten der Häuser mit ellenlangen Namen und Zahlen, gewöhnlich goldig und relief, bis ans Dach bedeckt sind, da ist jene charakteristische Einförmigkeit der Häuser nicht so auffallend, um so weniger, da das Auge des Fremden unaufhörlich beschäftigt wird durch den wunderbaren [424] Anblick neuer und schöner Gegenstände, die an den Fenstern der Kaufläden ausgestellt sind. Nicht bloß diese Gegenstände selbst machen den größten Effekt, weil der Engländer alles, was er verfertigt, auch vollendet liefert und jeder Luxusartikel, jede Astrallampe und jeder Stiefel, jede Teekanne und jeder Weiberrock uns so finished und einladend entgegenglänzt, sondern auch die Kunst der Aufstellung, Farbenkontrast und Mannigfaltigkeit gibt den englischen Kaufläden einen eignen Reiz; selbst die alltäglichsten Lebensbedürfnisse erscheinen in einem überraschenden Zauberglanze, gewöhnliche Eßwaren locken uns durch ihre neue Beleuchtung, sogar rohe Fische liegen so wohlgefällig appretiert, daß uns der regenbogenfarbige Glanz ihrer Schuppen ergötzt, rohes Fleisch liegt wie gemalt auf saubern, bunten Porzellantellerchen, mit lachender Petersilie umkränzt, ja alles erscheint uns wie gemalt und mahnt uns an die glänzenden und doch so bescheidenen Bilder des Franz Mieris. Nur die Menschen sind nicht so heiter wie auf diesen holländischen Gemälden, mit den ernsthaftesten Gesichtern verkaufen sie die lustigsten Spielsachen, und Zuschnitt und Farbe ihrer Kleidung ist gleichförmig wie ihre Häuser.

Auf der entgegengesetzten Seite Londons, die man das Westende nennt, the west end of the town, und wo die vornehmere und minder beschäftigte Welt lebt, ist jene Einförmigkeit noch vorherrschender; doch gibt es hier ganze lange, gar breite Straßen, wo alle Häuser groß wie Paläste, aber äußerlich nichts weniger als ausgezeichnet sind, außer daß man hier, wie an allen nicht ganz ordinären Wohnhäusern Londons, die Fenster der ersten Etage mit eisengittrigen Balkonen verziert sieht und auch au rez de chaussée ein schwarzes Gitterwerk findet, wodurch eine in die Erde gegrabene Kellerwohnung geschützt wird. Auch findet man in diesem Teile der Stadt große Squares: Reihen von Häusern gleich den oben beschriebenen, die ein Viereck bilden, in dessen Mitte ein von schwarzem Eisengitter verschlossener Garten mit irgendeiner Statue befindlich ist. Auf allen diesen Plätzen und Straßen wird das Auge des Fremden nirgends beleidigt von baufälligen Hütten des Elends. [425] Überall starrt Reichtum und Vornehmheit, und hineingedrängt in abgelegene Gäßchen und dunkle, feuchte Gänge wohnt die Armut mit ihren Lumpen und ihren Tränen.

Der Fremde, der die großen Straßen Londons durchwandert und nicht just in die eigentlichen Pöbelquartiere gerät, sieht daher nichts oder sehr wenig von dem vielen Elend, das in London vorhanden ist. Nur hie und da, am Eingang eines dunklen Gäßchens, steht schweigend ein zerfetztes Weib, mit einem Säugling an der abgehärmten Brust, und bettelt mit den Augen. Vielleicht, wenn diese Augen noch schön sind, schaut man einmal hinein – und erschrickt ob der Welt von Jammer, die man darin geschaut hat. Die gewöhnlichen Bettler sind alte Leute, meistens Mohren, die an den Straßenecken stehen und, was im kotigen London sehr nützlich ist, einen Pfad für Fußgänger kehren und dafür eine Kupfermünze verlangen. Die Armut in Gesellschaft des Lasters und des Verbrechens schleicht erst des Abends aus ihren Schlupfwinkeln. Sie scheut das Tageslicht um so ängstlicher, je grauenhafter ihr Elend kontrastiert mit dem Übermute des Reichtums, der überall hervorprunkt; nur der Hunger treibt sie manchmal um Mittagszeit aus dem dunkeln Gäßchen, und da steht sie mit stummen, sprechenden Augen und starrt flehend empor zu dem reichen Kaufmann, der geschäftig-geldklimpernd vorübereilt, oder zu dem müßigen Lord, der, wie ein satter Gott, auf hohem Roß einherreitet und auf das Menschengewühl unter ihm dann und wann einen gleichgültig vornehmen Blick wirft, als wären es winzige Ameisen oder doch nur ein Haufen niedriger Geschöpfe, deren Lust und Schmerz mit seinen Gefühlen nichts gemein hat – denn über dem Menschengesindel, das am Erdboden festklebt, schwebt Englands Nobility, wie Wesen höherer Art, die das kleine England nur als ihr Absteigequartier, Italien als ihren Sommergarten, Paris als ihren Gesellschaftssaal, ja die ganze Welt als ihr Eigentum betrachten. Ohne Sorgen und ohne Schranken schweben sie dahin, und ihr Gold ist ein Talisman, der ihre tollsten Wünsche in Erfüllung zaubert.

Arme Armut! wie peinigend muß dein Hunger sein, dort, [426] wo andre im höhnenden Überflusse schwelgen! Und hat man dir auch mit gleichgültiger Hand eine Brotkruste in den Schoß geworfen, wie bitter müssen die Tränen sein, womit du sie erweichst! Du vergiftest dich mit deinen eignen Tränen. Wohl hast du recht, wenn du dich zu dem Laster und dem Verbrechen gesellst. Ausgestoßene Verbrecher tragen oft mehr Menschlichkeit im Herzen als jene kühlen, untadelhaften Staatsbürger der Tugend, in deren bleichen Herzen die Kraft des Bösen erloschen ist, aber auch die Kraft des Guten. Und gar das Laster ist nicht immer Laster. Ich habe Weiber gesehen, auf deren Wangen das rote Laster gemalt war, und in ihrem Herzen wohnte himmlische Reinheit. Ich habe Weiber gesehen – ich wollt', ich sähe sie wieder! –

3. Die Engländer
III
Die Engländer

Unter den Bogengängen der Londoner Börse hat jede Nation ihren angewiesenen Platz, und auf hochgesteckten Täfelchen liest man die Namen: Russen, Spanier, Schweden, Deutsche, Malteser, Juden, Hanseaten, Türken usw. Vormals stand jeder Kaufmann unter dem Täfelchen, worauf der Name seiner Nation geschrieben. Jetzt aber würde man ihn vergebens dort suchen; die Menschen sind fortgerückt; wo einst Spanier standen, stehen jetzt Holländer; die Hanseaten traten an die Stelle der Juden; wo man Türken sucht, findet man jetzt Russen; die Italiener stehen, wo einst die Franzosen gestanden; sogar die Deutschen sind weitergekommen.

Wie auf der Londoner Börse, so auch in der übrigen Welt sind die alten Täfelchen stehengeblieben, während die Menschen darunter weggeschoben worden und andere an ihre Stelle gekommen sind, deren neue Köpfe sehr schlecht passen zu der alten Aufschrift. Die alten stereotypen Charakteristiken der Völker, wie wir solche in gelehrten Kompendien und Bierschenken finden, können uns nichts mehr nutzen und nur zu trostlosen Irrtümern verleiten. Wie wir unter unsern Augen [427] in den letzten Jahrzehnten den Charakter unserer westlichen Nachbaren sich allmählich umgestalten sahen, so können wir, seit Aufhebung der Kontinentalsperre, eine ähnliche Umwandlung jenseit des Kanales wahrnehmen. Steife, schweigsame Engländer wallfahren scharweis nach Frankreich, um dort sprechen und sich bewegen zu lernen, und bei ihrer Rückkehr sieht man mit Erstaunen, daß ihnen die Zunge gelöst ist, daß sie nicht mehr wie sonst zwei linke Hände haben und nicht mehr mit Beefsteak und Plumpudding zufrieden sind. Ich selbst habe einen solchen Engländer gesehen, der in Tavistock-Tavern etwas Zucker zu seinem Blumenkohl verlangt hat, eine Ketzerei gegen die strenge anglikanische Küche, worüber der Kellner fast rücklings fiel, indem gewiß seit der römischen Invasion der Blumenkohl in England nie anders als in Wasser abgekocht und ohne süße Zutat verzehrt worden. Es war derselbe Engländer, der, obgleich ich ihn vorher nie gesehen, sich zu mir setzte und einen so zuvorkommend französischen Diskurs anfing, daß ich nicht umhinkonnte, ihm zu gestehen, wie sehr es mich freue, einmal einen Engländer zu finden, der nicht gegen den Fremden zurückhaltend sei, worauf er, ohne Lächeln, ebenso freimütig entgegnete, daß er mit mir spräche, um sich in der französischen Sprache zu üben.

Es ist auffallend, wie die Franzosen täglich nachdenklicher, tiefer und ernster werden, in ebendem Maße, wie die Engländer dahin streben, sich ein legeres, oberflächliches und heiteres Wesen anzueignen; wie im Leben selbst, so auch in der Literatur. Die Londoner Pressen sind vollauf beschäftigt mit fashionablen Schriften, mit Romanen, die sich in der glänzenden Sphäre des Highlife bewegen oder dasselbe abspiegeln, wie z.B. »Almalks«, »Vivian Grey«, »Tremaine«, »The Guards«, »Flirtation«, welcher letztere Roman die beste Bezeichnung wäre für die ganze Gattung, für jene Koketterie mit ausländischen Manieren und Redensarten, jene plumpe Feinheit, schwerfällige Leichtigkeit, saure Süßelei, gezierte Roheit, kurz, für das ganze unerquickliche Treiben jener hölzernen Schmetterlinge, die in den Sälen Westlondons herumflattern.

[428] Dagegen welche Literatur bietet uns jetzt die französische Presse, jene echte Repräsentantin des Geistes und Willens der Franzosen! Wie ihr großer Kaiser die Muße seiner Gefangenschaft dazu anwandte, sein Leben zu diktieren, uns die geheimsten Ratschlüsse seiner göttlichen Seele zu offenbaren und den Felsen von St. Helena in einen Lehrstuhl der Geschichte zu verwandeln, von dessen Höhe die Zeitgenossen gerichtet und die spätesten Enkel belehrt werden, so haben auch die Franzosen selbst angefangen, die Tage ihres Mißgeschicks, die Zeit ihrer politischen Untätigkeit so rühmlich als möglich zu benutzen; auch sie schreiben die Geschichte ihrer Taten; jene Hände, die so lange das Schwert geführt, werden wieder ein Schrecken ihrer Feinde, indem sie zur Feder greifen; die ganze Nation ist gleichsam beschäftigt mit der Herausgabe ihrer Memoiren, und folgt sie meinem Rate, so veranstaltet sie noch eine ganz besondere Ausgabe ad usum Delphini, mit hübsch kolorierten Abbildungen von der Einnahme der Bastille, dem Tuileriensturm und dergleichen mehr.

Habe ich aber oben angedeutet, wie heutzutage die Engländer leicht und frivol zu werden suchen und in jene Affenhaut hineinkriechen, die jetzt die Franzosen von sich abstreifen, so muß ich nachträglich bemerken, daß ein solches Streben mehr aus der Nobility und Gentry, der vornehmen Welt, als aus dem Bürgerstande hervorgeht. Im Gegenteil, der gewerbtreibende Teil der Nation, besonders die Kaufleute in den Fabrikstädten und fast alle Schotten tragen das äußere Gepräge des Pietismus, ja ich möchte sagen Puritanismus, so daß dieser gottselige Teil des Volkes mit den weltlichgesinnten Vornehmen auf dieselbe Weise kontrastiert wie die Kavaliere und Stutzköpfe, die Walter Scott in seinen Romanen so wahrhaft schildert. Man erzeigt dem schottischen Barden zu viele Ehre, wenn man glaubt, sein Genius habe die äußere Erscheinung und innere Denkweise dieser beiden Parteien der Geschichte nachgeschaffen und es sei ein Zeichen seiner Dichtergröße, daß er, vorurteilsfrei wie ein richtender Gott, beiden ihr Recht antut und beide mit gleicher Liebe behandelt. Wirft man [429] nur einen Blick in die Betstuben von Liverpool oder Manchester und dann in die fashionablen saloons von Westlondon, so sieht man deutlich, daß Walter Scott bloß seine eigene Zeit abgeschrieben und ganz heutige Gestalten in alte Trachten gekleidet hat. Bedenkt man gar, daß er von der einen Seite selbst als Schotte, durch Erziehung und Nationalgeist, eine puritanische Denkweise eingesogen hat, auf der andern Seite als Tory, der sich gar ein Sprößling der Stuarts dünkt, von ganzer Seele recht königlich und adeltümlich gesinnt sein muß und daher seine Gefühle und Gedanken beide Richtungen mit gleicher Liebe umfassen und zugleich durch deren Gegensatz neutralisiert werden, so erklärt sich sehr leicht seine Unparteilichkeit bei der Schilderung der Aristokraten und Demokraten aus Cromwells Zeit, eine Unparteilichkeit, die uns zu dem Irrtume verleitete, als dürften wir in seiner Geschichte Napoleons eine ebenso treue fair-play-Schilderung der französischen Revolutionshelden von ihm erwarten.

Wer England aufmerksam betrachtet, findet jetzt täglich Gelegenheit, jene beiden Tendenzen, die frivole und puritanische, in ihrer widerwärtigsten Blüte und, wie sich von selbst versteht, in ihrem Zweikampf zu beobachten. Eine solche Gelegenheit gab ganz besonders der famöse Prozeß des Herrn Wakefield, eines lustigen Kavaliers, der gleichsam aus dem Stegreif die Tochter des reichen Herrn Turner, eines Liverpooler Kaufmanns, entführt und zu Gretna Green, wo ein Schmied wohnt, der die stärksten Fesseln schmiedet, geheiratet hatte. Die ganze kopfhängerische Sippschaft, das ganze Volk der Auserlesenen Gottes schrie Zeter über solche Verruchtheit, in den Betstuben Liverpools erflehte man die Strafe des Himmels über Wakefield und seinen brüderlichen Helfer, die der Abgrund der Erde verschlingen sollte wie die Rotte des Korah, Dathan und Abiram, und um der heiligen Rache noch sicherer zu sein, wurde zu gleicher Zeit in den Gerichtssälen Londons der Zorn der Kings-Bench, des Großkanzlers und selbst des Oberhauses auf die Entweiher des heiligsten Sakramentes herabplädiert – während man in den fashionablen saloons über den kühnen Mädchenräuber [430] gar tolerant zu scherzen und zu lachen wußte. Am ergötzlichsten zeigte sich mir dieser Kontrast beider Denkweisen, als ich einst in der Großen Oper neben zwei dicken Manchesternen Damen saß, die diesen Versammlungsort der vornehmen Welt zum ersten Male in ihrem Leben besuchten und den Abscheu ihres Herzens nicht stark genug kundgeben konnten, als das Ballett begann und die hochgeschürzten schönen Tänzerinnen ihre üppiggraziösen Bewegungen zeigten, ihre lieben, langen, lasterhaften Beine ausstreckten und plötzlich bacchantisch den entgegenhüpfenden Tänzern in die Arme stürzten; die warme Musik, die Urkleider von fleischfarbigem Trikot, die Naturalsprünge, alles vereinigte sich, den armen Damen Angstschweiß auszupressen, ihre Busen erröteten vor Unwillen, »Shocking! for shame, for shame!« ächzten sie beständig, und sie waren so sehr von Schrecken gelähmt, daß sie nicht einmal das Perspektiv vom Auge fortnehmen konnten und bis zum letzten Augenblicke, bis der Vorhang fiel, in dieser Situation sitzen blieben.

Trotz diesen entgegengesetzten Geistes- und Lebensrichtungen findet man doch wieder im englischen Volke eine Einheit der Gesinnung, die eben darin besteht, daß es sich als ein Volk fühlt; die neueren Stutzköpfe und Kavaliere mögen sich immerhin wechselseitig hassen und verachten, dennoch hören sie nicht auf, Engländer zu sein; als solche sind sie einig und zusammengehörig, wie Pflanzen, die aus demselben Boden hervorgeblüht und mit diesem Boden wunderbar verwebt sind. Daher die geheime Übereinstimmung des ganzen Lebens und Webens in England, das uns beim ersten Anblick nur ein Schauplatz der Verwirrung und Widersprüche dünken will. Überreichtum und Misere, Orthodoxie und Unglauben, Freiheit und Knechtschaft, Grausamkeit und Milde, Ehrlichkeit und Gaunerei, diese Gegensätze in ihren tollsten Extremen, darüber der graue Nebelhimmel, von allen Seiten summende Maschinen, Zahlen, Gaslichter, Schornsteine, Zeitungen, Porterkrüge, geschlossene Mäuler, alles dieses hängt so zusammen, daß wir uns keins ohne das andere denken können, und was vereinzelt [431] unser Erstaunen oder Lachen erregen würde, erscheint uns als ganz gewöhnlich und ernsthaft in seiner Vereinigung.

Ich glaube aber, so wird es uns überall gehen, sogar in solchen Ländern, wovon wir noch seltsamere Begriffe hegen und wo wir noch reichere Ausbeute des Lachens und Staunens erwarten. Unsere Reiselust, unsere Begierde, fremde Länder zu sehen, besonders wie wir solche im Knabenalter empfinden, entsteht überhaupt durch jene irrige Erwartung außerordentlicher Kontraste, durch jene geistige Maskeradelust, wo wir Menschen und Denkweise unserer Heimat in jene fremde Länder hineindenken und solchermaßen unsere besten Bekannten in die fremden Kostüme und Sitten vermummen. Denken wir z.B. an die Hottentotten, so sind es die Damen unserer Vaterstadt, die schwarz angestrichen und mit gehöriger Hinterfülle in unserer Vorstellung umhertanzen, während unsere jungen Schöngeister als Buschklepper auf die Palmbäume hinaufklettern; denken wir an die Bewohner der Nordpolländer, so sehen wir dort ebenfalls die wohlbekannten Gesichter, unsere Muhme fährt in ihrem Hundeschlitten über die Eishahn, der dürre Herr Konrektor liegt auf der Bärenhaut und säuft ruhig seinen Morgentran, die Frau Akziseeinnehmerin, die Frau Inspektorin und die Frau Infibulationsrätin hocken beisammen und kauen Talglichter usw. Sind wir aber in jene Länder wirklich gekommen, so sehen wir bald, daß dort die Menschen mit Sitten und Kostüm gleichsam verwachsen sind, daß die Gesichter zu den Gedanken und die Kleider zu den Bedürfnissen passen, ja daß Pflanzen, Tiere, Menschen und Land ein zusammenstimmendes Ganze bilden.

4. The Life of Napoleon Buonaparte
IV
The Life of Napoleon Buonaparte
by Walter Scott

Armer Walter Scott! Wärest du reich gewesen, du hättest jenes Buch nicht geschrieben und wärest kein armer Walter Scott geworden! Aber die Curatores der Constableschen Masse [432] kamen zusammen und rechneten und rechneten, und nach langem Subtrahieren und Dividieren schüttelten sie die Köpfe – und dem armen Walter Scott blieb nichts übrig als Lorbeeren und Schulden. Da geschah das Außerordentliche: der Sänger großer Taten wollte sich auch einmal im Heroismus versuchen, er entschloß sich zu einer cessio bonorum, der Lorbeer des großen Unbekannten wurde taxiert, um große bekannte Schulden zu decken – und so entstand in hungriger Geschwindigkeit, in bankrotter Begeisterung das »Leben Napoleons«, ein Buch, das von den Bedürfnissen des neugierigen Publikums im allgemeinen und des englischen Ministeriums insbesondere gut bezahlt werden sollte.

Lobt ihn, den braven Bürger! lobt ihn, ihr sämtlichen Philister des ganzen Erdballs! lob ihn, du liebe Krämertugend, die alles aufopfert, um die Wechsel am Verfalltage einzulösen – nur mir mutet nicht zu, daß auch ich ihn lobe.

Seltsam! der tote Kaiser ist im Grabe noch das Verderben der Briten, und durch ihn hat jetzt Britanniens größter Dichter seinen Lorbeer verloren!

Es war Britanniens größter Dichter, man mag sagen und einwenden, was man will. Zwar die Kritiker seiner Romane mäkelten an seiner Größe und warfen ihm vor, er dehne sich zu sehr ins Breite, er gehe zu sehr ins Detail, er schaffe seine großen Gestalten nur durch Zusammensetzung einer Menge von kleinen Zügen, er bedürfe unzählig vieler Umständlichkeiten, um die starken Effekte hervorzubringen – Aber die Wahrheit zu sagen, er glich hierin einem Millionär, der sein ganzes Vermögen in lauter Scheidemünze liegen hat und immer drei bis vier Wagen mit Säcken voll Groschen und Pfenningen herbeifahren muß, wenn er eine große Summe zu bezahlen hat, und der dennoch, sobald man sich über solche Unart und das mühsame Schleppen und Zählen beklagen will, ganz richtig entgegnen kann: gleichviel wie, so gäbe er doch immer die verlangte Summe, er gäbe sie doch, und er sei im Grunde ebenso zahlfähig und auch wohl ebenso reich wie etwa ein anderer, der nur blanke Goldbarren liegen hat, ja er habe [433] sogar den Vorteil des erleichterten Verkehrs, indem jener sich auf dem großen Gemüsemarkte mit seinen großen Goldbarren, die dort keinen Kurs haben, nicht zu helfen weiß, während jedes Kramweib mit beiden Händen zugreift, wenn ihr gute Groschen und Pfenninge geboten werden. Mit diesem populären Reichtume des britischen Dichters hat es jetzt ein Ende, und er, dessen Münze so kurant war, daß die Herzogin und die Schneidersfrau sie mit gleichem Interesse annahmen, er ist jetzt ein armer Walter Scott geworden. Sein Schicksal mahnt an die Sage von den Bergelfen, die neckisch wohltätig den armen Leuten Geld schenken, das hübsch blank und gedeihlich bleibt, solange sie es gut anwenden, das sich aber unter ihren Händen in eitel Staub verwandelt, sobald sie es zu nichtswürdigen Zwecken mißbrauchen. Sack nach Sack öffnen wir Walter Scotts neue Zufuhr, und siehe da! statt der blitzenden, lachenden Gröschlein finden wir nichts als Staub und wieder Staub. Ihn bestraften die Bergelfen des Parnassus, die Musen, die, wie alle edelsinnigen Weiber, leidenschaftliche Napoleonistinnen sind und daher doppelt empört waren über den Mißbrauch der verliehenen Geistesschätze.

Wert und Tendenz des Scottschen Werks sind in allen Zeitschriften Europas beleuchtet worden. Nicht bloß die erbitterten Franzosen, sondern auch die bestürzten Landsleute des Verfassers haben das Verdammungsurteil ausgesprochen. In diesen allgemeinen Weltunwillen mußten auch die Deutschen einstimmen; mit schwerverhaltenem Feuereifer sprach das Stuttgarter »Literaturblatt«, mit kalter Ruhe äußerten sich die Berliner »Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik«, und der Rezensent, der jene kalte Ruhe um so wohlfeiler erschwang, je weniger teuer ihm der Held des Buches sein muß, charakterisiert dasselbe mit den trefflichen Worten:

»In dieser Erzählung ist weder Gehalt noch Farbe, weder Anordnung noch Lebendigkeit zu finden. Verworren in oberflächlicher, nicht in tiefer Verwirrung, ohne Hervortreten des Eigentümlichen, unsicher und wandelbar, zieht der gewaltige Stoff träge vorüber; kein Vorgang erscheint in seiner bestimmten [434] Eigenheit, nirgends werden die springenden Punkte sichtbar, kein Ereignis wird deutlich, keines tritt in seiner Notwendigkeit hervor, die Verbindung ist nur äußerlich, Gehalte und Bedeutung kaum geahnet. In solcher Darstellung muß alles Licht der Geschichte erlöschen, und sie selbst wird zum nicht wunderbaren, sondern gemeinen Märchen. Die Überlegungen und Betrachtungen, welche sich öfters dem Vortrag einschieben, sind von einer entsprechenden Art. Solch dünnlicher philosophischer Bereitung ist unsre Lesewelt längst entwachsen. Der dürftige Zuschnitt einer am einzelnen haftenden Moral reicht nirgend aus – –«

Dergleichen und noch schlimmere Dinge, die der scharfsinnige Berliner Rezensent, Varnhagen von Ense, ausspricht, würde ich dem Walter Scott gern verzeihen. Wir sind alle Menschen, und der beste von uns kann einmal ein schlechtes Buch schreiben. Man sagt alsdann, es sei unter aller Kritik, und die Sache ist abgemacht. Verwunderlich bleibt es zwar, daß wir in diesem neuen Werke nicht einmal Scotts schönen Stil wiederfinden. In die farblose, wochentägliche Rede werden vergebens hie und da etliche rote, blaue und grüne Worte eingestreut, vergebens sollen glänzende Läppchen aus den Poeten die prosaische Blöße bedecken, vergebens wird die ganze Arche Noäh geplündert, um bestialische Vergleichungen zu liefern, vergebens wird sogar das Wort Gottes zitiert, um die dummen Gedanken zu überschilden. Noch verwunderlicher ist es, daß es dem Walter Scott nicht einmal gelang, sein angeborenes Talent der Gestaltenzeichnung auszuüben und den äußern Napoleon aufzufassen. Walter Scott lernte nichts aus jenen schönen Bildern, die den Kaiser in der Umgebung seiner Generale und Staatsleute darstellen, während doch jeder, der sie unbefangen betrachtet, tief betroffen wird von der tragischen Ruhe und antiken Gemessenheit jener Gesichtszüge, die gegen die modern aufgeregten, pittoresken Tagsgesichter so schauerlich erhaben kontrastieren und etwas Herabgestiegen-Göttliches beurkunden. Konnte aber der schottische Dichter nicht die Gestalt, so konnte er noch viel weniger den Charakter des [435] Kaisers begreifen, und gern verzeih ich ihm auch die Lästerung eines Gottes, den er nicht kennt. Ich muß ihm ebenfalls verzeihen, daß er seinen Wellington für einen Gott hält und bei der Apotheose desselben so sehr in Andacht gerät, daß er, der doch so stark in Viehbildern ist, nicht weiß, womit er ihn vergleichen soll.

Bin ich aber tolerant gegen Walter Scott und verzeihe ich ihm die Gehaltlosigkeit, Irrtümer, Lästerungen und Dummheiten seines Buches, verzeih ich ihm sogar die Langeweile, die es mir verursacht – so darf ich ihm doch nimmermehr die Tendenz desselben verzeihen. Diese ist nichts Geringeres als die Exkulpation des englischen Ministeriums in betreff des Verbrechens von St. Helena. »In diesem Gerichtshandel zwischen dem englischen Ministerium und der öffentlichen Meinung«, wie der Berliner Rez. sich ausdrückt, »macht Walter Scott den Sachwalter«, er verbindet Advokatenkniffe mit seinem poetischen Talente, um den Tatbestand und die Geschichte zu verdrehen, und seine Klienten, die zugleich seine Patrone sind, dürften ihm wohl, außer seinen Sporteln, noch extra ein Douceur in die Hand drücken.

Die Engländer haben den Kaiser bloß ermordet, aber Walter Scott hat ihn verkauft. Es ist ein rechtes Schottenstück, ein echt schottisches Nationalstückchen, und man sieht, daß schottischer Geiz noch immer der alte, schmutzige Geiz ist und sich nicht sonderlich verändert hat seit den Tagen von Naseby, wo die Schotten ihren eigenen König, der sich ihrem Schutze anvertraut, für die Summe von 400.000 Pfd. Sterl. an seine englischen Henker verkauft haben. Jener König ist derselbe Karl Stuart, den jetzt Caledonias Barden so herrlich besingen – der Engländer mordet, aber der Schotte verkauft und besingt.

Das englische Ministerium hat seinem Advokaten zu obigem Behufe das Archiv des Foreign Office geöffnet, und dieser hat, im neunten Bande seines Werks, die Aktenstücke, die ein günstiges Licht auf seine Partei und einen nachteiligen Schatten auf deren Gegner werfen konnten, gewissenhaft benutzt. Deshalb gewinnt dieser neunte Band, bei all seiner ästhetischen [436] Wertlosigkeit, worin er den vorgehenden Bänden nichts nachgibt, dennoch ein gewisses Interesse: man erwartet bedeutende Aktenstücke, und da man deren keine findet, so ist das ein Beweis, daß deren keine vorhanden waren, die zugunsten der englischen Minister sprechen – und dieser negative Inhalt des Buches ist ein wichtiges Resultat.

Alle Ausbeute, die das englische Archiv liefert, beschränkt sich auf einige glaubwürdige Kommunikationen des edeln Sir Hudson Lowe und dessen Myrmidonen und einige Aussagen des General Gourgaud, der, wenn solche wirklich von ihm gemacht worden, als ein schamloser Verräter seines kaiserlichen Herrn und Wohltäters ebenfalls Glauben verdient. Ich will das Faktum dieser Aussagen nicht untersuchen, es scheint sogar wahr zu sein, da es der Baron Stürmer, einer von den drei Statisten der großen Tragödie, konstatiert hat; aber ich sehe nicht ein, was im günstigsten Falle dadurch bewiesen wird, außer daß Sir Hudson Lowe nicht der einzige Lump auf St. Helena war. Mit Hülfsmitteln solcher Art und erbärmlichen Suggestionen behandelt Walter Scott die Gefangenschaftsgeschichte Napoleons und bemüht sich, uns zu überzeugen, daß der Exkaiser – so nennt ihn der Exdichter – nichts Klügeres tun konnte, als sich den Engländern zu übergeben, obgleich er seine Abführung nach St. Helena vorauswissen mußte, daß er dort ganz scharmant behandelt worden, indem er vollauf zu essen und zu trinken hatte, und daß er endlich, frisch und gesund und als ein guter Christ, an einem Magenkrebse gestorben.

Walter Scott, indem er solchermaßen den Kaiser voraussehen läßt, wie weit sich die Generosität der Engländer erstrecken würde, nämlich bis St. Helena, befreit ihn von dem gewöhnlichen Vorwurf, die tragische Erhabenheit seines Unglücks habe ihn selbst so gewaltig begeistert, daß er zivilisierte Engländer für persische Barbaren und die Beefsteakküche von St. James für den Herd eines großen Königs ansah – und eine heroische Dummheit beging. Auch macht Walter Scott den Kaiser zu dem größten Dichter, der jemals auf dieser Welt gelebt hat, indem er uns ganz ernsthaft insinuiert, daß alle jene denkwürdigen [437] Schriften, die seine Leiden auf St. Helena berichten, sämtlich von ihm selbst diktiert worden.

Ich kann nicht umhin, hier die Bemerkung zu machen, daß dieser Teil des Walter Scottschen Buches sowie überhaupt die Schriften selbst, wovon er hier spricht, absonderlich die Memoiren von O'Meara, auch die Erzählung des Kapitän Maitland, mich zuweilen an die possenhafteste Geschichte von der Welt erinnert, so daß der schmerzlichste Unmut meiner Seele plötzlich in muntre Lachlust übergehen will. Diese Geschichte ist aber keine andere als »Die Schicksale des Lemuel Gulliver«, ein Buch, worüber ich einst als Knabe soviel gelacht und worin gar ergötzlich zu lesen ist, wie die kleinen Liliputaner nicht wissen, was sie mit dem großen Gefangenen anfangen sollen, wie sie tausendweise an ihm herumklettern und ihn mit unzähligen dünnen Härchen festbinden, wie sie mit großen Anstalten ihm ein eigenes großes Haus errichten, wie sie über die Menge Lebensmittel klagen, die sie ihm täglich verabreichen müssen, wie sie ihn im Staatsrat anschwärzen und beständig jammern, daß er dem Lande zuviel koste, wie sie ihn gern umbringen möchten, ihn aber noch im Tode fürchten, da sein Leichnam eine Pest hervorbringen könne, wie sie sich endlich zur glorreichsten Großmut entschließen und ihm seinen Titel lassen und nur seine Augen ausstechen wollen etc. Wahrlich, überall ist Liliput, wo ein großer Mensch unter kleine Menschen gerät, die unermüdlich und auf die kleinlichste Weise ihn abquälen und die wieder durch ihn genug Qual und Not ausstehen; aber hätte der Dechant Swift in unserer Zeit sein Buch geschrieben, so würde man in dessen scharfgeschliffenem Spiegel nur die Gefangenschaftsgeschichte des Kaisers erblicken und bis auf die Farbe des Rocks und des Gesichts die Zwerge erkennen, die ihn gequält haben.

Nur der Schluß des Märchens von St. Helena ist anders, der Kaiser stirbt an einem Magenkrebs, und Walter Scott versichert uns, das sei die alleinige Ursache seines Todes. Darin will ich ihm auch nicht widersprechen. Die Sache ist nicht unmöglich. Es ist möglich, daß ein Mann, der auf der Folterbank [438] gespannt liegt, plötzlich ganz natürlich an einem Schlagfluß stirbt. Aber die böse Welt wird sagen, die Folterknechte haben ihn hingerichtet. Die böse Welt hat sich nun einmal vorgenommen, die Sache ganz anders zu betrachten wie der gute Walter Scott. Wenn dieser gute Mann, der sonst so bibelfest ist und gern das Evangelium zitiert, in jenem Aufruhr der Elemente, in jenem Orkane, der beim Tode Napoleons ausbrach, nichts anders sieht als ein Ereignis, daß auch beim Tode Cromwells stattfand, so hat doch die Welt darüber ihre eigenen Gedanken. Sie betrachtet den Tod Napoleons als die entsetzlichste Untat, losbrechendes Schmerzgefühl wird Anbetung, vergebens macht Walter Scott den Advocatum Diaboli, die Heiligsprechung des toten Kaisers strömt aus allen edeln Herzen, alle edeln Herzen des europäischen Vaterlandes verachten seine kleinen Henker und den großen Barden, der sich zu ihrem Komplizen gesungen, die Musen werden bessere Sänger zur Feier ihres Lieblings begeistern, und wenn einst Menschen verstummen, so sprechen die Steine, und der Martyrfelsen St. Helena ragt schauerlich aus den Meereswellen und erzählt den Jahrtausenden seine ungeheure Geschichte.

5. Old Bailey
V
Old Bailey

Schon der Name Old Bailey erfüllt die Seele mit Grauen. Man denkt sich gleich ein großes, schwarzes, mißmütiges Gebäude, einen Palast des Elends und des Verbrechens. Der linke Flügel, der das eigentliche Newgate bildet, dient als Kriminalgefängnis, und da sieht man nur eine hohe Wand von wetterschwarzen Quadern, worin zwei Nischen mit ebenso schwarzen allegorischen Figuren, und wenn ich nicht irre, stellt eine von ihnen die Gerechtigkeit vor, indem, wie gewöhnlich, die Hand mit der Waage abgebrochen ist und nichts als ein blindes Weibsbild mit einem Schwerte übrigblieb. Ungefähr gegen die Mitte des Gebäudes ist der Altar dieser Göttin, nämlich das Fenster, wo das Galgengerüst zu stehen kommt, und endlich [439] rechts befindet sich der Kriminalgerichtshof, worin die vierteljährlichen Sessionen gehalten werden. Hier ist ein Tor, das gleich den Pforten der Danteschen Hölle die Inschrift tragen sollte:


Per me si va nella città dolente,
Per me si va nell' eterno dolore,
Per me si va tra la perduta gente.

Durch dieses Tor gelangt man auf einen kleinen Hof, wo der Abschaum des Pöbels versammelt ist, um die Verbrecher durchpassieren zu sehen; auch stehen hier Freunde und Feinde derselben, Verwandte, Bettelkinder, Blödsinnige, besonders alte Weiber, die den Rechtsfall des Tages abhandeln, und vielleicht mit mehr Einsicht als Richter und Jury, trotz all ihrer kurzweiligen Feierlichkeit und langweiligen Jurisprudenz. Hab ich doch draußen vor der Gerichtstüre eine alte Frau gesehen, die im Kreise ihrer Gevatterinnen den armen schwarzen William besser verteidigte als drinnen im Saale dessen grundgelehrter Advokat – wie sie die letzte Träne mit der zerlumpten Schürze aus den roten Augen wegwischte, schien auch Williams ganze Schuld vertilgt zu sein.

Im Gerichtssaale selbst, der nicht besonders groß, ist unten, vor der sogenannten Bar (Schranken), wenig Platz für das Publikum; dafür gibt es aber oben, an beiden Seiten, sehr geräumige Galerien mit erhöheten Bänken, wo die Zuschauer Kopf über Kopf gestapelt stehen.

Als ich Old Bailey besuchte, fand auch ich Platz auf einer solchen Galerie, die mir von einer alten Pförtnerin gegen Gratifikation eines Schillings erschlossen wurde. Ich kam in dem Augenblick, wo die Jury sich erhob, um zu urteilen, ob der schwarze William des angeklagten Verbrechens schuldig oder nicht schuldig sei.

Auch hier, wie in den andern Gerichtshöfen Londons, sitzen die Richter in blauschwarzer Toga, die hellviolett gefüttert ist, und ihr Haupt bedeckt die weißgepuderte Perücke, womit oft die schwarzen Augenbraunen und schwarzen Backenbärte gar drollig kontrastieren. Sie sitzen an einem langen grünen Tische, [440] auf erhabenen Stühlen, am obersten Ende des Saales, wo an der Wand mit goldenen Buchstaben eine Bibelstelle, die vor ungerechtem Richterspruch warnt, eingegraben steht. An beiden Seiten sind Bänke für die Männer der Jury und Plätze zum Stehen für Kläger und Zeugen. Den Richtern gerade gegenüber ist der Platz der Angeklagten; diese sitzen nicht auf einem Armesünderbänkchen, wie bei den öffentlichen Gerichten in Frankreich und Rheinland, sondern aufrecht stehen sie hinter einem wunderlichen Brette, das oben wie ein schmalgebogenes Tor ausgeschnitten ist. Es soll dabei ein künstlicher Spiegel angebracht sein, wodurch der Richter imstande ist, jede Miene der Angeklagten deutlich zu beobachten. Auch liegen einige grüne Kräuter vor letzteren, um ihre Nerven zu stärken, und das mag zuweilen nötig sein, wo man angeklagt steht auf Leib und Leben. Auch auf dem Tische der Richter sah ich dergleichen grüne Kräuter und sogar eine Rose liegen. Ich weiß nicht, wie es kommt, der Anblick dieser Rose hat mich tief bewegt. Die rote blühende Rose, die Blume der Liebe und des Frühlings, lag auf dem schrecklichen Richtertische von Old Bailey! Es war im Saale so schwül und dumpfig. Es schaute alles so unheimlich mürrisch, so wahnsinnig ernst. Die Menschen sahen aus, als kröchen ihnen graue Spinnen über die blöden Gesichter. Hörbar klirrten die eisernen Waagschalen über dem Haupte des armen schwarzen Williams.

Auch auf der Galerie bildete sich eine Jury. Eine dicke Dame, aus deren rotaufgedunsenem Gesicht die kleinen Äuglein wie Glühwürmchen hervorglimmten, machte die Bemerkung, daß der schwarze William ein sehr hübscher Bursche sei. Indessen ihre Nachbarin, eine zarte, piepsende Seele in einem Körper von schlechtem Postpapier, behauptete, er trüge das schwarze Haar zu lang und zottig und blitze mit den Augen wie Herr Kean im »Othello« – »Dagegen«, fuhr sie fort, »ist doch der Thomson ein ganz anderer Mensch, mit hellem Haar und glatt gekämmt nach der Mode, und er ist ein sehr geschickter Mensch, er bläst ein bißchen die Flöte, er malt ein bißchen, er spricht ein bißchen Französisch« – »Und stiehlt ein bißchen«, fügte die [441] dicke Dame hinzu. »Ei was, stehlen«, versetzte die dünne Nachbarin, »das ist doch nicht so barbarisch wie Fälschung; denn ein Dieb, es sei denn, er habe ein Schaf gestohlen, wird nach Botany Bay transportiert, während der Bösewicht, der eine Handschrift verfälscht hat, ohne Gnad' und Barmherzigkeit gehenkt wird.« – »Ohne Gnad' und Barmherzigkeit!« seufzte neben mir ein magerer Mann in einem verwirrten schwarzen Rock. »Hängen! kein Mensch hat das Recht, einen andern umbringen zu lassen, am allerwenigsten sollten Christen ein Todesurteil fällen, da sie doch daran denken sollten, daß der Stifter ihrer Religion, unser Herr und Heiland, unschuldig verurteilt und hingerichtet worden!« – »Ei was«, rief wieder die dünne Dame und lächelte mit ihren dünnen Lippen, »wenn so ein Fälscher nicht gehenkt würde, wäre ja kein reicher Mann seines Vermögens sicher, z.B. der dicke Jude in Lombard Street, Saint Swithins Lane, oder unser Freund Herr Scott, dessen Handschrift so täuschend nachgemacht worden. Und Herr Scott hat doch sein Vermögen so sauer erworben, und man sagt sogar, er sei dadurch reich geworden, daß er für Geld die Krankheiten anderer auf sich nahm, ja die Kinder laufen ihm jetzt noch auf der Straße nach und rufen: ›Ich gebe dir ein Sixpence, wenn du mir mein Zahnweh abnimmst, wir geben dir einen Schilling, wenn du Gottfriedchens Buckel nehmen willst‹« – »Kurios!« fiel ihr die dicke Dame in die Rede, »es ist doch kurios, daß der schwarze William und der Thomson früherhin die besten Spießgesellen gewesen sind und zusammen gewohnt und gegessen und getrunken haben und jetzt Edward Thomson sei nen alten Freund der Fälschung anklagt! Warum ist aber die Schwester von Thomson nicht hier, da sie doch sonst ihrem süßen William überall nachgelaufen?« Ein junges schönes Frauenzimmer, über dessen holdem Gesichte eine dunkle Betrübnis verbreitet lag, wie ein schwarzer Flor über einem blühenden Rosenstrauch, flüsterte jetzt eine ganz lange, verweinte Geschichte, wovon ich nur soviel verstand, daß ihre Freundin, die schöne Mary, von ihrem Bruder gar bitterlich geschlagen worden und todkrank zu Bette liege. »Nennt sie doch [442] nicht die schöne Mary!« brummte verdrießlich die dicke Dame, »viel zu mager, sie ist viel zu mager, als daß man sie schön nennen könnte, und wenn gar ihr William gehenkt wird –«

In diesem Augenblick erschienen die Männer der Jury und erklärten, daß der Angeklagte der Fälschung schuldig sei. Als man hierauf den schwarzen William aus dem Saale fortführte, warf er einen langen, langen Blick auf Edward Thomson.

Nach einer Sage des Morgenlandes war Satan einst ein Engel und lebte im Himmel mit den andern Engeln, bis er diese zum Abfall verleiten wollte und deshalb von der Gottheit hinuntergestoßen wurde in die ewige Nacht der Hölle. Während er aber vom Himmel hinabsank, schaute er immer noch in die Höhe, immer nach dem Engel, der ihn angeklagt hatte, je tiefer er sank, desto entsetzlicher und immer entsetzlicher wurde sein Blick – Und es muß ein schlimmer Blick gewesen sein; denn jener Engel, den er traf, wurde bleich, niemals trat wieder Röte in seine Wangen, und er heißt seitdem der Engel des Todes.

Bleich wie der Engel des Todes wurde Edward Thomson.

6. Das neue Ministerium
VI
Das neue Ministerium

In Bedlam habe ich vorigen Sommer einen Philosophen kennengelernt, der mir, mit heimlichen Augen und flüsternder Stimme, viele wichtige Aufschlüsse über den Ursprung des Übels gegeben hat. Wie mancher andere seiner Kollegen meinte auch er, daß man hierbei etwas Historisches annehmen müsse. Was mich betrifft, ich neigte mich ebenfalls zu einer solchen Annahme und erklärte das Grundübel der Welt aus dem Umstand, daß der liebe Gott zuwenig Geld erschaffen habe.

»Du hast gut reden«, antwortete der Philosoph, »der liebe Gott war sehr knapp bei Kassa, als er die Welt erschuf. Er mußte das Geld dazu vom Teufel borgen und ihm die ganze Schöpfung als Hypothek verschreiben. Da ihm nun der liebe [443] Gott von Gott und Rechts wegen die Welt noch schuldig ist, so darf er ihm auch aus Delikatesse nicht verwehren, sich darin herumzutreiben und Verwirrung und Unheil zu stiften. Der Teufel aber ist seinerseits wieder sehr stark dabei interessiert, daß die Welt nicht ganz zugrunde und folglich seine Hypothek verlorengehe; er hütet sich daher, es allzu toll zu machen, und der liebe Gott, der auch nicht dumm ist und wohl weiß, daß er im Eigennutz des Teufels seine geheime Garantie hat, geht oft so weit, daß er ihm die ganze Herrschaft der Welt anvertraut, d.h. dem Teufel den Auftrag gibt, ein Ministerium zu bilden. Dann geschieht, was sich von selbst versteht, Samiel erhält das Kommando der höllischen Heerscharen, Beelzebub wird Kanzler, Vitzliputzli wird Staatssekretär, die alte Großmutter bekommt die Kolonien usw. Diese Verbündeten wirtschaften dann in ihrer Weise, und indem sie, trotz des bösen Willens ihrer Herzen, aus Eigennutz gezwungen sind, das Heil der Welt zu befördern, entschädigen sie sich für diesen Zwang dadurch, daß sie zu den guten Zwecken immer die niederträchtigsten Mittel anwenden. Sie trieben es jüngsthin so arg, daß Gott im Himmel solche Greuel nicht länger ansehen konnte und einem guten Engel den Auftrag gab, ein neues Ministerium zu bilden. Dieser sammelte nun um sich her alle guten Geister. Freudige Wärme durchdrang wieder die Welt, es wurde Licht, und die bösen Geister entwichen. Aber sie legten doch nicht ruhig die Klauen in den Schoß; heimlich wirken sie gegen alles Gute, sie vergiften die neuen Heilquellen, sie zerknicken hämisch jede Rosenknospe des neuen Frühlings, mit ihren Amendements zerstören sie den Baum des Lebens, chaotisches Verderben droht alles zu verschlingen, und der liebe Gott wird am Ende wieder dem Teufel die Herrschaft der Welt übergeben müssen, damit sie, sei es auch durch die schlechtesten Mittel, wenigstens erhalten werde. Siehst du, das ist die schlimme Nachwirkung einer Schuld.«

Diese Mitteilung meines Freundes in Bedlam erklärte vielleicht den jetzigen englischen Ministerwechsel. Erliegen müssen die Freunde Cannings, die ich die guten Geister Englands [444] nenne, weil ihre Gegner dessen Teufel sind; diese, den dummen Teufel Wellington an ihrer Spitze, erheben jetzt ihr Siegesgeschrei. Schelte mir keiner den armen George, er mußte den Umständen nachgeben. Man kann nicht leugnen, daß nach Cannings Tode die Whigs nicht imstande waren, die Ruhe in England zu erhalten, da die Maßregeln, die sie deshalb zu ergreifen hatten, beständig von den Tories vereitelt wurden. Der König, dem die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, d.h. die Sicherheit seiner Krone, als das Wichtigste erscheint, mußte daher den Tories selbst wieder die Verwaltung des Staates überlassen – Und, oh! sie werden jetzt wieder, nach wie vor, alle Früchte des Volksfleißes in ihren eigenen Säckel hineinverwalten, sie werden als regierende Kornjuden die Preise ihres Getreides in die Höhe treiben, John Bull wird vor Hunger mager werden, er wird endlich für einen Bissen Brot sich leibeigen selbst den hohen Herren verkaufen, sie werden ihn vor den Pflug spannen und peitschen, er wird nicht einmal brummen dürfen, denn auf der einen Seite droht ihm der Herzog von Wellington mit dem Schwerte, und auf der andern Seite schlägt ihn der Erzbischof von Canterbury mit der Bibel auf den Kopf – und es wird Ruhe im Lande sein.

Die Quelle jener Übel ist die Schuld, the national debt oder, wie Cobbett sagt, the king's debt. Cobbett bemerkt nämlich mit Recht: Während man allen Instituten den Namen des Königs voransetzt, z.B. the king's army, the king's navy, the king's courts, the king's prisons etc., wird doch die Schuld, die eigentlich aus jenen Instituten hervorging, niemals the king's debt genannt, und sie ist das einzige, wobei man der Nation die Ehre erzeigt, etwas nach ihr zu benennen.

Der Übel größtes ist die Schuld. Sie bewirkt zwar, daß der englische Staat sich erhält und daß sogar dessen ärgste Teufel ihn nicht zugrunde richten; aber sie bewirkt auch, daß ganz England eine große Tretmühle geworden, wo das Volk Tag und Nacht arbeiten muß, um seine Gläubiger zu füttern, daß England vor lauter Zahlungssorgen alt und grau und aller heiteren Jugendgefühle entwöhnt wird, daß England, wie bei[445] stark verschuldeten Menschen zu geschehen pflegt, zur stumpfsten Resignation niedergedrückt ist und sich nicht zu helfen weiß – obgleich 900.000 Flinten und ebensoviel Säbel und Bajonette im Tower zu London aufbewahrt liegen.

7. Die Schuld
VII
Die Schuld

Als ich noch sehr jung war, gab es drei Dinge, die mich ganz vorzüglich interessierten, wenn ich Zeitungen las. Zuvörderst, unter dem Artikel »Großbritannien«, suchte ich gleich, ob Richard Martin keine neue Bittschrift für die mildere Behandlung der armen Pferde, Hunde und Esel dem Parlamente übergeben. Dann, unter dem Artikel »Frankfurt«, suchte ich nach, ob der Herr Doktor Schreiber nicht wieder beim Bundestag für die großherzoglich hessischen Domänenkäufer eingekommen. Hierauf aber fiel ich gleich über die Türkei her und durchlas das lange Konstantinopel, um nur zu sehen, ob nicht wieder ein Großwesir mit der seidenen Schnur beehrt worden.

Dieses letztere gab mir immer den meisten Stoff zum Nachdenken. Daß ein Despot seinen Diener ohne Umstände erdrosseln läßt, fand ich ganz natürlich. Sah ich doch einst in der Menagerie, wie der König der Tiere so sehr in majestätischen Zorn geriet, daß er gewiß manchen unschuldigen Zuschauer zerrissen hätte, wäre er nicht in einer sichern Konstitution, die aus eisernen Stangen verfertigt war, eingesperrt gewesen. Aber was mich wundernahm, war immer der Umstand, daß nach der Erdrosselung des alten Herrn Großwesirs sich immer wieder jemand fand, der Lust hatte, Großwesir zu werden.

Jetzt, wo ich etwas älter geworden bin und mich mehr mit den Engländern als mit ihren Freunden, den Türken, beschäftige, ergreift mich ein analoges Erstaunen, wenn ich sehe, wie nach dem Abgang eines englischen Premierministers gleich ein anderer sich an dessen Stelle drängt und dieser andere immer ein Mann ist, der auch ohne dieses Amt zu leben hätte und [446] auch (Wellington ausgenommen) nichts weniger als ein Dummkopf ist. Schrecklicher als durch die seidene Schnur endigen ja alle englischen Minister, die länger als ein Semester dieses schwere Amt verwaltet. Besonders ist dieses der Fall seit der französischen Revolution; Sorg' und Not haben sich vermehrt in Downing Street, und die Last der Geschäfte ist kaum zu ertragen.

Einst waren die Verhältnisse in der Welt weit einfacher, und die sinnigen Dichter verglichen den Staat mit einem Schiffe und den Minister mit dessen Steuermann. Jetzt aber ist alles komplizierter und verwickelter, das gewöhnliche Staatsschiff ist ein Dampfboot geworden, und der Minister hat nicht mehr ein einfaches Ruder zu regieren, sondern als verantwortlicher Engineer steht er unten zwischen dem ungeheuern Maschinenwerk, untersucht ängstlich jedes Eisenstiftchen, jedes Rädchen, wodurch etwa eine Stockung entstehen könnte, schaut Tag und Nacht in die lodernde Feueresse und schwitzt vor Hitze und Sorge – sintemalen durch das geringste Versehen von seiner Seite der große Kessel zerspringen und bei dieser Gelegenheit Schiff und Mannschaft zugrunde gehen könnte. Der Kapitän und die Passagiere ergehen sich unterdessen ruhig auf dem Verdecke, ruhig flattert die Flagge auf dem Seitenmast, und wer das Boot so ruhig dahinschwimmen sieht, ahnet nicht, welche gefährliche Maschinerie und welche Sorge und Not in seinem Bauche verborgen ist.

Frühzeitigen Todes sinken sie dahin, die armen verantwortlichen Engineers des englischen Staatsschiffes. Rührend ist der frühe Tod des großen Pitt, rührender der Tod des größeren Fox. Perceval wäre an der gewöhnlichen Ministerkrankheit gestorben, wenn nicht ein Dolchstoß ihn schneller abgefertigt hätte. Diese Ministerkrankheit war es ebenfalls, was den Lord Castlereagh so zur Verzweiflung brachte, daß er sich die Kehle abschnitt zu North-Cray in der Grafschaft Kent. Lord Liverpool sank auf gleiche Weise in den Tod des Blödsinns. Canning, den göttergleichen Canning, sahen wir, vergiftet von hochtoryschen Verleumdungen, gleich einem kranken Atlas, unter seiner[447] Weltbürde niedersinken. Einer nach dem andern werden sie eingescharrt in Westminster, die armen Minister, die für Englands Könige Tag und Nacht denken müssen, während diese, gedankenlos und wohlbeleibt, dahinleben bis ins höchste Menschenalter.

Wie heißt aber die große Sorge, die Englands Ministern Tag und Nacht im Gehirne wühlt und sie tötet? Sie heißt: the debt, die Schuld.

Schulden, ebenso wie Vaterlandsliebe, Religion, Ehre usw., gehören zwar zu den Vorzügen des Menschen – denn die Tiere haben keine Schulden –, aber sie sind auch eine ganz vorzügliche Qual der Menschheit, und wie sie den einzelnen zugrunde richten, so bringen sie auch ganze Geschlechter ins Verderben, und sie scheinen das alte Fatum zu ersetzen in den Nationaltragödien unserer Zeit. England kann diesem Fatum nicht entgehen, seine Minister sehen die Schrecknisse herannahen und sterben mit der Verzweiflung der Ohnmacht.

Wäre ich königlich preußischer Oberlandeskalkulator oder Mitglied des Geniekorps, so würde ich in gewohnter Weise die ganze Summe der englischen Schuld in Silbergroschen berechnen und genau angeben, wievielmal man damit die große Friedrichstraße oder gar den ganzen Erdball bedecken könnte. Aber das Rechnen war nie meine Force, und ich möchte lieber einem Engländer das fatale Geschäft überlassen, seine Schulden aufzuzählen und die daraus entstehende Ministernot herauszurechnen. Dazu taugt niemand besser als der alte Cobbett, und aus der letzten Nummer seines »Registers« liefre ich folgende Erörterungen.

»Der Zustand der Dinge ist folgender:

1. Diese Regierung oder vielmehr diese Aristokratie und Kirche oder auch, wie ihr wollt, diese Regierung borgte eine große Summe Geldes, wofür sie viele Siege, sowohl Land- als Seesiege, gekauft hat – eine Menge Siege, von jeder Sorte und Größe.

2. Indessen muß ich zuvor bemerken, aus welcher Veranlassung und zu welchem Zwecke man diese Siege gekauft hat: Die [448] Veranlassung (occasion) war die französische Revolution, die alle aristokratischen Vorrechte und geistlichen Zehnten niedergerissen hatte; und der Zweck war die Verhütung einer Parlamentsreform in England, die wahrscheinlich ein ähnliches Niederreißen aller aristokratischen Vorrechte und geistlichen Zehnten zur Folge gehabt hätte.

3. Um nun zu verhüten, daß das Beispiel der Franzosen nicht von den Engländern nachgeahmt würde, war es nötig, die Franzosen anzugreifen, sie in ihren Fortschritten zu hemmen, ihre neuerlangte Freiheit zu gefährden, sie zu verzweifelten Handlungen zu treiben und endlich die Revolution zu einem solchen Schreckbilde, zu einer solchen Völkerscheuche zu machen, daß man sich unter dem Namen der Freiheit nichts als ein Aggregat von Schlechtigkeit, Greuel und Blut vorstellen und das englische Volk, in der Begeisterung seines Schreckens, dahin gebracht würde, sich sogar ordentlich zu verlieben in jene greuelhaft-despotische Regierung, die einst in Frankreich blühte und die jeder Engländer von jeher verabscheute, seit den Tagen Alfreds des Großen bis herab auf Georg den Dritten.

4. Um jene Vorsätze auszuführen, bedurfte man der Mithülfe verschiedener fremder Nationen; diese Nationen wurden daher mit englischem Gelde unterstützt (subsidised); französische Emigranten wurden mit englischem Gelde unterhalten; kurz, man führte einen zweiundzwanzigjährigen Krieg, um jenes Volk niederzudrücken, das sich gegen aristokratische Vorrechte und geistliche Zehnten erhoben hatte.

5. Unsere Regierung also erhielt ›unzählige Siege‹ über die Franzosen, die, wie es scheint, immer geschlagen worden; aber diese unsere unzähligen Siege waren gekauft, d.h. sie wurden erfochten von Mietlingen, die wir für Geld dazu gedungen hatten, und wir hatten in unserem Solde zu einer und derselben Zeit ganze Scharen von Franzosen, Holländern, Schweizern, Italienern, Russen, Österreichern, Bayern, Hessen, Hannoveranern, Preußen, Spaniern, Portugiesen, Neapolitanern, Maltesern, und Gott weiß, wie viele Nationen noch außerdem.

6. Durch solches Mieten fremder Dienste und durch Benutzung [449] unserer eigenen Flotte und Landmacht kauften wir so viele Siege über die Franzosen, welche arme Teufel kein Geld hatten, um ebenfalls dergleichen einzuhandeln, so daß wir endlich ihre Revolution überwältigten, die Aristokratie bei ihnen bis zu einer gewissen Stufe wiederherstellten, jedoch um alles in der Welt willen die geistlichen Zehnten nicht ebenfalls restaurieren konnten.

7. Nachdem wir diese große Aufgabe glücklich vollbracht und auch dadurch jede Parlamentsreform in England hintertrieben hatten, erhob unsere Regierung ein brüllendes Siegesgeschrei, wobei sie ihre Lunge nicht wenig anstrengte und auch lautmöglichst unterstützt wurde von jeder Kreatur in diesem Lande, die auf eine oder die andere Art von den öffentlichen Taxen lebte.

8. Beinahe ganze zwei Jahre dauerte der überschwengliche Freudenrausch bei dieser damals so glücklichen Nation; zur Feier jener Siege drängten sich Jubelfeste, Volksspiele, Triumphbogen, Lustkämpfe und dergleichen Vergnügungen, die mehr als eine Viertelmillion Pfund Sterlinge kosteten, und das Haus der Gemeinen bewilligte einstimmig eine ungeheure Summe (ich glaube drei Million Pfund Sterling), um Triumphbögen, Denksäulen und andere Monumente zu errichten und damit die glorreichen Ereignisse des Krieges* zu verewigen.

9. Beständig, seit dieser Zeit, hatten wir das Glück, unter der Regierung ebenderselben Personen zu leben, die unsere Angelegenheiten in besagtem glorreichen Kriege geführt hatten.

10. Beständig, seit dieser Zeit, lebten wir in einem tiefen Frieden mit der ganzen Welt; man kann annehmen, daß dieses noch jetzt der Fall ist, ungeachtet unserer kleinen zwischenspieligen Rauferei mit den Türken; und daher sollte man denken, es könne keine Ursache in der Welt geben, weshalb wir jetzt nicht glücklich sein sollten: wir haben ja Frieden, unser Boden bringt reichlich seine Früchte, und, wie die Weltweisen und Gesetzgeber unserer Zeit eingestehen, wir sind die allererleuchtetste Nation auf der ganzen Erde. Wir haben wirklich überall Schulen, um die heranwachsende Generation zu unterrichten; [450] wir haben nicht allein einen Rektor oder Vikar oder Kuraten in jedem Kirchsprengel des Königreichs, sondern wir haben in jedem dieser Kirchsprengel vielleicht noch sechs Religionslehrer, wovon jeder von einer andern Sorte ist als seine vier Kollegen, dergestalt, daß unser Land hinlänglich mit Unterricht jeder Art versorgt ist, kein Mensch dieses glücklichen Landes im Zustande der Unwissenheit leben wird – und daher unser Erstaunen um so größer sein muß, wie irgend jemand, der ein Premierminister dieses glücklichen Landes werden soll, dieses Amt als eine so schwere und schwierige Last ansieht.

11. Ach, wir haben ein einziges Unglück, und das ist ein wahres Unglück: wir haben nämlich einige Siege gekauft – sie waren herrlich – es war ein gutes Geschäft – sie waren drei- oder viermal soviel wert, als wir dafür gaben, wie Frau Tweazle ihrem Manne zu sagen pflegt, wenn sie vom Markte nach Hause kommt – es war große Nachfrage und viel Begehr nach Siegen – kurz, wir konnten nichts Vernünftigeres tun, als uns zu so billigem Preise mit einer so großen Portion Ruhm zu versehen.

12. Aber, ich gestehe es bekümmerten Herzens, wir haben, wie manche andere Leute, das Geld geborgt, womit wir diese Siege gekauft, als wir dieser Siege bedurften, deren wir jetzt auf keine Weise wieder loswerden können, ebensowenig wie ein Mann seines Weibes los wird, wenn er einmal das Glück gehabt hat, sich die holde Bescherung aufzuladen.

13. Daher geschieht's, daß jeder Minister, der unsere Angelegenheiten übernimmt, auch sorgen muß für die Bezahlung unserer Siege, worauf eigentlich noch kein Pfennig abbezahlt worden.

14. Er braucht zwar nicht dafür zu sorgen, daß das ganze Geld, welches wir borgten, um Siege dafür zu kaufen, ganz auf einmal, Kapital und Zinsen, bezahlt werde; aber für die regelmäßige Auszahlung der Zinsen muß er, leider Gottes! ganz bestimmt sorgen; und diese Zinsen, zusammengerechnet mit dem Solde der Armee und anderen Ausgaben, die von unseren Siegen herrühren, sind so bedeutend, daß ein Mensch ziemlich [451] starke Nerven haben muß, wenn er das Geschäftchen übernehmen will, für die Bezahlung dieser Summen zu sorgen.

15. Früherhin, ehe wir uns damit abgaben, Siege einzuhandeln und uns allzu reichlich mit Ruhm zu versorgen, trugen wir schon eine Schuld von wenig mehr als zweihundert Millionen, während alle Armengelder in England und Wales zusammen nicht mehr als zwei Millionen jährlich betrugen und während wir noch nichts von jener Last hatten, die unter dem Namen dead weight uns jetzt aufgebürdet ist und ganz aus unserm Durst nach Ruhm hervorgegangen.

16. Außer diesem Gelde, das von Kreditoren geborgt worden, die es freiwillig hergaben, hat unsere Regierung, aus Durst nach Siegen, auch indirekt bei den Armen eine große Anleihe gemacht, d.h. sie steigerte die gewöhnlichen Taxen bis auf eine solche Höhe, daß die Armen weit mehr als jemals niedergedrückt wurden und daß sich die Anzahl der Armen und Armengelder erstaunlich vergrößerte.

17. Die Armengelder stiegen von zwei Millionen jährlich auf acht Millionen; die Armen haben nun gleichsam ein Pfandrecht, eine Hypothek auf das Land; und hier ergibt sich also wieder eine Schuld von sechs Millionen, welche man hinzurechnen muß zu jenen anderen Schulden, die unsere Passion für Ruhm und der Einkauf unserer Siege verursacht hat.

18. The dead weight besteht aus Leibrenten, die wir unter dem Namen Pensionen einer Menge von Männern, Weibern und Kindern verabreichen, als eine Belohnung für die Dienste, welche jene Männer beim Erlangen unserer Siege geleistet haben oder geleistet haben sollen.

19. Das Kapital der Schuld, welche diese Regierung kontrahiert hat, um sich Siege zu verschaffen, besteht ungefähr in folgenden Summen:


Hinzugekommene Summe
zu der Nationalschuld:
800.000.000
Hinzugekommene Summe
zur eigentlichen Armengelderschuld:
150.000.000
Dead weight als Kapital
einer Schuld berechnet
175.000.000
Pf. St. 1.125.000.000

[452] d.h. elfhundertundfünfundzwanzig Millionen zu fünf Prozent ist der Betrag jener jährlichen sechsundfunfzig Millionen; ja, dieses ist ungefähr der jetzige Betrag, nur daß die Armengelderschuld nicht in den Rechnungen, die dem Parlamente vorgelegt werden, aufgeführt ist, indem sie das Land gleich direkt in den verschiedenen Kirchspielen bezahlt. Will man daher jene sechs Millionen von den sechsundvierzig Millionen abziehen, so ergibt sich, daß die Staatsschuldgläubiger und das dead-weight-Volk wirklich alles übrige verschlingen.

20. Indessen, die Armengelder sind ebensogut eineSchuld wie die Schuld der Staatsschuldgläubiger und augenscheinlich aus derselben Quelle entsprungen. Von der schrecklichen Last der Taxen werden die Armen zu Boden gedrückt; jeder andere wird zwar auch davon gedrückt, aber jeder, außer den Armen, wußte diese Last mehr oder weniger von seinen Schultern abzuwälzen, und sie fiel endlich mit fürchterlichem Gewichte ganz auf die Armen, und diese verloren ihre Bierfässer, ihre kupfernen Kessel, ihre zinnernen Teller, ihre Wanduhr, ihre Betten und bis auf ihr Handwerksgeräte, sie verloren ihre Kleider und mußten sich in Lumpen hüllen, sie verloren das Fleisch von ihren Knochen – Sie konnten nicht weiter aufs Äußerste getrieben werden, und von dem, was man ihnen genommen, gab man ihnen wieder etwas zurück unter dem Namen von vermehrten Armengeldern. Diese sind daher eine wahre Schuld, ein wahres Pfandrecht auf das Land. Die Interessen dieser Schuld können zwar zurückgehalten werden, aber wenn dieses geschieht, würden die Personen, die solche zu fordern haben, in Masse herbeikommen und sich für den Betrag, gleichviel in welcher Währung, bezahlt machen. Dieses ist also eine wahre Schuld und eine Schuld, die man bei Heller und Pfennig bezahlen wird, und zwar, ich bemerke es ausdrücklich, wird man ihr ein Vorrecht vor allen anderen Schulden gestatten.

21. Es ist also nicht nötig, sich sehr zu wundern, wenn man die Not derjenigen sieht, die solche Geschäfte übernehmen! Es ist zu verwundern, daß sich überhaupt jemand zu einer solchen [453] Übernahme versteht, wenn ihm nicht anheimgestellt wird, nach Gutdünken eine radikale Umwandlung des ganzen Systems vorzunehmen.

22. Hier gibt's keine Möglichkeit der Aushülfe, wenn man die jährliche Ausgabe der Staatsgläubigerschuld und der deadweight-Schuld herabzusetzen sucht; um solches Herabsetzen der Schuld, solche Reduktion dem Lande anzumuten, um zu verhindern, daß sie große Umwälzungen hervorbringe, um zu verhindern, daß nicht eine halbe Million Menschen in und um London dadurch vor Hunger sterben müssen, da ist nötig, daß man zuvor weit verhältnismäßigere Reduktionen anderswo* vornehme, ehe man die Reduktion jener obigen zwei Schulden oder ihrer Interessen versuchen wollte.

23. Wie wir bereits gesehen haben, die Siege wurden gekauft, in der Absicht, um Parlamentsreform in England zu verhindern und die aristokratischen Vorrechte und geistlichen Zehnten aufrechtzuerhalten; es wäre daher eine himmelschreiende Greueltat, entzögen wir ihre rechtmäßigen Zinsen jenen Leuten, die uns das Geld geborgt, oder entzögen wir gar ihre Bezahlung denjenigen Leuten, die uns die Hände vermietet, wodurch wir die Siege erlangt haben; es wäre eine Greueltat, die Gottes Rache auf uns laden würde, wenn wir dergleichen täten, während die einträglichen Ehrenämter der Aristokratie, ihre Pensionen, Sinekuren, königlichen Schenkungen, Militärbelohnungen und endlich gar die Zehnten des Klerus unangetastet blieben!

24. Hier, hier also liegt die Schwierigkeit: Wer Minister wird, wird Minister eines Landes, das eine große Passion für Siege gehabt, auch sich hinlänglich damit versehen und sich unerhört viel militärischen Ruhm verschafft – aber leider diese Herrlichkeiten noch nicht bezahlt hat und nun dem Minister überläßt, die Rechnung zu berichtigen, ohne daß dieser weiß, woher er das Geld nehmen soll.«

Das sind Dinge, die einen Minister ins Grab drücken, wenigstens des Verstandes berauben können. England ist mehr schuldig, als es bezahlen kann. Man rühme nur nicht, daß es Indien [454] und reiche Kolonien besitzt. Wie sich aus den letzten Parlamentsdebatten ergibt, zieht der englische Staat keinen Heller eigentlicher Einkünfte aus seinem großen, unermeßlichen Indien, ja er muß dorthin noch einige Millionen Zuschuß bezahlen. Dieses Land nutzt England bloß dadurch, daß einzelne Briten, die sich dort bereichert, durch ihre Schätze die Industrie und den Geldumlauf des Mutterlandes befördern und tausend andere durch die Indische Kompanie Brot und Versorgung gewinnen. Die Kolonien ebenfalls liefern dem Staate keine Einkünfte, bedürfen des Zuschusses und dienen zur Beförderung des Handels und zur Bereicherung der Aristokratie, deren Nepoten als Gouverneure und Unterbeamte dahin geschickt werden. Die Bezahlung der Nationalschuld fällt daher ganz allein auf Großbritannien und Irland. Aber auch hier sind die Ressourcen nicht so beträglich wie die Schuld selbst. Wir wollen ebenfalls hier Cobbett sprechen lassen:

»Es gibt Leute, die, um eine Art Aushülfe anzugeben, von den Ressourcen des Landes* sprechen. Dies sind die Schüler des seligen Colquhoun, eines Diebesfängers, der ein großes Buch geschrieben, um zu beweisen, daß unsere Schuld uns nicht im mindesten besorgt machen darf, indem sie so klein sei in Verhältnis zu den Ressourcen der Nation; und damit seine klugen Leser eine bestimmte Idee von der Unermeßlichkeit dieser Ressourcen bekommen mögen, machte er eine Abschätzung von allem, was im Lande vorhanden ist, bis herab auf die Kaninchen, und schien sogar zu bedauern, daß er nicht füglich die Ratten und Mäuse mitrechnen konnte. Den Wert der Pferde, Kühe, Schafe, Ferkelchen, Federvieh, Wildbret, Kaninchen, Fische, den Wert der Hausgeräte, Kleider, Feuerung, Zucker, Gewürze, kurz, von allem im Lande macht er ein Ästimatum; und dann, nachdem er das Ganze assummiert und den Wert der Ländereien, Bäume, Häuser, Minen, den Ertrag des Grases, des Korns, die Rüben und das Flachs hinzugerechnet und eine Summe von Gott weiß wie vielen tausend Millionen herausgebracht hat, grinst er in pfiffig prahlerisch schottischer Manier, ungefähr wie ein Truthahn, und hohnlachend fragt er Leute [455] meinesgleichen: ›Mit Ressourcen wie diese, fürchtet ihr da noch einen Nationalbankrott?‹

Dieser Mann bedachte nicht, daß man Häuser nötig hat, um darin zu leben, die Ländereien, damit sie Futter liefern, die Kleider, damit man seine Blöße bedecke, die Kühe, damit sie Milch geben, den Durst zu löschen, das Hornvieh, Schafe, Schweine, Geflügel und Kaninchen, damit man sie esse, ja, der Teufel hole diesen widersinnigen Schotten! diese Dinge sind nicht dafür da, daß sie verkauft und die Nationalschulden damit bezahlt werden. Wahrhaftig, er hat noch den Taglohn der Arbeitsleute zu den Ressourcen der Nation gerechnet! Dieser dumme Teufel von Diebesfänger, den seine Brüder in Schottland zum Doktor geschlagen, weil er ein so vorzügliches Buch geschrieben, er scheint ganz vergessen zu haben, daß Arbeitsleute ihren Taglohn selbst bedürfen, um sich dafür etwas Essen und Trinken zu schaffen. Er konnte ebensogut den Wert des Blutes in unseren Adern abschätzen, als ein Stoff, wovon man allenfalls Blutwürste machen könnte!«

Soweit Cobbett. Während ich seine Worte in deutscher Sprache niederschreibe, bricht er leibhaftig selbst wieder hervor in meinem Gedächtnisse, und wie vorig Jahr bei dem lärmigen Mittagsessen in Crown and Anchor Tavern, sehe ich ihn wieder mit seinem scheltend roten Gesichte und seinem radikalen Lächeln, worin der giftigste Todeshaß gar schauerlich zusammenschmilzt mit der höhnischen Freude, die den Untergang der Feinde ganz sicher voraussieht.

Tadle mich niemand, daß ich Cobbett zitiere! Man mag ihn immerhin der Unredlichkeit, der Scheltsucht und eines allzu ordinären Wesens beschuldigen; aber man kann nicht leugnen, daß er viel beredsamen Geist besitzt und daß er sehr oft, und in obiger Darstellung ganz und gar, recht hat. Er ist ein Kettenhund, der jeden, den er nicht kennt, gleich wütend anfällt, oft den besten Freund des Hauses in die Waden beißt, immer bellt und eben wegen jenes unaufhörlichen Bellens nicht gehört wird, wenn er einmal einem wirklichen Diebe entgegenbellt. Deshalb halten es jene vornehmen Diebe, die England plündern, [456] nicht einmal für nötig, dem knurrenden Cobbett einen Brocken zuzuwerfen und ihm damit das Maul zu stopfen. Dieses wurmt den Hund am bittersten, und er fletscht die hungrigen Zähne.

Alter Cobbett! Hund von England! ich liebe dich nicht, denn fatal ist mir jede gemeine Natur; aber du dauerst mich bis in tiefster Seele, wenn ich sehe, wie du dich von deiner Kette nicht losreißen und jene Diebe nicht erreichen kannst, die lachend vor deinen Augen ihre Beute fortschleppen und deine vergeblichen Sprünge und dein ohnmächtiges Geheul verspotten.

8. Die Oppositionsparteien
VIII
Die Oppositionsparteien

Einer meiner Freunde hat die Opposition im Parlamente sehr treffend mit einer Oppositionskutsche verglichen. Bekanntlich ist das eine öffentliche Stagekutsche, die irgendeine spekulierende Gesellschaft auf ihre Kosten instituiert, und zwar zu so spottwohlfeilen Preisen fahren läßt, daß die Reisenden ihr gern den Vorzug geben vor den schon vorhandenen Stagekutschen. Diese letztern müssen dann ebenfalls ihre Preise heruntersetzen, um Passagiere zu behalten, werden aber bald von der neuen Oppositionskutsche überboten oder vielmehr unterboten, ruinieren sich durch solche Konkurrenz und müssen am Ende ihr Fahren ganz einstellen. Hat aber die Oppositionskutsche auf solche Art das Feld gewonnen und ist sie jetzt auf einer bestimmten Tour die einzige, so erhöht sie ihre Preise, oft sogar den Preis der verdrängten Kutsche übersteigend, und der arme Reisende hat nichts gewonnen, hat oft sogar verloren und zahlt und flucht, bis eine neue Oppositionskutsche wieder das vorige Spiel erneut und neue Hoffnungen und neue Täuschungen entstehen.

Wie übermütig wurden die Whigs, als die Stuartsche Partei erlag und die protestantische Dynastie den englischen Thron bestieg! Die Tories bildeten damals die Opposition, und John [457] Bull, der arme Staatspassagier, hatte Ursache, vor Freude zu brüllen, als sie die Oberhand gewannen. Aber seine Freude war von kurzer Dauer, er mußte jährlich mehr und mehr Fuhrlohn ausgeben, es wurde viel bezahlt und schlecht gefahren, die Kutscher wurden obendrein sehr grob, und es gab nichts als Rütteln und Stöße, jeder Eckstein drohte Umsturz – und der arme John dankte Gott, seinem Schöpfer, als unlängst die Zügel des Staatswagens in bessere Hände kamen.

Leider dauerte die Freude wieder nicht lange, der neue Oppositionskutscher fiel tot vom Bock herab, der andere stieg ängstlich herunter, als die Pferde scheu wurden, und die alten Wagenlenker, die alten Reuter mit goldenen Sporen, haben wieder ihre alten Plätze eingenommen, und die alte Peitsche knallt.

Ich will das Bild nicht weiter zu Tode hetzen und kehre zurück zu den Worten »Whigs« und »Tories«, die ich oben zur Bezeichnung der Oppositionsparteien gebraucht habe, und einige Erörterung dieser Namen ist vielleicht um so fruchtbarer, je mehr sie seit langer Zeit dazu gedient haben, die Begriffe zu verwirren.

Wie im Mittelalter die Namen Ghibellinen und Guelfen durch Umwandlungen und neue Ereignisse die vagesten und veränderlichsten Bedeutungen erhielten, so auch späterhin in England die Namen Whigs und Tories, deren Entstehungsart man kaum noch anzugeben weiß. Einige behaupten, es seien früherhin Spottnamen gewesen, die am Ende zu honetten Parteinamen wurden, was oft geschieht, wie z.B. der Geusenbund sich selbst nach dem Spottnamen les gueux taufte, wie auch späterhin die Jakobiner sich selbst manchmal Sansculotten benannten und wie die heutigen Servilen und Obskuranten sich vielleicht einst selbst diese Namen als ruhmvolle Ehrennamen beilegen – was sie freilich jetzt noch nicht können. Das Wort »Whig« soll in Irland etwas unangenehm Sauertöpfisches bedeutet haben und dort zuerst zur Verhöhnung der Presbyterianer oder überhaupt der neuen Sekten gebraucht worden sein. Das Wort »Tory«, welches zu derselben Zeit als Parteibenennung [458] aufkam, bedeutete in Irland eine Art schäbiger Diebe. Beide Spottnamen kamen in Umlauf zur Zeit der Stuarts, während der Streitigkeiten zwischen den Sekten und der herrschenden Kirche.

Die allgemeine Ansicht ist: die Partei der Tories neige sich ganz nach der Seite des Thrones und kämpfe für die Vorrechte der Krone, wohingegen die Partei der Whigs mehr nach der Seite des Volks hinneige und dessen Rechte beschütze. Indessen, diese Annahmen sind vage und gelten zumeist nur in Büchern. Jene Benennungen könnte man vielmehr als Koterienamen ansehen. Sie bezeichnen Menschen, die bei gewissen Streitfragen zusammenhalten, deren Vorfahren und Freunde schon bei solchen Anlässen zusammenhielten und die, in politischen Stürmen, Freude und Ungemach und die Feindschaft der Gegenpartei gemeinschaftlich zu tragen pflegten. Von Prinzipien ist gar nicht die Rede, man ist nicht einig über gewisse Ideen, sondern über gewisse Maßregeln in der Staatsverwaltung, über Abschaffung oder Beibehaltung gewisser Mißbräuche, über gewisse Bills, gewisse erbliche questions – gleichviel aus welchem Gesichtspunkte, meistens aus Gewohnheit. – Die Engländer lassen sich nicht durch die Parteinamen irremachen. Wenn sie von Whigs sprechen, so haben sie nicht dabei einen bestimmten Begriff, wie wir z.B., wenn wir von Liberalen sprechen, wo wir uns gleich Menschen vorstellen, die über gewisse Freiheitsrechte herzinnig einverstanden sind – sondern sie denken sich eine äußerliche Verbindung von Leuten, deren jeder, nach seiner Denkweise beurteilt, gleichsam eine Partei für sich bilden würde und die nur, wie schon oben erwähnt ist, durch äußere Anlässe, durch zufällige Interessen, durch Freundschafts- und Feindschaftsverhältnisse gegen die Tories ankämpfen. Hierbei dürfen wir uns ebenfalls keinen Kampf gegen Aristokraten in unserem Sinne denken, da diese Tories in ihren Gefühlen nicht aristokratischer sind als die Whigs und oft sogar nicht aristokratischer als der Bürgerstand selbst, der die Aristokratie für ebenso unwandelbar hält wie Sonne, Mond und Sterne, der die Vorrechte des Adels und des [459] Klerus nicht bloß als staatsnützlich, sondern als eine Naturnotwendigkeit ansieht und vielleicht selbst für diese Vorrechte mit weit mehr Eifer kämpfen würde als die Aristokraten selbst eben weil er fester daran glaubt als diese, die zumeist den Glauben an sich selbst verloren. In dieser Hinsicht liegt über dem Geist der Engländer noch immer die Nacht des Mittelalters, die heilige Idee von der bürgerlichen Gleichheit aller Menschen hat sie noch nicht erleuchtet, und manchen bürgerlichen Staatsmann in England, der torysch gesinnt ist, dürfen wir deshalb beileibe nicht servil nennen und zu jenen wohlbekannten servilen Hunden zählen, die frei sein könnten und dennoch in ihr altes Hundeloch zurückgekrochen sind und jetzt die Sonne der Freiheit anbellen.

Um die englische Opposition zu begreifen, sind daher die Namen Whigs und Tories völlig nutzlos, mit Recht hat Francis Burdett beim Anfange der Sitzungen voriges Jahr bestimmt ausgesprochen, daß diese Namen jetzt alle Bedeutung verloren; und Thomas Lethbridge, den der Schöpfer der Welt und des Verstandes nicht mit allzuviel Witz ausgerüstet, hat damals dennoch einen sehr guten Witz, vielleicht den einzigen seines Lebens, über diese Äußerung Burdetts gerissen, nämlich: »He has untoried the tories and unwigged the whigs.«

Bedeutungsvoller sind die Namen reformers oder radical reformers oder kurzweg radicals. Sie werden gewöhnlich für gleichbedeutend gehalten, sie zielen auf dasselbe Gebrechen des Staates, auf dieselbe heilsame Abhülfe und unterscheiden sich nur durch mehr oder minder starke Färbung. Jenes Gebrechen ist die bekannte schlechte Art der Volksrepräsentation, wo sogenannte rotten boroughs, verschollene, unbewohnte Ortschaften oder besser gesagt die Oligarchen, denen sie gehören, das Recht haben, Volksrepräsentanten ins Parlament zu schicken, während große, bevölkerte Städte, namentlich viele neuere Fabrikstädte, keinen einzigen Repräsentanten zu wählen haben; die heilsame Abhülfe dieses Gebrechens ist die sogenannte Parlamentsreform. Nun freilich, diese betrachtet man nicht als Zweck, sondern als Mittel. Man hofft, daß das Volk dadurch [460] auch eine bessere Vertretung seiner Interessen, Abschaffung aristokratischer Mißbräuche und Hülfe in seiner Not gewinnen würde. Es läßt sich denken, daß die Parlamentsreform, diese gerechte, billige Anforderung, auch unter den gemäßigten Menschen, die nichts weniger als Jakobiner sind, ihre Verfechter findet, und wenn man solche Leute reformers nennt, betont man dieses Wort ganz anders, und himmelweit ist es alsdann unterschieden von dem Worte radical, auf dem ein ganz anderer Ton gelegt wird, wenn man z.B. von Hunt oder Cobbett, kurz, von jenen heftigen, fletschenden Revolutionären spricht, die nach Parlamentsreform schreien, um den Umsturz aller Formen, den Sieg der Habsucht und völlige Pöbelherrschaft herbeizuführen. Die Nuancen in den Gesinnungen der Koryphäen dieser Partei sind daher unzählig. Aber, wie gesagt, die Engländer kennen sehr gut ihre Leute, der Namen täuscht nicht das Publikum, und dieses unterscheidet sehr genau, wo der Kampf nur Schein und wo er Ernst ist. Oft lange Jahre hindurch ist der Kampf im Parlamente nicht viel mehr als ein müßiges Spiel, ein Turnier, wo man für die Farbe kämpft, die man sich aus Grille gewählt hat; gibt es aber einmal einen ernsten Krieg, so eilt jeder gleich unter die Fahne seiner natürlichen Partei. Dieses sahen wir in der Canningschen Zeit. Die heftigsten Gegner vereinigten sich, als es Kampf der positivsten Interessen galt; Tories, Whigs und Radikalen scharten sich, wie eine Phalanx, um den kühnen, bürgerlichen Minister, der den Übermut der Oligarchen zu dämpfen versuchte. Aber ich glaube dennoch, mancher hochgeborne Whig, der stolz hinter Canning saß, würde gleich zu der alten Foxhuntersippschaft übergetreten sein, wenn plötzlich die Abschaffung aller Adelsrechte zur Sprache gekommen wäre. Ich glaube (Gott verzeih' mir die Sünde), Francis Burdett selbst, der in seiner Jugend zu den heftigsten Radikalen gehörte und noch jetzt nicht zu den milderen reformers gerechnet wird, würde sich bei einem solchen Anlasse sehr schnell neben Sir Thomas Lethbridge gesetzt haben. Dieses fühlen die plebejischen Radikalen sehr gut, und deshalb hassen sie die sogenannten Whigs, die für Parlamentsreform [461] sprechen, sie hassen sie fast noch mehr wie die eigentlich hochfeindseligen Tories.

In diesem Augenblick besteht die englische Opposition mehr aus eigentlichen Reformern als aus Whigs. Der Chef der Opposition im Unterhause, the leader of the opposition, gehört unstreitig zu jenen letztern. Ich spreche hier von Brougham.

Die Reden dieses mutigen Parlamentshelden lesen wir täglich in den Zeitblättern, und seine Gesinnungen dürfen wir daher als allgemein bekannt voraussetzen. Weniger bekannt sind die persönlichen Eigentümlichkeiten, die sich bei diesen Reden kundgeben, und doch muß man erstere kennen, um letztere vollgeltend zu begreifen. Das Bild, das ein geistreicher Engländer von Broughams Erscheinung im Parlamente entwirft, mag daher hier seine Stelle finden:

»Auf der ersten Bank, zur linken Seite des Sprechers, sitzt eine Gestalt, die so lange bei der Studierlampe gehockt zu haben scheint, bis nicht bloß die Blüte des Lebens, sondern die Lebenskraft selbst zu erlöschen begonnen; und doch ist es diese scheinbar hülflose Gestalt, die alle Augen des ganzen Hauses auf sich zieht und die, sowie sie sich in ihrer mechanischen, automatischen Weise zum Aufstehen bemüht, alle Schnellschreiber hinter uns in fluchende Bewegung setzt, während alle Lücken auf der Galerie, als sei sie ein massives Steingewölbe, ausgefüllt werden und durch die beiden Seitentüren noch das Gewicht der draußenstehenden Menschenmenge hereindrängt. Unten im Hause scheint sich ein gleiches Interesse kundzugeben; denn sowie jene Gestalt sich langsam in einer vertikalen Krümmung oder vielmehr in einem vertikalen Zickzack steif zusammengefügter Linien auseinanderwickelt, sind die paar sonstigen Zeloten auf beiden Seiten, die sich schreiend entgegendämmen wollten, schnell wieder auf ihre Sitze zurückgesunken, als hätten sie eine verborgene Windbüchse unter der Robe des Sprechers bemerkt.

Nach diesem vorbereitenden Geräusch und während der atemlosen Stille, die darauf folgte, hat sich Henry Brougham langsam und bedächtigen Schrittes dem Tische genähert und [462] bleibt dort zusammengebückt stehen – die Schultern in die Höhe gezogen, der Kopf vorwärts gebeugt, seine Oberlippe und Nasenflügel in zitternder Bewegung, als fürchte er ein Wort zu sprechen. Sein Aussehen, sein Wesen gleicht fast einem jener Prediger, die auf freiem Felde predigen – nicht einem modernen Manne dieser Art, der die müßige Sonntagsmenge nach sich zieht, sondern einem solchen Prediger aus alten Zeiten, der die Reinheit des Glaubens zu erhalten und in der Wildnis zu verbreiten suchte, wenn sie aus der Stadt und selbst aus der Kirche verbannt war. Die Töne seiner Stimme sind voll und melodisch, doch sie erheben sich langsam, bedächtig und, wie man zu glauben versucht ist, auch sehr mühsam, so daß man nicht weiß, ob die geistige Macht des Mannes unfähig ist, den Gegenstand zu beherrschen, oder ob seine physische Kraft unfähig ist, ihn auszusprechen. Sein erster Satz oder vielmehr die ersten Glieder seines Satzes – denn man findet bald, daß bei ihm jeder Satz in Form und Gehalt weiter reicht als die ganze Rede mancher anderen Leute – kommen sehr kalt und unsicher hervor und überhaupt so entfernt von der eigentlichen Streitfrage, daß man nicht begreifen kann, wie er sie darauf hinbiegen wird. Jeder dieser Sätze freilich ist tief, klar, an und für sich selbst befriedigend, sichtbar mit künstlicher Wahl aus den gewähltesten Materialien deduziert, und mögen sie kommen, aus welchem Fache des Wissens es immerhin sein mag, so enthalten sie doch dessen reinste Essenz. Man fühlt, daß sie alle nach einer bestimmten Richtung hingebogen werden, und zwar hingebogen mit einer starken Kraft; aber diese Kraft ist noch immer unsichtbar wie der Wind, und wie von diesem, weiß man nicht, woher sie kommt und wohin sie geht.

Wenn aber eine hinreichende Anzahl von diesen Anfangssätzen vorausgeschickt sind, wenn jeder Hülfssatz, den menschliche Wissenschaft zur Feststellung einer Schlußfolge bieten kann, in Dienst genommen worden, wenn jeder Einspruch durch einen einzigen Stoß erfolgreich vorgeschoben ist, wenn das ganze Heer politischer und moralischer Wahrheiten in [463] Schlachtordnung steht – dann bewegt es sich vorwärts zur Entscheidung, fest zusammengeschlossen wie eine mazedonische Phalanx und unwiderstehlich wie Hochländer, die mit gefälltem Bajonette eindringen.

Ist ein Hauptsatz gewonnen mit dieser scheinbaren Schwäche und Unsicherheit, wohinter sich aber eine wirkliche Kraft und Festigkeit verborgen hielt, dann erhebt sich der Redner, sowohl körperlich als geistig, und mit kühnerem und kürzerem Angriff erficht er einen zweiten Hauptsatz. Nach dem zweiten erkämpft er einen dritten, nach dem dritten einen vierten und so weiter, bis alle Prinzipien und die ganze Philosophie der Streitfrage gleichsam erobert sind, bis jeder im Hause, der Ohren zum Hören und ein Herz zum Fühlen hat, von den Wahrheiten, die er eben vernommen, so unwiderstehlich wie von seiner eigenen Existenz überzeugt ist, so daß Brougham, wollte er hier stehenbleiben, schon unbedingt als der größte Logiker der St.-Stephans-Kapelle gelten könnte. Die geistigen Hülfsquellen des Mannes sind wirklich bewunderungswürdig, und er erinnert fast an das altnordische Märchen, wo einer immer die ersten Meister in jedem Fache des Wissens getötet hat und dadurch der Alleinerbe ihrer sämtlichen Geistesfähigkeiten geworden ist. Der Gegenstand mag sein, wie er will, erhaben oder gemeinplätzig, abstruse oder praktisch, so kennt ihn dennoch Heinrich Brougham, und er kennt ihn ganz aus dem Grunde. Andre mögen mit ihm wetteifern, ja einer oder der andre mag ihn sogar übertreffen in der Kenntnis äußerer Schönheiten der alten Literatur, aber niemand ist tiefer als er durchdrungen von der herrlichen und glühenden Philosophie, die gewiß als ein kostbarster Edelstein hervorglänzt aus jenen Schmuckkästchen, die uns das Altertum hinterlassen hat. Brougham gebraucht nicht die klare, fehlerfreie und dabei etwas hofmäßige Sprache des Cicero; ebensowenig sind seine Reden in der Form denen des Demosthenes ähnlich, obgleich sie etwas von dessen Farbe an sich tragen; aber ihm fehlen weder die strenglogischen Schlüsse des römischen Redners noch die schrecklichen Zornworte des Griechen. Dazu kommt noch, [464] daß keiner besser als er es versteht, das Wissen des Tages in seinen Parlamentsreden zu benutzen, so daß diese zuweilen, abgesehen von ihrer politischen Tendenz und Bedeutung, schon als bloße Vorlesungen über Philosophie, Literatur und Künste unsre Bewunderung verdienen würden.

Es ist indessen gänzlich unmöglich, den Charakter dieses Mannes zu analysieren, während man ihn sprechen hört. Wenn er, wie schon oben erwähnt worden, das Gebäude seiner Rede auf einen guten philosophischen Boden und in der Tiefe der Vernunft gegründet hat; wenn er, nochmals zu dieser Arbeit zurückgekehrt, Senkblei und Richtmaß anlegt, um zu untersuchen, ob alles in Ordnung ist, und mit einer Riesenhand zu prüfen scheint, ob alles auch sicher zusammenhält; wenn er die Gedanken aller Zuhörer mit Argumenten festgebunden, wie mit Seilen, die keiner zu zerreißen imstande ist – dann springt er gewaltig auf das Gebäude, das er sich gezimmert hat, es erhebt sich seine Gestalt und sein Ton, er beschwört die Leidenschaften aus ihren geheimsten Winkeln und überwältigt und erschüttert die maulaufsperrenden Parlamentsgenossen und das ganze, dröhnende Haus. Jene Stimme, die erst so leise und anspruchslos war, gleicht jetzt dem betäubenden Brausen und den unendlichen Wogen des Meeres; jene Gestalt, die vorher unter ihrem eigenen Gewichte zu sinken schien, sieht jetzt aus, als hätte sie Nerven von Stahl, Sehnen von Kupfer, ja als sei sie unsterblich und unveränderlich wie die Wahrheiten, die sie eben ausgesprochen; jenes Gesicht, welches vorher blaß und kalt war wie ein Stein, ist jetzt belebt und leuchtend, als wäre der innere Geist noch mächtiger als die gesprochenen Worte; und jene Augen, die uns anfänglich mit ihren blauen und stillen Kreisen so demütig ansahen, als wollten sie unsre Nachsicht und Verzeihung erbitten, aus denselben Augen schießt jetzt ein meteorisches Feuer, das alle Herzen zur Bewunderung entzündet. So schließt der zweite, der leidenschaftliche oder deklamatorische Teil der Rede.

Wenn er das erreicht hat, was man für den Gipfel der Beredsamkeit halten möchte, wenn er gleichsam umherblickt, um die [465] Bewunderung, die er hervorgebracht, mit Hohnlächeln zu betrachten, dann sinkt seine Gestalt wieder zusammen, und auch seine Stimme fällt herab bis zum sonderbarsten Flüstern, das jemals aus der Brust eines Menschen hervorgekommen. Dieses seltsame Herabstimmen oder vielmehr Fallenlassen des Ausdrucks, der Gebärde und der Stimme, welches Brougham in einer Vollkommenheit besitzt, wie es bei gar keinem anderen Redner gefunden wird, bringt eine wunderbare Wirkung hervor; und jene tiefen, feierlichen, fast hingemurmelten Worte, die jedoch bis auf den Anhauch jeder einzelnen Silbe vollkommen vernehmbar sind, tragen in sich eine Zaubergewalt, der man nicht widerstehen kann, selbst wenn man sie zum ersten Male hört und ihre eigentliche Bedeutung und Wirkung noch nicht kennengelernt hat. Man glaube nur nicht etwa, der Redner oder die Rede sei erschöpft. Diese gemilderten Blicke, diese gedämpften Töne bedeuten nichts weniger als den Anfang einer Peroratio, womit der Redner, als ob er fühle, daß er etwas zu weit gegangen, seine Gegner wieder besänftigen will. Im Gegenteil, dieses Zusammenkrümmen des Leibes ist kein Zeichen von Schwäche, und dieses Fallenlassen der Stimme ist kein Vorspiel von Furcht und Unterwürfigkeit: es ist das lose, hängende Vorbeugen des Leibes bei einem Ringer, der die Gelegenheit erspäht, wo er seinen Gegner desto gewaltsamer umwinden kann, es ist das Zurückspringen des Tigers, der gleich darauf mit desto sicherern Krallen auf seine Beute losstürzt, es ist das Zeichen, daß Heinrich Brougham seine ganze Rüstung anlegt und seine mächtigste Waffe ergreift. In seinen Argumenten war er klar und überzeugend; in seiner Beschwörung der Leidenschaften war er zwar etwas hochmütig, doch auch mächtig und siegreich; jetzt aber legt er den letzten, ungeheuersten Pfeil auf seinen Bogen – er wird fürchterlich in seinen Invektiven. Wehe dem Manne, dem jenes Auge, das vorher so ruhig und blau war, jetzt entgegenflammt aus dem geheimnisvollen Dunkel dieser zusammengezognen Brauen! Wehe dem Wicht, dem diese halbgeflüsterten Worte ein Vorzeichen sind von dem Unheil, das über ihn heranschwebt!

[466]

Wer als ein Fremder vielleicht heute zum erstenmal die Galerie des Parlamentes besucht, weiß nicht, was jetzt kommen wird. Er sieht bloß einen Mann, der ihn mit seinen Argumenten überzeugt, mit seiner Leidenschaft erwärmt hat und jetzt mit jenem sonderbaren Flüstern einen sehr lahmen, schwächlichen Schluß anzubringen scheint. O Fremdling! wärest du bekannt mit den Erscheinungen dieses Hauses und auf einem Sitze, wo du alle Parlamentsglieder übersehen könntest, so würdest du bald merken, daß diese in betreff eines solchen lahmen, schwächlichen Schlusses durchaus nicht deiner Meinung sind. Du würdest manchen bemerken, den Parteisucht oder Anmaßung in dieses stürmische Meer, ohne gehörigen Ballast und das nötige Steuerruder, hineingetrieben hat und der nun so furchtsam und ängstlich umherblickt wie ein Schiffer auf dem chinesischen Meere, wenn er an einer Seite des Horizontes jene dunkle Ruhe entdeckt, die ein sicheres Vorzeichen ist, daß von der andern Seite, ehe eine Minute vergeht, der Typhoon heranweht mit seinem verderblichen Hauche; – du würdest irgendeinen kleinen Mann bemerken, der fast greinen möchte und an Leib und Seele schauert wie ein kleines Vögelchen, das in die Zaubernähe einer Klapperschlange geraten ist, seine Gefahr entsetzlich fühlt und sich doch nicht helfen kann und mit jämmerlich närrischer Miene dem Untergange sich darbietet; – du würdest einen langen Antagonisten bemerken, der sich mit schlotternden Beinen an der Bank festklammert, damit der heranziehende Sturm ihn nicht fortfegt; – oder du bemerkst sogar einen stattlichen, wohlbeleibten Repräsentanten irgendeiner fetten Grafschaft, der beide Fäuste in das Kissen seiner Bank hineingräbt, völlig entschlossen, im Fall ein Mann von seiner Wichtigkeit aus dem Hause geschleudert würde, dennoch seinen Sitz zu bewahren und unter sich von dannen zu führen.

Und nun kommt es: – die Worte, welche so tief geflüstert und gemurmelt wurden, schwellen an, so laut, daß sie selbst den Jubelruf der eignen Partei übertönen, und nachdem irgendein unglückseliger Gegner bis auf die Knochen geschunden und [467] seine verstümmelten Glieder durch alle Redefiguren durchgestampft worden, dann ist der Leib des Redners wie niedergebrochen und zerschlagen von der Kraft seines eignen Geistes, er sinkt auf seinen Sitz zurück, und der Beifallärm der Versammlung kann jetzt unaufhaltbar hervorbrechen.«

Ich habe es nie so glücklich getroffen, daß ich Brougham während einer solchen Rede im Parlamente ruhig betrachten konnte. Nur stückweis oder Unwichtiges hörte ich ihn sprechen, und nur selten kam er mir dabei selbst zu Gesicht. Immer aber – das merkte ich gleich –, sobald er das Wort nahm, erfolgte eine tiefe, fast ängstliche Stille. Das Bild, das oben von ihm entworfen worden, ist gewiß nicht übertrieben. Seine Gestalt, von gewöhnlicher Manneslänge, ist sehr dünn, ebenfalls sein Kopf, der mit kurzen, schwarzen Haaren, die sich der Schläfe glatt anlegen, spärlich bedeckt ist. Das blasse, längliche Gesicht erscheint dadurch noch dünner, die Muskeln desselben sind in krampfhafter, unheimlicher Bewegung, und wer sie beobachtet, sieht des Redners Gedanken, ehe sie gesprochen sind. Dieses schadet seinen witzigen Einfällen; denn für Witze und Geldborger ist es heilsam, wenn sie uns unangemeldet überraschen. Obgleich sein schwarzer Anzug, bis auf den Schnitt des Fracks, ganz gentlemännisch ist, so trägt solcher doch dazu bei, ihm ein geistliches Ansehen zu geben. Vielleicht bekommt er dieses noch mehr durch seine oft gekrümmte Rückenbewegung und die lauernde, ironische Geschmeidigkeit des ganzen Leibes. Einer meiner Freunde hat mich zuerst auf dieses »Klerikalische« in Broughams Wesen aufmerksam gemacht, und durch die obige Schilderung wird diese feine Bemerkung bestätigt. Mir ist zuerst das »Advokatische« im Wesen Broughams aufgefallen, besonders durch die Art, wie er beständig mit dem vorgestreckten Zeigefinger demonstriert und mit vorgebeugtem Haupte selbstgefällig dazu nickt.

Am bewunderungswürdigsten ist die rastlose Tätigkeit dieses Mannes. Jene Parlamentsreden hält er, nachdem er vielleicht schon acht Stunden lang seine täglichen Berufsgeschäfte, nämlich das Advozieren in den Gerichtssälen, getrieben und [468] vielleicht die halbe Nacht an Aufsätzen für das »Edinburgh Review« oder an seinen Verbesserungen des Volksunterrichts und der Kriminalgesetze gearbeitet hat. Erstere Arbeiten, der Volksunterricht, werden gewiß einst schöne Früchte hervorbringen. Letztere, die Kriminalgesetzgebung, womit Brougham und Peel sich jetzt am meisten beschäftigen, sind vielleicht die nützlichsten, wenigstens die dringendsten; denn Englands Gesetze sind noch grausamer als seine Oligarchen. Der Prozeß der Königin begründete zuerst Broughams Zelebrität. Er kämpfte wie ein Ritter für diese hohe Dame, und wie sich von selbst versteht, wird Georg IV. niemals die Dienste vergessen, die er seiner lieben Frau geleistet hat. Deshalb, als vorigen April die Opposition siegte, kam Brougham dennoch nicht ins Ministerium, obgleich ihm, als leader of the opposition, in diesem Falle, nach altem Brauch, ein solcher Eintritt gebührte.

9. Die Emanzipation
IX
Die Emanzipation

Wenn man mit dem dümmsten Engländer über Politik spricht, so wird er doch immer etwas Vernünftiges zu sagen wissen. Sobald man aber das Gespräch auf Religion lenkt, wird der gescheiteste Engländer nichts als Dummheiten zutage fördern. Daher entsteht wohl jene Verwirrung der Begriffe, jene Mischung von Weisheit und Unsinn, sobald im Parlamente die Emanzipation der Katholiken zur Sprache kommt, eine Streitfrage, worin Politik und Religion kollidieren. Selten in ihren parlamentarischen Verhandlungen ist es den Engländern möglich, ein Prinzip auszusprechen, sie diskutieren nur den Nutzen oder Schaden der Dinge und bringen Fakta, die einen pro, die anderen kontra, zum Vorschein.

Mit Faktis aber kann man zwar streiten, doch nicht siegen, da gibt es nichts als ein materielles Hin- und Herschlagen, und das Schauspiel eines solchen Streites gemahnt uns an wohlbekannte pro-patria-Kämpfe deutscher Studenten, deren Resultat [469] darauf hinausläuft, daß soundso viel Gänge gemacht worden, soundso viel Quarten und Terzen gefallen sind und nichts damit bewiesen worden.

Im Jahr 1827, wie sich von selbst versteht, haben wieder die Emanzipationisten gegen die Oranienmänner in Westminster gefochten, und wie sich von selbst versteht, es ist nichts dabei herausgekommen. Die besten Schläger der Emanzipationisten waren Burdett, Plunkett, Brougham und Canning. Ihre Gegner, Herrn Peel ausgenommen, waren wieder die bekannten oder, besser gesagt, die unbekannten Fuchsjäger.

Von jeher stimmten die geistreichsten Staatsmänner Englands für die bürgerliche Gleichstellung der Katholiken, sowohl aus Gründen des innigsten Rechtsgefühls als auch der politischen Klugheit. Pitt selbst, der Erfinder des stabilen Systems, hielt die Partei der Katholiken. Gleichfalls Burke, der große Renegat der Freiheit, konnte nicht so weit die Stimme seines Herzens unterdrücken, daß er gegen Irland gewirkt hätte. Auch Canning, sogar damals, als er noch ein toryscher Knecht war, konnte nicht ungerührt das Elend Irlands betrachten, und wie teuer ihm dessen Sache war, hat er zu einer Zeit, als man ihn der Lauigkeit bezüchtigte, gar rührend naiv ausgesprochen. Wahrlich, ein großer Mensch kann, um große Zwecke zu erreichen, oft gegen seine Überzeugung handeln und zweideutig oft von einer Partei zur andern übergehen; – man muß alsdann billig bedenken, daß derjenige, der sich auf einer gewissen Höhe behaupten will, ebenso den Umständen nachgeben muß wie der Hahn auf dem Kirchturm, den, obgleich er von Eisen ist, jeder Sturmwind zerbrechen und herabschleudern würde, wenn er trotzig unbeweglich bliebe und nicht die edle Kunst verstände, sich nach jedem Winde zu drehen. Aber nie wird ein großer Mensch so weit die Gefühle seiner Seele verleugnen können, daß er das Unglück seiner Landsleute mit indifferenter Ruhe ansehen und sogar vermehren könnte. Wie wir unsere Mutter lieben, so lieben wir auch den Boden, worauf wir geboren sind, so lieben wir die Blumen, den Duft, die Sprache und die Menschen, die aus diesem Boden hervorgeblüht sind; [470] keine Religion ist so schlecht und keine Politik ist so gut, daß sie im Herzen ihrer Bekenner solche Liebe ersticken könnte; obgleich sie Protestanten und Tories waren, konnten Burke und Canning doch nimmermehr Partei nehmen gegen das arme, grüne Erin: Irländer, die schreckliches Elend und namenlosen Jammer über ihr Vaterland verbreiten, sind Menschen – wie der selige Castlereagh.

Daß die große Masse des englischen Volkes gegen die Katholiken gestimmt ist und täglich das Parlament bestürmt, ihnen nicht mehr Rechte einzuräumen, ist ganz in der Ordnung. Es liegt in der menschlichen Natur eine solche Unterdrückungssucht, und wenn wir auch, was jetzt beständig geschieht, über bürgerliche Ungleichheit klagen, so sind alsdann unsere Augen nach oben gerichtet, wir sehen nur diejenigen, die über uns stehen und deren Vorrechte uns beleidigen; abwärts sehen wir nie bei solchen Klagen, es kommt uns nie in den Sinn, diejenigen, welche durch Gewohnheitsunrecht noch unter uns gestellt sind, zu uns heraufzuziehen, ja uns verdrießt es sogar, wenn diese ebenfalls in die Höhe streben, und wir schlagen ihnen auf die Köpfe. Der Kreole verlangt die Rechte des Europäers, spreizt sich aber gegen den Mulatten und sprüht Zorn, wenn dieser sich ihm gleichstellen will. Ebenso handelt der Mulatte gegen den Mestizen und dieser wieder gegen den Neger. Der Frankfurter Spießbürger ärgert sich über Vorrechte des Adels; aber er ärgert sich noch mehr, wenn man ihm zumutet, seine Juden zu emanzipieren. Ich habe einen Freund in Polen, der für Freiheit und Gleichheit schwärmt, aber bis auf diese Stunde seine Bauern noch nicht aus ihrer Leibeigenschaft entlassen hat.

Was den englischen Klerus betrifft, so bedarf es keiner Erörterung, weshalb von dieser Seite die Katholiken verfolgt werden. Verfolgung der Andersdenkenden ist überall das Monopol der Geistlichkeit, und auch die anglikanische Kirche behauptet streng ihre Rechte. Freilich, die Zehnten sind ihr die Hauptsache, sie würde durch die Emanzipation der Katholiken einen großen Teil ihres Einkommens verlieren, und Aufopferung [471] eigener Interessen ist ein Talent, das den Priestern der Liebe ebensosehr abgeht wie den sündigen Laien. Dazu kommt noch, daß jene glorreiche Revolution, welcher England die meisten seiner jetzigen Freiheiten verdankt, aus religiösem, protestantischem Eifer hervorgegangen, ein Umstand, der den Engländern gleichsam noch besondere Pflichten der Dankbarkeit gegen die herrschende protestantische Kirche auferlegt und sie diese als das Hauptbollwerk ihrer Freiheit betrachten läßt. Manche ängstliche Seelen unter ihnen mögen wirklich den Katholizismus und dessen Wiedereinführung fürchten und an die Scheiterhaufen von Smithfield denken – und ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Auch gibt es ängstliche Parlamentsglieder, die ein neues Pulverkomplott befürchten – diejenigen fürchten das Pulver am meisten, die es nicht erfunden haben –, und da wird es ihnen oft, als fühlten sie, wie die grünen Bänke, worauf sie in der St.-Stephans-Kapelle sitzen, allmählich warm und wärmer werden, und wenn irgendein Redner, wie oft geschieht, den Namen Guy Fawkes erwähnt, rufen sie ängstlich: »Hear him! hear him!« Was endlich den Rektor von Göttingen betrifft, der in London eine Anstellung als König von England hat, so kennt jeder seine Mäßigkeitspolitik: er erklärt sich für keine der beiden Parteien, er sieht gern, daß sie sich bei ihren Kämpfen wechselseitig schwächen, er lächelt nach herkömmlicher Weise, wenn sie friedlich bei ihm couren, er weiß alles und tut nichts und verläßt sich im schlimmsten Fall auf seinen Oberschnurren Wellington.

Man verzeihe mir, daß ich in flipprigem Tone eine Streitfrage behandle, von deren Lösung das Wohl Englands und daher vielleicht mittelbar das Wohl der Welt abhängt. Aber eben, je wichtiger ein Gegenstand ist, desto lustiger muß man ihn behandeln; das blutige Gemetzel der Schlachten, das schaurige Sichelwetzen des Todes wäre nicht zu ertragen, erklänge nicht dabei die betäubende türkische Musik mit ihren freudigen Pauken und Trompeten. Das wissen die Engländer, und daher bietet ihr Parlament auch ein heiteres Schauspiel des unbefangensten Witzes und der witzigsten Unbefangenheit; bei [472] den ernsthaftesten Debatten, wo das Leben von Tausenden und das Heil ganzer Länder auf dem Spiel steht, kommt doch keiner von ihnen auf den Einfall, ein deutsch-steifes Landständegesicht zu schneiden oder französisch-pathetisch zu deklamieren, und wie ihr Leib, so gebärdet sich alsdann auch ihr Geist ganz zwanglos, Scherz, Selbstpersiflage, Sarkasmen, Gemüt und Weisheit, Malice und Güte, Logik und Verse sprudeln hervor im blühendsten Farbenspiel, so daß die Annalen des Parlaments uns noch nach Jahren die geistreichste Unterhaltung gewähren. Wie sehr kontrastieren dagegen die öden, ausgestopften, löschpapiernen Reden unserer süddeutschen Kammern, deren Langweiligkeit auch der geduldigste Zeitungsleser nicht zu überwinden vermag, ja deren Duft schon einen lebendigen Leser verscheuchen kann, so daß wir glauben müssen, jene Langweiligkeit sei geheime Absicht, um das große Publikum von der Lektüre jener Verhandlungen abzuschrecken und sie dadurch trotz ihrer Öffentlichkeit dennoch im Grunde ganz geheimzuhalten.

Ist also die Art, wie die Engländer im Parlamente die katholische Streitfrage abhandeln, wenig geeignet, ein Resultat hervorzubringen, so ist doch die Lektüre dieser Debatten um so interessanter, weil Fakta mehr ergötzen als Abstraktionen, und gar besonders amüsant ist es, wenn fabelgleich irgendeine Parallelgeschichte erzählt wird, die den gegenwärtigen, bestimmten Fall witzig persifliert und dadurch vielleicht am glücklichsten illustriert. Schon bei den Debatten über die Thronrede, am 3. Februar 1825, vernahmen wir im Oberhause eine jener Parallelgeschichten, wie ich sie oben bezeichnet und die ich wörtlich hierhersetze (vid. Parliamentary history and review during the session of 1825 – 1826. Pag. 31):

»Lord King bemerkte, daß, wenn auch England blühend und glücklich genannt werden könne, so befänden sich doch sechs Millionen Katholiken in einem ganz andern Zustande, jenseits des irländischen Kanals, und die dortige schlechte Regierung sei eine Schande für unser Zeitalter und für alle Briten. Die ganze Welt, sagte er, ist jetzt zu vernünftig, um Regierungen [473] zu entschuldigen, welche ihre Untertanen wegen Religionsdifferenzen bedrücken oder irgendeines Rechtes berauben. Irland und die Türkei könnte man als die einzigen Länder Europas bezeichnen, wo ganze Menschenklassen ihres Glaubens wegen unterdrückt und gekränkt werden. Der Großsultan hat sich bemüht, die Griechen zu bekehren, in derselben Weise, wie das englische Gouvernement die Bekehrung der irländischen Katholiken betrieben, aber ohne Erfolg. Wenn die unglücklichen Griechen über ihre Leiden klagten und demütigst baten, ein bißchen besser als mahometanische Hunde behandelt zu werden, ließ der Sultan seinen Großwesir holen, um Rat zu schaffen. Dieser Großwesir war früherhin ein Freund und späterhin ein Feind der Sultanin gewesen. Er hatte dadurch in der Gunst seines Herrn ziemlich gelitten und in seinem eigenen Diwan, von seinen eigenen Beamten und Dienern, manchen Widerspruch ertragen müssen. (Gelächter.) Er war ein Feind der Griechen. Dem Einfluß nach die zweite Person im Diwan war der Reis Effendi, welcher den gerechten Forderungen jenes unglücklichen Volkes freundlich geneigt war. Dieser Beamte, wie man wußte, war Minister der äußern Angelegenheiten, und seine Politik verdiente und erhielt allgemeinen Beifall. Er zeigte in diesem Felde außerordentliche Liberalität und Talente, er tat viel Gutes, verschaffte der Regierung des Sultans viel Popularität und würde noch mehr ausgerichtet haben, hätten ihn nicht seine minder erleuchteten Kollegen in allen seinen Maßregeln gehemmt. Er war in der Tat der einzige Mann von wahrem Genie im ganzen Diwan (Gelächter), und man achtete ihn als eine Zierde türkischer Staatsleute, da er auch mit poetischen Talenten begabt war. Der Kiaya-Bei oder Minister des Innern und der Kapitan-Pascha waren wiederum Gegner der Griechen; aber der Chorführer der ganzen Opposition gegen die Rechtsansprüche dieses Volkes war der Obermufti oder das Haupt des mahometanischen Glaubens. (Gelächter.) Dieser Beamte war ein Feind jeder Veränderung. Er hatte sich regelmäßig widersetzt bei allen Verbesserungen im Handel, bei allen Verbesserungen in [474] der Justiz, bei jeder Verbesserung in der ausländischen Politik. (Gelächter.) Er zeigte und erklärte sich jedesmal als der größte Verfechter der bestehenden Mißbräuche. Er war der vollendetste Intrigant im ganzen Diwan. (Gelächter.) In früherer Zeit hatte er sich für die Sultanin erklärt, aber er wandte sich gegen sie, sobald er befürchtete, daß er dadurch seine Stelle im Diwan verlieren könne, er nahm sogar die Partei ihrer Feinde. Einst wurde der Vorschlag gemacht, einige Griechen in das Korps der regulären Truppen oder Janitscharen aufzunehmen; aber der Obermufti erhob dagegen ein so heilloses Zetergeschrei – ähnlich unserem No-po pery-Geschrei –, daß diejenigen, welche jene Maßregel genehmigt, aus dem Diwan scheiden mußten. Er gewann selbst die Oberhand, und sobald dies geschah, erklärte er sich für ebendieselbe Sache, wogegen er vorhin am meisten geeifert hatte. (Gelächter.) Er sorgte für des Sultans Gewissen und für sein eigenes; doch will man bemerkt haben, daß sein Gewissen niemals mit seinen Interessen in Opposition war. (Gelächter.) Da er aufs genaueste die türkische Konstitution studiert, hatte er ausgefunden, daß sie wesentlich mahometanisch sei (Gelächter) und folglich allen Vorrechten der Griechen feindselig sein müsse. Er hatte deshalb beschlossen, der Sache der Intoleranz fest ergeben zu bleiben, und war bald umringt von Mollas, Imans und Derwischen, welche ihn in seinen edeln Vorsätzen bestärkten. Um das Bild dieser Spaltung im Diwan zu vollenden, sei noch erwähnt, daß dessen Mitglieder übereinkamen, sie wollten bei gewissen Streitfragen einig und bei andern wieder entgegengesetzter Meinung sein, ohne ihre Vereinigung zu brechen. Nachdem man nun die Übel, die durch solch einen Diwan entstanden, gesehen hat, nachdem man gesehen, wie das Reich der Muselmänner zerrissen worden, durch eben ihre Intoleranz gegen die Griechen und ihre Uneinigkeit unter sich selbst, so sollte man doch den Himmel bitten, das Vaterland vor einer solchen Kabinettsspaltung zu bewahren.«

Es bedarf keines sonderlichen Scharfsinns, um die Personen zu erraten, die hier in türkische Namen vermummt sind; noch [475] weniger ist es vonnöten, die Moral der Geschichte in trocknen Worten herzusetzen. Die Kanonen von Navarino haben sie laut genug ausgesprochen, und wenn einst die Hohe Pforte zusammenbricht – und brechen wird sie trotz Peras bevollmächtigten Lakaien, die sich dem Unwillen der Völker entgegenstemmen –, dann mag John Bull in seinem Herzen bedenken: mit verändertem Namen spricht von dir die Fabel. Etwas der Art mag England schon jetzt ahnen, indem seine besten Publizisten sich gegen den Interventionskrieg erklären und ganz naiv darauf hindeuten, daß die Völker Europas mit gleichem Rechte sich der irländischen Katholiken annehmen und der englischen Regierung eine bessere Behandlung derselben abzwingen könnten. Sie glauben hiermit das Interventionsrecht widerlegt zu haben und haben es nur noch deutlicher illustriert. Freilich hätten Europas Völker das heiligste Recht, sich für die Leiden Irlands, mit gewaffneter Hand, zu verwenden, und dieses Recht würde auch ausgeübt werden, wenn nicht das Unrecht stärker wäre. Nicht mehr die gekrönten Häuptlinge, sondern die Völker selbst sind die Helden der neuern Zeit, auch diese Helden haben eine heilige Allianz geschlossen, sie halten zusammen, wo es gilt, für das gemeinsame Recht, für das Völkerrecht der religiösen und politischen Freiheit, sie sind verbunden durch die Idee, sie haben sie beschworen und dafür geblutet, ja sie sind selbst zur Idee geworden – und deshalb zuckt es gleich schmerzhaft durch alle Völkerherzen, wenn irgendwo, sei es auch im äußersten Winkel der Erde, die Idee beleidigt wird.

10. Wellington
X
Wellington

Der Mann hat das Unglück, überall Glück zu haben, wo die größten Männer der Welt Unglück hatten, und das empört uns und macht ihn verhaßt. Wir sehen in ihm nur den Sieg der Dummheit über das Genie – Arthur Wellington triumphiert, [476] wo Napoleon Bonaparte untergeht! Nie ward ein Mann ironischer von Fortuna begünstigt, und es ist, als ob sie seine öde Winzigkeit zur Schau geben wollte, indem sie ihn auf das Schild des Sieges emporhebt. Fortuna ist ein Weib, und nach Weiberart grollt sie vielleicht heimlich dem Manne, der ihren ehemaligen Liebling stürzte, obgleich dessen Sturz ihr eigner Wille war. Jetzt, bei der Emanzipation der Katholiken, läßt sie ihn wieder siegen, und zwar in einem Kampfe, worin George Canning zugrunde ging. Man würde ihn vielleicht geliebt haben, wenn der elende Londonderry sein Vorgänger im Ministerium gewesen wäre; jetzt aber war er der Nachfolger des edlen Canning, des vielbeweinten, angebeteten, großen Canning – und er siegt, wo Canning zugrunde ging. Ohne solches Unglück des Glücks würde Wellington vielleicht für einen großen Mann passieren, man würde ihn nicht hassen, nicht genau messen, wenigstens nicht mit dem heroischen Maßstabe, womit man einen Napoleon und einen Canning mißt, und man würde nicht entdeckt haben, wie klein er ist als Mensch.

Er ist ein kleiner Mensch und noch weniger als klein. Die Franzosen haben von Polignac nichts Ärgeres sagen können als: er sei ein Wellington ohne Ruhm. In der Tat, was bleibt übrig, wenn man einem Wellington die Feldmarschalluniform des Ruhmes auszieht?

Ich habe hier die beste Apologie des Lord Wellington – im englischen Sinne des Wortes – geliefert. Man wird sich aber wundern, wenn ich ehrlich gestehe, daß ich diesen Helden einst sogar mit vollen Segeln gelobt habe. Es ist eine gute Geschichte, und ich will sie hier erzählen:

Mein Barbier in London war ein Radikaler, genannt Mister White, ein armer, kleiner Mann in einem abgeschabten schwarzen Kleide, das einen weißen Widerschein gab; er war so dünn, daß die Fassade seines Gesichtes nur ein Profil zu sein schien und die Seufzer in seiner Brust sichtbar waren, noch ehe sie aufstiegen. Er seufzte nämlich immer über das Unglück von Altengland und über die Unmöglichkeit, jemals die Nationalschuld zu bezahlen.

[477] »Ach!« – hörte ich ihn gewöhnlich seufzen – »was brauchte sich das englische Volk darum zu bekümmern, wer in Frankreich regierte und was die Franzosen in ihrem Lande trieben? Aber der hohe Adel und die hohe Kirche fürchteten die Freiheitsgrundsätze der französischen Revolution, und um diese Grundsätze zu unterdrücken, mußte John Bull sein Blut und sein Geld hergeben und noch obendrein Schulden machen. Der Zweck des Krieges ist jetzt erreicht, die Revolution ist unterdrückt, den französischen Freiheitsadlern sind die Flügel beschnitten, der hohe Adel und die hohe Kirche können jetzt ganz sicher sein, daß keiner derselben über den Kanal fliegt, und der hohe Adel und die hohe Kirche sollten jetzt wenigstens die Schulden bezahlen, die für ihr eignes Interesse und nicht für das arme Volk gemacht worden sind. Ach! das arme Volk –«

Immer, wenn er an »das arme Volk« kam, seufzte Mister White noch tiefer, und der Refrain war dann, daß das Brot und der Porter so teuer sei und daß das arme Volk verhungern müsse, um dicke Lords, Jagdhunde und Pfaffen zu füttern, und daß es nur eine Hülfe gäbe. Bei diesen Worten pflegte er auch das Messer zu schleifen, und während er es über das Schleifleder hin- und herzog, murmelte er ingrimmig langsam: »Lords, Hunde, Pfaffen!«

Gegen den Duke of Wellington kochte aber sein radikaler Zorn immer am heftigsten, er spuckte Gift und Galle, sobald er auf diesen zu sprechen kam, und wenn er mich unterdessen einseifte, so geschah es mit schäumender Wut. Einst wurde ich ordentlich bange, als er mich just nahe beim Halse barbierte, während er so heftig gegen Wellington loszog und beständig dazwischen murmelte: »Hätte ich ihn nur so unterm Messer, ich würde ihm die Mühe ersparen, sich selbst die Kehle abzuschneiden, wie sein Amtsbruder und Landsmann Londonderry, der sich die Kehle abgeschnitten zu Nordkray in der Grafschaft Kent – Gott verdamm' ihn.«

Ich fühlte schon, wie die Hand des Mannes zitterte, und aus Furcht, daß er in der Leidenschaft sich plötzlich einbilden [478] könnte, ich sei der Duke of Wellington, suchte ich seine Heftigkeit herabzustimmen und ihn unterderhand zu besänftigen. Ich nahm seinen Nationalstolz in Anspruch, ich stellte ihm vor, daß Wellington den Ruhm der Engländer befördert, daß er immer nur eine unschuldige Maschine in dritten Händen gewesen sei, daß er gern Beefsteaks esse und daß er endlich – Gott weiß, was ich noch mehr von Wellington rühmte, als mir das Messer an der Kehle stand.


*


Was mich am meisten ärgert, ist der Gedanke, daß Arthur Wellington ebenso unsterblich wird wie Napoleon Bonaparte. Ist doch, in ähnlicher Weise, der Name Pontius Pilatus ebenso unvergeßlich geblieben wie der Name Christi. Wellington und Napoleon! Es ist ein wunderbares Phänomen, daß der menschliche Geist sich beide zu gleicher Zeit denken kann. Es gibt keine größern Kontraste als diese beiden, schon in ihrer äußeren Erscheinung. Wellington, das dumme Gespenst, mit einer aschgrauen Seele in einem steifleinenen Körper, ein hölzernes Lächeln in dem frierenden Gesichte – daneben denke man sich das Bild Napoleons, jeder Zoll ein Gott!

Nie schwindet dieses Bild aus meinem Gedächtnisse. Ich sehe ihn immer noch hoch zu Roß, mit den ewigen Augen in dem marmornen Imperatorgesichte, schicksalruhig hinabblickend auf die vorbeidefilierende Garden – er schickte sie damals nach Rußland, und die alten Grenadiere schauten zu ihm hinauf, so schauerlich ergeben, so mitwissend ernst, so todesstolz –


Te, Caesar, morituri salutant!


Manchmal überschleicht mich geheimer Zweifel, ob ich ihn wirklich selbst gesehen, ob wir wirklich seine Zeitgenossen waren, und es ist mir dann, als ob sein Bild, losgerissen aus dem kleinen Rahmen der Gegenwart, immer stolzer und herrischer zurückweiche in vergangenheitliche Dämmerung. Sein Name schon klingt uns wie eine Kunde der Vorwelt und ebenso antik und heroisch wie die Namen Alexander und Cäsar. Er ist [479] schon ein Losungswort geworden unter den Völkern, und wenn der Orient und der Okzident sich begegnen, so verständigen sie sich durch diesen einzigen Namen.

Wie bedeutsam und magisch alsdann dieser Name erklingen kann, das empfand ich aufs tiefste, als ich einst im Hafen von London, wo die indischen Docks sind, an Bord eines Ostindienfahrers stieg, der eben aus Bengalen angelangt war. Es war ein riesenhaftes Schiff und zahlreich bemannt mit Hindostanern. Die grotesken Gestalten und Gruppen, die seltsam bunten Trachten, die rätselhaften Mienen, die wunderlichen Leibesbewegungen, der wildfremde Klang der Sprache, des Jubels und des Lachens, dabei wieder der Ernst auf einigen sanftgelben Gesichtern, deren Augen, wie schwarze Blumen, mich mit abenteuerlicher Wehmut ansahen – alles das erregte in mir ein Gefühl wie Verzauberung, ich war plötzlich wie versetzt in Scheherezades Märchen, und ich meinte schon, nun müßten auch breitbläterige Palmen und langhälsige Kamele und goldbedeckte Elefanten und andre fabelhafte Bäume und Tiere zum Vorschein kommen. Der Superkargo, der sich auf dem Schiffe befand und die Sprache jener Leute ebensowenig verstand als ich, konnte mir, mit echt britischer Beschränktheit, nicht genug erzählen, was das für ein närrisches Volk sei, fast lauter Mahometaner, zusammengewürfelt aus allen Ländern Asiens, von der Grenze Chinas bis ans Arabische Meer, darunter sogar einige pechschwarze, wollhaarige Afrikaner.

Des dumpfen abendländischen Wesens so ziemlich überdrüssig, so recht europamüde, wie ich mich damals manchmal fühlte, war mir dieses Stück Morgenland, das sich jetzt heiter und bunt vor meinen Augen bewegte, eine erquickliche Labung, mein Herz erfrischten wenigstens einige Tropfen jenes Trankes, wonach es in trüb hannövrischen oder königlich preußischen Winternächten so oft geschmachtet hatte, und die fremden Leute mochten es mir wohl ansehen, wie angenehm mir ihre Erscheinung war und wie gern ich ihnen ein Liebeswörtchen gesagt hätte. Daß auch ich ihnen recht wohl gefiel, war den innigen Augen anzusehen, und sie hätten mir ebenfalls gern [480] etwas Liebes gesagt, und es war eine Trübsal, daß keiner des andern Sprache verstand. Da endlich fand ich ein Mittel, ihnen meine freundschaftliche Gesinnung auch mit einem Worte kundzugeben, und ehrfurchtsvoll und die Hand ausstreckend, wie zum Liebesgruß, rief ich den Namen: »Mahomet!«

Freude überstrahlte plötzlich die dunklen Gesichter der fremden Leute, sie kreuzten ehrfurchtsvoll die Arme, und zum erfreuenden Gegengruß riefen sie den Namen: »Bonaparte!«

11. Die Befreiung
XI
Die Befreiung

Wenn mir mal die Zeit der müßigen Untersuchungen wiederkehrt, so werde ich langweiligst gründlich beweisen, daß nicht Indien, sondern Ägypten jenes Kastentum hervorgebracht hat, das seit zwei Jahrtausenden in jede Landestracht sich zu vermummen und jede Zeit in ihrer eigenen Sprache zu täuschen wußte, das vielleicht jetzt tot ist, aber, den Schein des Lebens erheuchelnd, noch immer bösäugig und unheilstiftend unter uns wandelt, mit seinem Leichendufte unser blühendes Leben vergiftet, ja, als ein Vampir des Mittelalters, den Völkern das Blut und das Licht aus den Herzen saugt. Dem Schlamme des Niltals entstiegen nicht bloß die Krokodile, die so gut weinen können, sondern auch jene Priester, die es noch besser verstehen, und jener privilegiert erbliche Kriegerstand, der in Mordgier und Gefräßigkeit die Krokodile noch übertrifft.

Zwei tiefsinnige Männer deutscher Nation entdeckten den heilsamsten Gegenzauber wider die schlimmste aller ägyptischen Plagen, und durch schwarze Kunst – durch die Buchdruckerei und das Pulver – brachen sie die Gewalt jener geistlichen und weltlichen Hierarchie, die sich aus einer Verbündung des Priestertums und der Kriegerkaste, nämlich der sogenannten katholischen Kirche und des Feudaladels, gebildet hatte und die ganz Europa weltlich und geistlich knechtete. Die Druckerpresse zersprengte das Dogmengebäude, worin der Großpfaffe [481] von Rom die Geister gekerkert, und Nordeuropa atmete wieder frei, entlastet von dem nächtlichen Alp jener Klerisei, die zwar in der Form von der ägyptischen Standeserblichkeit abgewichen war, im Geiste aber dem ägyptischen Priestersysteme um so getreuer bleiben konnte, da sie sich nicht durch natürliche Fortpflanzung, sondern unnatürlich, durch mameluckenhafte Rekrutierung, als eine Korporation von Hagestolzen, noch schroffer darstellte. Ebenso sehen wir, wie die Kriegerkaste ihre Macht verliert, seit die alte Handwerksroutine nicht mehr von Nutzen ist bei der neuen Kriegsweise; denn von dem Posaunentone der Kanonen werden jetzt die stärksten Burgtürme niedergeblasen, wie weiland die Mauern von Jericho, der eiserne Harnisch des Ritters schützt gegen den bleiernen Regen ebensowenig wie der leinene Kittel des Bauers; das Pulver macht die Menschen gleich, eine bürgerliche Flinte geht ebensogut los wie eine adlige Flinte – das Volk erhebt sich.


*


Die früheren Bestrebungen, die wir in der Geschichte der lombardischen und toskanischen Republiken, der spanischen Kommunen und der freien Städte in Deutschland und andren Ländern erkennen, verdienen nicht die Ehre, eine Volkserhebung genannt zu werden; es war kein Streben nach Freiheit, sondern nach Freiheiten, kein Kampf für Rechte, sondern für Gerechtsame; Korporationen stritten um Privilegien, und es blieb alles in den festen Schranken des Gilden- und Zunftwesens. Erst zur Zeit der Reformation wurde der Kampf von allgemeiner und geistiger Art, und die Freiheit wurde verlangt, nicht als ein hergebrachtes, sondern als ein ursprüngliches, nicht als ein erworbenes, sondern als ein angeborenes Recht. Da wurden nicht mehr alte Pergamente, sondern Prinzipien vorgebracht; und der Bauer in Deutschland und der Puritaner in England beriefen sich auf das Evangelium, dessen Aussprüche damals an Vernunft Statt galten, ja noch höher galten, nämlich als eine geoffenbarte Vernunft Gottes. Da stand deutlich ausgesprochen, daß die Menschen von gleich edler Geburt [482] sind, daß hochmütiges Besserdünken verdammt werden muß, daß der Reichtum eine Sünde ist und daß auch die Armen berufen sind zum Genusse, in dem schönen Garten Gottes, des gemeinsamen Vaters.

Mit der Bibel in der einen Hand und mit dem Schwerte in der anderen zogen die Bauern durch das südliche Deutschland, und der üppigen Bürgerschaft im hochgetürmten Nürnberg ließen sie sagen, es solle künftig kein Haus im Reiche stehenbleiben, das anders aussähe als ein Bauernhaus. So wahr und tief hatten sie die Gleichheit begriffen. Noch heutigentags, in Franken und Schwaben, schauen wir die Spuren dieser Gleichheitslehre, und eine grauenhafte Ehrfurcht vor dem heiligen Geiste überschleicht den Wanderer, wenn er im Mondschein die dunkeln Burgtrümmer sieht aus der Zeit des Bauernkriegs. Wohl dem, der, nüchternen Sinns, nichts anderes sieht; ist man aber ein Sonntagskind – und das ist jeder Geschichtskundige –, so sieht man auch die hohe Jagd, die der deutsche Adel, der roheste der Welt, gegen die Besiegten geübt, man sieht, wie tausendweis die Wehrlosen totgeschlagen, gefoltert, gespießt und gemartert wurden, und aus den wogenden Kornfeldern sieht man sie geheimnisvoll nicken, die blutigen Bauernköpfe, und drüber hin hört man pfeifen eine entsetzliche Lerche, rachegellend, wie der Pfeifer vom Helfenstein.

Etwas besser erging es den Brüdern in England und Schottland; ihr Untergang war nicht so schmählich und erfolglos, und noch jetzt sehen wir dort die Früchte ihres Regiments. Aber es gelang ihnen keine feste Begründung desselben, die sauberen Kavaliere herrschen wieder nach wie vor und ergötzen sich an den Spaßgeschichten von den alten, starren Stutzköpfen, die der befreundete Barde zu ihrer müßigen Unterhaltung so hübsch beschrieben. Keine gesellschaftliche Umwälzung hat in Großbritannien stattgefunden, das Gerüste der bürgerlichen und politischen Institutionen blieb unzerstört, die Kastenherrschaft und das Zunftwesen hat sich dort bis auf den heutigen Tag erhalten, und obgleich getränkt von dem Lichte und der Wärme der neuern Zivilisation, verharrt England in [483] einem mittelalterlichen Zustande oder vielmehr im Zustande eines fashionablen Mittelalters. Die Konzessionen, die dort den liberalen Ideen gemacht worden, sind dieser mittelalterlichen Starrheit nur mühsam abgekämpft worden; und nie aus einem Prinzip, sondern aus der faktischen Notwendigkeit sind alle modernen Verbesserungen hervorgegangen, und sie tragen alle den Fluch der Halbheit, die immer neue Drangsal und neuen Todeskampf und dessen Gefahren nötig macht. Die religiöse Reformation ist in England nur halb vollbracht, und zwischen den kahlen vier Gefängniswänden der bischöflich anglikanischen Kirche befindet man sich noch viel schlechter als in dem weiten, hübsch bemalten und weich gepolsterten Geisteskerker des Katholizismus. Mit der politischen Reformation ist es nicht viel besser gegangen, die Volksvertretung ist so mangelhaft als möglich: wenn die Stände sich auch nicht mehr durch den Rock trennen, so trennen sie sich doch noch immer durch verschiedenen Gerichtsstand, Patronage, Hoffähigkeit, Prärogative, Gewohnheitsvorrechte und sonstige Fatalien; und wenn Eigentum und Person des Volks nicht mehr von aristokratischer Willkür, sondern vom Gesetze abhängen, so sind doch diese Gesetze nichts anderes als eine andere Art von Zähnen, womit die aristokratische Brut ihre Beute erhascht, und eine andere Art von Dolchen, womit sie das Volk meuchelt. Denn wahrlich, kein Tyrann vom Kontinente würde aus Willkürlust soviel Taxen erpressen, als das englische Volk von Gesetz wegen bezahlen muß, und kein Tyrann war jemals so grausam wie Englands Kriminalgesetze, die täglich morden, für den Betrag eines Schillings und mit Buchstabenkälte. Wird auch seit kurzem manche Verbesserung dieses trüben Zustandes in England vorbereitet, werden auch der weltlichen und geistlichen Habsucht hie und da Schranken gesetzt, wird auch jetzt die große Lüge einer Volksvertretung einigermaßen begütigt, indem man hie und da einem großen Fabrikorte die verwirkte Wahlstimme von einem rotten borough überträgt, wird gleichfalls hie und da die harsche Intoleranz gemildert, indem man auch einige andere Sekten bevorrechtet – so ist [484] dieses alles doch nur leidige Altflickerei, die nicht lange vorhält, und der dümmste Schneider in England kann voraussehen, daß über kurz oder lang das alte Staatskleid in trübseligen Fetzen auseinanderreißt.


*


»Niemand flickt einen Lappen von neuem Tuche an ein altes Kleid, denn der neue Lappen reißt doch vom alten, und der Riß wird ärger. Und niemand fasset Most in alte Schläuche; anders zerreißt der Most die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche kommen um. Sondern man soll Most in neue Schläuche fassen.«

Die tiefste Wahrheit erblüht nur der tiefsten Liebe, und daher die Übereinstimmung in den Ansichten des älteren Bergpredigers, der gegen die Aristokratie von Jerusalem gesprochen, und jener späteren Bergprediger, die von der Höhe des Konvents zu Paris ein dreifarbiges Evangelium herabpredigten, wonach nicht bloß die Form des Staates, sondern das ganze gesellschaftliche Leben nicht geflickt, sondern neu umgestaltet, neu begründet, ja neu geboren werden sollte.

Ich spreche von der französischen Revolution, jener Weltepoche, wo die Lehre der Freiheit und Gleichheit so siegreich emporstieg aus jener allgemeinen Erkenntnisquelle, die wir Vernunft nennen und die, als eine unaufhörliche Offenbarung, welche sich in jedem Menschenhaupte wiederholt und ein Wissen begründet, noch weit vorzüglicher sein muß als jene überlieferte Offenbarung, die sich nur in wenigen Auserlesenen bekundet und von der großen Menge nur geglaubt werden kann. Diese letztgenannte Offenbarungsart, die selbst aristokratischer Natur ist, vermochte nie die Privilegienherrschaft, das bevorrechtete Kastenwesen, so sicher zu bekämpfen, wie es die Vernunft, die demokratischer Natur ist, jetzt bekämpft. Die Revolutionsgeschichte ist die Kriegsgeschichte dieses Kampfes, woran wir alle mehr oder minder teilgenommen; es ist der Todeskampf mit dem Ägyptentum.

Obgleich die Schwerter der Feinde täglich stumpfer werden, obgleich wir schon die besten Positionen besetzt, so können [485] wir doch nicht eher das Triumphlied anstimmen, als bis das Werk vollendet ist. Wir können nur in den Zwischennächten, wenn Waffenstillstand, mit der Lanterne aufs Schlachtfeld hinausgehn, um die Toten zu beerdigen. – Wenig fruchtet die kurze Leichenrede! Die Verleumdung, das freche Gespenst, setzt sich auf die edelsten Gräber –

Ach! gilt doch der Kampf auch jenen Erbfeinden der Wahrheit, die so schlau den guten Leumund ihrer Gegner zu vergiften wissen und die sogar jenen ersten Bergprediger, den reinsten Freiheitshelden, herabzuwürdigen wußten; denn als sie nicht leugnen konnten, daß er der größte Mensch sei, machten sie ihn zum kleinsten Gotte. Wer mit Pfaffen kämpft, der mache sich darauf gefaßt, daß der beste Lug und die triftigsten Verleumdungen seinen armen guten Namen zerfetzen und schwärzen werden. Aber gleichwie man jene Fahnen, die in der Schlacht am meisten von den Kugeln zerfetzt und von Pulverdampf geschwärzt worden, höher ehrt als die blanksten und gesündesten Rekrutenfahnen und wie man sie endlich als Nationalreliquien in den Domen aufstellt, so werden einst die Namen unserer Helden, je mehr sie zerfetzt und angeschwärzt worden, um so enthusiastischer verehrt werden, in der heiligen Genovevakirche der Freiheit.

Wie die Helden der Revolution, so hat man die Revolution selbst verleumdet und sie als ein Fürstenschrecknis und eine Volkscheuche dargestellt in Libellen aller Art. Man hat in den Schulen all die sogenannten Greuel der Revolution von den Kindern auswendig lernen lassen, und auf den Jahrmärkten sah man einige Zeit nichts anderes als grellkolorierte Bilder der Guillotine. Es ist freilich nicht zu leugnen, diese Maschine, die ein französischer Arzt, ein großer Weltorthopäde, Monsieur Guillotin, erfunden hat und womit man die dummen Köpfe von den bösen Herzen sehr leicht trennen kann, diese heilsame Maschine hat man etwas oft angewandt, aber doch nur bei unheilbaren Krankheiten, z.B. bei Verrat, Lüge und Schwäche, und man hat die Patienten nicht lang gequält, nicht gefoltert und nicht gerädert, wie einst Tausende und aber [486] Tausende Roturiers und Vilains, Bürger und Bauern, gequält, gefoltert und gerädert wurden, in der guten alten Zeit. Daß die Franzosen mit jener Maschine sogar das Oberhaupt ihres Staates amputiert, ist freilich entsetzlich, und man weiß nicht, ob man sie deshalb des Vatermords oder des Selbstmords beschuldigen soll; aber bei milderungsgründlicher Betrachtung finden wir, daß Ludwig von Frankreich minder ein Opfer der Leidenschaften als vielmehr der Begebenheiten geworden und daß diejenigen Leute, die das Volk zu solchem Opfer drängten und die selbst, zu allen Zeiten, in weit reichlicherem Maße, Fürstenblut vergossen haben, nicht als laute Kläger auftreten sollten. Nur zwei Könige, beide vielmehr Könige des Adels als des Volkes, hat das Volk geopfert, nicht in Friedenszeit, nicht niedriger Interessen wegen, sondern in äußerster Kriegsbedrängnis, als es sich von ihnen verraten sah und während es seines eignen Blutes am wenigsten schonte; aber gewiß mehr als tausend Fürsten fielen meuchlings, und der Habsucht oder frivoler Interessen wegen, durch den Dolch, durch das Schwert und durch das Gift des Adels und der Pfaffen. Es ist, als ob diese Kasten den Fürstenmord ebenfalls zu ihren Privilegien rechneten und deshalb den Tod Ludwigs XVI. und Karls I. um so eigennütziger beklagten. Oh, daß die Könige endlich einsähen, daß sie, als Könige des Volkes, im Schutze der Gesetze viel sicherer leben können als unter der Garde ihrer adligen Leibmörder!


*


Aber nicht bloß die Helden der Revolution und die Revolution selbst, sondern sogar unser ganzes Zeitalter hat man verleumdet, die ganze Liturgie unserer heiligsten Ideen hat man parodiert, mit unerhörtem Frevel, und wenn man sie hört oder liest, unsere schnöden Verächter, so heißt das Volk die Kanaille, die Freiheit heißt Frechheit, und mit himmelnden Augen und frommen Seufzern wird geklagt und bedauert, wir wären frivol und hätten leider keine Religion. Heuchlerische Duckmäuser, die unter der Last ihrer geheimen Sünden niedergebeugt einherschleichen, wagen es, ein Zeitalter zu lästern, das vielleicht[487] das heiligste ist von allen seinen Vorgängern und Nachfolgern, ein Zeitalter, das sich opfert für die Sünden der Vergangenheit und für das Glück der Zukunft, ein Messias unter den Jahrhunderten, der die blutige Dornenkrone und die schwere Kreuzlast kaum ertrüge, wenn er nicht dann und wann ein heiteres Vaudeville trällerte und Späße risse über die neueren Pharisäer und Sadduzäer. Die kolossalen Schmerzen wären nicht zu ertragen ohne solche Witzreißerei und Persiflage! Der Ernst tritt um so gewaltiger hervor, wenn der Spaß ihn angekündigt. Die Zeit gleicht hierin ganz ihren Kindern unter den Franzosen, die sehr scherzliche, leichtfertige Bücher geschrieben und doch sehr streng und ernsthaft sein konnten, wo Strenge und Ernst notwendig wurden; z.B. Du Clos und gar Louvet de Couvray, die beide, wo es galt, mit Märtyrerkühnheit und Aufopferung für die Freiheit stritten, übrigens aber sehr frivol und schlüpfrig schrieben und leider keine Religion hatten.

Als ob die Freiheit nicht ebensogut eine Religion wäre als jede andere! Da es die unsrige ist, so könnten wir, mit demselben Maße messend, ihre Verächter für frivol und irreligios erklären.

Ja, ich wiederhole die Worte, womit ich diese Blätter eröffnet: Die Freiheit ist eine neue Religion, die Religion unserer Zeit. Wenn Christus auch nicht der Gott dieser Religion ist, so ist er doch ein hoher Priester derselben, und sein Name strahlt beseligend in die Herzen der Jünger. Die Franzosen sind aber das auserlesene Volk der neuen Religion, in ihrer Sprache sind die ersten Evangelien und Dogmen verzeichnet, Paris ist das neue Jerusalem, und der Rhein ist der Jordan, der das geweihte Land der Freiheit trennt von dem Lande der Philister.

[488]

Schlußwort

Erstdruck in den »Reisebildern«.

Schlußwort

Geschrieben den 29. November 1830


Es war eine niedergedrückte, arretierte Zeit in Deutschland, als ich den zweiten Band der »Reisebilder« schrieb und während des Schreibens drucken ließ. Ehe er aber erschien, verlautete schon etwas davon im Publikum, es hieß, mein Buch wolle den eingeschüchterten Freiheitsmut wieder aufmuntern und man treffe schon Maßregeln, es ebenfalls zu unterdrücken. Bei solchem Gerüchte war es ratsam, das Werk um so schneller zu fördern und aus der Presse zu jagen. Da es eine gewisse Bogenzahl enthalten mußte, um den Ansprüchen einer hochlöblichen Zensur zu entgehen, so glich ich in jener Not dem Benvenuto Cellini, als er beim Guß des Perseus nicht Erz genug hatte und, zur Füllung der Form, alle zinnernen Teller, die ihm zur Hand lagen, in den Schmelzofen warf. Es war gewiß leicht, das Zinn, besonders das zinnerne Ende des Buches, von dem besseren Erze zu unterscheiden; doch wer das Handwerk verstand, verriet den Meister nicht.

Wie aber alles in der Welt wiederkehren kann, so geschieht es auch, daß sich zufälligerweise bei diesen »Nachträgen« eine ähnliche Bedrängnis ereignet, und ich habe wieder eine Menge Zinn in den Guß werfen müssen, und ich wünsche, daß man meine Zinngießereien nur der Zeitnot zuschreibe.

Ach! ist ja das ganze Buch aus der Zeitnot hervorgegangen, ebenso wie die früheren Schriften ähnlicher Richtung; die näheren Freunde des Verfassers, die seiner Privatverhältnisse kundig sind, wissen sehr gut, wie wenig ihn die eigne Selbstsucht zur Tribüne drängt und wie groß die Opfer sind, die er bringen muß, für jedes freie Wort, das er seitdem gesprochen – und, will's Gott!, noch sprechen wird. Jetzt ist das Wort eine Tat, deren Folgen sich nicht abmessen lassen; kann doch keiner [489] genau wissen, ob er nicht gar am Ende als Blutzeuge auftreten muß für das Wort.

Seit mehreren Jahren warte ich vergebens auf das Wort jener kühnen Redner, die einst in den Versammlungen der deutschen Burschenschaft so oft ums Wort baten und mich so oft durch ihre rhetorischen Talente überwunden und eine so vielversprechende Sprache gesprochen; sie waren sonst so vorlaut und sind jetzt so nachstill. Wie schmähten sie damals die Franzen und das welsche Babel und den undeutschen, frivolen Vaterlandsverräter, der das Franzentum lobte. Jenes Lob hat sich bewährt in der großen Woche.

Ach, die große Woche von Paris! Der Freiheitsmut, der von dort herüberwehte nach Deutschland, hat freilich hie und da die Nachtlichter umgeworfen, so daß die roten Gardinen an einigen Thronen in Brand gerieten und die goldnen Kronen heiß wurden unter den lodernden Schlafmützen; – aber die alten Häscher, denen die Reichspolizei anvertraut, schleppen schon die Löscheimer herbei und schnüffeln jetzt um so wachsamer und schmieden um so fester die heimlichen Ketten, und ich merke schon, unsichtbar wölbt sich eine noch dichtere Kerkermauer um das deutsche Volk.

Armes, gefangenes Volk! verzage nicht in deiner Not – Oh, daß ich Katapulta sprechen könnte! Oh, daß ich Falarika hervorschießen könnte aus meinem Herzen!

Von meinem Herzen schmilzt die vornehme Eisrinde, eine seltsame Wehmut beschleicht mich – ist es Liebe, und gar Liebe für das deutsche Volk? Oder ist es Krankheit? – meine Seele bebt, und es brennt mir im Auge, und das ist ein ungünstiger Zustand für einen Schriftsteller, der den Stoff beherrschen und hübsch objektiv bleiben soll, wie es die Kunstschule verlangt und wie es auch Goethe getan – er ist achtzig Jahr dabei alt geworden und Minister und wohlhabend – armes deutsches Volk! das ist dein größter Mann!

Es fehlen mir noch einige Oktavseiten, und ich will deshalb noch eine Geschichte erzählen – sie schwebt mir schon seit gestern im Sinne –, es ist eine Geschichte aus dem Leben Karls V. [490] Doch ist es schon lange her, seit ich sie vernahm, und ich weiß die besonderen Umstände nicht mehr ganz genau. So was vergißt sich leicht, wenn man kein bestimmtes Gehalt dafür bezieht, daß man die alten Geschichten alle halbe Jahre vom Hefte abliest. Was ist aber auch daran gelegen, wenn man die Ortsnamen und Jahrzahlen der Geschichten vergessen hat; wenn man nur ihre innere Bedeutung, ihre Moral, im Gedächtnisse behalten. Diese ist es eigentlich, die mir im Sinne klingt und mich wehmütig bis zu Tränen stimmt. Ich fürchte, ich werde krank.

Der arme Kaiser war von seinen Feinden gefangengenommen und saß in schwerer Haft. Ich glaube, es war in Tirol. Da saß er, in einsamer Betrübnis, verlassen von allen seinen Rittern und Höflingen, und keiner kam ihm zu Hülfe. Ich weiß nicht, ob er schon damals jenes käsebleiche Gesicht hatte, wie es auf den Bildern von Holbein abkonterfeit ist. Aber die menschenverachtende Unterlippe trat gewiß noch gewaltsamer hervor als auf jenen Bildern. Mußte er doch die Leute verachten, die, im Sonnenschein des Glückes, ihn so ergeben umwedelt und ihn jetzt allein ließen in dunkler Not. Da öffnete sich plötzlich die Kerkertüre, und herein trat ein verhüllter Mann, und wie dieser den Mantel zurückschlug, erkannte der Kaiser seinen treuen Kunz von der Rosen, den Hofnarren. Dieser brachte ihm Trost und Rat, und es war der Hofnarr.

Oh, deutsches Vaterland! teures deutsches Volk! ich bin dein Kunz von der Rosen. Der Mann, dessen eigentliches Amt die Kurzweil und der dich nur belustigen sollte in guten Tagen, er dringt in deinen Kerker zur Zeit der Not; hier unter dem Mantel bringe ich dir dein starkes Zepter und die schöne Krone – erkennst du mich nicht, mein Kaiser? Wenn ich dich nicht befreien kann, so will ich dich wenigstens trösten, und du sollst jemanden um dir haben, der mit dir schwatzt über die bedränglichste Drangsal und dir Mut einspricht und dich liebhat und dessen bester Spaß und bestes Blut zu deinen Diensten steht. Denn du, mein Volk, bist der wahre Kaiser, der wahre Herr der Lande – dein Wille ist souverän und viel legitimer als jenes purpurne Tel est notre plaisir, das sich auf ein göttliches [491] Recht beruft, ohne alle andre Gewähr als die Salbadereien geschorener Gaukler – dein Wille, mein Volk, ist die alleinig rechtmäßige Quelle aller Macht. Wenn du auch in Fesseln daniederliegst, so siegt doch am Ende dein gutes Recht, es naht der Tag der Befreiung, eine neue Zeit beginnt – mein Kaiser, die Nacht ist vorüber, und draußen glüht das Morgenrot.

»Kunz von der Rosen, mein Narr, du irrst dich, ein blankes Beil hältst du vielleicht für eine Sonne, und das Morgenrot ist nichts als Blut.«

»Nein, mein Kaiser, es ist die Sonne, obgleich sie im Westen hervorsteigt – seit sechstausend Jahren sah man sie immer aufgehen im Osten, da wird es wohl Zeit, daß sie mal eine Verändrung vornehme in ihrem Lauf.«

»Kunz von der Rosen, mein Narr, du hast ja die Schellen verloren von deiner roten Mütze, und sie hat jetzt so ein seltsames Ansehen, die rote Mütze.«

»Ach, mein Kaiser, ich habe ob Eurer Not so wütend ernsthaft den Kopf geschüttelt, daß die närrischen Schellen abfielen von der Mütze; sie ist aber darum nicht schlechter geworden.«

»Kunz von der Rosen, mein Narr, was bricht und kracht da draußen?«

»Seid still! das ist die Säge und die Zimmermannsaxt, und bald brechen zusammen die Pforten Eures Kerkers, und Ihr seid frei, mein Kaiser!«

»Bin ich denn wirklich Kaiser? Ach, es ist ja der Narr, der es mir sagt!«

»Oh, seufzt nicht, mein lieber Herr, die Kerkerluft macht Euch so verzagt; wenn Ihr erst wieder Eure Macht errungen, fühlt Ihr auch wieder das kühne Kaiserblut in Euren Adern, und Ihr seid stolz wie ein Kaiser und übermütig und genädig und ungerecht und lächelnd und undankbar, wie Fürsten sind.«

»Kunz von der Rosen, mein Narr, wenn ich wieder frei werde, was willst du dann anfangen?«

»Ich will mir dann neue Schellen an meine Mütze nähen.«

»Und wie soll ich deine Treue belohnen?«

»Ach! lieber Herr, laßt mich nicht umbringen.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Heine, Heinrich. Reisebilder und Reisebriefe. Reisebilder. Vierter Teil. Reisebilder. Vierter Teil. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4828-6