6. Die Judentochter
Schottisch
(Reliqu. T. I. p. 35.) Ein graulich schauderhaft Mährchen, dessen Sage einst so vielen Juden oft Land und Leben gekostet. Der Mord- und Nachtklang des Originals ist fast unübersezbar.
Der Regen, er rinnt durch Mirrilandstadt,
Rinnt ab und nieden den Po!
So thun die Knaben in Mirrilandstadt,
Zum Ballspiel rennen sie so.
Da 'naus und kam die Judentochter,
Sprach: willt du nicht kommen hinein?
»Ich will nicht kommen, ich kann nicht kommen
Von allen Gespielen mein.«
Sie schält einen Apfel, war roth (und) weiß,
Zu locken den Knaben hinan.
Sie schält einen Apfel, war weiß und roth,
Das süsse Kind der gewann.
[62]Und aus und zog sie ein spizig Mess'r,
Sie hatt's versteckt beiher;
Sie stachs dem jungen Knaben ins Herz,
Kein Wort sprach nimmer er mehr.
Und aus und kam das dick dick Blut,
Und aus und kam es so dünn,
Und aus und kam 's Kinds Herzensblut;
Da war kein Leben mehr in.
Sie legt' ihn auf ein Schlachtbrett hin,
Schlacht't ihn ein Christenschwein,
Sprach lachend: »geh und spiele nun da
Mit allen Gespielen dein!«
Sie rollt ihn in ein'n Kasten Blei;
»Nun schlaf da!« lachend sie rief;
Sie warf ihn in ein'n tiefen Brunn,
War funfzig Faden tief.
Als Betglock klang und die Nacht eindrang,
Jede Mutter nun kam daheim;
Jede Mutter hatt' ihren herzlieben Sohn,
Nur Mutter Anne hatt kein'n.
Sie rollt ihren Mantel um sich her,
Fing an zu weinen sehr,
Sie rann so schnell ins Juden Castell,
Wo keiner, ach! wachte mehr:
»Mein liebster Hönne, mein guter Hönne,
Wo bist du? antwort mir!«
»O Mutter, o rennt zum Ziehbrunn tief,
Euren Sohn da findet ihr!«
Mutter Anne rann zum tiefen Brunn,
Sie fiel danieder aufs Knie!
[63]»Mein liebster Hönne, mein guter Hönne,
O antwort, bist du hier?«
»Der Brunn ist wunder tief, o Mutter,
Der Bleikast wunder schwer;
Ein scharf, spiz Messer geht durch mein Herz;
Kein Wort sprech nimmer ich mehr.
Geh heim, geh heim, mein' Mutter theur,
Mach' mir mein Leichenkleid,
Daheim da hinter Mirrilandstadt
Komm' ich an eure Seit'.«