[107] Die Nacht

1801.


Kommst Du wieder, heil'ge stille Mutter
Der Gestirn' und himmlischer Gedanken,
Kommst Du zu uns wieder? Dich erwartet
Lechzend schon die Erd', und ihre Blumen
Beugen matt ihr Haupt, aus Deinem Kelche
Nur zwei Tropfen Himmelsthau zu kosten;
Und mit ihnen neiget sich ermattet
Meine bilderüberfüllte Seele,
Harrend, daß Dein sanfter Schwamm sie lösche
Und mit Bildern andrer Welten tränke
Und mein lechzend Herz mit Ruhe labe.
Sternenreiche, goldgekrönte Göttin,
Du, auf deren schwarzem, weitem Mantel
Tausend Welten funkeln, die Du alle
Sanft gebarest und ihr rastlos Wesen,
Ihren Feuerschwung, ihr reges Kreisen
Mit dem Arm der ew'gen Ruhe festhältst!
Welch ein Lobgesang ertönt in allen
Welten Dir, Du aller Sternenchöre
Leise Führerin! Ein hohes Loblied,
Dem der Sturm verstummet, dem die Sprache,
Dem des Herzens Laut, dem alle Töne
Sanft entschlummern in ein heilig Schweigen.
Heilig Schweigen, das die Welt jetzt füllet,
Sanfter Strom, der in den ew'gen Ufern
Endeloser Schöpfung feiernd hinrollt!
Und Du herrlicher Gesang der Sterne,
Licht aus Licht, des Himmels sanfte Sprache!
Weite Nacht umfasset meine Seele!
Meere der Unendlichkeit umfangen
Meinen Geist, die Himmel aller Himmel!
Nächtlich still, ein Meer voll lichter Scenen,
Wie das Weltmeer, voll von Feuerfunken.
Hohe Nacht, ich knie vor Deinem Altar!
Alle Funken des allweiten Aethers
Sind das Stirnband Deiner heil'gen Schläfe,
Voll von Gottesschrift. Wer kann sie lesen,
[108]
Diese Flammenschrift des Unerschaffnen
Auf der Stirn der Nacht? Sie spricht: »Jehovah
Ist nur Einer, und Sein Nam' unendlich,
Und Sein Kind die Nacht. Ihr hoher Name
Heißt Geheimniß; ihren heil'gen Schleier
Deckte Niemand auf. Sie hat geboren
Welten, Räume, Zeiten. Ihren Kindern
Stehen ewig vor Gesetz und Ordnung,
Lieb' und strenges Schicksal, Alle leitend,
Alle leitend zum lebend'gen Vater.«
Laß den Schleier sinken, heil'ge Mutter,
Schlage zu Dein Buch voll Gottesschriften!
Denn ich kann nicht weiter, kann nicht höher
Klimmen in Gedanken. Neige lieber
Her das Füllhorn Deiner Ruh und träufle,
Träufle sanft mir zu, o Du, des Schlafes
Und der Träume Mutter, träufle sanft mir
Zu Vergessenheit von meinen Sorgen!
Fühl' ich nicht, wie ihre Schlummerbinde
Mich umhüllet, wie mit Mutterhänden
Sie mein fallend Augenlid mir zuschließt?
Welche Geister, die schon vor mir gaukeln!
Angesichte, treffliche Gestalten
Andrer Welt. Ein süßes Licht umstrahlt mich,
Das mein wachend Auge nie gesehen.
Welch ein Mond! o welche schöne Sterne!
Schweb' ich? schwimm' ich? steig' ich? sink' ich nieder
Vor dem Thron des Unerschaffnen? Engel,
Genien sind um mich, die Gespielen
Meines Lebens, und auch Du, mein Bruder,
Du mein Schutzgeist, den ich nimmer kannte.
Reichst Du mir die Hand? bist hold und freundlich?
Ziehst mich mit in diese Lobgesänge,
Ach, in die mein Geist verhallte?
Schlummre wohl indeß, Du träge Bürde
Meines Erdenganges! Ihren Mantel
Deckt auf Dich die Nacht, und ihre Lampen
Brennen über Dir im heil'gen Zelte.
Gottes Wächter steigen auf und nieder
Von den Sternen, und des Himmels Pforte
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Steht Dir offen in verborgnen Träumen.
Aller Engel, aller Sel'gen Seelen
Göttliches Concert; sie blicken Alle,
Monde, Sonnen, auf – zu welcher Sonne?
Welchem Mittelpunkt in allen Kreisen?
Welchem Allumfasser, Allerfüller?
Mir auf meinem Wandelstern unsichtbar,
Nicht unsichtbar einst dem Sonnenbürger!
Sieh! und Alle blicken so vertraulich
Auf mich nieder! Seht Ihr mich, Ihr Sterne,
Mich, des Staubes Staub, der ich Euch denke,
Meine Freund' Euch nenne, die Gespielen
Meiner süßesten, erhabnen Wollust,
Meiner besten Ruhe stille Zeugen?
Jünglinge des Himmels, süße Kinder
Der verklärten Nacht, Du hold Geschwister
Meiner Andacht, meiner Ruh und Hoffnung!
Ach, wie glänzet Ihr so lange, lange
Schon in Euren schönen Feierkleidern!
Eh ich war, und eh die Erde da war,
Und wenn ich nicht mehr, wenn lange, lange
Sie nicht mehr ist, wenn der dumpfe, ferne
Erdenton, das Seufzen seiner Pole
Euer Lichtconcert nicht mehr wird stören,
Nicht in Eure Hymnen mehr wird jammern,
Werd' ich dann, Holdsel'ge, mit Euch ziehen?
Blüht in Euren amaranthnen Lauben
Auch für mich ein Kranz der Lieb' und Unschuld?
Daß ich, stimmend ein in Euren reinen
Jubel, auch vertraulich niederwinke,
Einem Irrenden ein Strahl der Leitung,
Einem Trauernden ein Stern der Hoffnung.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Zweites Buch. Die Nacht. Die Nacht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-56EA-3