Das Lied vom Bache
1768.
Traurig ein Wandrer saß am Bach,
Sah den fliehenden Wellen nach;
Ein welker Kranz umwand sein Haupt.
»Was blickst Du, Wandrer, mattumlaubt,
So traurig nieder?«
»Jüngling, den Bach der Zeit hinab
Schau' ich, in das Wellengrab
Des Lebens; hier versank es, goß
Zwei kleine Wogen, da zerfloß
Die dritte Woge.
Jüngling, im großen Zeitenraum
Schweben wir also! Der Saum
Der Menschenthaten, er zerrinnt
Auf glatter Fläche; leiser Wind
Hat ihn verwehet.
Jüngling, ein Menschenleben, schwach
Träufelt's in der Zeiten Bach.
Sie rollt, sie wölbt sich prächtig um,
Die erste Welle; sieh, wie stumm
Die dritte schweiget!«
Trübe zum Wandrer saß ich hin,
Sah die krausen Wellen fliehn,
[263]Sah Tropfen sinken in den Bach,
Die Wogenkreise sanken nach,
Mir flossen Thränen.
»Jüngling, o, Deine Ruhmesthrän'
Rinnet edel! Lieb und schön
Lacht Lebensblüth' am Morgen früh,
Und sieh, die frühen Kränze, die!
Wie sie verwelken!
Jüngling, ich war ums Vaterland,
Edler Thor, wie Du entbrannt.
Gerungen hab' ich und gelebt,
Und was errungen, was erstrebt?
Die welken Blätter.
Jüngling, o sieh, da ziehet hin
Spreu im Strom! Prächtig ziehn
Die Schäume; die Kleinode sind
Versunken. Jenes Hügels Wind
Pfeift leere Lieder.«
Traurig den Bach sah ich hinab,
Thränen träufelten ins Grab
Des Ruhmes! »Lieber Wandrer Du,
Was giebt denn Glück, was giebt denn Ruh?«
Sank ihm zum Busen.
»Jüngling, o sieh im Bache Dich!
So sah ich mit Wonne mich
Im Freunde seel- und herzvereint!
Ein Lüftchen schied uns – Bild und Freund
War fortgewehet!
Jüngling, o sieh im Bache Dich!
So sah ich mit Wonne mich
In meiner Lieben. Süßer Wahn!
Das Leben rann, das Bild zerrann
Und Glück und Liebe!
Jüngling, ich floh zu strenger Müh;
Oft, ach öfters täuschet sie.
Ich wacht' um manches edle Herz
Mit Brudertreu – mit Bruderschmerz
Sah ich's versinken!«
[264]
Trübe, verzweifelnd sah ich ab:
»Grab des Ruhmes, Tugendgrab,
Des Lebens Grab, o wärest Du
Auch meines! Läge stumme Ruh
In Deinem Abgrund!«
»Jüngling, o Thor, wo findest Du
Je in Wuth der Seele Ruh?
Wir müssen All' den Bach hinab.
Was mir, dem Jüngling, Mühe gab,
Giebt jetzt mir Labung.
Dorten hinan, wo sich's ergießt,
Wo der Strom in Wolken fließt,
Da weint man nicht der Lebenszeit;
Zum Meer der Allvergessenheit
Rann nichts hinüber.
Trinke noch immer Wonne Dir,
Jüngling, aus dem Strome hier!
Ich schöpfe meinen Labetrank,
Dem guten Gotte sag' ich Dank
Und wall' hinüber.«
Also vom Bach der Greis erstand,
Um des Jünglings Schläfe wand
Er seinen Kranz. Der Kranz erblüht',
Und immer sprach des Baches Lied
Dem Jüngling Weisheit.