Geschichte und Dichtkunst

Ein Musengespräch in der vaticanischen Rotonda.


Im schönen Musentempel, wo ich einst
Anschauend in Begeistrung mich verlor,
»Jungfräuliche Gestalten,« sprach ich, »lebtet,
Wo lebtet Ihr? der reinen Menschheit Bilder,
Woher nahm Euch der hohe Genius?«
Da füllte des entzückten Phöbus mich,
Des schönen Jünglings, Päan, und das Chor
Der Musen mit Gesang und Flötenton,
Psalterion und Leyer stimmten ein;
Kalliope mit aufgeschlagnem Buch,
Euterp' und Erato, Terpsichore,
Thalia; nur die Muse der Geschichte
Saß schweigend da mit weggewandtem Blick.
Ich nahete mich ihr, und Geist zu Geist,
Verstand sie mich, antwortete mir sanft:
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»Du wunderst, Fremdling, Dich, daß ich im Chor
Der lauten Schwestern schweig'? Ich horche zu
Und merk' auf unsres hohen Führers Anklang
Und lern' an Jeder lebendem Gesang.
Kalliope stellt meinem Ohr vor Augen,
Was einst geschah. Umfang und Ziel und Zweck,
Das Maaß der Gegenwart und Leidenschaft
Lern' ich aus ihrer und der Schwestern Weise.
Doch steht auch schweigend dort Melpomene,
Die ihren Fels hinansteigt; siehe dort
Urania mit ihrem Stabe, mit
Erhobnem Finger Polyhymnia;
Sie lehren mich die höhre Harmonie
Der Weltbegebenheiten. Horch!« Ich hörte
Welch einen andern als der Leyer Klang,
Als Flöte, Cither und Psalterion!
»O Klio!« sprach ich. »Nenne mich nicht Klio,
Die Preisende; denn meine Tuba gab
Ich längst der Fama, die, die Wangen voll
Von Athem, Lob verkündet. Meine Mutter
War Mneme; ihre liebste Schwester hieß
Melete, und Aoide war die jüngste;
Ihr aller Mutter war Mnemosyne.
Die Schwestern, die Aoidens Abkunft sind,
So sagt der Götterspruch, sie werden einst
Im Ansehn sinken; denn Mnemosyne
Mit ihren Töchtern, Mneme, meine Mutter,
Melete und Aoide, die drei höchsten
Und hehresten der Musen, kehren einst
Dem bessern menschlichen Geschlecht zurück.
Und sie erwarten meine nähern Schwestern,
Die schweigenden: hier Polyhymnia,
Die mir der alten Gotteslehre Weisheit,
Urania, die mir der Welten Bau,
Der Zeiten Ordnung, dort Melpomene,
Die Heldenseelen mir als Heldin zeigt.
Wir hoffen auf die Kommenden; und ich,
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Dies ist mein Amt, blick' in die Gegenwart
Und horch' aus dem Vergangenen die Zukunft.
Denkwürdiges nur schreib' ich; Spiel und Tand,
Thaliens Masken gehen mir vorüber.
Sei, Fremdling, unser Freund und lern auch Du
Der Weltbegebenheiten Melodie
Erst hören, dann verstehn und lieben!« Sie
Saß lebend vor mir; veilchenblau ihr Kleid,
Dunkelroth ihr Gewand mit blauem Saum,
Ihr Ohr- und Armschmuck helles, reines Gold,
So saß vor mir die Königin und schwieg.
Ihr Horchen aus der Fern', ihr stiller Blick
Tief in die Zukunft, was sie zu mir sprach
Und vorverkündet', bleibt im Herzen mir.
Nicht Klio mit der Tuba ehr' ich fürder;
Die heil'gen Töchter der Mnemosyne,
Melete, Mneme und Aoide, sie
Sind meine Musen. Wenn die Menschheit einst
Vom Traum erwacht, und jener schöne Jüngling
Nicht müssig mehr Eidechsen spießet, wenn
Er, Musenführer, Hirt, der Menschheit Arzt
Und ihr Befreier, seinen Päan singt:
Sind der gesammten Menschheit Musen sie.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Zweites Buch. Geschichte und Dichtkunst. Geschichte und Dichtkunst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5889-D