Gesang auf die menschliche Seele

In altdeutscher Manier.


Statt Luft- und Himmelswesen
Preis' ich die Menschenseele,
Die Schöpferin! Erlesen
Hat sie in dunkler Zauberhöhle
Sich einen Erdenleib und ward,
Die Schöpferin, mit regen Kräften
Der Götter offenbart.
Nimm, was die Menschenseele
Für neuen Sinn ersonnen,
Und fleuch aus Deiner Höhle,
Zu wandeln unter Stern- und Sonnen,
Und kehr hinab und sieh und sprich,
Was größer Du gesehen,
Die Sonnen oder Dich.
Was Dir ein Erdball dünket,
Der Leib, den Du ernährest,
Der todt zu Staube sinket,
Wenn Du in neue Reiche kehrest –
Ist eine Welt, von ihr vereint,
[73]
Gewebt und kunstgebildet,
Ob's Dir ein Erdkloß scheint.
Und wer ist's, der sie zähle,
Den Erdbau noch durchstrebend,
Die Kräfte Deiner Seele?
Allgegenwärtig, allbelebend,
Als eine Sonn', als Königin
Herrscht sie und fühlt und langet
Ans Weltenende hin.
Jetzt, wenn sie göttlich fühlet
Des hohen Ursprungs Feier,
Zu hohem Ziele zielet,
Wie König Adler; jetzt als Ungeheuer
Entflammet, wo sie Zug und Wuth
Und Raubbegier hinabreißt,
Gleich einem Pfeil, nach Blut –
Wie da Blutströme wallen
Von Herzen und zu Herzen!
Und in den Strömen allen
Wallt Leben, wallen Wonn' und Schmerzen,
In Kugeln, unerforscht und viel,
Wie Welt- und Erdenbälle,
Wer, der sie zählen will?
Sieh, mit den Lebensbällen
Gehn Deiner Seele Bilder.
Jetzt, wie aus Abgrundsquellen
Die Weltenwirbel, jetzt und milder
Und schmeichelnd sanft, wie sich die Thrän'
Im Blick der Liebe sammelt
Und abrinnt sterbend schön.
Große Gedanken streben
Da auf wie Flammenmeere!
Auf ihren Schilden heben
Sie Dich empor, Gedankenheere!
Wer ist, der denkend je umfing
Den Weg, den Menschenseele
Zum Thron der Gottheit ging?
[74]
Wo, Lorbeern statt, sie Kreise
Der hellen Stern' umglänzen,
Gesetz und Kraft und Lauf im ew'gen Gleise,
Die Boten ihres Sinns, die Welt umgrenzen,
Und ihr zu Füßen tief umher
Wölbt sich im Himmelsbogen
Das Siebenfarbenmeer.
Sich einen Gott ersonnen
Hat sie, hat über Sternen
Ein Paradies gewonnen,
Sich unterthänigt alle blauen Fernen
Der weiten Ewigkeit und sich
Ein Engelheer geschaffen,
Zu herrschen götterlich.
Den Freund noch zu empfangen,
Hat sich die Menschenseele neue Welt erfunden,
Mit Jünglingslieb-Verlangen
Sich, im Gewande Purpurwunden
Am Todespfahl, auf Flammengluth
Zum Freund hinaufgeschwungen
Und ihm im Schooß geruht.
Ach, dann in Seelenflammen
Zischt Leibesschmerz, verlodert,
Hat Himmel und Erd' zusammen,
Ein Herzensschlag, um sich gefodert,
Bis der durchglühte Sonnengeist
Allein, in Einem Alles, pranget,
Das All in Einem heißt.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Erstes Buch. Gesang auf die menschliche Seele. Gesang auf die menschliche Seele. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5D97-3