Heinrich Heine
Über Polen

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Seit einigen Monaten habe ich den preußischen Teil Polens die Kreuz und die Quer durchstreift; in dem russischen Teil bin ich nicht weit gekommen, nach dem österreichischen gar nicht. Von den Menschen hab ich sehr viele, und aus allen Teilen Polens, kennengelernt. Diese waren freilich meistens nur Edelleute, und zwar die vornehmsten. Aber wenn auch mein Leib sich bloß in den Kreisen der höheren Gesellschaft, in dem Schloßbann der polnischen Großen, bewegte, so schweifte der Geist doch oft auch in den Hütten des niedern Volks. Hier haben Sie den Standpunkt für die Würdigung meines Urteils über Polen.

Vom Äußern des Landes wüßte ich Ihnen nicht viel Reizendes mitzuteilen. Hier sind nirgends pikante Felsengruppen, romantische Wasserfälle, Nachtigallengehölze usw.; hier gibt es nur weite Flächen von Ackerland, das meistens gut ist, und dicke, mürrische Fichtenwälder. Polen lebt nur von Ackerbau und Viehzucht; von Fabriken und Industrie gibt es hier fast keine Spur. Den traurigsten Anblick geben die polnischen Dörfer: niedere Ställe von Lehm, mit dünnen Latten oder Binsen bedeckt. In diesen lebt der polnische Bauer mit seinem Vieh und seiner übrigen Familie, erfreut sich seines Daseins und denkt an nichts weniger als an die – ästhetischen Pustkuchen. Leugnen läßt es sich indessen nicht, daß der polnische Bauer oft mehr Verstand und Gefühl hat als der deutsche Bauer in manchen Ländern. Nicht selten fand ich bei dem geringsten Polen jenen originellen Witz (nicht Gemütswitz, Humor), der bei jedem Anlaß mit wunderlichem Farbenspiel hervorsprudelt, und jenen schwärmerisch-sentimentalen Zug, jenes brillante[559] Aufleuchten eines Ossianschen Naturgefühls, dessen plötzliches Hervorbrechen bei leidenschaftlichen Anlässen ebenso unwillkürlich ist wie das Insgesichtsteigen des Blutes. Der polnische Bauer trägt noch seine Nationaltracht: eine Jacke ohne Ärmel, die bis zur Mitte der Schenkel reicht; darüber einen Oberrock, mit hellen Schnüren besetzt. Letzterer, gewöhnlich von hellblauer oder grüner Farbe, ist das grobe Original jener feinen Polenröcke unserer Elegants. Den Kopf bedeckt ein kleines rundes Hütchen, weißgerändert, oben wie ein abgekappter Kegel spitz zulaufend und vorn mit bunten Bandschleifen oder mit einigen Pfauenfedern geschmückt. In diesem Kostüm sieht man den polnischen Bauer des Sonntags nach der Stadt wandern, um dort ein dreifaches Geschäft zu verrichten: erstens, sich rasieren zu lassen; zweitens, die Messe zu hören, und drittens, sich vollzusaufen. Den durch das dritte Geschäft gewiß Seliggewordenen sieht man des Sonntags, alle viere ausgestreckt, in einer Straßengosse liegen, sinnberaubt und umgeben von einem Haufen Freunde, die, in wehmütiger Gruppierung, die Betrachtung zu machen scheinen, daß der Mensch hienieden so wenig vertragen kann! Was ist der Mensch, wenn – drei Kannen Schnaps ihn zu Boden werfen! Aber die Polen haben es doch im Trinken übermenschlich weit gebracht. – Der Bauer ist von gutem Körperbau, starkstämmig, soldatischen Ansehens und hat gewöhnlich blondes Haar; die meisten lassen dasselbe lang herunterwallen. Dadurch haben so viele Bauern die Plica polonica (Weichselzopf), eine sehr anmutige Krankheit, womit auch wir hoffentlich einst gesegnet werden, wenn das Lange-Haartum in den deutschen Gauen allgemeiner wird. Die Unterwürfigkeit des polnischen Bauers gegen den Edelmann ist empörend. Er beugt sich mit dem Kopf fast bis zu den Füßen des gnädigen Herrn und spricht die Formel: »Ich küsse die Füße.« Wer den Gehorsam personifiziert haben will, sehe einen polnischen Bauer vor seinem Edelmann stehen; es fehlt nur der wedelnde Hundeschweif. Bei einem solchen Anblick denke ich unwillkürlich: Und Gott erschuf den Menschen nach seinem Ebenbilde! – und es ergreift [560] mich ein unendlicher Schmerz, wenn ich einen Menschen vor einem andern so tief erniedrigt sehe. Nur vor dem Könige soll man sich beugen; bis auf dieses letztere Glaubensgesetz bekenne ich mich ganz zum nordamerikanischen Katechismus. Ich leugne es nicht, daß ich die Bäume der Flur mehr liebe als Stammbäume, daß ich das Menschenrecht mehr achte als das kanonische Recht und daß ich die Gebote der Vernunft höher schätze als die Abstraktionen kurzsichtiger Historiker; wenn Sie mich aber fragen, ob der polnische Bauer wirklich unglücklich ist und ob seine Lage besser wird, wenn jetzt aus den gedrückten Hörigen lauter freie Eigentümer gemacht werden, so müßte ich lügen, sollte ich diese Frage unbedingt bejahen. Wenn man den Begriff von Glücklichsein in seiner Relativität auffaßt und sich wohl merkt, daß es kein Unglück ist, wenn man von Jugend auf gewöhnt ist, den ganzen Tag zu arbeiten und Lebensbequemlichkeiten zu entbehren, die man gar nicht kennt, so muß man gestehen, daß der polnische Bauer im eigentlichen Sinne nicht unglücklich ist: um so mehr, da er gar nichts hat und folglich in der großen Sorglosigkeit, die ja von vielen als das höchste Glück geschildert wird, sein Leben dahinlebt. Aber es ist keine Ironie, wenn ich sage, daß, im Fall man jetzt die polnischen Bauern plötzlich zu selbständigen Eigentümern machte, sie sich gewiß bald in der unbehaglichsten Lage von der Welt befinden und manche gewiß dadurch in größeres Elend geraten würden. Bei seiner jetzt zur zweiten Natur gewordenen Sorglosigkeit würde der Bauer sein Eigentum schlecht verwalten, und träfe ihn ein Unglück, wär er ganz und gar verloren. Wenn jetzt ein Mißwachs ist, so muß der Edelmann dem Bauer von seinem eigenen Getreide schicken; es wäre ja auch sein eigener Verlust, wenn der Bauer verhungerte oder nicht säen könnte. Er muß ihm aus demselben Grunde ein neues Stück Vieh schicken, wenn der Ochs oder die Kuh des Bauers krepiert ist. Er gibt ihm Holz im Winter, er schickt ihm Ärzte, Arzneien, wenn er oder einer von der Familie krank ist; kurz, der Edelmann ist der beständige Vormund desselben. Ich habe mich überzeugt, daß diese Vormundschaft [561] von den meisten Edelleuten sehr gewissenhaft und liebreich ausgeübt wird, und überhaupt gefunden, daß die Edelleute ihre Bauern milde und gütig behandeln; wenigstens sind die Reste der alten Strenge selten. Viele Edelleute wünschen sogar die Selbständigkeit der Bauern – der größte Mensch, den Polen hervorgebracht hat und dessen Andenken noch in allen Herzen lebt, Thaddäus Kosciuszko, war eifriger Beförderer der Bauernemanzipation, und die Grundsätze eines Lieblings dringen unbemerkt in alle Gemüter. Außerdem ist der Einfluß französischer Lehren, die in Polen leichter als irgendwo Eingang finden, von unberechenbarer Wirkung für den Zustand der Bauern. Sie sehen, daß es mit letzteren nicht mehr so schlimm steht und daß ein allmähliches Selbständigwerden derselben wohl zu hoffen ist. Auch die preußische Regierung scheint dies durch zweckmäßige Einrichtungen nach und nach zu erzielen. Möge diese begütigende Allmählichkeit gedeihen; sie ist gewisser, zeitlich nützlicher als die zerstörungssüchtige Plötzlichkeit. Aber auch das Plötzliche ist zuweilen gut, wie sehr man dagegen eifere. – – – – – – – – – –

Zwischen dem Bauer und dem Edelmann stehen in Polen die Juden. Diese betragen fast mehr als den vierten Teil der Bevölkerung, treiben alle Gewerbe und können füglich der dritte Stand Polens genannt werden. Unsere Statistikkompendienmacher, die an alles den deutschen, wenigstens den französischen Maßstab legen, schreiben also mit Unrecht, daß Polen keinen tiers état habe, weil dort dieser Stand von den übrigen schroffer abgesondert ist, weil seine Glieder am Mißverständnisse des Alten Testaments – Gefallen finden – – – und weil dieselben vom Ideal gemütlicher Bürgerlichkeit, wie dasselbe in einem Nürnberger Frauentaschenbuche, unter dem Bilde reichsstädtischer Philiströsität, so niedlich und sonntäglich schmuck dargestellt wird, äußerlich noch sehr entfernt sind. Sie sehen also, daß die Juden in Polen durch Zahl und Stellung von größerer staatswirtschaftlicher Wichtigkeit sind als bei uns in Deutschland und daß, um Gediegenes über dieselben zu [562] sagen, etwas mehr dazu gehört als die großartige Leihhausanschauung gefühlvoller Romanenschreiber des Nordens oder der naturphilosophische Tiefsinn geistreicher Ladendiener des Südens. Man sagte mir, daß die Juden des Großherzogtums auf einer niedrigeren Humanitätsstufe ständen als ihre östlicheren Glaubensgenossen; ich will daher nichts Bestimmtes von polnischen Juden überhaupt sprechen und verweise Sie lieber auf David Friedländers »Über die Verbesserung der Israeliten (Juden) im Königreich Polen«, Berlin 1819. Seit dem Erscheinen dieses Buches, das, bis auf eine zu ungerechte Verkennung der Verdienste und der sittlichen Bedeutung der Rabbinen, mit einer seltenen Wahrheit- und Menschenliebe geschrieben ist, hat sich der Zustand der polnischen Juden wahrscheinlich nicht gar besonders verändert. Im Großherzogtum sollen sie einst, wie noch im übrigen Polen, alle Handwerke ausschließlich getrieben haben; jetzt aber sieht man viele christliche Handwerker aus Deutschland einwandern, und auch die polnischen Bauern scheinen an Handwerken und andern Gewerben mehr Geschmack zu finden. Seltsam aber ist es, daß der gemeine Pole gewöhnlich Schuster oder Bierbrauer und Branntweinbrenner wird. In der Wallischei, einer Vorstadt Posens, fand ich das zweite Haus immer mit einem Schuhmacherschilde verziert, und ich dachte an die Stadt Bradford in Shakespeares »Flurschütz von Wakefield«. Im preußischen Polen erlangen die Juden kein Staatsamt, die sich nicht taufen lassen; im russischen Polen werden auch die Juden zu allen Staatsämtern zugelassen, weil man es dort für zweckmäßig hält. Übrigens ist der Arsenik in den dortigen Bergwerken auch noch nicht zu einer überfrommen Philosophie sublimiert, und die Wölfe in den altpolnischen Wäldern sind noch nicht darauf abgerichtet, mit historischen Zitaten zu heulen.

Es wäre zu wünschen, daß unsere Regierung, durch zweckmäßige Mittel, den Juden des Großherzogtums mehr Liebe zum Ackerbau einzuflößen suchte; denn jüdische Ackerbauer soll es hier nur sehr wenige geben. Im russischen Polen sind sie häufig. Die Abneigung gegen den Pflug soll bei den polnischen[563] Juden daher entstanden sein, weil sie ehemals den leibeigenen Bauer in einem äußerlich so sehr traurigen Zustande sahen. Hebt sich jetzt der Bauernstand aus seiner Erniedrigung, so werden auch die Juden zum Pflug greifen. – Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Wirtshäuser Polens in den Händen der Juden, und ihre vielen Branntweinbrennereien werden dem Lande sehr schädlich, indem die Bauern dadurch zur Völlerei angereizt werden. Aber ich habe ja schon oben gezeigt, wie das Branntweintrinken zur Seligmachung der Bauern gehört. – Jeder Edelmann hat einen Juden im Dorf oder in der Stadt, den er Faktor nennt und der alle seine Kommissionen, Ein- und Verkäufe, Erkundigungen usw. ausführt. Eine originelle Einrichtung, welche ganz die Bequemlichkeitsliebe der polnischen Edelleute zeigt. Das Äußere des polnischen Juden ist schrecklich. Mich überläuft ein Schauder, wenn ich daran denke, wie ich hinter Meseritz zuerst ein polnisches Dorf sah, meistens von Juden bewohnt. Das W–cksche Wochenblatt, auch zu physischem Brei gekocht, hätte mich nicht so brechpulverisch anwidern können als der Anblick jener zerlumpten Schmutzgestalten; und die hochherzige Rede eines für Turnplatz und Vaterland begeisterten Tertianers hätte nicht so zerreißend meine Ohren martern können als der polnische Judenjargon. Dennoch wurde der Ekel bald verdrängt von Mitleid, nachdem ich den Zustand dieser Menschen näher betrachtete und die schweinestallartigen Löcher sah, worin sie wohnen, mauscheln, beten, schachern und – elend sind. Ihre Sprache ist ein mit Hebräisch durchwirktes und mit Polnisch fassoniertes Deutsch. Sie sind in sehr frühen Zeiten wegen Religionsverfolgung aus Deutschland nach Polen eingewandert; denn die Polen haben sich in solchen Fällen immer durch Toleranz ausgezeichnet. Als Frömmlinge einem polnischen Könige rieten, die polnischen Protestanten zum Katholizismus zurückzuzwingen, antwortete derselbe: »Sum rex populorum, sed non conscientiarum!« – Die Juden brachten zuerst Gewerbe und Handel nach Polen und wurden unter Kasimir dem Großen mit bedeutenden Privilegien begünstigt. Sie scheinen dem Adel weit näher gestanden [564] zu haben als den Bauern; denn nach einem alten Gesetze wurde der Jude durch seinen Übertritt zum Christentum eo ipso in den Adelstand erhoben. Ich weiß nicht, ob und warum dieses Gesetz untergegangen und was etwa mit Bestimmtheit im Werte gesunken ist. – In jenen frühern Zeiten standen indessen die Juden in Kultur und Geistesausbildung gewiß weit über dem Edelmann, der nur das rauhe Kriegshandwerk trieb und noch den französischen Firnis entbehrte. Jene aber beschäftigten sich wenigstens immer mit ihren hebräischen Wissenschaft- und Religionsbüchern, um derentwillen eben sie Vaterland und Lebensbehaglichkeit verlassen. Aber sie sind offenbar mit der europäischen Kultur nicht fortgeschritten, und ihre Geisteswelt versumpfte zu einem unerquicklichen Aberglauben, den eine spitzfindige Scholastik in tausenderlei wunderliche Formen hineinquetscht. Dennoch, trotz der barbarischen Pelzmütze, die seinen Kopf bedeckt, und der noch barbarischeren Ideen, die denselben füllen, schätze ich den polnischen Juden weit höher als so manchen deutschen Juden, der seinen Bolivar auf dem Kopf und seinen Jean Paul im Kopfe trägt. In der schroffen Abgeschlossenheit wurde der Charakter des polnischen Juden ein Ganzes; durch das Einatmen toleranter Luft bekam dieser Charakter den Stempel der Freiheit. Der innere Mensch wurde kein quodlibetartiges Kompositum heterogener Gefühle und verkümmerte nicht durch die Einzwängung Frankfurter Judengaßmauern, hochweiser Stadtverordnungen und liebreicher Gesetzbeschränkungen. Der polnische Jude mit seinem schmutzigen Pelze, mit seinem bevölkerten Barte und Knoblauchgeruch und Gemauschel ist mir noch immer lieber als mancher in all seiner staatspapiernen Herrlichkeit.

Wie ich bereits oben bemerkt, dürfen Sie in diesem Briefe keine Schilderungen reizender Naturszenen, herrlicher Kunstwerke usw. erwarten; nur die Menschen, und zwar besonders die nobelste Sorte, die Edelleute, verdienen hier in Polen die Aufmerksamkeit des Reisenden. Und wahrlich, ich sollte denken, wenn man einen kräftigen, echten polnischen Edelmann oder eine schöne edle Polin in ihrem wahren Glanze sieht, so [565] könnte dieses die Seele ebenso erfreuen wie etwa der Anblick einer romantischen Felsenburg oder einer marmornen Mediceerin. Ich lieferte Ihnen sehr gerne eine Charakterschilderung der polnischen Edelleute, und das gäbe eine sehr kostbare Mosaikarbeit von den Adjektiven: gastfrei, stolz, mutig, geschmeidig, falsch (dieses gelbe Steinchen darf nicht fehlen), reizbar, enthusiastisch, spielsüchtig, lebenslustig, edelmütig und übermütig. Aber ich selbst habe zu oft geeifert gegen unsre Broschürenskribler, die, wenn sie einen Pariser Tanzmeister hüpfen sehen, aus dem Stegreif die Charakteristik eines Volkes schreiben – – – – – – – und die, wenn sie einen dicken Liverpooler Baumwollnhändler jähnen sahen, auf der Stelle eine Beurteilung jenes Volkes liefern – – – – – – – Diese allgemeinen Charakteristiken sind die Quelle aller Übel. Es gehört mehr als ein Menschenalter dazu, um den Charakter eines einzigen Menschen zu begreifen: und aus Millionen einzelnen Menschen besteht eine Nation. Nur wenn wir die Geschichte eines Menschen, die Geschichte seiner Erziehung und seines Lebens, betrachten, wird es uns möglich, einzelne Hauptzüge seines Charakters aufzufassen. – Bei Menschenklassen, deren einzelne Glieder durch Erziehung und Leben eine gleiche Richtung gewinnen, müssen sich indessen einige hervortretende Charakterzüge bemerken lassen; dies ist bei den polnischen Edelleuten der Fall, und nur von diesem Standpunkte aus läßt sich etwas Allgemeines über ihren Charakter ausmitteln. Die Erziehung selbst wird überall und immer bedingt durch das Lokale und durch das Temporale, durch den Boden und durch die politische Geschichte. In Polen ist ersteres weit mehr der Fall als irgendwo. Polen liegt zwischen Rußland und – Frankreich. Das noch vor Frankreich liegende Deutschland will ich nicht rechnen, da ein großer Teil der Polen es ungerechterweise wie einen breiten Sumpf ansah, den man schnell überspringen müsse, um nach dem gebenedeiten Lande zu gelangen, wo die Sitten und die Pomaden am feinsten fabriziert werden. Den heterogensten Einflüssen war Polen dadurch ausgesetzt. Eindringende Barbarei von Osten, durch die feindlichen [566] Berührungen mit Rußland; eindringende Überkultur von Westen, durch die freundschaftlichen Berührungen mit Frankreich: daher jene seltsamen Mischungen von Kultur und Barbarei im Charakter und im häuslichen Leben der Polen. Ich sage just nicht, daß alle Barbarei von Osten eingedrungen, ein sehr beträchtlicher Teil mag im Lande selbst vorrätig gewesen sein; aber in der neuern Zeit war dieses Eindrängen sehr sichtbar. Einen Haupteinfluß übt das Landleben auf den Charakter der polnischen Edelleute. Nur wenige derselben werden in den Städten erzogen; die meisten Knaben bleiben auf den Landgütern ihrer Angehörigen, bis sie erwachsen sind und durch die nicht gar zu großen Bemühungen eines Hofmeisters oder durch einen nicht gar zu langen Schulbesuch oder durch das bloße Walten der lieben Natur in den Stand gesetzt sind, Kriegsdienste zu nehmen oder eine Universität zu beziehen oder von der bärenleckenden Lutetia die Weihe der höchsten Ausbildung zu empfangen. Da nicht allen hierzu dieselben Mittel zu Gebot stehen, so ist es einleuchtend, daß man einen Unterschied machen muß zwischen armen Edelleuten, reichen Edelleuten und Magnaten. Erstere leben oft höchst jämmerlich, fast wie der Bauer, und machen keine besonderen Ansprüche an Kultur. Bei den reichen Edelleuten und den Magnaten ist die Unterscheidung nicht schroff, dem Fremden ist sie sogar sehr wenig bemerkbar. An und für sich selbst ist die Würde eines polnischen Edelmanns (civis polonus) bei dem ärmsten wie bei dem reichsten von demselben Umfange und demselben innern Werte. Aber an die Namen gewisser Familien, die sich immer durch großen Güterbesitz und durch Verdienste um den Staat ausgezeichnet, hat sich die Idee einer höhern Würde geknüpft, und man bezeichnet sie gemeiniglich mit dem Namen Magnaten. Die Czartoryskis, die Radziwills, die Zamoyskis, die Sapiehas, die Poniatowskis, die Potockis usw. werden zwar ebensogut als bloße polnische Edelleute betrachtet wie mancher arme Edelmann, der vielleicht hinterm Pflug geht; dennoch sind sie der höhere Adel de facto, wenn auch nicht de nomine. Ihr Ansehen ist sogar fester begründet als das von unserm hohen [567] Adel, weil sie selbst sich ihre Würde gegeben und weil nicht bloß manches geschnürte alte Fräulein, sondern das ganze Volk ihren Stammbaum im Kopfe trägt. Die Benennung Starost findet man jetzt selten, und sie ist ein bloßer Titel geworden. Der Name Graf ist ebenfalls bei den Polen ein bloßer Titel, und es sind nur von Preußen und Österreich einige derselben verteilt. Von Adelstolz gegen Bürgerliche wissen die Polen nichts, und er kann sich nur in Ländern bilden, wo ein mächtiger und mit Ansprüchen hervortretender Bürgerstand sich erhebt. Erst dann, wenn der polnische Bauer Güter kaufen wird und der polnische Jude sich nicht mehr dem Edelmann zuvorkommend erzeigt, möchte sich bei diesem der Adelstolz regen, der also das Emporkommen des Landes beweisen würde. Weil hier die Juden höher als die Bauern gestellt sind, müssen sie zuerst mit diesem Adelstolze kollidieren; aber die Sache wird gewiß alsdann einen religiöseren Namen annehmen.

Dieses hier nur flüchtig angedeutete Wesen des polnischen Adels hat, wie man sich denken kann, am meisten beigetragen zu der höchst wunderlichen Gestaltung von Polens politischer Geschichte, und die Einflüsse dieser letztern auf die Erziehung der Polen, und also auf ihren Nationalcharakter, waren fast noch wichtiger als die obenerwähnten Einflüsse des Bodens. Durch die Idee der Gleichheit entwickelte sich bei den polnischen Edelleuten jener Nationalstolz, der uns oft so sehr überrascht durch seine Herrlichkeit, der uns oft auch so sehr ärgert durch seine Geringschätzung des Deutschen und der so sehr kontrastiert mit eingeknuteter Bescheidenheit. Durch eben jene Gleichheit entwickelte sich der bekannte großartige Ehrgeiz, der den Geringsten wie den Höchsten beseelte und der oft nach dem Gipfel der Macht strebte: da Polen meistens ein Wahlreich war. Herrschen hieß die süße Frucht, nach der es jedem Polen gelüstete. Nicht durch Geisteswaffen wollte der Pole sie erbeuten, diese führen nur langsam zum Ziele; ein kühner Schwerthieb sollte die süße Frucht zum raschen Genuß herunterhauen. Daher aber bei den Polen die Vorliebe für den Militärstand, wozu ihr heftiger und streitlustiger Charakter sie hinzog; [568] daher bei den Polen gute Soldaten und Generale, aber gar wenige seidene Staatsmänner, noch viel weniger zu Ansehen gestiegene Gelehrte. Die Vaterlandsliebe ist bei den Polen das große Gefühl, worin alle anderen Gefühle wie der Strom in das Weltmeer zusammenfließen; und dennoch trägt dieses Vaterland kein sonderlich reizendes Äußere. Ein Franzose, der diese Liebe nicht begreifen konnte, betrachtete eine trübselige polnische Sumpfgegend, stampfte ein Stück aus dem Boden und sprach pfiffig und kopfschüttelnd: »Und das nennen die Kerls ein Vaterland!« Aber nicht aus dem Boden selbst, nur aus dem Kampfe um Selbständigkeit, aus historischen Erinnerungen und aus dem Unglück ist bei den Polen diese Vaterlandsliebe entsprossen. Sie flammt jetzt noch immer so glühend wie in den Tagen Kosciuszkos, vielleicht noch glühender. Fast bis zur Lächerlichkeit ehren jetzt die Polen alles, was vaterländisch ist. Wie ein Sterbender, der sich in krampfhafter Angst gegen den Tod sträubt, so empört und sträubt sich ihr Gemüt gegen die Idee der Vernichtung ihrer Nationalität. Dieses Todeszucken des polnischen Volkskörpers ist ein entsetzlicher Anblick! Aber alle Völker Europas und der ganzen Erde werden diesen Todeskampf überstehen müssen, damit aus dem Tode das Leben, aus der heidnischen Nationalität die christliche Fraternität hervorgehe. Ich meine hier nicht alles Aufgeben schöner Besonderheiten, worin sich die Liebe am liebsten abspiegelt, sondern jene von uns Deutschen am meisten erstrebte und von unsern edelsten Volkssprechern, Lessing, Herder, Schiller usw., am schönsten ausgesprochene allgemeine Menschenverbrüderung, das Urchristentum. Von diesem sind die polnischen Edelleute, ebensogut wie wir, noch sehr entfernt. Ein großer Teil lebt noch in den Formen des Katholizismus, ohne leider den großen Geist dieser Formen und ihren jetzigen Übergang zum Weltgeschichtlichen zu ahnen; ein größerer Teil bekennt sich zur französischen Philosophie. Ich will hier diese gewiß nicht verunglimpfen: es gibt Stunden, wo ich sie verehre, und sehr verehre; ich selbst bin gewissermaßen ein Kind derselben. Aber ich glaube doch, es fehlt ihr die Hauptsache – die Liebe. Wo [569] dieser Stern nicht leuchtet, da ist es Nacht, und wenn auch alle Lichter der Enzyklopädie ihr Brillantfeuer umhersprühen. – Wenn Vaterland das erste Wort des Polen ist, so ist Freiheit das zweite. Ein schönes Wort! Nächst der Liebe gewiß das schönste. Aber es ist auch nächst der Liebe das Wort, das am meisten mißverstanden wird und ganz entgegengesetzten Dingen zur Bezeichnung dienen muß. Hier ist das der Fall. Die Freiheit der meisten Polen ist nicht die göttliche, die Washingtonsche; nur ein geringer Teil, nur Männer wie Koscinszko haben letztere begriffen und zu verbreiten gesucht. Viele zwar sprechen enthusiastisch von dieser Freiheit, aber sie machen keine Anstalt, ihre Bauern zu emanzipieren. Das Wort Freiheit, das so schön und volltönend in der polnischen Geschichte durchklingt, war nur der Wahlspruch des Adels, der dem Könige soviel Rechte als möglich abzuzwängen suchte, um seine eigne Macht zu vergrößern und auf solche Weise die Anarchie hervorzurufen. C'était tout comme chez nous, wo ebenfalls deutsche Freiheit einst nichts anders hieß, als den Kaiser zum Bettler machen, damit der Adel desto reichlicher schlemmen und desto willkürlicher herrschen konnte; und ein Reich mußte untergehen, dessen Vogt auf seinem Stuhle festgebunden war und endlich nur ein Holzschwert in der Hand trug. In der Tat, die polnische Geschichte ist die Miniaturgeschichte Deutschlands; nur daß in Polen die Großen sich vom Reichsoberhaupte nicht so ganz losgerissen und selbständig gemacht hatten wie bei uns und daß durch die deutsche Bedächtigkeit doch immer einige Ordnung in die Anarchie hineingelangsamt wurde. Hätte Luther, der Mann Gottes und Katharinas, vor einem Krakauer Reichstage gestanden, so hätte man ihn sicher nicht so ruhig wie in Augsburg aussprechen lassen. Jener Grundsatz von der stürmischen Freiheit, die besser sein mag als ruhige Knechtschaft, hat dennoch, trotz seiner Herrlichkeit, die Polen ins Verderben gestürzt. Aber es ist auch erstaunlich, wenn man sieht, welche Macht schon das bloße Wort Freiheit auf ihre Gemüter ausübt; sie glühen und flammen, wenn sie hören, daß irgend für die Freiheit gestritten wird; ihre Augen schauen leuchtend [570] nach Griechenland und Südamerika. In Polen selbst aber wird, wie ich oben schon gesagt, unter Niederdrückung der Freiheit bloß die Beschränkung der Adelsrechte verstanden oder gar die allmähliche Ausgleichung der Stände. Wir wissen das besser; die Freiheiten müssen untergehen, wo die allgemeine gesetzliche Freiheit gedeihen soll.

Jetzt aber knien Sie nieder, oder wenigstens ziehen Sie den Hut ab – ich spreche von Polens Weibern. Mein Geist schweift an den Ufern des Ganges und sucht die zartesten und lieblichsten Blumen, um sie damit zu vergleichen. Aber was sind gegen diese Holden alle Reize der Mallika, der Kuwalaja, der Oschadhi, der Nagakesarblüten, der heiligen Lotosblumen, und wie sie alle heißen mögen – Kamalata, Pedma, Kamala, Tamala, Sirischa usw.!! Hätte ich den Pinsel Raffaels, die Melodien Mozarts und die Sprache Calderons, so gelänge es mir vielleicht, Ihnen ein Gefühl in die Brust zu zaubern, das Sie empfinden würden, wenn eine wahre Polin, eine Weichselaphrodite, vor Ihren hochbegnadigten Augen leibhaftig erschiene. Aber was sind Raffaelsche Farbenkleckse gegen diese Altarbilder der Schönheit, die der lebendige Gott in seinen heitersten Stunden fröhlich hingezeichnet! Was sind Mozartsche Klimpereien gegen die Worte, die gefüllten Bonbons für die Seele, die aus den Rosenlippen dieser Süßen hervorquellen! Was sind alle Calderonischen Sterne der Erde und Blumen des Himmels gegen diese Holden, die ich ebenfalls, auf gut calderonisch, Engel der Erde benamse, weil ich die Engel selbst Polinnen des Himmels nenne! Ja, mein Lieber, wer in ihre Gazellenaugen blickt, glaubt an den Himmel, und wenn er der eifrigste Anhänger des Baron Holbach war; – – – – – – – – – – – – – – – Wenn ich über den Charakter der Polinnen sprechen soll, so bemerke ich bloß: sie sind Weiber. Wer will sich anheischig machen, den Charakter dieser letztern zu zeichnen!

Ein sehr werter Weltweiser, der zehn Oktavbände »weibliche Charaktere« geschrieben, hat endlich seine eigne Frau in militärischen Umarmungen gefunden. Ich will hier nicht sagen, [571] die Weiber hätten gar keinen Charakter. Beileibe nicht! Sie haben vielmehr jeden Tag einen andern. Diesen immerwährenden Wechsel des Charakters will ich ebenfalls durchaus nicht tadeln. Es ist sogar ein Vorzug. Ein Charakter entsteht durch ein System stereotyper Grundsätze. Sind letztere irrig, so wird das ganze Leben desjenigen Menschen, der sie systematisch in seinem Geiste aufgestellt, nur ein großer, langer Irrtum sein. Wir loben das und nennen es »Charakter haben«, wenn ein Mensch nach festen Grundsätzen handelt, und bedenken nicht, daß in einem solchen Menschen die Willensfreiheit untergegangen, daß sein Geist nicht fortschreitet und daß er selbst ein blinder Knecht seiner verjährten Gedanken ist. Wir nennen das auch Konsequenz, wenn jemand dabei bleibt, was er ein für allemal in sich aufgestellt und ausgesprochen hat, und wir sind oft tolerant genug, Narren zu bewundern und Bösewichter zu entschuldigen, wenn sich nur von ihnen sagen läßt, daß sie konsequent gehandelt. Diese moralische Selbstunterjochung findet sich aber fast nur bei Männern; im Geiste der Frauen bleibt immer lebendig und in lebendiger Bewegung das Element der Freiheit. Jeden Tag wechseln sie ihre Weltansichten, meistens ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie stehen des Morgens auf wie unbefangene Kinder, bauen des Mittags ein Gedankensystem, das wie ein Kartenhaus des Abends wieder zusammenfällt. Haben sie heute schlechte Grundsätze, so wette ich darauf, haben sie morgen die allerbesten. Sie wechseln ihre Meinungen so oft wie ihre Kleider. Wenn in ihrem Geiste just kein herrschender Gedanke steht, so zeigt sich das Allererfreulichste, das Interregnum des Gemüts. Und dieses ist bei den Frauen am reinsten und am stärksten und führt sie sicherer als die Verstandesabstraktionslaternen, die uns Männer so oft irreleiten. Glauben Sie nicht etwa, ich wollte hier den Advocatus Diaboli spielen und die Weiber noch obendrein preisen wegen jenes Charaktermangels, den unsere Gelbschnäbel und Grauschnäbel – die einen durch Amor, die andern durch Hymen malträtiert – mit so vielen Stoßseufzern beklagen. Auch müssen Sie bemerken, daß, bei diesem allgemeinen Ausspruch [572] über die Weiber, die Polinnen hauptsächlich gemeint sind und die deutschen Frauen so halb und halb ausgenommen werden. Das ganze deutsche Volk hat, durch seinen angeborenen Tiefsinn, ganz besondere Anlage zu einem festen Charakter, und auch den Frauen hat sich ein Anflug davon mitgeteilt, der durch die Zeit sich immer mehr und mehr verdichtet, so daß man bei ältlichen deutschen Damen, sogar bei Frauen aus dem Mittelalter, d.h. bei Vierzigerinnen, eine ziemlich dicke, schuppige Charakterhornhaut vorfindet. Unendlich verschieden sind die Polinnen von den deutschen Frauen. Das slawische Wesen überhaupt und die polnische Sitte insbesondere mag dieses hervorgebracht haben. In Hinsicht der Liebenswürdigkeit will ich die Polin nicht über die Deutsche erheben: sie sind nicht zu vergleichen. Wer will eine Venus von Tizian über eine Maria von Correggio setzen? In einem sonnenhellen Blumentale würde ich mir eine Polin zur Begleiterin wählen; in einem mondbeleuchteten Lindengarten wählte ich eine Deutsche. Zu einer Reise durch Spanien, Frankreich und Italien wünschte ich eine Polin zur Begleiterin; zu einer Reise durch das Leben wünschte ich eine Deutsche. Muster von Häuslichkeit, Kindererziehung, frommer Demut und allen jenen stillen Tugenden der deutschen Frauen wird man wenige unter den Polinnen finden. Jene Haustugenden finden sich aber auch bei uns meistens nur im Bürgerstande und einem Teile des Adels, der sich in Sitten und Ansprüchen dem Bürgerstande angeschlossen. Bei dem übrigen Teile des deutschen Adels werden oft jene Haustugenden in höherem Grade und auf eine weit empfindlichere Weise vermißt als bei den Frauen des polnischen Adels. Ja, bei diesen ist es doch nie der Fall, daß auf diesen Mangel sogar ein Wert gelegt wird, daß man sich etwas darauf einbildet; wie von so manchen deutschen adligen Damen geschieht, die nicht Geld- oder Geisteskraft genug besitzen, um sich über den Bürgerstand zu erheben, und die sich wenigstens durch Verachtung bürgerlicher Tugenden und Beibehaltung nichtskostender altadliger Gebrechen auszuzeichnen suchen. Auch die Frauen der Polen sind nicht ahnenstolz, und es fällt keinem polnischen [573] Fräulein ein, sich etwas darauf einzubilden, daß vor einigen hundert Jahren ihr wegelagernder Ahnherr, der Raubritter, der verdienten Strafe – entgangen ist. – Das religiöse Gefühl ist bei den deutschen Frauen tiefer als bei den Polinnen. Diese leben mehr nach außen als nach innen; sie sind heitere Kinder, die sich vor Heiligenbildern bekreuzen, durch das Leben wie durch einen schönen Redoutensaal gaukeln und lachen und tanzen und liebenswürdig sind. Ich möchte wahrlich nicht Leichtfertigkeit und nicht einmal Leichtsinn nennen jenen leichten Sinn der Polinnen, der so sehr begünstigt wird durch die leichten polnischen Sitten überhaupt, durch den leichten französischen Ton, der sich mit diesen vermischt, durch die leichte französische Sprache, die in Polen mit Vorliebe, und fast wie eine Muttersprache, gesprochen wird, und durch die leichte französische Literatur, deren Dessert, die Romane, von den Polinnen verschlungen werden; und was die Sittenreinheit betrifft, so bin ich überzeugt, daß die Polinnen hierin den deutschen Frauen nicht nachzustehen brauchen. Die Ausschweifungen einiger polnischen Magnatenweiber haben, wegen ihrer Großartigkeit, zu verschiedenen Zeiten viele Augen auf sich gezogen, und unser Pöbel, wie ich schon oben bemerkt, beurteilt eine ganze Nation nach den paar schmutzigen Exemplaren, die ihm davon zu Gesicht gekommen. Außerdem muß man bedenken, daß die Polinnen schön sind und daß schöne Frauen, aus bekannten Gründen, dem bösen Leumund am meisten ausgesetzt sind und demselben nie entgehen, wenn sie, wie die Polinnen, freudig dahinleben in leichter, anmutiger Unbefangenheit. Glauben Sie mir, man ist in Warschau um nichts weniger tugendhaft wie in Berlin, nur daß die Wogen der Weichsel etwas wilder brausen als die stillen Wasser der seichten Spree.

2

Von den Weibern gehe ich über zu dem politischen Gemütszustande der Polen und muß bekennen, daß ich bei diesem exaltierten Volke es immerwährend bemerkte, wie schmerzlich [574] es die Brust des polnischen Edelmanns bewegt, wenn er die Begebenheiten der letzten Zeit überschaut. Auch die Brust des Nichtpolen wird von Mitgefühl durchdrungen, wenn man sich die politischen Leiden aufzählt, die in einer kleinen Zahl von Jahren die Polen betroffen. Viele unserer Journalisten schaffen sich dieses Gefühl gemächlich vom Halse, indem sie leichthin aussprechen: »Die Polen haben sich durch ihre Uneinigkeit ihr Schicksal selbst zugezogen und sind also nicht zu bedauern.« Das ist eine törichte Beschwichtigung. Kein Volk, als ein Ganzes gedacht, verschuldet etwas; sein Treiben entspringt aus einer inneren Notwendigkeit, und seine Schicksale sind stets Resultate derselben. Dem Forscher offenbart sich der erhabenere Gedanke, daß die Geschichte (Natur, Gott, Vorsehung usw.), wie mit einzelnen Menschen, auch mit ganzen Völkern eigene große Zwecke beabsichtigt und daß manche Völker leiden müssen, damit das Ganze erhalten werde und blühender fortschreite. Die Polen, ein slawisches Grenzvolk an der Pforte der germanischen Welt, scheinen durch ihre Lage schon ganz besonders dazu bestimmt, gewisse Zwecke in den Weltbegebenheiten zu erfüllen. Ihr moralischer Kampf gegen den Untergang ihrer Nationalität rief stets Erscheinungen hervor, die dem ganzen Volke einen andern Charakter aufdrücken und auch auf den Charakter der Nachbarvölker einwirken müssen. – Der Charakter der Polen war bisher militärisch, wie ich oben schon bemerkte; jeder polnische Edelmann war Soldat und Polen eine große Kriegsschule. Jetzt aber ist dies nicht mehr der Fall, es suchen sehr wenige Militärdienste. Die Jugend Polens verlangt jedoch Beschäftigung, und da haben die meisten ein anderes Feld erwählt als den Kriegsdienst, nämlich – die Wissenschaften. Überall zeigen sich die Spuren dieser neuen Geistesrichtung; durch die Zeit und das Lokal vielfach begünstigt, wird sie in einigen Dezennien, wie schon angedeutet ist, dem ganzen Volkscharakter eine neue Gestalt verleihen. Noch unlängst haben Sie in Berlin jenen freudigen Zusammenfluß junger Polen gesehen, die mit edler Wißbegier und musterhaftem Fleiße in alle Teile der Wissenschaften eindrangen, besonders [575] die Philosophie an der Quelle, im Hörsaale Hegels, schöpften und jetzt leider, veranlaßt durch einige unselige Ereignisse, sich von Berlin entfernten. Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß die Polen ihre blinde Vorliebe für die französische Literatur allmählich ablegen, die lange übersehene tiefere deutsche Literatur würdigen lernen und, wie oben erwähnt ist, just dem tiefsinnigsten deutschen Philosophen Geschmack abgewinnen konnten. Letzteres zeigt, daß sie den Geist unserer Zeit begriffen haben, deren Stempel und Tendenz die Wissenschaft ist. Viele Polen lernen jetzt Deutsch, und eine Menge guter deutscher Bücher wird ins Polnische übersetzt. Der Patriotismus hat ebenfalls teil an diesen Erscheinungen. Die Polen fürchten den gänzlichen Untergang ihrer Nationalität; sie merken jetzt, wieviel zur Erhaltung derselben durch eine Nationalliteratur bewirkt wird, und (wie drollig es auch klingt, so ist es doch wahr, was mir viele Polen ernsthaft sagten) in Warschau wird an einer – polnischen Literatur gearbeitet. Es ist nun freilich ein großes Mißverständnis, wenn man glaubt, eine Literatur, die ein aus dem ganzen Volke organisch Hervorgegangenes sein muß, könne im literarischen Treibhause der Hauptstadt von einer Gelehrtengesellschaft zusammengeschrieben werden; aber durch diesen guten Willen ist doch schon ein Anfang gemacht, und Herrliches muß in einer Literatur hervorblühen, wenn sie als eine Vaterlandssache betrachtet wird. Dieser patriotische Sinn muß freilich auf eigene Irrtümer führen, meistens in der Poesie und in der Geschichte. Die Poesie wird das Erhebungskolorit tragen, hoffentlich aber den französischen Zuschnitt verlieren und sich dem Geiste der deutschen Romantik nähern. – Ein geliebter polnischer Freund sagte mir, um mich besonders zu necken: »Wir haben ebensogut romantische Dichter als ihr, aber sie sitzen bei uns noch – im Tollhause!« – In der Geschichte kann der politische Schmerz die Polen nicht immer zur Unparteilichkeit führen, und die Geschichte Polens wird sich zu einseitig und zu unverhältnismäßig aus der Universalgeschichte hervorheben; aber desto mehr wird man auch für Erhaltung alles desjenigen Sorge tragen, was [576] für die polnische Geschichte wichtig ist, und dieses um so ängstlicher, da man, wegen der heillosen Weise, wie man mit den Büchern der Warschauer Bibliothek im letzten Kriege verfahren, in Sorge ist, alle polnischen Nationaldenkmale und Urkunden möchten untergehen; deshalb, scheint es, hat kürzlich ein Zamoyski eine Bibliothek für die polnische Geschichte im fernen – Edinburgh gegründet. Ich mache Sie aufmerksam auf die vielen neuen Werke, welche nächstens die Pressen Warschaus verlassen, und was die schon vorhandene polnische Literatur betrifft, so verweise ich Sie deshalb auf das sehr geistreiche Werk von Kaulfuß. – Ich hege die größten Erwartungen von dieser geistigen Umwälzung Polens, und das ganze Volk kommt mir vor wie ein alter Soldat, der sein erprobtes Schwert mit dem Lorbeer an den Nagel hängt, zu den milderen Künsten des Friedens sich wendet, den Geschichten der Vergangenheit nachsinnt, die Kräfte der Natur erforscht und die Sterne mißt oder gar die Kürze und Länge der Silben, wie wir es bei Carnot sehen. Der Pole wird die Feder ebensogut führen wie die Lanze und wird sich ebenso tapfer zeigen auf dem Gebiete des Wissens als auf den bekannten Schlachtfeldern. Eben weil die Geister so lange brachlagen, wird die Saat in ihnen desto mannigfaltigere und üppigere Früchte tragen. Bei vielen Völkern Europas ist der Geist, eben durch seine vielen Reibungen, schon ziemlich abgestumpft, und durch den Triumph seines Bestrebens, durch sein Sichselbsterkennen, hat er sich sogar hie und da selbst zerstören müssen. Außerdem werden die Polen von den vielhundertjährigen Geistesanstrengungen des übrigen Europa die reinen Resultate in Empfang nehmen, und während diejenigen Völker, welche bisher an dem babylonischen Turmbau europäischer Kultur mühsam arbeiteten, erschöpft sind, werden unsere neuen Ankömmlinge, mit ihrer slawischen Behendigkeit und noch unerschlafften Rüstigkeit, das Werk weiterfördern. Hierzu kommt noch, daß die wenigsten dieser neuen Arbeiter für Tagelohn handlangern, wie der Fall ist bei uns in Deutschland, wo die Wissenschaften ein Gewerbe und zünftig sind und wo selbst die Muse eine[577] Milchkuh ist, die so lange für Honorar abgemelkt wird, bis sie reines Wasser gibt. Die Polen, welche sich jetzt auf Wissenschaften und Künste werfen, sind Edelleute und haben meistens Privatvermögen genug, um nicht zu ihrem Lebensunterhalt auf den Ertrag ihrer Kenntnisse und wissenschaftlichen Leistungen angewiesen zu sein. Unberechenbar ist dieser Vorzug. Herrliches zwar hat schon der Hunger hervorgebracht, aber noch viel Herrlicheres die Liebe. Auch das Lokal begünstigt die geistigen Fortschritte der Polen: nämlich ihre Erziehung auf dem Lande. Das polnische Landleben ist nicht so geräuschlos und einsamlich wie das unsrige, da die polnischen Edelleute sich auf zehn Stunden weit besuchen, oft wochenlang mit der sämtlichen Familie beisammen bleiben, mit wohleingepackten Betten nomadisch herumreisen; so daß es mir vorkam, als sei das ganze Großherzogtum Posen eine große Stadt, wo nur die Häuser etwas meilenweit voneinander entfernt stehen, und in mancher Hinsicht sogar eine kleine Stadt, weil die Polen sich alle kennen, jeder mit den Familienverhältnissen und Angelegenheiten des andern genau bekannt ist und diese gar oft, auf kleinstädtische Weise, Gegenstände der Unterhaltung werden. Dennoch ist dieses rauschende Treiben, welches dann und wann auf den polnischen Landgütern herrscht, der Erziehung der Jugend nicht so schädlich wie das Geräusch der Städte, das sich jeden Augenblick in seinen Tonarten verändert, den Geist der Jugend von der Naturanschauung abwendet, durch Mannigfaltigkeit zersplittert und durch Überreiz abstumpft. Ja, jene zuweilige Störung im ländlichen Stillleben ist der Jugend sogar heilsam, da sie wieder anregt und aufwühlt, wenn der Geist durch die immerwährende äußere Ruhe versumpfen oder, wie man es nennt, versauern möchte: eine Gefahr, die bei uns so oft vorhanden. Das frische, freie Landleben in der Jugend hat gewiß am meisten dazu beigetragen, den Polen jenen großen starken Charakter zu verleihen, den sie im Kriege und im Unglück zeigen. Sie bekommen dadurch einen gesunden Geist in einem gesunden Körper; dieses bedarf der Gelehrte ebensogut wie der Soldat. Die Geschichte [578] zeigt uns, wie die meisten Menschen, die etwas Großes getan, ihre Jugend im Stilleben verbrachten. – Ich habe in der letzten Zeit die Erziehung der Mönche im Mittelalter so sehr lobpreisen gehört; man rühmte die Methode in den Klosterschulen und nannte die daraus hervorgegangenen großen Männer, deren Geist sogar in unserer absonderlich geistreichen Zeit etwas gelten würde; aber man vergaß, daß es nicht die Mönche, sondern die mönchische Eingezogenheit, nicht die Klosterschulmethode, sondern die stille Klösterlichkeit selbst war, die jene Geister nährte und stärkte. Wenn man unsere Erziehungsinstitute mit einer Mauer umgäbe, so würde dieses mehr wirken als alle unsere pädagogischen Systeme, sowohl idealisch-humanistische als praktisch-Basedowsche. Geschähe dasselbe bei unsern Mädchenpensionen, die jetzt so hübsch frei dastehen zwischen dem Schauspielhause und dem Tanzhause, und der Wachtparade gegenüber, so verlören unsere Pensionärrinnen ihre kaleidoskopartige Phantasterei und neudramatische Wassersuppensentimentalität.

Von den Bewohnern der preußisch-polnischen Städte will ich Ihnen nicht viel schreiben; es ist ein Mischvolk von preußischen Beamten, ausgewanderten Deutschen, Wasserpolen, Polen, Juden, Militär usw. Die preußischen deutschen Beamten fühlen sich von den polnischen Edelleuten nicht eben zuvorkommend behandelt. Viele deutsche Beamten werden oft, ohne ihren Willen, nach Polen versetzt, suchen aber so bald als möglich wieder herauszukommen; andere sind von häuslichen Verhältnissen in Polen festgehalten. Unter ihnen finden sich auch solche, die sich darin gefallen, daß sie von Deutschland isoliert sind; die sich bestreben, das bißchen Wissenschaftlichkeit, das sich ein Beamter, zum Behuf des Examens, erworben haben mußte, so schnell als möglich wieder auszugähnen; die ihre Lebensphilosophie auf eine gute Mahlzeit basiert haben und die, bei ihrer Kanne schlechten Bieres, geifern gegen die polnischen Edelleute, die alle Tage Ungarwein trinken und keine Aktenstöße durchzuarbeiten brauchen. Von dem preußischen Militär, das in dieser Gegend liegt, brauche ich nicht viel zu [579] sagen; dieses ist, wie überall, brav, wacker, höflich, treuherzig und ehrlich. Es wird von dem Polen geachtet, weil dieser selbst soldatischen Sinn hat und der Brave alles Brave schätzt; aber von einem näheren Gefühle ist noch nicht die Rede.

Posen, die Hauptstadt des Großherzogtums, hat ein trübsinniges, unerfreuliches Ansehen. Das einzige Anziehende ist, daß sie eine große Menge katholischer Kirchen hat. Aber keine einzige ist schön. Vergebens wallfahrte ich alle Morgen von einer Kirche zur andern, um schöne alte Bilder aufzusuchen. Die alten Gemälde finde ich hier nicht schön, und die einigermaßen schönen sind nicht alt. Die Polen haben die fatale Gewohnheit, ihre Kirchen zu renovieren. Im uralten Dom zu Gnesen, der ehemaligen Hauptstadt Polens, fand ich lauter neue Bilder und neue Verzierungen. Dort interessierte mich nur die figurenreiche, aus Eisen gegossene Kirchentür, die einst das Tor von Kiew war, welches der siegreiche Boguslaw erbeutete und worin noch sein Schwerthieb zu sehen ist. Der Kaiser Napoleon hat sich, als er in Gnesen war, ein Stückchen aus dieser Tür herausschneiden lassen, und diese hat, durch solche hohe Aufmerksamkeit, noch mehr an Wert gewonnen. In dem Gnesener Dom hörte ich auch, nach der ersten Messe, einen vierstimmigen Gesang, den der heilige Adalbert, der dort begraben liegt, selbst komponiert haben soll und der alle Sonntage gesungen wird. Der Dom hier in Posen ist neu, hat wenigstens ein neues Ansehen, und folglich gefiel er mir nicht. Neben demselben liegt der Palast des Erzbischofs, der auch zugleich Erzbischof von Gnesen und folglich zugleich römischer Kardinal ist und folglich rote Strümpfe trägt. Er ist ein sehr gebildeter, französisch-urbaner Mann, weißhaarig und klein. Der hohe Klerus in Polen gehört immer zu den vornehmsten adligen Familien; der niedere Klerus gehört zum Plebs, ist roh, unwissend und rauschliebend. – Ideenassoziation führt mich direkt auf das Theater. Ein schönes Gebäude haben die hiesigen Einwohner den Musen zur Wohnung angewiesen; aber die göttlichen Damen sind nicht eingezogen und schickten nach Posen bloß ihre Kammerjungfern, die sich mit der Garderobe [580] ihrer Herrschaft putzen und auf den geduldigen Brettern ihr Wesen treiben. Die eine spreizt sich wie eine Pfau, die andere flattert wie eine Schnepfe, die dritte kollert wie ein Truthahn, und die vierte hüpft auf einem Beine wie ein Storch. Das entzückte Publikum aber sperrt ellenweit den Mund auf, der Epaulettmensch ruft: »Auf Ehre, Melpomene! Thalia! Polyhymnia! Terpsichore!« – Auch einen Theaterrezensenten gibt es hier. Als wenn die unglückliche Stadt nicht genug hätte an dem bloßen Theater! Die trefflichen Rezensionen dieses trefflichen Rezensenten stehen bis jetzt nur in der Posener Stadtzeitung, werden aber bald als eine Fortsetzung der Lessingschen »Dramaturgie« gesammelt erscheinen!! Doch mag sein, daß mir dieses Provinzialtheater so schlecht erscheint, weil ich just von Berlin komme und noch zuletzt die Schröck und die Stich sah. Nein, ich will nicht das ganze Posensche Theater verdammen; ich bekenne sogar, daß es ein ganz ausgezeichnetes Talent, zwei gute Subjekte und einige nicht ganz schlechte besitzt. Das ausgezeichnete Talent, wovon ich hier spreche, ist Demois. Paien. Ihre gewöhnliche Rolle ist die erste Liebhaberin. Da ist nicht das weinerliche Lamento und das zierliche Geträtsche jener Gefühlvollen, die sich für die Bühne berufen glauben, weil sie vielleicht im Leben die sentimentale oder kokette Rolle mit einigem Sukzeß gespielt, und die man von den Brettern fortpfeifen möchte, eben weil man sie im einsamen Klosett herzlich applaudieren würde. Demois. Paien spielt mit gleichem Glücke auch die heterogensten Rollen, eine Elisabeth so gut wie eine Maria. Am besten gefiel sie mir jedoch im Lustspiel, in Konversationsstücken, und da besonders in jovialen, neckenden Rollen. Sie ergötzte mich königlich als Pauline in » Sorgen ohne Not und Not ohne Sorge«. Bei Demois. Paien fand ich ein freies Spielen von innen heraus, eine wohltuende Sicherheit, eine fortreißende Kühnheit, ja fast Verwegenheit des Spiels, wie wir es nur bei einem echten, großen Talente gewahren. Ich sah sie ebenfalls mit Entzücken in einigen Männerrollen, z.B. in der »Liebeserklärung« und in Wolffs »Cäsario«; nur hätte ich hier eine etwas eckige Bewegung [581] der Arme zu rügen, welchen Fehler ich aber auf Rechnung der Männer setze, die ihr zum Muster dienen. Demois. Paien ist zu gleicher Zeit Sängerin und Tänzerin, hat ein günstiges Äußere, und es wäre schade, wenn dieses kunstbegabte Mädchen in den Sümpfen herumziehender Truppen untergehen müßte.

Ein brauchbares Subjekt der Posener Bühne ist Herr Carlsen, er verdirbt keine Rolle; auch muß man Madame Paien eine gute Schauspielerin nennen. Sie glänzt in den Rollen lächerlicher Alten. Als Geliebte Schieberles gefiel sie mir besonders. Sie spielt ebenfalls keck und frei und hat nicht den gewöhnlichen Fehler derjenigen Schauspielerinnen, die zwar mit vieler Kunst solche Alteweiberrollen darstellen, uns aber doch gern merken lassen möchten, daß in der alten Schachtel noch immer eine aimable Frau stecke. Herr Oldenburg, ein schöner Mann, ist als Liebhaber im Lustspiel unerquicklich und ein Muster von Steifheit und Unbeholfenheit; als Heldliebhaber im Trauerspiel ist er ziemlich erträglich. Es ist nicht zu verkennen, daß er Anlage zum Tragischen hat; aber seinen langen Armen, die bei den Knien perpendikelartig hin- und herfliegen, muß ich alles Schauspielertalent durchaus absprechen. Als Richard in »Rosamunde« gefiel er mir aber, und ich übersah manchmal den falschen Pathos, weil solcher im Stücke selbst liegt. In diesem Trauerspiel gefiel mir sogar Herr Munsch, als König, am Ende des zweiten Akts in der unübertrefflichen Knalleffektszene. Herr Munsch pflegt gewöhnlich, wenn er in Leidenschaft gerät, einem Gebell ähnliche Töne auszustoßen. Demois. Franz, ebenfalls erste Liebhaberin, spielt schlecht aus Bescheidenheit; sie hat etwas Sprechendes im Gesicht, nämlich einen Mund. Madame Fabrizius ist ein niedliches Figürchen und gewiß enchantierend außer dem Theater. Ihr Mann, Herr Fabrizius, hat in dem Lustspiel »Des Herzogs Befehl« den großen Fritz so meisterhaft parodiert, daß sich die Polizei hätte dreinmischen sollen. Madame Carlsen ist die Frau von Herrn Carlsen. Aber Herr Vogt ist der Komiker: er sagt es ja selbst, denn er macht den Komödienzettel. Er ist der Liebling der Galerie, hat [582] den Grundsatz, daß man eine Rolle wie die andere spielen müsse, und ich sah mit Bewunderung, daß er demselben getreu blieb als Fels von Felsenburg, als dummer Baron im »Alpenröschen«, als Spießbürgeranführer im »Vogelschießen« usw. Es war immer ein und derselbe Herr Ernst Vogt mit seiner Fistelkomik. Einen andern Komiker hat Posen kürzlich gewonnen in Herrn Ackermann, von welchem ich den Staberle und die »Falsche Catalani« mit vielem Vergnügen gesehen. Madame Leutner ist die Direktrice der Posener Bühne und findet nichts weniger als ihre Rechnung dabei. Vor ihr spielte hier die Köhlersche Truppe, die jetzt in Gnesen ist, und zwar im allerdesolatesten Zustande. Der Anblick dieser armen Waisenkinder der deutschen Kunst, die, ohne Brot und ohne aufmunternde Liebe, in dem fremden kalten Polen herumirren, erfüllte meine Seele mit Wehmut. Ich habe sie bei Gnesen, auf einem freien, mit hohen Eichen romantisch umzäunten Platze, genannt der Waldkrug, spielen sehen; sie führten ein Schauspiel auf, betitelt »Bianka von Toredo oder die Bestürmung von Castelnero«, ein großes Ritterschauspiel in fünf Aufzügen von Winkler; es wurde viel darin geschossen und gefochten und geritten, und innig rührten mich die armen, geängstigten Prinzessinnen, deren wirkliche Betrübnis merklich schimmerte durch ihre betrübte Deklamation, deren häusliche Dürftigkeit sichtbar hervorguckte aus ihrem fürstlichen Goldflitterstaate und auf deren Wangen das Elend nicht ganz von der Schminke bedeckt war. – Vor kurzem spielte hier auch eine polnische Gesellschaft aus Krakau. Für zweihundert Taler Abstandsgeld überließ ihr Madame Leutner die Benutzung des Schauspielhauses auf vierzehn Darstellungen. Die Polen gaben meistens Opern. An Parallelen zwischen ihnen und der deutschen Truppe konnte es nicht fehlen. Die Posener von deutscher Zunge gestanden zwar, daß die polnischen Schauspieler schöner spielten als die deutschen und schöner sangen und eine schönere Garderobe führten usw.; aber sie bemerkten doch, die Polen hätten keinen Anstand. Und das ist wahr; es fehlte ihnen jene traditionelle Theateretikette und pompöse, preziöse und graziöse Gravität deutscher Komödianten. Die [583] Polen spielen im Lustspiel, im bürgerlichen Schauspiel und in der Oper nach leichten, französischen Mustern; aber doch mit der original-polnischen Unbefangenheit. Ich habe leider keine Tragödie von ihnen gesehen. Ich glaube, ihre Hauptforce ist das Sentimentale. Dieses bemerkte ich in einer Vorstellung des »Taschenbuchs« von Kotzebue, das man hier gab unter dem Titel »Jan Grudczynski, Starost von Rawa«, Schauspiel in drei Akten, nach dem Deutschen von L. A. Dmuszewski. Ich wurde ergriffen von dem hinreißend schmelzenden Klagenerguß der Madame Szymkaylowa, welche die Jadwiga, Tochter des in Anklagezustand gesetzten Starosts, spielte. Die Sprache des Herrn Wlodek, Liebhaber Jadwigas, trug dasselbe sentimentale Kolorit. An die Stelle der tabakschnupfenden Alten war ein schnupfender Haushofmeister, Tadeusz Telempski, substituiert, den Herr Zebrowski ziemlich unbedeutend gab. Eine unvergleichliche Anmut zeigten die polnischen Sängerinnen, und das sonst so rohe Polnische klang mir wie Italienisch, als ich es singen hörte. Madame Skibinska beseligte meine Seele als Prinzessin von Navarra, als Zetulba im »Kalifen von Bagdad« und als Aline. Eine solche Aline habe ich noch nie gehört. In der Szene, da sie ihren Geliebten in den Schlaf singt und die bedrängenden Botschaften erhält, zeigte sie auch ein Spiel, wie es selten bei einer Sängerin gefunden wird. Sie und ihr heiteres Golconda werden mir noch lange vor den Augen schweben und in den Ohren klingen. Madame Zawadzka ist eine liebliche Lorezza, ein freundlich schönes Mädchenbild. Auch Madame Wlodkowa singt trefflich. Herr Zawadzki singt den Olivier ganz vorzüglich, spielt ihn aber schlecht. Herr Romanowski gibt einen guten Johann. Herr Szymkaylo ist ein gar köstlicher Buffo. Aber die Polen haben keinen Anstand! Viel mag der Reiz der Neuheit dazu beigetragen haben, daß mich die polnischen Schauspieler so sehr ergötzt. Bei jeder Vorstellung, die sie gaben, war das Haus gedrängt voll. Alle Polen, die in Posen sind, besuchten aus Patriotismus das Theater. Die meisten polnischen Edelleute, deren Güter nicht gar zu weit von hier entfernt liegen, reisten nach Posen, um polnisch spielen zu sehen. [584] Der erste Rang war gewöhnlich garniert von polnischen Schönen, die, Blume an Blume gedrängt, heiter beisammensaßen und vom Parterre aus den herrlichsten Anblick gewährten.

Von Antiquitäten der Stadt Posen und des Großherzogtums überhaupt will ich Ihnen nichts schreiben, da sich jetzt ein weit erfahrenerer Altertumsforscher, als ich bin, damit beschäftigt und gewiß bald dem Publikum viel Interessantes darüber mitteilen wird. Dieser ist der hiesige Professor Maximilian Schottky, der sechs Jahre, im Auftrag unserer Regierung, in Wien zubrachte, um dort deutsche Geschichts- und Sprachurkunden zu sammeln. Angetrieben von einem jugendlichen Enthusiasmus für diese Gegenstände und dabei unterstützt von den gründlichsten gelehrten Kenntnissen, hat Professor Schottky eine literarische Ausbeute mitgebracht, die der deutsche Altertumsforscher als unschätzbar betrachten kann. Mit einem beispiellosen Fleiße und einer rastlosen Tätigkeit muß derselbe in Wien gearbeitet haben, da er nicht weniger als sechsunddreißig dicke, und zwar sehr dicke, und fast sämtlich schön geschriebene Quartbände Manuskript von dort mitgebracht hat. Außer ganzen Abschriften altdeutscher Gedichte, die gut gewählt und für die Berliner und Breslauer Bibliothek bestimmt sind, enthalten diese Bände auch viele zur Herausgabe schon fertige, große, meistens historische Gedichte und Dichterblüten des dreizehnten Jahrhunderts, alle durch Sach- und Spracherklärungen und Handschriftenvergleichungen gründlich bearbeitet; hiernächst enthalten diese Bände prosaische Auflösungen von einigen Gedichten, die größtenteils dem Sagenkreise des König Artus angehören und auch die größere Lesewelt ansprechen können; ferner viele mit Scharfsinn und Umsicht entworfene Zusammenstellungen aus gedruckten und ungedruckten Denkmalen, deren Überschriften den meisten und wichtigsten Lebensverhältnissen im ganzen Mittelalter zur Bezeichnung dienen; dann enthalten diese Bände rein geschichtliche Urkunden, worunter eine in den Hauptteilen vollständige Abschrift der Gedenkbücher des Kaisers Maximilian I. von 1494 bis 1508, drei starke Quartbände füllend, und eine Sammlung alter Urkunden, [585] aus späterer Zeit, am wichtigsten sind, weil erstere das Leben des großen Kaisers und den Geist seiner Zeit so treu beleuchten und letztere, die mit der alten Orthographie genau abgeschrieben sind, über viele Familienverhältnisse des östreichischen Hauses Licht verbreiten und nicht jedem zugänglich sind, dem nicht, wie dem Professor Schottky, aus besonderer Gunst die Archive geöffnet werden. Endlich enthalten diese Bände über anderthalbtausend Lieder, aus alten verschollenen Sammlungen, aus seltenen fliegenden Blättern und aus dem Munde des Volkes niedergeschrieben: Materialien zur Geschichte der östreichischen Dichtkunst, dahin einschlagende Lieder und größere Gedichte, Auszüge seltener Werke, interessante mündliche Sagen, Volkssprüche, durchgezeichnete Schriftzüge der östreichischen Fürsten, eine Menge Hexenprozesse in Originalakten, Nachrichten über Kinderleben, Sitten, Feste und Gebräuche in Österreich und eine Menge anderer sehr wichtiger und manchmal wunderlicher Notizen. Zwar von tiefer Kenntnis des Mittelalters und inniger Vertrautheit mit dem Geiste desselben zeugen die obenerwähnten sinnreichen Zusammenstellungen unter verschiedene Rubriken; aber dieses Verfahren entstammt doch eigentlich den Fehlgriffen der Breslauer Schule, welcher Professor Schottky angehört. Nach meiner Ansicht geht die Erkenntnis des ganzen geistigen Lebens im Mittelalter verloren, wenn man seine einzelnen Momente in ein bestimmtes Fachwerk einregistriert; – wie sehr schön und bequem es auch für das größere Publikum sein mag, wenn man, wie in Schottkys Zusammenstellungen meistens der Fall ist, z.B. unter der Rubrik Rittertum gleich alles beisammen findet, was auf Erziehung, Leben, Waffen, Festspiele und andere Angelegenheiten der Ritter Bezug hat; wenn man unter der Frauenrubrik alle möglichen Dichterfragmente und Notizen beisammen findet, die sich auf das Leben der Frauen im Mittelalter beziehen; wenn dieses ebenso der Fall ist bei Jagd, Liebe, Glaube usw. Über den Glauben im Mittelalter gibt Professor Schottky (bei Marx in Breslau) nächstens ein Werk heraus, betitelt »Gott, Christus und Maria«. In der »Zeitschrift für Vergangenheit [586] und Gegenwart«, welche Professor Schottky nächstes Jahr (bei Munck in Posen) herausgibt, werden wir von ihm gewiß viele der schätzbarsten Aufsätze über das Mittelalter und herrliche Resultate seiner Forschungen erhalten, obschon diese Zeitschrift auch einen großen Teil der allergegenwärtigsten Gegenwart umfassen und zunächst eine literarische Verbindung Ostdeutschlands mit Süd- und Westdeutschland bezwecken soll. Es ist dennoch sehr zu bedauern, daß dieser Gelehrte auf einem Platze lebt, wo ihm die Hülfsmittel fehlen zur Bearbeitung und Herausgabe seiner reichen Materialiensammlung. In Posen ist keine Bibliothek; wenigstens keine, die diesen Namen verdiente. Auf der Allee hier, die Berliner Linden in Miniatur, wird jetzt eine Bibliothek gebaut und, wenn sie fertig ist, mit Büchern allmählich versehen werden, und es wäre schlimm, wenn die Schottkyschen Sammlungen so lange unbearbeitet und dem größern Publikum unzugänglich bleiben müßten. Außerdem muß man im wirklichen Deutschlande leben, wenn man mit einer Arbeit beschäftigt ist, die ein gänzliches Versenken in deutschen Geist und deutsches Wesen notwendig erfordert. Den deutschen Altertumsforscher müssen deutsche Eichen umrauschen. Es ist zu befürchten, daß der heiße Enthusiasmus für das Deutsche sich in der sarmatischen Luft abkühle oder verflüchtige. Möge der wackere Schottky jene äußern Anregungen nie entbehren, ohne welche keine ungewöhnliche Arbeit gedeihen kann. Es betrifft diese eine unserer heiligsten und wichtigsten Angelegenheiten, unsere Geschichte. Das Interesse für dieselbe ist zwar jetzt nicht sonderlich rege im Volke. Es ist sogar der Fall, daß gegenwärtig das Studium altdeutscher Kunst- und Geschichtsdenkmale im allgemeinen übel akkreditiert ist; eben weil es vor mehreren Jahren als Mode getrieben wurde, weil der Schneiderpatriotismus sich damit breitmachte und weil unberufene Freunde ihm mehr geschadet als die bittersten Feinde. Möge bald die Zeit kommen, wo man auch dem Mittelalter sein Recht widerfahren läßt, wo kein alberner Apostel seichter Aufklärung ein Inventarium der Schattenpartien des großen Gemäldes verfertigt, um seiner [587] lieben Lichtzeit dadurch ein Kompliment zu machen; wo kein gelehrter Schulknabe Parallelen zieht zwischen dem Kölner Dom und dem Pantheon, zwischen dem »Nibelungenlied« und der »Odyssee«, wo man die Mittelalterherrlichkeiten aus ihrem organischen Zusammenhange erkennt und nur mit sich selbst vergleicht und das »Nibelungenlied« einen versifizierten Dom und den Kölner Dom ein steinernes »Nibelungenlied« nennt.

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TextGrid Repository (2012). Heine, Heinrich. Reisebilder und Reisebriefe. Über Polen. Über Polen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4A0B-7