Arist am Felsen

1801.


An einem Felsenhange lag Arist,
Hin in die Wüste seufzend: »Ach, wie stumm
Ist Alles um mich, und wie geist- und herz-
Und sinnenleer! Wie fern ist jene Sonne,
Die untergeht, und jener traurige,
Von keinem Lebenden bewohnte Mond!
Es strecken ungeheure Wüsten sich
Zum Mars, zu Zeus, Saturn und Uranus,
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Noch ungeheurere von Stern zu Stern.
Ein Quentchen ist das Leben in der Schöpfung,
Und ach, wie noch ein kleiner Quentchen ist
Verstand und Herz auf unsrer Erde! Fels
War einst und ist sie noch, ein glühnder Brei,
Der Jahremillionen um die Sonne,
Hinausgeschleudert von ihr, schwebte, dann
In kältern, wüsten Regionen sich
Allmählig härtete; allmählig flog
Hier, dort und da ein Lebensfunk ihn an,
Glimmt' und verglimmte. Jener Kalk der Berge,
Die Erde, die ich trete, Baum und Thier
Und Pflanze, was auf Erden irgend lebt,
Sind letzte Folgen eines Untergangs,
In den einst Alles sinkt. Des Menschen Geist,
Wie sparsam ist er ausgestreuet! schwach
Und machtlos funkelt hier und dort ein Strahl
Vernunft im Dunkel und verschwindet. Stumm
Ist Alles um mich her; ach, so verstummt
Das Menschenherz, dem Menschen Wohl und Weh;
Aufbrausend glüht es, quälend sich und Andre,
Bis es im stillen Grabe nicht mehr schlägt.«
Die Nachtigall seufzt' über seinem Haupt
Ihr Lied der Liebe; unweit neben ihm
Girrt' im getreuen Nest die Turteltaube:
Er hört' sie nicht. Es murmelte der Bach,
Der Westwind lispelt' in den Zweigen: er
Vernahm den fernen und den nahen Laut
Der Schöpfung nicht; in ihm war's wüst und leer.
Da schwebt' in holder Dämmerung ein Glanz
Zu ihm herüber aus der Sonne selbst
(Wir nennen es Licht des Zodiakus);
Gestalt- und wortlos floß es in ihn ein
Und sprach: »Dir ist die Schöpfung wüst und leer,
Gedankenlos der Lebensocean,
Der Dir Gedanken schafft? Was sind Gedanken
In Dir als Abbildungen Dessen, was
Von außen Du vernimmst und in Dir ordnest?
Der Weltgeist, nenn ihn Aether oder Licht,
Du siehst ihn nicht im Lichte, hörst ihn nicht
Im Schall; der Unsichtbar', der Unhörbare,
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Er macht Dich sehn und hören, fühlen, denken;
Er denkt in Dir, Du bist nur sein Gefäß.
Und wähnst Du Dich, sein Einziges zu sein,
Dem jedes Element, selbst Luft und Licht,
Organ ist, der im Wasser kühlt und rauscht,
In Flammen glüht und mit sich selber kämpft
Zur Allerhaltung! Thätliche Gedanken,
Nicht leere Worte bildet er Dir vor
Und denkt in ihnen. Blickt die Blume nicht
Verständiger Dich an, als Du sie anblickst?
Selbständig lebt sie und genießet sich
Und dient der Schöpfung. Schau im letzten Strahl
Der untergehnden Sonne ihre Pracht!
Vernimm den Zeichnenden, der sie umschwebt
Mit goldnem Griffel! hör im Rauschen hier,
Dort im Gesang, im Lispel dort den Geist,
Deß Stimme nicht Gesang und Lispel ist!
Gedankenvoll, verstandvoll ist die Schöpfung,
Ein großes Herz, das Wärm' in alle Adern,
In alle Nerven Gluth der Fühlung gießt
Und sich in Allem fühlet. Er zerstört
Und bauet stets; die große Mutter trägt
In jedem Augenblick ein junges Kind
Mit neuer Mutterfreud' an ihrer Brust.
Sich schöner zu verjüngen, altet sie.
Was nicht mehr wirken, nicht genießen kann,
Das welket und wird unsichtbar; es lebt
Im Andern schon verjüngt und munter. Sie
Erfreuet sich in Allem, liebet stets
Die alten, immer jungen Formen, schaut
In jeglicher Verändrung neu sich an,
In vielen Blumen und Gedankenweisen.
In Pflanzen, Thieren, Menschencharakteren
Erkennt sie sich; Du schauest sie nur an
In Deiner Art; der große rege Geist,
Nur er versteht und denkt und fühlt sich ganz.«
Die Seel' Arist's entwölkte sich; es schien
Der Mond ihm freundlicher, das Abendroth
Beglänzte heitrer seine Stirn; jedoch
Sein Herz blieb kalt. Der Turteltaube Girren,
Der Nachtigall Liebseufzen rührt' ihn nicht.
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»Wol fließen,« sprach er zu sich selbst, »Gedanken
In mich, Gedanken, manch Jahrhundert alt;
Die längst verstorbnen, nicht gestorbnen Geister
Beseelen mich; Ihr sprecht zu mir, Horaz,
Homer und Plato; ein verborgnes Band
Zieht von der ältsten bis zur neusten Zeit
Aus Seele sich zu Seele. Glückliche,
Die, in die güldne Geisteskette fest-
Gewebt, die Schläge des Gehirnes fort
Und fort geleiten! Dreimal Glückliche,
Die den geheimen feinsten Flammenstrom
Zum Bessren und zum Besten läutern!
Ist wol ein großer, unermeßlicher
Verstand in der Natur; selbstständige
Gedanken stehn vor mir, und doch verknüpft
Das Kleinste mit dem Größesten, gedrängt
Und abgetrennt; wir buchstabiren sie,
Doch wer vernimmt den Sinn des Ganzen? wer
Sah Dir, o Urgeist, in das Angesicht?«
Ein wärmer Licht umfing den Zweifelnden;
Sein treuer Hund (er hatte seinen Herrn
Verloren schon gewähnt und lang' gesucht)
Sprang auf ihn freundlich, bellt' ihm Freude zu
Und warf sich fest andrückend ihm zu Füßen.
»Wähnst Du allein Dich in der Schöpfung?« sprach
Der Sonnengenius ihm wärmer zu.
»Was diesen Freund hier an Dich bindet, sollt'
Es Allen, die mit Dir von einem Blut,
Von einer Bildung sind, denn fehlen? Wer
Erzog Dich? Wem verdankest Du Dich selbst?
Dein bessres Selbst? Wer bildete Dein Herz?
Wer bracht' auf Deiner Lebensbahn Dich oft,
Und unbewußt Dir, weiter? Eigennutz
Beseelte nicht, die Dir begegneten,
Dich retteten, Dich liebten. Ungehört
Erklang Dein Seufzen in ihr Herz; der Wunsch,
Der in Dir selbst unausgebrütet lag,
Bekam in ihrem Geiste Flügel. Kam
Dir in der Zeit der Noth nicht oft ein Gott,
Ein Genius in menschlicher Gestalt,
Hilfreich entgegen? Fühltest Du nicht selbst
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Oft Ahnungen, die in die Ferne Dich,
Dich in die Zukunft rissen, die Dich sorgend,
Errettend thätig machten für den Freund,
Den Du nicht kanntest? Nur die große Mutter
Vorsehung kannte Dich und ihn; sie schuf
Euch Beide für einander; Euer Schicksal,
Gehämmert ward's auf einem Amboß: Dir
In seiner Noth der freudigste Genuß,
In Deiner Hilf' ihm hohe Seligkeit.«
Wie bei dem ersten warmen Sonnenstrahl
Nach kalten Frühlingsnächten zitternd sich
Die Blume öffnet, ungewiß, ob sie
Dem Strahl vertrauen dürfe, so entschloß
Die tiefbeklemmte Brust Arist's. »Es schlägt,«
So fuhr die Stimme fort, »ein großes Herz
In der Natur; vertrau der Fühlenden!
Dein reinester Gedank' entsprang dem Quell
Des reinsten Geistes und gehört ihm zu
Und fließt in ihn zurück, zum Allbeleber.
Dein tiefster Wunsch gehört dem großen Herz
Der Schöpfung zu und findet es gewiß.
In Dein Verlangen stimmen alle guten,
Gerechten Seelen; Dein ist ihr Gebet,
Dein Echo ist ihr aller Busen. Höre
Mit Geistesohr die hohe Harmonie!«
Auf blickt' er, und – da stand vor ihm sein Freund
Agathokles. »Rastlose Unruh, Freund,
Trieb mich hieher. Du leidest und verbirgst
Mir Deinen Gram; die Ursach sucht' ich lang'
In Deinem Blick, in Deinen Mienen. Wohl,
Ich habe sie gefunden. Welch ein Nichts,
Das Dich abhärmet! ich verschaff' es Dir.
Ein guter Genius hat mich für Dich
Geängstet und für Dich, wie längst, gesorgt.
O Freund, es wacht ein allgemeiner Geist
Vorwirkend, fernesehend über uns;
Die Aller Wunsch und Herzen knüpfet, Freund,
Es schlägt ein großes Herz in der Natur.«

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Viertes Buch. Arist am Felsen. Arist am Felsen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5C39-1