Nachtgesicht

11. Mai


Schwül war gestern die Nacht. Herauf vom Süden
Wetterleuchtet' es stark, und wie der Atem
Eines Stöhnenden fuhr in schweren Stößen
Durch den Garten der Föhn. Aus kurzem Schlummer
Schreckt' ich auf, und ein Weilchen lag und sann ich,
Dann vom Bett mich erhebend und notdürftig
Mich bekleidend, hinaus zur Türe trat ich
Meines hohen Balkons.
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Da strömt' entgegen
Mir die Feuchte der Nacht und vom Spaliere
Süßes Rosengedüft, indessen drüben
In der Ferne die lange Garda-Insel
Jetzt aufleuchtet, ein weiß Gespenst, im Zucken
Grell elektrischen Scheins und jetzt in Nacht sinkt.
Drunten wogte die Seeflut, hochaufspritzend
Weit herein in den Garten, daß die Palmen
Zitternd standen, besprüht vom Schaum der Wellen.
Und mich lüstet' es auch nach solchem Staubbad;
Nur die Schläfer im Haus zu wecken bangt' ich,
Noch so leise die Trepp' hinunterschleichend.
Doch da lehnt ja an des Balkones Brustwehr,
Die der Gärtner vergaß, die Sprossenstange,
Die zur Leiter ihm dient, aus höchstem Wipfel
Die Oliven zu pflücken. Flugs hinunter
Klettr' ich Sprosse für Sprosse, bis eratmend
Ich den Boden erreicht. Im Stillen freilich
War's nicht ganz mir geheuer. Denn wohl würde
Meine Liebste mich schelten, säh' sie hier mich
Leichtbekleidet bei Nacht herumspazieren.
Doch nun ist es geschehn, und fröhlich wandl' ich
An der Brüstung dahin, gekühlt vom feinen
Hauch der brandenden Flut. O weiche Feuchte!
Zauber südlicher Nacht! Und weit mich beugend
Übers Mäuerchen, blick' ich in die Tiefe,
Wo es brauset und rauscht.
Da lenkt auf einmal
Mir zur Rechten den Blick ein heller Lichtschein,
Nichts Elektrisches. Ruhig kommt's geschwommen
Von Gardone daher, und jetzt erkenn' ich –
Corpo della Madonna! – eine blanke,
Schlanke Weibergestalt! – vielleicht die schöne
Russin aus dem Hotel, die Lust verspürte,
Grad um Mitternacht noch ein Bad zu nehmen?
Solchem emanzipierten Überweibe
Säh's wohl ähnlich. Und jetzt – es gleitet näher,
Hoch das Haupt aus der Flut gereckt, die Fülle
Schwarzer Haare – doch nein, sie schimmern grünlich,
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Und am Rücken, behaglich hingebettet –
Ist's denn möglich? ein Kind! ein nacktes Bübchen,
Das so sicher hier ruht wie in der Wiege,
Leicht ein Ärmchen geschlungen um den weißen
Hals der Mutter!
Im ersten Schreck entfährt ein
Ruf mir. Aber die Schwimmerin, im mindsten
Nicht verlegen ob ihres mangelhaften
Badeanzugs, hinauf zu mir mit Grinsen
Fletscht sie lachend die spitzen weißen Zähne,
Und nun seh' ich es deutlich: statt der Füße
Regt sie rosige Flossen, auch das Knäbchen
Ist kein richtiges Menschenkind – die Beiden,
Die mir drunten genaht, sind Seegeschöpfe,
Doch leibhaftige, da für Fabelwesen
Sie mir immer gegolten!
Sacht indessen
Rudert weiter das Weib, am Wassertreppchen
Taucht sie auf, und den Kleinen niedersetzend
Auf die unterste Stufe, schießt alsbald sie
In die Tiefe zurück und gleich nach oben
Kehrt sie wieder, in der erhobnen Rechten
Einen zappelnden Fisch. Den auseinander
Bricht sie, ihrem begier'gen Kind die Hälfte
Reichend, das mit den Zähnchen frisch hineinbeißt,
Und so halten mit lautem Schmatzen Beide
Ihren nächtlichen Schmaus.
Da horch! Zur Linken
Rauscht's heran, noch im Wellenschaum verborgen.
Plötzlich fährt aus dem Gischt empor ein strupp'ges
Männerhaupt, und mit wildem Lachen reckt es
Zwischen Mutter und Kind sich in die Höhe,
Patscht mit schuppiger Hand des Knäbchens Rücken
Und entreißt ihm den Fisch. Doch grimmig fauchend
Zieht die Mutter es an sich, stirnrunzelnd,
Und will flüchten mit ihm. Es scheint, sie hat wohl
Grund dem Gatten zu grollen, der vielleicht sich
Einer sträflichen Liebschaft schuldig machte
Mit der Nixe von San Vigilio oder
Von Malcesine, und sie sagt' entrüstet
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Von dem Falschen sich los, der nun des Knaben
Sich bemächtigen will. (Das Seegesindel
Ist natürlich durchaus nicht tugendhafter,
Als das Menschengeschlecht.)
Ein Weilchen zerren
Mann und Weib an dem Bübchen, das sich kläglich
Winselnd sträubt. Doch auf einmal wird der Vater
Meister über das Kind, und durch die Wellen
Trägt er's rauschend davon, im nach mit rauhem
Möwenkreischen das Weib und jäh entschwindet
Meinem Blick der Roman der Seefamilie.
Kühler wehte der Wind. Ein leiser Schauer
Lief mir über den Leib, und nach dem Hause
Strebt' ich eilig zurück, erklomm die Leiter
(Wie mir's glückte, mir selber schien's ein Wunder)
Und rasch wieder ins Bett.
Am andern Morgen,
Als beim Frühstück ich beichtete meiner lieben
Frau, was gestern im Garten leichtbekleidet
Ich erlebt, und der wohlverdienten Schelte
Harrte, sah sie mich lächelnd an: Da hat dir
Wundersames geträumt. – Geräumt? O bitte!
Mit leibhaftigen wachen Augen sah ich
All die Wassergeschöpfe, wie auch Böcklin
Sie gesehn und gemalt. – Nun ja, genau wie
Gestern Abend in unsrer Böcklin-Mappe
Du sie sahest noch kurz vor Schlafengehen.
Oder denkst du, ich soll dir glauben, du mit
Deinen hundertundachtzig Pfund vermöchtest
Auf der schwankenden Leiter wie ein Eichhorn
Auf und nieder zu klettern? Überdies hat
Sie der Gärtner am Abend weggetragen,
Daß nicht Diebe bei Nacht ins Haus uns steigen.
Sieh nur nach, ob sie heut noch am Balkon lehnt.
Nun per Bacco! und wär' dies alles richtig:
Was ich sah, ob im Wachen oder Träumen,
Streitet Keiner mir ab, und so behaupt' ich,
Daß ich jetzt um die Nixenschaft im Garda-
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See so ziemlich Bescheid weiß, da ich schaute,
Was kein Fischer Gardone's noch ein Kurgast
Je gesehn, den zu baden Nachts gelüstet.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Ein Wintertagebuch. Nachtgesicht. Nachtgesicht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6881-B