Karl Henckell
Buch des Lebens

Vorrede

[7] Ruft das dichterische Werk des Lebenden nach einleitendem Wort und selbstbiographischen Daten? Hat nicht seine eigentliche Existenz ihren annähernd wesensgemäßen Ausdruck gerade in den mannigfaltigen Versschöpfungen vieler Jahre gefunden, aus deren geschlossener Gliederung die folgenden Bände sich wie von selbst zu einem rhythmischen Bilde seiner Natur und seines Werdeganges gestalteten? Ganz gewiß, für Aufnahme und Wirkung dieser meiner, im engeren und weiteren Sinne, lyrischen Lebensbekenntnisse wäre kaum erforderlich, eine Skizze der äußeren Vorgänge und Umstände voranzuschicken, in denen sich von der Geburt bis zum gegenwärtigen Tage mein Dasein auch sonst bezeugt und abgespielt hat. Was einmal irgendwie Kunst ward, trägt ja immer den Führer in sich, der auf jede Frage die feinste und gültigste Antwort gibt.

Wenn ich beim Überblicken meiner bisherigen dichterischen Ernte, wie sie in der Scheuer dieser Ausgabe geborgen ward, mich gleichwohl veranlaßt fühle, hier in aller Kürze die Kurve meines Lebens nochmals zu zeichnen, so geschieht das vor allem im Hinblick auf einige, wie ich glaube, besonders bedeutsame Momente, die sich in der Laufbahn eines deutschen Dichters meiner Art und in der Geschichte seines Werkes als charakteristisch für unsere Zeit und [8] für mich selbst offenbaren.

Als die Preußen die Düppeler Schanzen stürmten, kam ich in der Residenzstadt des damaligen Königreichs Hannover zur Welt. Mein Vater stammte aus Bodenfelde bei Karlshafen an der Weser, wo der Solling seine knorrigen, uralten Eichen zum Himmel reckt. Er war Kaufmann und hatte besonders mit Getreide gehandelt, daneben auch in seinem Heimatort das Ehrenamt des Bürgermeisters verwaltet. In Hannover lebte er mehrere Jahrzehnte hindurch als Hausbesitzer und Rentner. Hochbetagt starb er Ende der neunziger Jahre zu Lenzburg in der Schweiz. Ich habe vier Geschwister, zwei Brüder und zwei Schwestern, die ebenfalls in der Schweiz leben, mit Ausnahme des ältesten Bruders, der in jungen Jahren nach Amerika auswanderte. Meine Mutter war hessischer Geburt – ihr Stammbaum führt ins Lippe-Detmoldische – und eine Tochter des kurfürstlichen Hof- und Garnisonspredigers Dr. Piderit in Kassel, der wegen »Renitenz« in allerhöchste Ungnade [8] fiel, später Archivrat wurde und eine Geschichte Hessen-Kassels geschrieben hat.

Mit zwei Jahren, als bei Bismarck verschiedene Fürsten ihrerseits »in Ungnade fielen«, die er auch Knall und Fall davonjagte, wurde ich als preußischer Untertan dem expansiven Nachbarstaate einverleibt. Ich bin also eigentlich »Mußpreuße«. In meiner Kindheit war ich nicht selten Zeuge von Scharmützeln zwischen Schulbuben aus Familien von angestammter Welfentreue und solchen aus neuzugezogenen preußischen Militär- und Beamtenkreisen. Mein Vater huldigte, mit starker Reserve gegen jedes allzu schneidige »Stockpreußentum«, einem gemäßigten Fortschritt und zählte sich zu den Nationalliberalen Bennigsenscher Richtung. Ich war für deutsche Einheit und Einigkeit, die ich mir jedenfalls viel einfacher dachte, als sie war und ist. Mit sieben Jahren gab es Siegesjubel mit Sedanfeier, Monstre-Konzert und großer Illumination. An Kerzen wurde auch bei uns nicht gespart. So wuchs ich in kindlicher Hurrastimmung und Reichsbegeisterung heran. Mein Gott, wie gern holte man dazu frisches, grünes Eichenlaub aus der nahen »Eilenriede« und wand die ersten patriotischen Reime um das Bild des greisen Helden-Kaisers! Als Quartaner vertauschte ich sogar schon das alte [9] städtische Lyzeum mit dem neugegründeten Kaiser-Wilhelms-Gymnasium. Von da an sah ich nun erst recht bis auf weiteres die Weltgeschichte mit Hohenzollernaugen an. Geibels »Heroldsrufe« waren damals auch mein geliebtes Evangelium ... In Unterprima stellten sich, hauptsächlich wegen Mathematik, Unstimmigkeiten ein, und ich ging ab. In Kassel wurde ich glücklich reif für Leben und Universität. Bei der öffentlichen Schlußfeier hielt ich die deutsche Rede »Über das Volkslied«.

Als Studiosus der Philologie ging ich zunächst nach Berlin, wohin mich frühangesponnene literarische Fäden und Fehden zu den »kritischen Waffengängern« Heinrich und Julius Hart zogen. Ich wurde regelmäßiger Mitarbeiter ihrer Monatsschrift. Bald erschien, bei Bruns in Minden, mein lyrisches Konfirmationsbrevier, das »Poetische Skizzenbuch«, mit melancholischen Niederschlägen vom Spreeufer. In ihm stand auch schon das »Lied des Steinklopfers« und ein paar andere soziale Verse, die ich vom Straßenbild der Reichshauptstadt ablas. Das Elend und die Kontraste der Welt griffen mir ans Herz und drängten nach Ausdruck. Ohne Zweifel – keine Richtung oder Schule hat mich zum Dichter gemacht, sondern die Natur und das Leben.

[10] Im Gefühl keimten die Samenkörner auf, die der Wind der modernen Welt geheimnisvoll daherwehte. Den jungen Dichtern wandelten sie Weise und Wort. So auch mir.

Meine Nerven waren überreizt. Ein Heidelberger Sommer mit Odenwaldlüften brachte Genesung. In Hannover diente ich als Infanterist mein Jahr ab. In Uniform schrieb ich, eben zwanzigjährig, das eine Vorwort zu den »Modernen Dichtercharakteren«, die Dokumente einer neuen Geistesströmung waren und bekennerisch wirken sollten. Das andere Vorwort schrieb Hermann Conradi aus Magdeburg. Beim Militär mußte ich vieles mit ansehen, was empörte und sich tief eingrub.

Nach kurz abgebrochenem Wintersemester in München, wo Michael Georg Conrad mit Bomben und Granaten Bresche in die Festung des schöngeistigen Epigonentums legte, und wo ich auch mit Wolfgang Kirchbach, Martin Greif und Heinrich v. Reder in persönlichen Verkehr trat, kam ich zur Entspannung ins hannoversche Elternhaus zurück und reiste sodann im nächsten Frühjahr frischen Mutes und Entschlusses in die republikanische Schweiz.

Von Zürich als literarischem Hauptquartier, wo ich auch meine Universitätsstudien fortsetzte, gab [11] ich Ende der achtziger Jahre einen Gedichtband nach dem anderen heraus. Ihre Hauptelemente waren leichter Liebesfrühling und schwere soziale Gewitterstimmung. Ersteres wurde, als harmlos, beifällig, letzteres hochnotpeinlich aufgenommen. Die Rezensenten hielten sich das Taschentuch vor die zarte Nase, und der preußischen Regierung ging ich auf die, allerdings weniger zarten, Nerven. Nur wegen meiner Verse – anders war ich politisch überhaupt nie aktiv – wurde ich auf Grund des Sozialistengesetzes kurzerhand als »gemeingefährlich« verboten. Damit war mein Bücherschicksal in Deutschland, auch nach dem Fall des Ausnahmegesetzes, auf Jahrzehnte besiegelt. Traditioneller Boykott, erheblich verstärkt durch notgedrungenes Selbstverlegertum, suchte mich auch buchhändlerisch auf lange Zeit hinaus unmöglich zu machen. Jahre des oft verzweifelten Kampfes um menschliche und dichterische Selbstbehauptung folgten. Die Wilhelminische Epoche ließ es mir verflucht schwer werden. Aber sie hat mich keinen Augenblick untergekriegt. Auch als Deutschen nicht.

In Zürich lernte ich Gottfried Keller, Arnold Böcklin und Conrad Ferdinand Meyer kennen, in Bern Joseph Viktor Widmann. Ihre Würdigung und Sympathie taten mir wohl, ihre Persönlichkeit und Atmosphäre förderten mich innerlich. Ich trieb [12] weiter Sprachstudien, übersetzte, hielt Vorträge über Literatur und brach so zuerst für Liliencron und die deutschen »Neutöner« beim schweizerischen Publikum eine Gasse.

Eines Tages besuchte mich ein Hofrat aus Koburg und machte mir auf dem Sonnenberg bei Zürich den liebenswürdigen Vorschlag, gleich mit ihm zu reisen, er wolle mich seinem Herzog vorstellen. Ich lehnte verbindlichst dankend ab. Nicht aus plumpem Fürstenhaß natürlich, der mir völlig ferne lag und liegt, sondern aus purer Antipathie gegen »Karriere«. Theodor Storms Verse »Für meine Söhne« waren mir zu lieb:


»Was du immer kannst zu werden,
Arbeit scheue nicht und Wachen;
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karriere-Machen!«

Ich hatte es nie zu bereuen. 1890 wurde ich – mein Herz schlug längst republikanisch – Schweizer Bürger im Kanton Zürich.

»Amselrufe« und »Trutznachtigall« warben mir wertvolle Freunde, auch jenseits des Ozeans. Zeitweilig hielt ich mich in Wien, Mailand und Brüssel auf. So erweiterte ich meinen Horizont und befreite mich aus quälenden Herzensketten. Von Brüssel [13] aus datierte ich das Vorwort zu meinem »Buch der Freiheit«, einer umfangreichen Sammlung sozialer Freiheitsdichtungen von Goethe bis zur Gegenwart, von Byron und Shelley bis auf Dehmel und Mackay. Fast das ganze Werk schrieb ich eigenhändig aus den Quellen ab, wodurch ich mir seinen Gehalt noch stärker zum wirklichen Besitz machte.

Über solcher literarischen Pionierarbeit der Zukunft vergaß ich nicht, dem ewigen Liede Pans zu lauschen. Natur und Liebe lockten mich in ihr stilles, träumerisch versonnenes Reich. Die Kunst übte ihre erlösende, kampfverklärende Gewalt. Aus Liebesgrund wuchs Lebensbund, aus Lava blühte der Wein des »Neuen Lebens«.

Vom Züricher See ließ ich Flugblätter der Lyrik in die Lande flattern, »Sonnenblumen«, die den Samen der Dichtung in manches empfängliche Herz senkten. Mit den Künstlern des rhythmisch gegliederten Wortes aus Vergangenheit und Gegenwart verkehrte ich wie mit Freunden, deren geheimstes Wesen ich in horchender Zwiesprache zu ertasten suchte.

1902 vertauschte ich das idyllische Heim am Schweizer See mit dem geräuschvolleren Charlottenburg. Es war ein neuer Sprung von einer für mich unberechenbaren Tragweite. Von eigenen Werken [14] gab ich noch das Buch »Gipfel und Gründe« in Druck, warf rote Gedichthefte mit Fidusbildern zu Kolportagepreisen ins Volk und löste dann nach und nach meinen Verlag auf, bei dem ich zwar materiell keine Seide gesponnen, aber ideell mein Ziel entscheidend gefördert hatte und schließlich mit einem blauen Auge davonkam.

Nachdem ich mir in solcher Weise und als öffentlicher Sprecher eigener Gedichte auf volkstümlichen Kunstabenden verschiedener Städte, die meinem Schaffen gewidmet waren, ein Wirkungsfeld nach außen bereitet hatte, tauchte aus der treibenden Flut der Berliner Tage in rhythmischen »Schwingungen« das Eiland der Seele silberschimmernd neu empor.

Auf einmal winkte von Süden München. Zwischendrein erfrischte das Herz ein Frühling und Sommer in Mecklenburg, an der Waterkant, in Hamburg, wo ich Detlev von Liliencron und Gustav Falke besuchte, in Hannoverland an der Weser auf Väterspuren. Seit Herbst 1908 bin ich an der Isar in München-Bogenhausen, gegenüber dem Englischen Garten, ansässig. Die herbfrische Luft, die von der hier mövenreichen und nicht selten wildüberschäumenden Tochter der Berge mit zu Tal gebracht wird, feite mich wohl auch gegen vorzeitiges Stockigwerden. »Im Weitergehen« faßte ich allmählich [15] festeren Fuß auf dem Boden einer Welt, die Schmach und rohe Gewalt der Zeit nicht so leicht mehr ins Schwanken bringen.

Freilich – die schwerste Probe war noch zu bestehen. Sie kam mit dem Weltkrieg auch für mich. Das Chaos riß Geist und Seele in seine aufreibenden Wirbel. Alles, was ich mir lebenslang mitfühlend, mitdenkend, mitschaffend an der Veredlung der menschlichen Kulturgemeinschaft, wie in Fleisch und Blut verwandelt, errungen hatte, schien mit grauenhafter Unheimlichkeit jählings in Frage gestellt. Nur die unbedingte Mitverbundenheit am Schicksal des deutschen Volkes war für mich jenseits aller Fragestellung. Im festen Rhythmus der »Weltmusik« suchte ich mich selbst zu behaupten und lähmendes Verstummen zu bannen.

Aber merkwürdig: Gang, Ausgang und Folge des Krieges, alles, was mit welterschütternder Wucht durch ihn selbst offenbar ward, diente nun erst recht dazu, meine innerste Anschauung von der notwendigen Umgestaltung und Erneuerung der Volksgemeinschaften zu bestätigen und zu verstärken. Die wesentlichen Elemente einer in Gefühl und Erkenntnis wurzelnden Sinnesart, wie sie längst vor Ausbruch des Krieges mir eigen war, hielten schließlich doch dem wahnsinnigen Wirrwarr des allgemeinen [16] Zusammenbruches stand und sammelten sich allmählich mit verdoppelter Kraft der Selbstbejahung. Das Ideal der Freiheit, wie es so manchen meiner Kampfgesänge leidenschaftlich durchdringt, hat nicht Schiffbruch gelitten, das Gestade von Neuland taucht wieder im Nebel auf. Wir wollen wie das Heimchen sein, das an Bord des Columbus auch der irre gewordenen Bemannung in tiefster Verzagtheit die Nähe der gesuchten Erde verkündet ...

Doch selbst, wenn alles das nur Traum und Utopiawäre, unser Lied ist und wir sind. Dessen Zeuge sei dies gesammelte Werk, das nicht mehr sein will als ein in Verse verwandeltes Menschenleben aus unserer Zeit der Götterdämmerung. Ein Leben und Buch voll Wahrheit, Irrtum und Widerspruch, voll Sehnsucht, Glauben, Verzweiflung, Erfüllung, Verzicht und Erlösung, voll Hohnlachen, Groll und Empörung, voll Sonne, Gewitter, Freude und Elend, Klage, Jammer und Jubelschall, voll Quellenrauschen und Gipfelhauch, voll Stille und Sturm, Ruhe und Reigentanz der unergründlichen Seele.


München, Silvester 1920/21

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TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Gedichte. Buch des Lebens. Vorrede. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4F84-D