Aus dem Gefängniß

Wenn Liebe mir nur, zart geschwingt,
Hier durch das Gitter schleicht
Und mir mein süßes Mädchen bringt
Und meinen Schooß erreicht,
Und dann ihr Arm mich sanft umschlingt,
Ihr Blick anfesselt mich –
Kein Vogel, der in Lüften singt,
Ist freier dann als ich!
Wenn ringsum volle Becher gehn
Mit lautem Lustgesang,
Und unsre Rosen frisch uns stehn,
Und süß ist unser Trank,
Und tauchen Unmuth, Gram und Weh
Hinunter brüderlich –
Kein Fisch in weiter, weiter See
Ist freier dann als ich!
Wenn eingesperrt ich amselgleich
Nur lauter schlagen soll
Von meines Königs Gnadenreich
Und seines Reiches Wohl,
Wie gut er ist und groß soll sein,
Und singe königlich –
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Kein Sturmwind in den Wüstenein
Ist freier dann als ich!
Stein, Wall und Mauern kerkern nicht,
Kein Gitter kerkert ein;
Ein Geist, zufrieden, ruhig, spricht:
»Das soll mein Palast sein!«
Fühlt Herz sich nur und Muth sich gleich
Und frei und fröhlich sich –
Nur Engel dort im Himmelreich
Sind dann so frei als ich!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Fünftes Buch. Aus dem Gefängniß. Aus dem Gefängniß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5BB6-D