Land!

1

[81] [83]1.

Geo Weidmann steckte die Hände in die Taschen und blickte in den Spiegel. Der Mensch, der da heraussah, war ihm widerwärtig. Wenn er nicht in so nahem Verwandtschaftsgrad zu ihm gestanden hätte, würde er sich mit ihm geschlagen haben. So ging das nicht recht. Es hieß in guter Kameradschaft weiterleben. Was verlangte er übrigens?

War er nicht ein hübscher Bursche, besaß er nicht des Mammons genug, durfte er nicht thun und lassen, was er wollte? Dürfen, ja. Eine bitterböse Sache aber, wenn man vor Hunger den Appetit verloren hat. –

Herrn Geo Weidmanns Mutter war eine aus der Provence nach dem rauhen Norden Deutschlands versetzte Südländerin. Von ihr hatte er die großen, dunklen, traurigen Augen. Sie war längst tot, die schöne Mutter, aber der Vater, ein reicher Kaufherr in Bremen, lebte noch.

[83] Geo hielt sich nicht immer bei ihm auf. Er reiste ab und zu in andere nahe gelegene Großstädte und bemühte sich da, sein Geld unter die Leute zu bringen.

Er trank Weine, die vor Alter bitter schmeckten, aber sehr hoch im Preise standen, und lief Mädchen nach, die noch als unreife Früchte am Baume des Lebens hingen.

Manchmal machte er es auch umgekehrt, trank junge Weine und verliebte sich in alte Frauen, der Abwechslung wegen. –

Aber in ihm, ganz tief in ihm saß ein uralter Sybarit: seine Seele, oder wie man es sonst zu nennen beliebt, und machte zu allem, was er begann, ein unbefriedigtes Gesicht.

Dieses Ding in ihm wars, das er so nicht leiden mochte, mit dem er sich gerne gehauen hätte. –

Es guckte in unverschämter Sehnsucht aus seinen Augen und ließ sich gar nicht verleugnen. Manchmal machte es sich so intensiv bemerkbar, daß in den freundlichsten Augenblicken, zum Beispiel, wenn ein holdes Mädchen ihm den Becher kredenzte, die Schöne plötzlich ausrief: »Was ist Ihnen, was haben Sie? Weshalb sehen Sie so gottverlassen traurig vor sich hin? Fehlt Ihnen etwas? Sprechen Sie.« Er sah dann dem hübschen Mädchen mit einem Ausdruck in die Augen, der so viel bedeutete als: Bist du aber einfältig! Von so [84] etwas spricht man nicht, und zu hübschen Mädchen schon gar nicht. –

Dann kam die Zeit, wo Geo eine edle Regung anwandelte. Er wollte ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden.

Er lernte aber bald einsehen, daß die Gegenwart schon so viele nützliche Glieder besaß, daß er, Geo Weidmann, eigentlich recht überflüssig war. Kein Mensch wartete auf sein Eingreifen. Er ärgerte sich, daß er in einer so überaus reich begabten Zeit geboren war. War nicht fast jeder Mensch entweder Künstler oder Erfinder, oder zum mindesten ein verkanntes Genie? Pferdebahnkutscher machten Verse, Schuster fühlten den göttlichen Funken in sich und nannten sich: Fußbekleidungskünstler, Schafhirten wurden plötzlich zu medizinischen Autoritäten u.s.w. Um Kommerzienrat zu werden, dazu fehlte es Geo an Lust. Es giebt schon so viel treffliche Kommerzienräte auf der Welt. Desgleichen Ärzte, Rechtsanwälte, Seiltänzer etc. Auch merkte Geo, daß alle diese »Berufe« ihn unbefriedigt gelassen hätten. Sein Sybarit verlangte etwas anderes, mehr, etwas ganz Hohes, wofür man sich nicht bezahlen ließ, das man schenkte, aus sich herausholte und in fürstlicher Freigebigkeit unter die Menschheit streute.

Und einmal – es war in seiner prächtigen Villa am Osterdeich in Bremen, er hatte nach längerer Abwesenheit [85] eben seinen Vater besucht – sah er in die grauen vorüberziehenden Wolken und dachte nach.

Einen Augenblick vorher hatte er sich geärgert, daß er nicht alle diese entzückenden Backfische heiraten konnte, die einem in Bremen auf Schritt und Tritt begegnen, und plötzlich machte seine Phantasie einen weiten, weiten Sprung.

Wenn ihn andere Gebiete nicht genug lockten, wie wars eigentlich mit dem ewigen Reiche der Religion? Die Mutter hatte so köstliche, fromme provençalische Kirchenlieder gesungen, in denen der ganze Zauber der katholischen Wunderwelt wohnte, und der ehrwürdige Vater mit seinen weißen Brauen und dem wallenden Bart ging jeden Sonntag nach der alten Martinikirche und galt als der thatkräftigste Vertreter des Luthertums. Geo überlegte lange und fand, daß es an wirklich überzeugten religiösen Naturen just keinen Überfluß gab. Wie wärs, schloß er weiter, wenn du dich ganz mit Leib und Seele der Religion in die Arme würfest? Es war ihm von klein auf so viel Respekt vor allem Religiösen eingeimpft worden, daß ihn auf diesem Gebiete alle Frivolität verließ und er ganz ernsthaft wurde. Zumal er Tolstoj verehrte und noch einige andere, die praktische Religion lehrten. Geo wußte wohl, daß zu einem religiösen Genie mancherlei gehörte. Vor allem ein unerschütterlicher Glaube an sich selbst und die eigene [86] Sendung, dann eine tüchtige Portion Menschenkenntnis. Ihm mangelte beides. Aber dafür besaß er zähen Willen, Verehrung für alles Ubersinnliche – die Reaktion auf seine Vergangenheit – Geld, Zeit, Freiheit.

Der Vater war freudig überrascht über die Wandlung, die mit dem Sohne vorgegangen war. Er dachte, Geo würde nun Theologie studieren und Pastor werden wollen, und etwa dann einmal später an der Martinikirche angestellt werden.

Geo jedoch schüttelte den Kopf. Theologie studieren? Welche denn? Katholische, evangelische, jüdische? Er wußte nicht im mindesten, welchem Gotteskult er sich anschließen würde. Er wollte vorerst alle Religionen kennen lernen, reisen, lesen; an Ort und Stelle bei den Menschen, die ja der Ausdruck der Gottheit sind, die sie anbeten, Studien machen. Der Vater machte ein ungläubiges Gesicht und seufzte; da würde nun wohl nicht viel Gescheites dabei herauskommen.

Geo blieb einstweilen in Bremen und grübelte in sich hinein. Er hatte viel schlaflose Nächte. Der ernsthafte Himmel hier stimmte auch ihn ernsthaft. Er griff zu allerlei religiösen Schriften. Er überlegte, wohin er zuerst seine Schritte lenken würde.

Er gefiel sich darin, plötzlich ein Ziel vor Augen zu haben. Er wollte endlich etwas werden, ein Priester, das Höchste, das ein Mensch werden kann. Es war[87] ihm ein schmerzlich wollüstiges Gefühl, alle seine früheren Verbindungen aufzulösen, allem Luxus, aller Verschwendung ein Ende zu machen, um sich einem Unbekannten, Neuen, Gewaltigen hinzugeben. Er ahnte bereits, wie unendlich er das Neue lieben würde.

Empfindungen, deren er sich gar nicht für fähig gehalten hätte, erwachten in ihm. Ehrfürchtige Schauer durchzogen seine Brust, wenn er erwog, daß er sich von nun an nur mit dem Höchsten, Letzten beschäftigen würde.

Die überflüssige Fülle fiel von seinem Körper ab; er wurde schlank, und sein bisher stark gerötetes Gesicht erhielt eine feine, vornehme Blässe. Das Traurige in seinen Augen verschwand und machte einem milden Leuchten Platz. Wie alle, die in einen neuen Zustand treten, gab er sich ganz diesem Neuen hin und dachte an nichts Anderes mehr. Es war wie eine erste Liebe, was sich seiner bemächtigt hatte, und zwar wie eine Liebe, die nimmer nachläßt, wenn sie einmal da ist, vielleicht deshalb, weil ihr Gegenstand ein weit entfernter ist, den man nie an die Brust reißen und auf den gleichen Boden mit sich selbst stellen kann.

Kann man Gott wirklich so lieben? fragte sich Geo erstaunt. Und der Sybarit in ihm antwortete: O ja, wie die Sonne und den Sternenhimmel, und das ist eine echte Liebe, denn man wird hell und licht durch sie.

[88]

2

2.

Es gab unter seinen Freunden einige Dummköpfe, die den Wechsel in seinen Ansichten nicht begreifen konnten.

Die Klügeren begriffen sehr wohl, daß gerade Leute, denen die Erde nichts mehr zu wünschen übrig läßt, voll Inbrunst die Arme nach etwas ausstrecken, das das »Pathos der ewigen Distanz« an sich trägt. Beispiel: Ignaz von Loyola, Karl der Fünfte, in der neuesten Zeit Tolstoj, mehrere Prinzen und Prinzessinnen von bekannten Namen.

Wenn ein Saulus aber zum Anhänger Gottes wird, geschieht das mit demselben Fanatismus, mit dem er früher Lucifer opferte.

So gab sich auch Geo nicht mit ruhiger Gelassenheit, sondern mit Begeisterung seiner neuen Entdeckung hin, daß in Gott nicht nur die ausfüllendste Arbeit, sondern auch die seligste Erschöpfung sei. Er baute nun eine chinesische Mauer kalter Abwehr um sich, ließ kaum jemand Zutritt in seine Wohnung und vergrub sich in einen Berg von religiösen Schriften. Er hatte anfänglich den Glauben als Versuchsstation benützen wollen und konnte nun, wie der Pilger in der Sage vom Magnetberge, von diesem Boden nicht mehr [89] loskommen. Das Nächstliegende war nun, daß Geo mit den Geistlichen seiner Heimatstadt in Verbindung trat, um bei ihnen praktisch in die Schule zu gehen, bevor er eine Universität aufsuchte, um vielleicht Theologie zu studieren. Er vertraute sich einem der bekanntesten und berühmtesten Priester seiner Stadt an. Der Geistliche lächelte über den flammenden Eifer des jungen Bekehrten und ermahnte ihn zur Mäßigung. Er solle sich nicht zu viel mit »himmlischen Angelegenheiten« befassen. Die Religion hätte auch eine praktische Seite. Geo runzelte die Brauen.Dr. Canelius meinte, er müsse nach Berlin zu einem wichtigen Kongreß. Wenn er wiederkehre, wolle er Weidmann auf verschiedene Irrwege aufmerksam machen, auf die er sich zu verlieren im Begriff stände.

Geo fragte interessiert nach den Dingen, die auf dem Kongreß behandelt würden. Sie wären meist politischer Natur, meinte Dr. Canelius. Ob ein Priester sich auch mit Politik befassen müsse? Die scharfgeschnittenen, geistreichen Züge des Geistlichen durchhuschte ein Lächeln. Gewiß und erst recht. Die Kirche wäre nur dadurch mächtig geworden, daß sie auch die weltliche Herrschaft an sich genommen hätte, wo sie konnte.

Und Dr. Canelius verbreitete sich in kluger, geistvoller Rede über die Pflichten des Priesters im neunzehnten Jahrhundert. Keine Schwärmerei wolle man[90] von ihm, sondern ein kluges Vermitteln des Reiches Gottes mit der Welt. Geo wurde immer stiller unter der Wucht jener glänzenden Argumente. Endlich verbeugte er sich und schritt hinaus. Er hätte am liebsten geweint wie der Junge, dem man erklärt hat, daß nicht das Jesuskind, sondern der Dienstmann den Christbaum gebracht hat. Was kümmert Gott der Streit der Parteien? Er stand hell und groß wie eine stille Sonne am Firmament des Lebens, daß jeder ihn erkennen und lieben konnte. Mußte man wirklich schlau und klug zu Werke gehen, um ihm Seelen zu gewinnen? Geo fühlte einen bittern Geschmack auf der Zunge. Konzessionen machen, das Ewige gleichsam wie ein leckeres Gericht den Leuten entgegenbringen, damit sie versuchen wies schmeckt? Nein. »Halb und Halb« ist gut für die Destille des Lebens, aber wenn es sich um ein offenes Bekenntnis des Geistes handelt?

Weidmann ließ seine Koffer packen, umarmte seinen Vater und reiste ab, gradeswegs in ein einsames Bergthal, Montafone genannt, zwischen dem Bodensee und Tirol. Dort wollte er nachdenken, fernab von der klugen, berechnenden Welt. Er mietete sich in ein einsames Bergwirtshaus ein. Der Herbst war schon angebrochen, und die paar Sommergäste hatten sich davon gemacht. Auf den Häuptern der wild zerklüfteten, in die Wolken ragenden Berge lag Schnee. Scharfe Winde brausten [91] hinab in die Thäler und erweckten eine Ahnung von dem neun Monate währenden Winter.

Eines Spätnachmittags, als Geo in Gedanken versunken neben einem wild hinstürmenden Bergbache hinschritt, hörte er den süßen Klang eines Glöckchens. Er lauschte erstaunt, wandte sich spähend um und sah endlich einen jungen Geistlichen, von einem ältern Manne begleitet, daherkommen. Die Hände des Priesters drückten einen bedeckten Kelch fest an die Brust. Sein hageres Gesicht war von tiefer Blässe überhaucht; nur die Augen leuchteten. Geo, von einem mächtigen Impulse getrieben, folgte dem seltsamen Paar.

Der Geistliche verschwand in der Hütte eines schwerkranken Bauern. Als er nach längerer Zeit wieder erschien, gesellte sich Geo zu ihm. Ihr Weg führte durch einen steil abfallenden Tannenwald in die Tiefe. Nach kurzer Zeit hatte der Priester ungefähr einen Blick in die Seele seines Begleiters erhalten. Er lud ihn ein, mit ihm zu kommen. Er bewohnte ein halbzerfallenes Häuschen neben einer kleinen, hölzernen Kirche. Der alte Meßner, der zugleich Totengräber auf dem nahen Kirchhof war, bediente ihn. Er bot Geo ein Glas Milch und steinhartes Schwarzbrot an, anderes hatte er nicht. Weidmann bebte vor Kälte in dem kleinen unwirtlichen Raum, der dem Geistlichen als Wohnstube diente. Er fragte Augustinus, wie er es hier ertrage [92] in dieser fürchterlichen Bergwüste, wo der Winter fast das ganze Jahr dauere. »Ich bin sehr glücklich« war die Antwort. »Woher nehmen Sie die Kraft?« Die Wangen des jungen Mannes röteten sich sanft.

»Die erhält man, wenn man sie braucht.«

Geo sah in das trübselige Talglicht, das Augustinus zu Ehren des Gastes angezündet hatte. Ein Schauer glitt ihm von der Stirn bis in die Fußspitzen hinab. Diese kahlen, ärmlichen Wände, durch die der Sturm pfiff, diese rohen, notdürftigsten Bauernmöbel, das Gesicht des Aufwärters, das selbst einem Totenkopf glich, die Beschäftigung des Geistlichen: bei Nacht und Nebel über unwirtsame Waldwege Sterbenden die letzte Zehrung zu bringen, beständig den Tod vor Augen haben durch den Anblick dieses fast immerwährenden eisigen Winters: alles dies ertragen zu können, setzte eine Art höheren Wesens voraus.

»Es ist ein Wunder« stammelte Geo und erfaßte die schlanken Hände des Priesters.

»Vielleicht ist es eines.«

»Warum eilen Sie nicht in die Welt hinaus und schreien es in aller Ohren: ›Brüder, es giebt Wunder. Mein Gott thut sie. Kommt zu mir, ich will ihn euch lehren.‹«

Augustinus schüttelte den Kopf. Was sollte mir[93] das? Was geht mich die Welt an? Nicht einmal der da draußen«, er wies nach der Küche, in der der Totengräber am Herde hantierte, »weiß, was in mir vorgeht.«

Geo gings wie ein Blitz durch den Kopf. Dieser hier, war er nicht der Gegensatz jenes andern »Vermittlers?« Jener diente Gott, mit einem Auge nach dem Himmel, mit dem andern nach der Erde schielend. Dieser hier hielt beide Augen nach dem Himmel gerichtet. Ihn kümmert die Welt nicht. Er geht nur zu Leuten, die sterben. Ihnen vielleicht enthüllt er ein oder das andere Geoffenbarte. Sie aber können es nimmer weiter verbreiten zum Nutzen der andern. –

»O, kommen Sie hinaus« rief Geo, »kommen Sie hinaus, erzählen Sie draußen von den starken Händen Ihres Gottes, von seinen Flammen, von seiner Gnade. Söhne dieses Gottes sind berufen, die Welt zu erobern.«

Der junge Geistliche lächelte mit geschlossenen Augen. »Lassen Sie mich hier. Der Herr kommt nur zu dem Einsamen; zöge ich hinaus, verlöre ich ihn.«

»Dann sind Sie ein Egoist; Sie wollen das Wunder für sich behalten. Sie wollen nicht schenken, Geiziger.«

»Schelten Sie mich!« Der Priester neigte demütig das Haupt. »Christus möge Ihnen verzeihen.«

[94] Geo ging fort.

Er ging durch den nächtlichen Wald. Der Herbstwind trocknete seine Thränen. Hoch oben durch dunkle Wolkenklüfte sah ein großer glänzender Stern.

Geo blickte zu ihm auf und wurde ruhiger. »Bin ich ein Narr? Was will ich eigentlich? Ich renne in der Welt umher, um Stufen zur Seligkeit zu entdecken. Die eine ist mir zu glatt, die andere zu rauh. Und – Flügel giebts nicht.« ...

Er verließ das Montafonethal und trieb sich etliche Monate planlos in der Welt umher. Dann ging er nach Paris.

Hier machte er die Bekanntschaft eines seltsamen Menschen. Er war nicht mehr jung, kahlköpfig, mit ein paar ganz wunderlichen Augen. Seine Nahrung bestand meist aus Pflanzenkost oder Reis. Er bewohnte ein kahles Hofzimmer, fühlte sich aber hier sehr zufrieden. Geo kam nicht dahinter, ob er vermögend oder arm war. Seine Ansprüche an das Leben waren die denkbar geringsten. Er wollte nach einigen Monaten weiter nach Deutschland reisen, das er noch nicht kannte. Er kam aus Indien, wo seine Eltern, einst dort eingewanderte Franzosen, sich niedergelassen hatten. Er beherrschte vierzehn Sprachen, kannte die ganze Weltlitteratur, war aber so bescheiden, daß Weidmann beschämt wurde über sein eigenes selbstbewußtes Auftreten.

[95] Sie hatten einander in der Bibliothek kennen gelernt, wo beide täglich einige Stunden zu lesen pflegten. Die fast unnatürliche Ruhe des neuen Bekannten, der sich Gaston Teckley nannte, übte einen geheimnisvollen Reiz auf Geo aus. Er suchte Gaston näher zu treten und begleitete ihn bald auf seinen weiten, einsamen Ausflügen in der Umgebung der Stadt. Natürlich erfuhr Teckley bald von dem wunderlichen Seelenzustande seines Gefährten. Etwas wie ein Lächeln huschte über seine fahlen Züge. Dann stellte er allerlei Fragen an ihn. Als Weidmann sie in seiner ehrlichen, etwas stürmischen Weise beantwortete, und Teckley merkte, daß er einen aufrichtigen, wenn auch ein wenig verschrobenen Kauz vor sich hatte, ging er gemach aus seiner Zurückhaltung heraus. Seine merkwürdigen Augen, die meist ins Unbestimmte sahen, gewannen einen festen Ausdruck und richteten sich auf Geo. Dann erzählte er ihm von schönen Büchern, die es gebe, und daß er einmal versuchen solle in ihnen zu lesen. Er brachte selbst mehrere mit, als er Weidmann einmal besuchte. Sie waren in englischer Sprache geschrieben, die Geo wie seine Muttersprache beherrschte. Er las. Anfänglich vermeinte er in einem Märchenbuche zu blättern. Bald war ihm als höre er leise Wasserfälle um sich rauschen, und sein musikalisches Empfinden erwachte; bald kam er sich vor wie von gestaltlosen Kräften in eine unbeschreibliche [96] dämmernde Einsamkeit getragen, die sich grenzenlos durch alle Himmelsgewölbe hinzog und aus deren geheimnisvollen Schatten die Weltseele zu ihm zu sprechen schien. Es wurde ganz still und andächtig in ihm. Er lag stundenlang mit geschlossenen Augen auf seinem Divan, blickte in sich hinein und horchte dem Öffnen der Knospen eines neuen Hoffnungslenzes in sich. Dann griff er wieder und wieder zu den wunderlichen Büchern. Auf eine einmal wie zufällig hingeworfene Bemerkung Teckleys begann er sich des Weines und der Fleischspeisen zu enthalten und seine Nahrung nur auf das Notwendigste zu beschränken. Er sprach tagelang nicht, schlief auf einem harten, kühlen Lager, und fing an sich zu bemühen, seine Gedanken ausschließlich auf einen Punkt zu richten, den Punkt, den er eben in seine Aufmerksamkeit ziehen wollte.

Nach einiger Zeit hatte er einen Theil jener Ruhe erlangt, die ihm an seinem Freunde so wohlgefiel.

Eines Tages sagte er zu Teckley:

»Was soll ich nun? Hier weiter leben und lesen und nichtsthun, oder irgendwie durch Thaten mich geistig vorwärtsbringen? Ich kenne eigentlich noch nicht den Gott, der mich gefesselt hält, aber ich fühle ihn mein Wesen und Denken durchdringen.«

Teckley sagte: »Töte nie ein Thier, sei gütig gegen deine Mitmenschen, und bemühe dich immer weniger[97] zu wünschen und zu erwarten. Mehr brauchst du nicht zu thun. Das andere kommt von selbst.«

»Und zu wem soll ich beten?«

Da senkte Teckley das Kinn auf die Brust.

»Zu keinem.«

Dann, nach einer Weile, meinte Weidmann:

»Und wie nenne ich mich jetzt?«

»Du bist Buddhist.«

Geo saß und blickte in sich und hatte der Wünsche immer weniger. Und dann nach und nach erfuhr er alle die seltsamen Erscheinungen, die der ganz Insichversenkte erlebt. Die Wände verloren ihre Dichtigkeit für ihn und wurden zu durchsichtigen Krystallen, durch die er hindurch sah; die Stille wurde ihm tönend voll von gewöhnlichen Ohren unvernehmbaren Lauten, und die Nacht lag vor seinen durchgeistigten Augen in hellem Glanz.

Eines Tages sagte er zu Teckley:

»Das Wunder klopft bei mir an.«

»Es wird ganz hereinkommen, wenn du erst so weit bist, das Gewand deines Fleisches ausziehen zu können und als freier Geist in deinem Körper aus- und einzugehen, wie dirs beliebt.«

»Giebts einen solchen Menschen?« fragte Geo und senkte die Augen.

[98] Teckley zögerte einen Augenblick; dann versetzte er leise: »Mehrere, viele solche giebt es.«

»Nenne mir Einen von ihnen; ich möcht' ihn sehen.«

»Du hast noch Neugierde?« Der Lehrer sah mit leisem Vorwurf den Schüler an. Aber dann sagte er gütig: »Man kann seiner Eigenschaften nur ledig werden, wenn man sie auslebt. Also folge deiner Neugierde. Einer jener Erleuchteten nennt sich Sankàra und wohnt in einem Thale von Thibet.«

Geos Augen glänzten.

»Du willst zu ihm reisen, reise!«

Der Meister hatte ihn durchschaut.

Geo zitterte vor Freude und Erwartung, einen Adepten, Einen, der viel mehr als ein Mensch sein sollte, von Angesicht zu Angesicht zu sehen – Einen, der freigebig bis zur Verschwendung mit den Offenbarungen der Ueberwelt war, der die Rätsel und zugleich die Rätsellosigkeit der Natur und ihrer magischen Kräfte ergründet hatte, den nur das Mitleid mit den Menschen wieder zur Erde steigen ließ ...

Geo verließ Paris und schiffte sich in Marseille ein. Von seinem Vater hatte er Empfehlungsschreiben an mehrere bekannte Großkaufleute in Indien erhalten. Teckley gab ihm die Adressen einiger Gesinnungsgenossen mit. So reiste er ab. Er empfand nicht die Strapazen [99] der Reise, keine Besorgnisse vor allen kommenden Anstrengungen. Er sah nur das Ziel vor sich. Er malte sich mit den glühenden Farben seiner Phantasie den Mann aus, vor den er treten würde.

Es war ein Greis mit majestätischen Zügen und langem wallenden Haupthaar. Zwei abgrundtiefe Augen, in denen die Weisheit ihr Obdach gefunden zu haben schien, blickten aus dem heiligen Antlitz. Und Geo sah, wie er zu Füßen dieses Mannes niedersank und das Gesicht in die Falten seines weißen Kleides drückte. O wie würde er aufstehen! Welche Kräfte mochten ihn erfüllen, wenn er sich erhob! ...

Das Meer rauschte seine heiligen Psalmen in die Phantasien des jungen Menschen.

Eines Tages verstummte es, und Land, ein fremder Erdteil, lag unter seinen Sohlen. Was kümmerten ihn die Städte des Orients mit ihrer fremdartigen Pracht, was die Menschen, die Sitten, die Gesetze hier. Er drängte vorwärts, nur vorwärts. Eine fieberhafte Ungeduld verzehrte ihn, machte ihn schwach, fast krank. Aber was galt ihm jetzt sein Körper. Seine Seele schrie nach dem Heiland, dem weißen Greise, der ihm sagen würde: »Früher hast du an einen Gott geglaubt, an einen großen Despoten im Himmel, der die anderen kleiner als sich gemacht hat. Ich aber lehre dich, daß jeder sich selbst beherrschende Sterbliche ein Gott ist, der [100] beliebig im Leibe oder außerhalb des Leibes wandeln darf, für den es kein räumliches noch zeitliches Hindernis giebt.« ...

So träumte Geo. Eines Tages kreuzte er die Hände über der Brust.

Die schneebedeckten Zinnen des Himalaya waren aus den Wolken hervorgetreten.

3

3.

Er fühlte eine kühle und doch warme Luft seine Wangen umspielen. Er sah meilenweite Gärten und Felder, die im durchsichtigen Glanz eines helleren Lichtes schwammen als daheim. Ihm war als hätten alle Blumen des Lenzes Flügel bekommen und wiegten sich in den Lüften. Das waren die Vögel des Orients mit ihrem farbigen Gefieder, die, in fremdartigen Lauten singend, ihrer Daseinslust Ausdruck verliehen.

Und über allem ein seltsamer Duft nach Sandelholz und Jasmin, nach köstlichen Früchten, die irgendwo im Laube versteckt sein mußten. Geos Blicke verloren sich nicht in die Einzelheiten dieses wunderlichen Landes; sie suchten immer wieder und wieder die silbernen Gipfel des Beherrschers aller Gebirge der Erde.

Dort in den Spalten seines gleißenden Schneemantels lag irgendwo versteckt das Thal, in dem der Weise [101] wohnte, er, der Wunderwelt herrlichstes Wunder. Und Geo zog mit den schweigsamen Führern, die er sich gemietet hatte, auf dem Rücken seines Kameels weiter und weiter.

Eines Tages kamen sie an einen Hain mit großen Blumen und murmelnden Quellen. Über den breitästigen Fruchtbäumen ragten goldbraune Felsen empor, die von zarten grünen Grasadern durchzogen waren. Weiter oben wurden sie kahler und ernster und verloren sich in Klippen und Zacken, hinter denen noch höhere und immer höhere in unheimlicher Großartigkeit auftauchten. Manchmal flog es wie weiße durchsichtige Schleier über die Gegend. Das waren Nebel, die sich aus den Schluchten loslösten.

Dann ging es wie ein Aufatmen durch die Blumen und Bäume, und ein Augenblick feiernder Stille nahm alle in seine stumme Seligkeit auf...

Hier in diesem Hain verließen die Führer ihre Tiere und sprachen mit leisen Stimmen unter sich. Und dann sagten sie zu Geo: »So, Herr, nun mußt du allein weitergehen. Wir dürfen nicht tiefer hinein in das Heiligtum. Der, den du suchst, wohnt im Schatten des mächtigen Nigròdho-Baumes, hinter dem sich die vier Gewässer des Gartens treffen. Gehe nur mutig vorwärts. Vor der Hütte des Buddha sitzt ein Jünger, der dich zu ihm hineinführen wird.«

[102] Und Geo strich sich die Haare aus der glühenden Stirn, stieß noch einen tiefen Atemzug aus und schritt weiter in die smaragdenen Schatten des Gartens. Es wurde stiller und stiller um ihn. Selbst die Vögel schienen hier in der Nähe des Erleuchteten sich andachtsvollem Schweigen hinzugeben. Geo gebot seinem Herzen ruhiger zu schlagen.

»Zittert nicht, Hände!« sagte er, »bald sollt ihr den Kleidsaum des Heiligen berühren.« Da drang ein leises, ganz leises Tönen an sein Ohr. Als ob Mondstrahlen zu Stimmen geworden wären oder Libellenflügel über Geigensaiten schwirrten. Und unter dem breiten Blätterdach eines Nigròdho-Baumes tauchten die Umrisse einer Hütte auf.

Auf der Schwelle kauerte ein Mensch, das Haupt in die Hände gestützt, anscheinend in tiefe Gedanken versunken. Bei den nahenden Schritten sah er auf.

»Kann ich Sankàra sprechen?« stammelte Geo. Der Jünger sah ihn einen Augenblick mit seinen halbverschleierten Augen an; dann kreuzte er die Hände über der Brust. »Folge mir.« Er trat in das Innere des Baues.

»Warte, warte!« stotterte Geo, den eine Ohnmacht anwandeln wollte.

Die Majestät des heiligen Greises, von dem er seit Monden träumte, erschütterte ihn, nun er ihr gegenüber [103] treten sollte. Er faßte sich und blickte seinen Begleiter an. Da schlug dieser einen Vorhang zurück, und Geo sank in die Kniee – aber nur, um sich wieder zu erheben und mit zwei gleichsam verwundeten Augen die Szene anzustarren, die sich ihm bot.

In einem mit glänzenden Stoffen ausgeschlagenen Gemach, das hochstielige Blumen in reichen Gefäßen durchdufteten, stand ein thronähnlicher Sessel. In diesem lag, in schneeweiße Seide gekleidet, ein junger Mensch von fürstlicher Schönheit. Ihm zu Füßen ruhte ein Mädchen, das bei Geos Eintritt hastig einen Schleier vor das Antlitz zog. Aber der eine Blick hatte genügt, ihm das bezauberndste Frauenantlitz zu zeigen. Ein wunderlich geformtes, langes, schmales Elfenbeininstrument mit zwei Saiten, das in ihrem Schooße lag und noch von der Berührung ihrer Finger vibrierte, erklärte ihm die Töne von vorhin. Und Geo sah in dieses Leben gewordene Märchen des Morgenlandes. Er sah mit seinen ehrlichen Augen, die einen Heiligen zu begrüßen gehofft hatten und einen Sardanapal fanden.

»Bist du Sankàra?« Seine Stimme zitterte schmerzhaft.

Der Prinz richtete sich leicht in seinem Sessel auf. »Ich bin Sankàra.«

Geo fühlte zwei Augen wie die Augen einer Hindin braun und sanft sich entgegenblicken. Das wie aus[104] dunklem Erz gemeißelte herrliche Gesicht des Indiers dünkte ihm in diesem Augenblick keinem Menschen anzugehören, aber auch nicht dem Ubermenschen, den zu finden er gekommen war. Es war ein fremdartiges Gebilde, das aus einer fremdartigen Schöpfung hervorgegangen zu sein schien.

»Ich wußte, daß du heute kommen würdest.«

Das Weib zu Sankàras Füßen erhob sich und verschwand mit seinem Instrument hinter einem Vorhang.

»Du wußtest es, du! Hast du denn Raum in dir, an anderes zu denken als an die schwelgerische Uppigkeit, die dich umgiebt?«

Sankàras Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, das zwei Reihen der wunderschönsten Zähne enthüllte.

»Du bist ein Neuling. Eigentlich hätte dich Teckley noch nicht fortlassen dürfen.«

In Geos Zügen malte sich lebhafte Bestürzung. »Wie, du weißt? .. Hat er dir geschrieben?«

»Nein, er hat mir nicht geschrieben; aber ich wußte es doch.«

»So bist du kein – Gaukler?«

Geo warf sich mit ausgebreiteten Armen vor Sankàra nieder.

»Nein, ich bin kein Gaukler.«

»Aber weshalb duldest du Seide an deinem Leib?[105] weshalb trinken deine Augen den Anblick der Schönheit? weshalb umkost dich Musik?«

»Es ist der Ring.« Sankàras Augen wurden um einen Schatten dunkler und richteten sich über Geos Haupt.

»Es ist der Ring, dessen Wesen du noch nicht begreifst. Als ich noch um Erleuchtung kämpfte und durch jahrtausendelange Wiederverkörperung mich Schritt für Schritt vorwärtsbrachte, habe ich mir diese Raststätte unter dem Baum des Buddha verdient. Dieser Körper, den du heute vor dir prangen siehst, war durch lange Leben elend und siech. In meinem vorigen Dasein war ich ein Fürst der That, in diesem bin ich ein Fürst des Genießens und im nächsten« – er hob die Arme in den langen schneeweißen Ärmeln langsam empor – »werde ich ein Fürst der Ruhe sein.«

»Und dann« brach es fast schreiend aus Geos Munde, »bist du dann erlöst, frei, fertig mit der Zukunft?«

Sankàra bewegte verneinend den Kopf.

»Dann, nach dem Aufgetrunkensein meiner selbst, wird die Wirkung wieder zur Ursache werden, und ich und du, wir werden von neuem einander begegnen.«

»Also hoffnungslos; kein Gott droben im Himmel, bloß der ewige, entsetzliche, leere Kreislauf, das Rad mit der eisernen Rinne, die zermalmt und zwischen[106] ihren Furchen gleich das Tote in neuen Keimstoff umsetzt und aussät!«

Von nebenan ertönte ein weiches Klingen wie aus der Tiefe bewegter Saiten. Geo lauschte einen Augenblick lang. Dann sprang er auf.

»Dein Ring gefällt mir nicht, o Sankàra.« Er hob den Vorhang auf und ließ ihn hinter sich niedergleiten....

Draußen kauerte der Jünger, in tiefes Grübeln verloren. Geo schritt an ihm vorüber. Er schob die hohen schlankstieligen Blumen ungeduldig zurück, die ihre stillen Gesichter an das seine schmiegen wollten und eilte zum Ausgang des Hains. Hier bestieg er sein Kameel und schlug mit den Führern den Rückweg ein.

4

4.

Eines Tages schaukelten ihn wieder die Wellen des Meeres.

Teilnahmlos saß er auf dem Verdeck und schaute ins Wasser. Alles, was er in dieser Zeit that, geschah halb mechanisch aus dunklem Instinkt heraus. Wie ein Nebel lags über seinem Innern. Er hatte ein festes Gut: die Freude am Leben – gegen ein unsicheres: die Erkenntnis – vertauscht und war dabei zu kurz gekommen.

[107] Die Freude an den Vergnügungen des Alltags hatte sich nicht wieder eingestellt, und die Hoffnung auf Besseres war in weite Ferne gerückt. Wäre es nicht das Klügste, ich machte allem ein Ende? dachte er eines Spätnachmittags, in die Wellen starrend.

Da begann eine laute Bewegung auf dem Schiffe. Die Leute schwenkten Tücher und machten frohe Gesichter. Im roten Abendlichte stieg aus den schimmernden Wasserthälern eine Stadt auf.

Geo rieb sich die Augen! War es möglich! Marseille! Man hatte schon längst die Küste erblickt, aber er in seiner Versunkenheit hatte sich um nichts gekümmert. Mechanisch ließ er sich nun von den Andern treiben.

Sein Fuß betrat denselben Boden, den er mit so vielen Hoffnungen verlassen hatte. Er schritt in die Stadt. Da begannen von allen Türmen die Glocken zum Abendgebet zu läuten. Der Himmel tropfte vor Glanz; purpurne Wolken waren um den versinkenden Sonnenball wie Vasallen geschaart. Bist du Gott? fragten die Augen des Mannes in das große, zügelose Antlitz blickend. Oder giebts wirklich keinen. Ist das Universum in der That nichts weiter als ein in alle Ewigkeit hinrollendes Rad, bewußtlos, ziellos, ein blinder Mechanismus? Dies schien das Credo des Buddhismus. Welchen Gewinn zog die Menschheit daraus? Wurde [108] sie veredelt durch die Aussicht, Tagelöhner der Ewigkeit zu sein? Es ist schön, nicht um Lohn zu arbeiten; aber ein Ziel muß der Schaffende mindestens vor Augen haben.

Hatten diese Menschen etwa eins? Besaßen sie ein Gut und Böse? Wenn ein Lump praßte und seine Mitmenschen zu Tode folterte, sagten sie sanft: Er hat sich seinen gegenwärtigen Lebensfeiertag im vorigen Dasein verdient. Sie kasteiten sich, um gewisse innere Kräfte zu erlangen.

Der schöne Fürst mit dem schönen Weibe zu seinen Füßen, der Adept, nützte er irgend einem Menschen, brachte er einen vorwärts, hatte er in seinem Leben eine Thräne getrocknet?

Die letzten Glockentöne verklangen, nur noch ein ganz kleines Glöcklein irgendwo in der Ferne sang leise ...

Und plötzlich sah Geo eine wilde Gebirgslandschaft vor sich, eine Nacht mit tausend Sternen, und zwei blasse, schweigsame Hände, die einen Kelch an die Brust preßten ...

Laß mich hier bei meinen Sterbenden; hier ist genug Boden, um dem Herrn zu dienen. Laß mich frieren, darben, verlacht werden von den Menschen, verunglimpft durch ihre Zweifel an meiner Ueberzeugung, was macht [109] dies? Christus ist mein Meister, er, der den Elenden das Himmelreich verspricht und die Kinder in seine Arme nimmt... Geo wars als fiele ein Schleier von seinen Augen.

Wie hatte er diesen Menschen des Geizes, der Gleichgiltigkeit zeihen können! Er war wahnsinnig gewesen. Er hatte geglaubt, ein Gott müsse durch Drommetenstöße verkündet werden, durch Feuerbrände, die von allen Altären loderten.

Hatte er vergessen, daß die Stimme des Lichtes lautlos ist? Daß die Wärme kein Wort sagt, wenn sie dem Frühling die Augen wachküßt? Daß der laute Tag, wenn er vor dem Herrn niederkniet, um ihn anzubeten, zur schweigenden Nacht wird?

O, der Gott, dem solche Söhne dienten, mußte wohl ein gewaltiger Gott sein! In der Rechten trägt er die Weltherrschaft, in der Linken die Gnade ...

Geo schritt wie ein Traumwandler durch die im Abendrot brennende Stadt. Dann brach ein heimliches Lachen aus seinen Augen. Er warf sich in den nächsten Eisenbahnzug, der nordwärts ging.

Nach drei Tagen stand er vor Augustinus. Sprechen konnte er nicht. Er lehnte sich an die weißgetünchte Mauer der Stube und senkte den Kopf.

Augustinus erfaßte seine Hände.

[110] »Verstehe ich Sie? Und Sie wollten mir beweisen, daß ich, um des Herrn Triumph zu verkünden, in die Welt hinaus müsse? Sie sehen, die Welt kommt zu mir.«

Sie lächelten und umschlangen einander.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Janitschek, Maria. Erzählungen. Kreuzfahrer. Land!. Land!. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8D09-2