Zweites Buch

Nachrichten zu einigen folgenden Liedern
1. Zu den Esthnischen Liedern

Wie ich unterwegens in der Erndtezeit die Schnitter im Felde antraf, hörte ich allenthalben ein wüstes Gesänge, welches diese Leute bei ihrer Arbeit trieben, und vernahm von einem Prediger, daß es noch alte heydnische Lieder ohne Reimen wären, die man ihnen nicht abgewöhnen könnte. Webers veränd. Rußl. S. 70. 41 In Kelchs Liefländischer Geschichte steht ein altes Liebeslied zur Probe, aus dessen ersten Namen, Jörru, Jörru (George), der vielleicht in ihren Liedern häufig vorkommt, einige Gelehrte die Abstammung dieser Völker aus Jerusalem bewiesen haben. Das Lied heißt ohngefähr:


Jörru, Jörru, darf ich kommen?
Nicht o Liebchen heute.
Wärest du doch gestern kommen,
Nun sind um mich Leute.
Aber morgen, früh am Morgen,
Schlankes liebes Aestchen,
Kannst du kommen ohne Sorgen,
Da bin ich alleine.
Wenn der Maienkäfer schwirret
Früh im kühlen Thaue!
Hüpf ich, Liebe, dir entgegen
Weißt, auf jener Aue.

Einen beträchtlichen Theil ihres Vergnügens setzen sie in Gesang und Musik. Der Gesang gehört eigentlich den Weibspersonen zu: auf Hochzeiten sind besondre Weiber zum singen; doch stimmen auch die Mannspersonen mit ein, sobald [235] Getränke die Freude allgemein machen. Bei der Feldarbeit, bei ihren Spielen u. dgl. hört man nur die Dirnen durch ihre schreyenden Gesänge allgemeine Zufriedenheit verbreiten. Etliche haben gute Stimmen und viel natürliche Anlage zum Gesang, doch die Esthen mehr als die Letten. Jene singen alle nur einstimmig, aber gemeiniglich in 2 Chören, so daß jede Zeile welche ein Haufe vorsingt, von dem zweiten wiederholt wird. Sie haben vielerlei Lieder und Melodien; bei vielen Hochzeitliedern hängen sie an jede Zeile die beiden Worte Kassike, Kanike, die vielleicht jezt keinen Sinn haben, nach der Etymologie aber schönes Kätzchen, oder Maychen (von Maye, junge Birke) könnten übersetzt werden. Die Letten dehnen die letzten Sylben sehr, und singen gemeiniglich zweistimmig, so daß etliche eine Art von Baß darzu brummen. Beider Völker gemeinstes und vermuthlich sehr altes musikalisches Instrument ist die Sackpfeife, die sie selbst machen und zweistimmig mit vieler Fertigkeit sehr taktmäßig blasen. Hupels Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. 2. Band p. 133.

Ihre Sprüchwörter sind aus ihren Sitten und ihrer Lebensart hergenommen: 42 viele haben E[sth]en und Letten gemeinschaftlich; die ersten haben deren mehrere. Zur Probe will ich einige anführen:


Gib die Sackpfeife in eines Narren Hände, er sprengt sie entzwei.
Schätze den Hund nicht nach den Haaren, sondern nach den Zähnen.
Ein nasses Land bedarf keines Wassers; d.i. betrübe die Betrübten nicht noch mehr.
Niemand hält mich bei meinem Rockzipfel, d.i. ich bin keinem etwas schuldig.
Wer bittet den Armen zur Hochzeit?
Der Stumme (das Thier) muß wohl ziehen was der Unvernünftige auflegt.
[236]
Sey selbst ein Kerl, aber achte einen andern Kerl auch für einen Kerl.
Von des Reichen Krankheit und des Armen Bier hört man weit.
Die Noth treibt den Ochsen in den Brunn, u.a.m.

Viele haben einen grossen Hang zur Dichtkunst aus dem Stegreif. Sie dichten blos zum Gesang: ein abermaliger Beweis, daß Poesie und Musik bei unausgebildeten Völkern unzertrennlich sind. Der Stegreifdichter singt einen Vers vor; sogleich wiederholt ihn die ganze Versammlung: daß viele müßige Worte darinn vorkommen, ist leicht zu erachten. Sehr sind sie geneigt, in ihren Liedern bittre Spöttereien anzubringen, vo[r] welchen auch kein Deutscher, denen sie ohnehin allerlei Spottnamen beilegen, sicher ist. Wie beissend zieht oft ein Gebiet das andre durch: am heftigsten greifen sie die an, welche bei einem Hochzeitschmause Sparsamkeit äussern: leicht pressen sie Scham und Thränen ins Gesicht. Ihre Lieder sind gemeiniglich reimlos: die E[sth]en haben etliche gedankenlose Endwörter, die sie in etlichen Liedern an jeden Vers hängen. Beim Schmause besingen sie das Lob ihres freigebigen Wirthes u. dgl. Aus dem Stegreif gemachte Lieder versteht selten ein Deutscher völlig, wegen der darinn sehr gemißhandelten Wörter: oft gehörte Lieder lernt man endlich verstehen. Siehe Hupels Nachrichten 2. B.p. 157. 158.

2. Zu den Lettischen Liedern

Singe, dseesma. Ein Gesang, Lied. Ich weiß nicht, ob das letztere Wort den alten Letten mag bekannt gewesen seyn; jezt braucht man es gemeiniglich um einen geistlichen Kirchengesang zu bezeichnen. Aber Singe ist der Name, den die Letten ihren weltlichen Liedern beilegen. Die Dichtkunst und Musik der Letten ist besonders, und zeigt von der Natur, die ihr Lehrmeister gewesen und noch ist. Ihre Poesie hat Reime, aber nur männliche. Einerlei Wort zweimal [237] hintereinander gesetzt, heißt bei ihnen schon ein Reim. So heißt es in einem ihrer Liebeslieder:


Es, pa zellu raudadams
gahju, tewi mekledams.

und das ist ein guter Reim. Ausser ihren Staatsliedern, d.i. solchen, die bei gewissen feierlichen Gelegenheiten gesungen werden, machen sie ihre meisten Poesien aus dem Stegreif. Diese haben allen den satyrischen, manchmal auch boshaften Witz der englischen Gassenlieder. Hingegen haben sie in ihren Liebesliedern alle das Zärtliche, das eine verliebte Melancholie an die Hand geben kann, sie wissen die kleinen nachdrücklichen Nebenumstände, die ersten einfältigen Bewegungen des Herzens so geschickt anzubringen, daß ihre Lieder ungemein rühren. Weibliche Reime haben sie gar nicht, ohnerachtet ihre Sprache dazu sehr fähig ist, wie solches die von hiesigen Geistlichen übersetzten Kirchenlieder beweisen. Ihre Musik ist grob und unausgewickelt. Sie wählen sich Eins oder zwo Mädchen, die den Text singen, die übrigen halten nur einen einzigen Ton aus, etwa wie der Baß bei der Sackpfeife ist. Die eigentlichen Sängerinnen erheben ihre Stimme nicht über eine Terze, und dieses Geleyer dauret so lange fort, bis der Text zu Ende ist; alsdenn nehmen die Bassisten die Oktave von dem Grundton, und so ist das Lied aus. s. Gel. Be[y]tr. Riga 1764. St. 12.

Miklah, ein Räthsel. Die angenehme Beschäftigung, den Verstand durch diese Beweise des wahren Witzes zu üben, ist unter den Letten sehr bekannt und gebräuchlich, und mag unter ihren Vätern noch bekannter gewesen seyn. Wir wissen, daß alle alte Völker diesen Zeitvertreib sehr geliebt haben, und daß viele alte Schriftsteller uns Proben von ihrer Genauigkeit in Erfindung der Räthsel geliefert. Leser, welche wissen, was für eine genaue Aufmerksamkeit auf die Natur zweier Dinge, davon man eins in das andre verstecken soll; was für Genauigkeit, das tertium comparationis nicht zu überschreiten; und was für Vorsichtigkeit in der [238] Wahl des Ausdrucks zu einem Räthsel gehöre, damit der Hörende sogleich die vollkommene Aehnlichkeit des Bildes mit dem Original begreife, werden sich wundern, daß sie bei einem unwissenden, unausgebauten Volk Proben eines solchen richtigen Witzes antreffen, die den klügsten Nationen Ehre machen würden. Sie haben Räthsel unter sich, die alle wahre Eigenschaften derselben besitzen; einige zeigen von einem hohen Alterthum, und sind also wohl von ihren Vätern auf sie gekommen. Probe.

Der Mohnkopf

Ich keimte! als ich gekeimt hatte, wuchs ich,
Als ich gewachsen war, ward ich ein Mädchen, 43
Als ich ein Mädchen geworden war, ward ich eine Junge Frau, 44
Als ich eine junge Frau geworden war, ward ich ein altes Weib, 45
Als ich ein altes Weib geworden war, bekam ich erst Augen, 46
Durch diese Augen kroch ich selbst heraus. 47

Die Letten haben einen unüberwindlichen Hang zur Poesie, und meine Mutter bcstritt nicht, daß die Lettische Sprache schon halb Poesie wäre. Sie klingt, sagte sie, wie ein Tischglöckchen; die Deutsche aber wie eine Kirchenglocke. Sie konnte nicht leugnen, daß die gemeinsten Letten, wenn sie froh sind, weissagen oder in Versen reden – – –

Es sind viele, welche behaupten, die Letten hätten noch Spuren von Heldenliedern, allein diesen vielen widerspricht mein Vater: »Das Genie der Sprache, das Genie der Nation [239] ist ein Schäfergenie. Wenn sie gekrönt werden sollen, ists ein Heu- oder höchstens ein Kornkranz, der ihnen zustehet. Ich glaube, Helden gehören in Norden zu Hause, wo man härter ist und fast täglich wider das Klima kämpfen muß; die Letten könnten also hiezu Anlage haben, wo ist aber ein Zug davon? – Würden sie wohl seyn und bleiben was sie sind, wenn nur wenigstens Boden zur Freiheit und zum Ruhm in ihnen wäre. In Curland ist Freiheit und Sklaverei zu Hause.« –

Mein Vater war eben kein grosser lettischer Sprachkünstler; wer aber Eine Sprache in ihrer ganzen Länge und Breite verstehet, kann über alle Recht sprechen. Er versicherte nie Fußstapfen von Heldenliedern aufgefunden zu haben, wohl aber Beweise, daß schon ihre weitesten Vorfahren gesungen hätten: und wo ist ein Volk, fragt' er, das nicht gesungen hat? Er hatte (wie ers nannte) eine Garbe zärtlicher Liedlein gesammlet, wovon ich seine Uebersetzung besitze, die ich vielleicht mittheilen kann: und wodurch dem undeutschen Opitz des Herrn Pastors Johann Wischmann kein Abbruch geschehen soll. 48 Wenn ich nicht diese Garbe in Händen hätte; würde ich doch vom Urtheil meines Vaters, der kein Curländer war, die Appelation einzulegen, anrathen. In diesen Liederchen herrscht bäurisch zärtliche Natur und Etwas dem Volk eigenes. Die Uebersetzung ist nach meines Vaters Manier. Siehe Lebensläufe nach aufsteigender Linie. I. Th. p. 72. 73. 74.

3. Zu den Littauischen Liedern

Hier wird es manchen Leuten verdrüßlich zu lesen seyn, daß man dieser nicht ausgeübten, verachteten Sprache eine Zierlichkeit zuschreiben wolle. Indessen hat sie doch von der griechischen Lieblichkeit etwas an sich. Der öftere Gebrauch der diminutivorum, und in denselben vieler vocalium, mit den Buchstaben l, r und t, gemengt, macht sie [240] lieblicher, als die viele herbe triconsonantes in der Polnischen. Es zeugen davon insonderheit der einfältigen Mägdlein erfundene Dainos oder Oden, auf allerhand Gelegenheit u.f.S. Ruhigs Betrachtung der Littauischen Sprache, p. 74. 75.

4. Zum Grönländischen Todtenliede

Nach dem Begräbniß begeben sich die Begleiter ins Sterbhaus, setzen sich stille nieder, stützen die Arme auf die Knie und legen den Kopf zwischen die Hände; die Weiber aber legen sich aufs Angesicht, und alle schluchsen und weinen in der Stille. Dann hält der Vater oder Sohn, oder wer der nächste Verwandte ist, mit einer lauten, heulenden Stimme eine Klagrede, darinnen alle gute Eigenschaften des Verstorbenen berührt werden, und die wird bei jedem Absatz mit einem lauten Heulen und Weinen begleitet. Nach einem solchen Klagelied continuiren die Weibsleute mit Weinen und Heulen, alle in einem Ton, als ob man eine Quinte herunterwärts durch alle Semitonia tremulierend spielte. Dann und wann halten sie ein wenig inne, und die eigentliche Leidträgerin sagt etliche Worte dazwischen; die Mannsleute aber schluchsen nur.

Der Stilus, oder ihre Art zu reden, ist gar nicht hyperbolisch, hochtrabend oder schwülstig, wie der Orientalische, den man auch bei den Indianern in Amerika wahrnehmen kann, sondern gar simpel und naturell; doch bedienen sie sich gern der Gleichnisse, machen auch nicht grosse Umschweife in ihren Reden, ob sie gleich eine Sache zu mehrerer Deutlichkeit oft repetiren, und reden oft so laconisch, daß zwar sie einander sehr leicht, Ausländer aber nach vieljährigem Umgang es kaum verstehen können.

Sie haben auch verschiedene figürliche Redensarten und Sprüchwörter, und die Angekoks bedienen sich metaphorischer und oft dem gewöhnlichen Sinn ganz conträrer Ausdrücke, damit sie gelehrt zu reden scheinen und auch für die Erklärung des Orakels bezahlt kriegen. So nennen sie [241] einen Stein, die grosse Härte, das Wasser, das Weiche, die Mutter, einen Sack.

In ihrer Poesie brauchen sie weder Reime noch Sylbenmaaß. Sie machen nur kurze Sätze, die aber doch nach einem gewissen Takt und Cadenz gesungen werden, und zwischen jedem Satz wird ein etlichemal repetirtes amna ajah ajah hey! vom Choro angestimmt.

Aus Kranzens Grönländischer Reise.

5. Zum Lappländischen Liede

Es heißt Morse-faurog. Interea subinde visitat amans amicam suam, adquam dum tendit, cantione amatoria se oblectat, viaeque fallit taedium. Solent enim uti plerumque cantionibus ejusmodi, non c[e]rta quadam modulatione, sed quam quisque putat optimam, nee eodem modo, sed alio et alio, prout inter ipsum canendum cuique iucundissimum videtur, S. Scheffer. Lappon. p. 282.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Liedsammlung. Volkslieder. Zweiter Theil. Zweites Buch. Nachrichten zu einigen folgenden Liedern. Nachrichten zu einigen folgenden Liedern. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5DCA-4