Wilhelm Jensen
Gradiva

Ein pompejanischen Phantasiestück

[23] Beim Besuche einer der großen Antikensammlungen Roms hatte Norbert Hanold ein Reliefbild entdeckt, das ihn ausnehmend angezogen, so daß er sehr erfreut gewesen war, nach Deutschland zurückgekehrt, einen vortrefflichen Gipsabguß erhalten zu können. Der hing nun schon seit einigen Jahren an einem bevorzugten Wandplatz seines sonst zumeist von Bücherständern umgebenen Arbeitszimmers, sowohl im richtigen Lichtauffall, als an der, wenngleich nur kurz, von der Abendsonne besuchten Seite. Ungefähr in Drittel-Lebensgröße stellte das Bildnis eine vollständige, im Schreiten begriffene weibliche Gestalt dar, noch jung, doch nicht mehr im Kindesalter, andrerseits indes augenscheinlich keine Frau, sondern eine römische Virgo, die etwa in den Anfang der Zwanziger-Jahre eingetreten. Sie erinnerte in nichts an die vielfach erhaltenen Reliefbilder einer Venus, Diana oder sonstigen Olympierin, ebensowenig an eine Psyche oder Nymphe. In ihr gelangte etwas im nicht niedrigen Sinn Menschlich-Alltägliches, gewissermaßen ›Heutiges‹ zur körperhaften Wiedergabe, als ob der Künstler, statt wie in unsern Tagen mit dem Stift eine Skizze auf ein Blatt hinzuwerfen, sie auf der Straße im Vorübergehen rasch nach dem Leben im Tonmodell festgehalten habe. Eine hochwüchsige und schlanke Gestalt, deren leichtgewelltes Haar ein faltiges Kopftuch beinahe völlig umschlungen hielt; von dem ziemlich schmalen Gesicht ging nicht das geringste einer blendenden Wirkung aus. Doch lag ihm unverkennbar auch fremd ab, eine solche üben zu wollen; in den feingebildeten Zügen drückte sich eine gleichmütige Achtlosigkeit auf das umher Vorgehende aus, das ruhig vor sich hinschauende Auge sprach von voll unbeeinträchtigter leiblicher Sehkraft und still in sich zurückgezogenen Gedanken. So fesselte das junge Weib keineswegs durch plastische Formenschönheit, besaß aber etwas bei den antiken Steingebilden Seltenes, eine naturwahre, einfache, mädchenhafte Anmut, die den Eindruck regte, ihm Leben einzuflößen. Hauptsächlich geschah dies wohl durch die Bewegung, in der sie dargestellt war. Nur ganz leicht vorgeneigten Kopfes, hielt sie mit der linken Hand ihr außerordentlich reichfaltiges, vom Nacken bis zu den Knöcheln niederfließendes Gewand ein wenig aufgerafft, [23] so daß die Füße in den Sandalen sichtbar wurden. Der linke hatte sich vorgesetzt, und der rechte, im Begriff, nachzufolgen, berührte nur lose mit den Zehenspitzen den Boden, während die Sohle und Ferse sich fast senkrecht emporhoben. Diese Bewegung rief ein Doppelgefühl überaus leichter Behendigkeit der Ausschreitenden wach und zugleich eines sicheren Ruhens auf sich. Das verlieh ihr, ein flugartiges Schweben mit festem Auftreten verbindend, die eigenartige Anmut.

Wo war sie so gegangen und wohin ging sie? Doktor Norbert Hanold, Dozent der Archäologie, fand eigentlich für seine Wissenschaft an dem Relief nichts sonderlich Beachtenswertes. Es war kein plastisches Erzeugnis alter großer Kunst, sondern im Grunde ein römisches Genrebild, und er wußte sich nicht klarzustellen, was daran seine Aufmerksamkeit erregt habe, nur daß er von etwas angezogen worden und diese Wirkung des ersten Anblicks sich seitdem unverändert forterhalten habe. Um dem Bildwerk einen Namen beizulegen, hatte er es für sich ›Gradiva‹ benannt, ›die Vorschreitende‹; das war zwar ein von den alten Dichtern lediglich dem Mars Gradivus, dem zum Kampf ausziehenden Kriegsgott, verliehenes Beiwort, doch Norbert erschien es für die Haltung und Bewegung des jungen Mädchens am besten bezeichnend. Oder, nach dem Ausdruck unserer Zeit, der jungen Dame, denn unverkennbar gehörte sie nicht unterem Stande an, war die Tochter eines Nobilis, jedenfalls eines honesto loco ortus. Vielleicht – ihre Erscheinung erweckte ihm unwillkürlich die Vorstellung – konnte sie vom Hause eines patrizischen Aedilis sein, der sein Amt im Namen der Ceres ausübte, und befand sich zu irgendeiner Verrichtung auf dem Weg nach dem Tempel der Göttin.

Doch einem Gefühl des jungen Archäologen stand's entgegen, sie sich in den Rahmen der großen, lärmvollen Stadtwelt Roms einzufügen. Ihr Wesen, ihre ruhige stille Art gehörte ihm nicht in dies tausendfältige Getriebe, drin niemand auf den andern achtete, sondern in eine kleinere Ortschaft, wo jeder sie kannte, stillstehend und ihr nachblickend zu einem Begleiter sagte: »Das ist Gradiva« – ihren wirklichen Namen vermochte Norbert nicht an die Stelle zu setzen – »die Tochter des ... sie geht am schönsten von allen Jungfrauen in unserer Stadt.«

Als ob er's mit eigenem Ohr so vernommen, hatte sich das ihm im Kopfe festgesetzt und drin eine andere Annahme fast zur Überzeugung ausgebildet. Auf seiner italienischen Reise war er mehrere Wochen hindurch zum Studium der alten Trümmerreste in Pompeji verblieben und in Deutschland ihm eines Tages plötzlich aufgegangen, die von dem Bild Dargestellte schreite dort irgendwo auf den wieder ausgegrabenen [24] eigentümlichen Trittsteinen, die bei regnerischem Wetter einen trockenen Übergang von einer Seite der Straße zur anderen ermöglicht und doch auch Durchlaß für Wagenräder gestattet hatten. So sah er sie, wie ihr einer Fuß sich über die Lücke zwischen zwei Steinen hinübergesetzt, während der andere im Begriff stand, nachzufolgen, und bei der Betrachtung der Ausschreitenden baute sich das sie näher und weiter Umgebende wie leibhaftig vor seiner Vorstellungskraft auf. Sie erschuf ihm, unter Beihilfe seiner Altertumskenntnis, den Anblick der lang hingedehnten Straße, zwischen deren beide Häuserreihen mannigfach Tempelgebäude und Säulenhallen sich einmischten. Auch Handel und Gewerbe traten ringsum zur Schau, tabernae, officinae, cauponae, Verkaufsläden, Werkstätten, Schankbuden; Bäcker hielten ihre Brote ausgelegt, Tonkrüge, in marmorne Ladentische eingelassen, boten alles für den Haushalt und die Küche Erforderliche dar; an der Straßenkreuzungsecke saß eine Frau, in Körben Gemüse und Früchte feilbietend; von einem halben Dutzend der großen Walnüsse hatte sie die Hälfte der Schale weggetan, um zur Reizung der Kauflust den Kerninhalt als frisch und tadellos zu zeigen. Wohin das Gesicht sich wendete, stieß es auf lebhafte Farben, bunt bemalte Mauerflächen, Säulen mit roten und gelben Kapitellen; alles funkelte und strahlte in mittägiger Sonne Blendung zurück. Weiter abwärts ragte auf hohem Sockel eine weißblitzende Statue empor, darüberher sah aus der Weite, doch von zitterndem Spiel der heißen Luft halb verschleiert, der Mons Vesuvius, noch nicht in seiner heutigen Kegelgestalt und braunen Öde, sondern bis gegen den zerfurchten Schroffengipfel hinan mit grünflimmerndem Pflanzenwuchs bedeckt. In der Straße bewegten sich nur wenig Leute, nach Möglichkeit einen Schattenwurf aufsuchend, hin und her, die Glut der sommerlichen Mittagsstunde lähmte das sonst geschäftige Treiben. Dazwischen schritt die Gradiva über die Trittsteine dahin, scheuchte eine goldgrünschillernde Lazerte von ihnen fort.

So stand's lebendig vor Norbert Hanolds Augen, allein aus der täglichen Anschauung ihres Kopfes hatte sich ihm allmählich noch eine neue Mutmaßung herausgebildet. Der Schnitt ihrer Gesichtszüge bedünkte ihn mehr und mehr nicht von römischer oder latinischer, sondern von griechischer Art, so daß sich ihm nach und nach ihre hellenische Abstammung zur Gewißheit erhob. Ausreichende Begründung dafür lieferte die alte Besiedelung des ganzen südlichen Italiens von Griechenland her, und weitere, den darauf Fußenden angenehm berührende Vorstellungen entsprangen daraus. Dann hatte die junge ›domina‹ vielleicht in ihrem Elternhause Griechisch gesprochen und war, mit griechischer Bildung genährt, aufgewachsen. [25] Bei eingehender Betrachtung fand dies auch in dem Ausdruck des Antlitzes Bestätigung, es lag entschieden unter seiner Anspruchslosigkeit Kluges und etwas fein Durchgeistigtes verborgen.

Diese Konjekturen oder Ausfindungen konnten indes ein wirkliches archäologisches Interesse an dem kleinen Bildwerk nicht begründen, und Norbert war sich auch bewußt, etwas anderes, und zwar in seine Wissenschaft Fallendes sei's, was ihn zu so häufiger Beschäftigung damit zurückkehren lasse. Es handelte sich für ihn um eine kritische Urteilsabgabe, ob der Künstler den Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem Leben entsprechend wiedergegeben habe. Darüber vermochte er nicht ins Klare zu gelangen, und seine reichhaltige Sammlung von Abbildungen antiker plastischer Werke verhalf ihm ebenfalls nicht dazu. Ihn bedünkte nämlich die fast senkrechte Aufstellung des rechten Fußes als übertrieben; bei allen Versuchen, die er selbst unternahm, ließ die nachziehende Bewegung seinen Fuß stets in einer weit minder steilen Haltung; mathematisch formuliert, stand der seinige während des flüchtigen Verharrungsmomentes nur in der Hälfte des rechten Winkels gegen den Boden, und so erschien's ihm auch für die Mechanik des Gehens, weil am zweckdienlichsten, als naturgemäß. Er benützte einmal die Anwesenheit eines ihm befreundeten jungen Anatomen, diesem die Frage vorzulegen, doch auch der war zur Abgabe eines sicheren Entscheides außerstande, da er nie Beobachtungen in dieser Richtung angestellt hatte. Die von dem Freunde an sich selbst gewonnene Erfahrung bestätigte er wohl als mit seiner eigenen übereinstimmend, wußte indes nicht zu sagen, ob vielleicht die weibliche Gangweise sich von der männlichen unterscheide, und die Frage gelangte nicht zu einer Lösung.

Trotzdem war ihre Besprechung nicht ertraglos gewesen, denn sie hatte Norbert Hanold auf etwas ihm bisher nicht Eingefallenes gebracht, zur Aufhellung der Sache selbst Beobachtungen nach dem Leben anzustellen. Das nötigte ihn allerdings zu einem ihm durchaus fremdartigen Tun; das weibliche Geschlecht war bisher für ihn nur ein Begriff aus Marmor oder Erzguß gewesen, und er hatte seinen zeitgenössischen Vertreterinnen desselben niemals die geringste Beachtung geschenkt. Aber sein Erkenntnisdrang versetzte ihn in einen wissenschaftlichen Eifer, mit dem er sich der von ihm als notwendig erkannten eigentümlichen Ausforschung hingab. Diese zeigte sich in dem Menschengedränge der Großstadt durch viele Schwierigkeiten behindert, ließ ein Ergebnis nur vom Aufsuchen minder belebter Straßen erhoffen. Doch auch hier machten zumeist lange Kleider die Gangart völlig unerkennbar, hauptsächlich trugen nur die Dienstmägde kurze [26] Röcke, konnten jedoch mit Ausnahme einer geringen Minderzahl schon wegen ihres groben Schuhwerks für die Lösung der Frage nicht wohl in Betracht fallen. Trotzdem fuhr er beharrlich in seiner Auskundung fort, bei trockener wie bei nasser Witterung; er nahm gewahr, daß die letztere noch am ehesten Erfolg verheiße, da sie die Damen zum Aufraffen ihrer Kleidsäume veranlasse. Unvermeidlich mußte mancher von ihnen sein prüfend nach ihren Füßen gerichteter Blick auffallen; nicht selten gab ein unmutiger Gesichtszug der Betrachteten kund, sie sehe sein Behaben als eine Keckheit oder Ungezogenheit an; hin und wieder, da er ein junger Mann von sehr einnehmendem Äußern war, drückte sich in ein paar Augen das Gegenteil, etwas Ermutigendes aus, doch kam ihm das eine sowenig zum Verständnis wie das andere. Nach und nach dagegen gelang seiner Ausdauer dennoch die Einsammlung einer ziemlichen Anzahl von Beobachtungen, die seinem Blick mannigfache Verschiedenheiten vorüberführten. Diese gingen langsam, jene hurtig, die einen schwerfällig, die andern leichter beweglich. Manche ließen die Sohle nur eben über den Boden hingleiten, nicht viele hoben sie zu zierlicherer Haltung schräger auf. Unter allen aber bot nicht eine einzige die Gangweise der Gradiva zur Schau; das erfüllte ihn mit der Genugtuung, er habe sich in seinem archäologischen Urteil über das Relief nicht geirrt. Andrerseits indes bereiteten seine Wahrnehmungen ihm einen Verdruß, denn er fand die senkrechte Aufstellung des anhaltenden Fußes schön und bedauerte, daß sie, nur von der Phantasie oder Willkür des Bildhauers geschaffen, der Lebenswirklichkeit nicht entsprach.

Bald nachdem seine pedestrischen Prüfungen ihm diese Erkenntnis eingetragen, hatte er eines Nachts einen schreckvoll beängstigenden Traum. Darin befand er sich im alten Pompeji, und zwar grade an dem 24. Augusttage des Jahres 79, der den furchtbaren Ausbruch des Vesuvs mit sich brachte. Der Himmel hielt die zur Vernichtung ausersehene Stadt in einen schwarzen Qualmmantel eingeschlagen, nur da und dort ließen durch eine Lücke die aus dem Krater auflodernden Flammenmassen etwas von blutrotem Licht Übergossenes erkennen; alle Bewohner suchten, einzeln oder wirr zusammengeballt, von dem unbekannten Entsetzen kopfverloren-betäubt, Rettung in der Flucht. Auch auf Norbert stürzten die Lapilli und der Aschenregen nieder, doch, wie's in Träumen wunderbar geschieht, verletzten sie ihn nicht, und ebenso roch er den tödlichen Schwefeldunst in der Luft, ohne davon am Atmen behindert zu werden. Wie er so am Rande des Forums neben dem Jupitertempel stand, sah er plötzlich in geringer Entfernung die Gradiva vor sich; bis dahin hatte ihn kein Gedanke an ihr Hiersein angerührt, jetzt aber ging ihm auf einmal und [27] als natürlich auf, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt und, ohne daß er's geahnt habe, gleichzeitig mit ihm. Auf den ersten Blick erkannte er sie, ihr steinernes Abbild war bis in jede Einzelheit vortrefflich geraten und gleicherweise ihre schreitende Bewegung; unwillkürlich bezeichnete er sich diese als ›lente festinans‹. Und so ging sie ruhig-behend über die Fliesenplatten des Forums dem Apollotempel zu, mit der ihr eigenen gleichmütigen Achtlosigkeit für ihre Umgebung. Sie schien von dem auf die Stadt niederbrechenden Geschick nichts zu bemerken, nur ihren Gedanken nachzuhängen; darüber vergaß auch er den furchtbaren Vorgang, wenigstens ein paar Augenblicke lang, suchte in einem Gefühl, ihre lebende Wirklichkeit werde ihm rasch wieder verschwinden, sich diese aufs genaueste einzuprägen. Dann indes, ihn jählings überfallend, kam ihm zum Bewußtwerden, wenn sie sich nicht eilig rette, müsse sie dem allgemeinen Untergang mit verfallen, und heftiger Schreck entriß seinem Mund einen Warnruf. Den hörte sie auch, denn ihr Kopf wendete sich ihm entgegen, so daß ihr Antlitz ihm jetzt flüchtig die Vollansicht bot, doch mit einem völlig verständnislosen Ausdruck und ohne weiter achtzugeben, setzte sie ihre Richtung in der vorherigen Weise fort. Dabei aber entfärbte ihr Gesicht sich blasser, wie wenn es sich zu weißem Marmor umwandle; sie schritt noch bis zum Porticus des Tempels hinan, doch dort zwischen den Säulen setzte sie sich auf eine Treppenstufe und legte langsam den Kopf auf diese nieder. Nun fielen die Lapilli so massenhaft, daß sie sich zu einem völlig undurchsichtigen Vorhang verdichteten; ihr hastig nacheilend, fand er indes den Weg zu der Stelle, an der sie seinem Blick verschwunden war, und da lag sie, von dem vorspringenden Dach geschützt, auf der breiten Stufe wie zum Schlaf hingestreckt, doch nicht mehr atmend, offenbar von den Schwefeldünsten erstickt. Vom Vesuv her überflackerte der rote Schein ihr Antlitz, das mit geschlossenen Lidern vollständig dem eines schönen Steinbildes glich; nichts von einer Angst und Verzerrung gab sich in den Zügen kund, ein wundersamer, sich ruhig in das Unabänderliche fügender Gleichmut sah aus ihnen. Doch wurden sie rasch undeutlicher, da der Wind jetzt den Aschenregen hierhertrieb, der sich erst wie ein grauer Florschleier über sie breitete, dann den letzten Schimmer ihres Gesichtes auslöschte und bald auch wie ein nordisch-winterliches Flockengestöber die ganze Gestalt unter einer gleichmäßigen Decke begrub. Draus ragten die Säulen des Apollotempels auf, indes auch nur zur Hälfte mehr, denn eilig häufte sich an ihnen ebenfalls der graue Aschenfall empor.

Als Norbert Hanold aufwachte, lag ihm noch das verworrene Geschrei der nach Rettung suchenden Bewohner Pompejis und [28] der dumpf dröhnende Brandungsanschlag der wilderregten See im Ohr. Dann kam er zur Besinnung; die Sonne warf ein goldenes Glanzband über sein Bett, ein Aprilmorgen war's, und von draußen scholl das vielfältige Gelärm der Großstadt, Ausrufe von Verkäufern und Wagengeroll, bis zu seinem Stockwerk herauf. Doch stand das Traumbild noch mit jeder Einzelheit ihm aufs deutlichste vor den geöffneten Augen, und es bedurfte einiger Zeit, eh' er sich aus einem Halbzustand der Sinnbefangenheit losmachen konnte, daß er nicht wirklich in der Nacht vor bald zwei Jahrtausenden dem Untergang an der Bucht von Neapel beigewohnt habe. Erst beim Ankleiden ward er allmählich davon frei, dagegen gelang's ihm nicht, sich durch Anwendung kritischen Denkens seiner Vorstellung zu entwinden, daß die Gradiva in Pompeji gelebt und dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei. Vielmehr hatte die erstere Annahme sich ihm zur Gewißheit befestigt, und ebenso schloß sich jetzt auch die zweite daran. Mit einer wehmütigen Empfindung betrachtete er in seinem Wohnzimmer das alte Relief, das für ihn eine neue Bedeutung angenommen. Es war gewissermaßen ein Gruftdenkmal, mit dem der Künstler das Bild der so früh aus dem Leben Geschiedenen für die Nachwelt forterhalten hatte. Doch wenn man sie mit aufgegangenem Verständnisse ansah, ließ der Ausdruck ihres ganzen Wesens nicht zweifelhaft, daß sie sich in der verhängnisvollen Nacht wirklich mit solcher Ruhe zum Sterben hingelegt habe, wie's der Traum ihm gezeigt. Ein altes Wort sagte, die Lieblinge der Götter seien's, die sie in blühender Jugend von der Erde fortnähmen.

Norbert legte sich, ohne seinen Hals noch in einen Kragen eingeengt zu haben, in leichter häuslicher Morgenkleidung, mit Hausschuhen an den Füßen, ins geöffnete Fenster und blickte hinaus. Der endlich auch zum Norden vorgeschrittene Frühling lag draußen, gab sich in der großen Steingrube der Stadt zwar nur durch das Himmelsblau und die linde Luft kund, doch ein Ahnen berührte aus ihr die Sinne, weckte Verlangen in die sonnige Weite nach Blättergrün, Duft und Vogelgesang; ein Anhauch davon kam doch auch bis hierher, die Marktweiber auf der Straße hatten ihre Körbe mit ein paar bunten Wiesenblumen besteckt, und an einem offenstehenden Fenster schmetterte ein Kanarienvogel im Käfig sein Lied. Der arme Bursche tat Norbert leid, er hörte unter dem hellen Klang trotz seinem Jubeltone die Sehnsucht nach der Freiheit, der Ferne hinaus.

Doch verweilten die Gedanken des jungen Archäologen nur flüchtig dabei, denn etwas anderes hatte sich ihnen aufgedrängt. Ihm geriet's erst jetzt zum Bewußtsein, daß er in dem Traum nicht genau darauf geachtet habe, ob die belebte Gradiva [29] wirklich auch so gegangen sei, wie das Bildwerk es darstellte und wie die heutigen Frauen jedenfalls nicht gingen. Das war merkwürdig, weil sein wissenschaftliches Interesse an dem Relief darauf beruhte; andrerseits freilich erklärte sich's aus der Erregung, in die ihre Lebensgefährdung ihn versetzt gehabt. Er suchte sich, indes vergeblich, ihre Gangart ins Gedächtnis zurückzurufen.

Da durchfuhr ihn plötzlich einmal etwas wie mit einem Ruck; im ersten Augenblick wußte er sich nicht zu sagen, von woher. Aber dann erkannte er's; drunten auf der Straße ging, ihm die Rückseite zuwendend, ein weibliches Wesen, nach Gestalt und Kleidung wohl eine junge Dame, leicht elastischen Schrittes dahin. Sie hielt mit der linken Hand ihren nur bis zu den Knöcheln herabreichenden Kleidsaum ein wenig aufgerafft, und seinen Augen erregte es den Eindruck, als ob bei der schreitenden Bewegung sich die Sohle ihres nachfolgenden schmalen Fußes für einen Moment auf den Zehenspitzen senkrecht vom Boden aufrichte. Es schien so, ein gewisses Erkennen ließ die Entfernung und der Niederblick von oben nicht zu.

Auf einmal befand Norbert Hanold sich inmitten der Straße, ohne noch recht zu wissen, wie er dorthin geraten sei. Er war, einem am Geländer niedergleitenden Knaben gleich, blitzgeschwind die Treppe hinuntergeflogen, lief unten zwischen Wagen, Karren und Menschen hindurch. Die letzteren richteten verwunderte Augen auf ihn, und von mehreren Lippen klangen lachende, halb spöttische Ausrufe. Daß sich diese auf ihn bezogen, ward ihm nicht verständlich, sein Blick suchte nach der jungen Dame umher, und er glaubte auch, auf ein paar Dutzend Schritte weit vor sich, ihre Kleidung zu unterscheiden. Doch nur den Oberteil, von der unteren Hälfte und den Füßen konnte er nichts gewahren, denn sie wurden durch das Getriebe sich auf dem Trottoir drängender Leute verdeckt. Nun reckte ein altes, behäbiges Gemüseweib die Hand nach seinem Ärmel, hielt ihn dran an und brachte halb grinsend vom Mund: »Sagen Sie mal, mein Muttersöhnchen, Sie haben heut' nacht wohl ein bißchen was zuviel Flüssigkeit in den Kopf gekriegt und suchen hier auf der Straße nach Ihrem Bett? Da tun Sie besser, erst mal nach Hause zu gehn und sich im Spiegel zu besehn.« Ein Gelächter umher bestätigte, daß er sich in einem für die Öffentlichkeit nicht schicklichen Anzug präsentierte, brachte ihm jetzt zur Erkenntnis, wie er bedachtlos aus seinem Zimmer davongelaufen sei. Das machte ihn betroffen, da er auf Anständigkeit der äußeren Erscheinung hielt, und, von seinem Vorhaben ablassend, kehrte er rasch in die Wohnung zurück. Offenbar von dem Traum her doch noch mit etwas verwirrten, ihm Täuschung vorgaukelnden Sinnen, denn er hatte als letztes wahrgenommen, daß bei dem Lachen [30] und Rufen die junge Dame einen Augenblick den Kopf umgewendet habe, und er hatte kein fremdes Gesicht, sondern das der Gradiva von drüben herschauend zu sehen gemeint.


Doktor Norbert Hanold befand sich in der angenehmen Lage, durch beträchtlichen Vermögensbesitz unbeschränkter Herr seines Tuns und Lassens zu sein und bei dem Auftauchen einer Neigung in ihm nicht von einer Begutachtung derselben durch irgendwelche höhere Instanz als seine eigene Entscheidung abzuhängen. Darin unterschied er sich äußerst günstig von dem Kanarienvogel, der seinen angeborenen Trieb, aus dem Käfig in die sonnige Weite davonzukommen, nur erfolglos hinausschmettern konnte, sonst jedoch besaß der junge Archäologe mit jenem in manchem einige Ähnlichkeit. Er war nicht in der Naturfreiheit zur Welt gekommen und aufgewachsen, sondern eigentlich schon bei der Geburt zwischen Gitterstäben eingehegt worden, mit denen ihn Familien-Tradition durch Erziehung und Vorbestimmung umgeben. Von seiner frühen Kindheit auf hatte im Elternhause kein Zweifel darüber bestanden, daß er als einziger Sohn eines Universitätsprofessors und Altertumsforschers berufen sei, durch die nämliche Tätigkeit den Glanz des väterlichen Namens weiter zu erhalten, womöglich noch zu erhöhen, und so war diese Geschäftsfortsetzung ihm von jeher als die selbstverständliche Aufgabe seiner Lebenszukunft erschienen. Daran hatte er auch, nach dem frühen Abscheiden seiner Eltern völlig allein zurückgeblieben, getreulich festgehalten, im Anschlusse an sein vorzüglich bestandenes philologisches Examen die vorschriftsmäßige Studienreise nach Italien gemacht und auf dieser eine Fülle alter plastischer Kunstwerke, deren Nachbildungen ihm bisher nur zugänglich gewesen, im Original gesehen. Lehrreicheres als in den Sammlungen von Florenz, Rom, Neapel konnte nirgendwo für ihn geboten werden, er durfte sich das Zeugnis zuteilen, seine dortige Aufenthaltszeit aufs beste zur Bereicherung seiner Kenntnisse ausgenutzt zu haben, und war vollbefriedigt heimgekehrt, sich mit den neuen Errungenschaften ganz in seine Wissenschaft zu vertiefen. Daß außer ihren Gegenständen aus einer fernen Vergangenheit auch noch eine Gegenwart um ihn herum vorhanden sei, kam ihm nur äußerst schattenhaft zur Empfindung; für sein Gefühl waren Marmor und Bronze nicht tote Mineralien, vielmehr das einzig wirklich Lebendige, den Zweck und Wert des Menschenlebens zum Ausdruck Bringende. Und so saß er zwischen seinen Wänden, Büchern und Bildern, keines andern Verkehrs bedürftig, sondern jedem als einer leeren Zeitvergeudung möglichst ausweichend und sich nur sehr widerwillig ab und zu in die unabwendbare Plage einer Gesellschaft fügend, deren [31] Besuch altüberlieferte Verbindungen seines Elternhauses ihm aufnötigten. Doch war's bekannt, daß er an solchen Zusammenkünften ohne Augen und Ohren für seine Umgebung teilnahm, unter einer Vorgabe sich stets nach der Beendigung des Mittag- oder Abendessens, sobald es irgend tunlich wurde, empfahl, und auf der Straße niemand von denen, mit welchen er am Tisch gesessen, begrüßte. Das diente dazu, ihn besonders bei jungen Damen in ein wenig günstiges Licht zu stellen; denn selbst eine solche, mit der er ausnahmsweise ein paar Worte gesprochen hatte, blickte er bei einer Begegnung grußlos als ein nie gesehenes, wildfremdes Gesicht an.

Ob etwa die Archäologie an sich eine etwas kuriose Wissenschaft sein mochte oder ihre Legierung mit dem Wesen Norbert Hanolds eine absonderliche Verquickung bewerkstelligt hatte, so wie diese war, vermochte sie auf andere nicht viel Anziehung zu üben und gereichte ihm selbst wenig zum Genuß des Lebens, nach welchem die Jugend zu trachten pflegt. Doch hatte, vielleicht in wohlmeinender Absicht, die Natur ihm als Zugabe gewissermaßen ein Korrektiv durchaus unwissenschaftlicher Art ins Blut gelegt, ohne daß er selbst von diesem Besitztum wußte, eine überaus lebhafte Phantasie, die sich bei ihm nicht nur in Träumen, sondern oft auch im Wachen zur Geltung brachte und im Grunde seinen Kopf für nüchtern-strenge Forschungsmethodik nicht vorwiegend geeignet machte. Aus dieser Mitgift aber entsprang wieder eine Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Kanarienvogel. Der war in der Gefangenschaft geboren, hatte nie anderes als seinen ihn eng umsperrenden Käfig gekannt, trug indes trotzdem ein Gefühl in sich, daß ihm etwas fehle, und ließ das Verlangen nach diesem Unbekannten aus seiner Kehle hervorklingen. So verstand's Norbert Hanold, bedauerte ihn deshalb, in sein Zimmer zurückgekehrt und wieder aus dem Fenster liegend, nochmals, und ward dabei von einer Empfindung heut' angerührt, ihm fehle gleichfalls etwas, wovon sich nicht sagen lasse, was es sei. Ein Nachdenken darüber konnte drum auch nichts nützen; die unbestimmte Gefühlserregung kam aus der linden Frühlingsluft, den Sonnenstrahlen, der Weite mit ihrem Duftanhauch und gestaltete ihm einen Vergleich herauf, er sitze hier eigentlich ebenfalls in einem Käfig hinter Gitterstäben. Doch gesellte sich dem sofort beschwichtigend hinzu, seine Lage sei ungleich vorteilhafter als die des Kanarienvogels, denn er habe Flügel im Besitz, die durch nichts am beliebigen Ausfliegen ins Freie behindert wurden.

Das aber war jetzt ein Vorstellungsergebnis, von dem sich durch Nachdenken weiter fortschreiten ließ. Norbert gab sich dieser Beschäftigung ein Weilchen hin, doch dauerte es nicht lange, bis der Vorsatz einer Frühlingsreise in ihm feststand. [32] Den führte er am selben Tage noch aus, packte seinen leichten Handkoffer, warf beim Abendanbruch noch einen bedauerlichen Verabschiedungsblick auf die Gradiva, die, von den letzten Sonnenstrahlen überflossen, behender denn je über die unsichtbaren Trittsteine unter ihren Füßen auszuschreiten schien, und fuhr mit dem Nachtschnellzug in südlicher Richtung davon. Wenn auch der Antrieb zu einer Reise ihm aus einer unbenennbaren Empfindung entsprungen war, hatte die weitere Überlegung doch als selbstverständlich ergeben, daß sie einem wissenschaftlichen Zweck dienen müsse. Ihm war aufgegangen, daß er vernachlässigt habe, sich in Rom bei mehreren Statuen über einige wichtige archäologische Fragen zu vergewissern, und er begab sich, ohne unterwegs anzuhalten, in anderthalbtägiger Fahrt dorthin.


Nicht allzuviele machen an sich selbst die Erfahrung, daß es sehr schön ist, jung, vermöglich und unabhängig im Frühling aus deutschen Landen nach Italien zu ziehen, denn selbst die mit jenen drei Eigenschaften Ausgerüsteten sind solcher Schönheitsempfindung nicht allmal zugänglich. Besonders wenn sie, und leider die Mehrzahl ausmachend, sich in den einer Hochzeit nachfolgenden Tagen und Wochen zu zweien befinden, nichts ohne ein außerordentliches, sich durch zahlreiche Superlative kundgebendes Entzücken an ihren Augen vorübergleiten lassen und schließlich nur das nämliche als Ausbeute mit nach Hause zurückbringen, was sie beim Dortverbleiben ganz ebenso entdeckt, empfunden und genossen hätten. In umgekehrter Richtung wie die Zugvögel pflegen solche Dualisten im Frühling die Alpenpässe zu überschwärmen. Norbert Hanold ward während der ganzen Fahrt von ihnen wie in einem rollenden Taubenschlag umflügelt und umflötet und eigentlich zum erstenmal im Leben in die Zwangslage versetzt, seine ihn umgebenden Mitmenschen mit Auge und Ohr genauer in sich aufzunehmen. Obwohl sie nach ihrer Sprache sämtlich deutsche Landsleute waren, rief seine Stammeszugehörigkeit zu ihnen durchaus kein Stolzgefühl in ihm wach, vielmehr nur das ziemlich entgegengesetzte, er habe vernunftgemäß wohl daran getan, sich bisher mit dem lebendigen ›Homo sapiens‹ der Linnéschen Klassifizierung möglichst wenig zu befassen. Hauptsächlich in bezug auf die weibliche Hälfte dieser Gattung; zum erstenmal auch sah er derartig vom Paarungstrieb Zusammengesellte in seiner nächsten Nähe, außerstande zu begreifen, was sie gegenseitig dazu veranlaßt haben könne. Ihm blieb unverständlich, warum die Frauen sich diese Männer ausgewählt hätten, noch rätselhafter aber, weshalb die Wahl der Männer auf diese Frauen gefallen sei. Bei jeder Kopfaufhebung mußte sein Blick [33] auf das Gesicht einer von ihnen geraten und traf auf keines, das die Augen durch eine äußere Wohlbildung einnahm oder innerlich auf einen geistigen und gemütlichen Inhalt hinwies. Allerdings fehlte ihm ein Maßstab, um sie daran zu bemessen, denn mit der erhabenen Schönheit der alten Kunstwerke durfte man das heutige weibliche Geschlecht natürlich nicht in Vergleich bringen, doch trug er eine dunkle Empfindung in sich, daß er sich dieses ungerechten Verfahrens nicht schuldig mache, sondern in allen Zügen etwas vermisse, zu dessen Darbietung auch das gewöhnliche Leben verpflichtet sei. So dachte er manche Stunden hindurch über das sonderbare Treiben der Menschen nach und kam zu dem Ergebnis, unter allen ihren Torheiten nehme jedenfalls das Heiraten, als die größte und unbegreiflichste, den obersten Rang ein, und ihre sinnlosen Hochzeitsreisen nach Italien setzten gewissermaßen dieser Narretei die Krone auf.

Wiederum aber ward er an den von ihm in der Gefangenschaft zurückgelassenen Kanarienvogel erinnert, denn er saß auch hier in einem Käfig, rundum von den ebenso verzückten als nichtig-leeren jungen Ehepaargesichtern eingepfercht, an denen vorbei sein Blick nur dann und wann einmal durch die Fenster hinausschweifen konnte. Daraus mochte sich wohl erklären, daß die draußen seinen Augen vorüberziehenden Dinge ihm andere Eindrücke als damals erregten, wie er sie vor einigen Jahren gesehen hatte. Das Olivenlaub flimmerte in einem stärkeren Silberglanz, die da und dort einsam gegen den Himmel ragenden Zypressen und Pinien zeichneten sich mit schöneren und eigenartigeren Umrissen ab, reizvoller bedünkten ihn die auf den Berghöhen hingelagerten Ortschaften, wie wenn jede gleichsam ein Individuum mit verschiedengeartetem Gesichtsausdruck sei, und der Trasimenische See erschien ihm von einer weichen Bläue, wie er sie noch nie an einer Wasserfläche wahrgenommen. Ihn rührte ein Gefühl an, den Schienenstrang umgebe rechts und links eine ihm fremde Natur, als ob er diese vormals in beständigem Dämmerlicht oder bei grauem Regenfall durchfahren haben müsse und jetzt zum erstenmal in ihrer von der Sonne vergoldeten Farbenfülle sehe. Ein paarmal ertappte er sich auf einem ihm bisher unbekannt gewesenen Wunsch, aussteigen und zu Fuß sich einen Weg nach dieser und jener Stelle suchen zu können, weil sie ihn ansah, wie wenn sie irgend etwas Eigentümliches, wie Geheimnisvolles verborgen halte. Doch ließ er sich von solchen vernunftwidrigen Anwandlungen nicht verleiten, sondern der ›direttissimo‹ brachte ihn gradewegs nach Rom, wo ihn bereits vor der Einfahrt in den Bahnhof die alte Welt mit den Trümmerresten des Tempels der Minerva Medica in Empfang nahm. Aus seinem mit den Inseparables angefüllten [34] Käfig in Freiheit gelangt, nahm er vorderhand in einem ihm bekannten Gasthof Unterkunft, um sich von dort aus ohne Übereilung nach einer seinem Wunsch entsprechenden Privatwohnung umzusehen.

Eine solche fand er im Verlauf des nächsten Tages noch nicht, sondern kehrte am Abend nochmals in sei nen Albergo zurück und begab sich, von der ungewohnten italienischen Luft, der starken Sonnenwirkung, vielem Umherwandern und dem Straßenlärm ziemlich ermüdet, zur Ruhe. So fing auch schon das Bewußtsein bald an ihm zu verdämmern, doch grade im Einschlafen begriffen, ward er wieder aufgeweckt, denn sein Zimmer war durch eine nur durch einen Schrank verstellte Tür mit dem nebenan befindlichen verbunden, und in dieses traten zwei Gäste, die am Morgen davon Besitz genommen, ein. Nach ihren die dünne Scheidewand durchklingenden Stimmen ein männlicher und ein weiblicher, die unverkennbar der Klasse der deutschen Frühlingsstrichvögel angehörten, mit denen er gestern von Florenz hierhergefahren war. Ihre Gemütsstimmung schien der Hotelküche ein entschieden günstiges Zeugnis auszustellen, und der Güte eines castelli romani-Weines mochte es zu danken sein, daß sie ihre Gedanken und Empfindungen äußerst deutlich vernehmbar mit norddeutschen Zungen austauschten:

»Mein einziger August–«

»Meine süße Grete –«

»Nun haben wir uns wieder.«

»Ja, endlich sind wir wieder allein.«

»Müssen wir morgen noch mehr ansehen?«

»Wir wollen beim Frühstück mal im Baedeker nachsehen, was noch notwendig ist.«

»Mein einziger August, du gefällst mir viel besser als der Apoll von Belvedere.«

»Das hab' ich oft denken müssen, meine süße Grete, du bist viel schöner als die capitolinische Venus.«

»Ist der feuerspeiende Berg, auf den wir hinaufwollen, hier nahebei?«

»Nein, da müssen wir, glaub' ich, noch ein paar Stunden mit der Eisenbahn fahren.«

»Wenn er dann grade anfinge, zu speien, und wir da mitten hineinkämen, was würdest du da tun?«

»Da würde ich gar keinen andern Gedanken haben, als wie ich dich retten sollte, und dich so auf die Arme nehmen.«

»Stich dich nur nicht an einer Stecknadel!«

»Ich kann mir ja nichts Schöneres denken, als mein Blut für dich zu vergießen.«

»Mein einziger August –«

»Meine süße Grete –«

[35] Damit schloß vorderhand die Unterhaltung. Norbert hörte noch ein unbestimmtes Rascheln und Rücken von Stühlen, dann ward's still, und er verfiel in den Halbschlaf zurück. Der versetzte ihn nach Pompeji, wie eben der Vesuv wieder ausbrach; ein buntes Gewimmel von flüchtenden Menschen knäuelte sich um ihn herum, und darunter sah er auf einmal den Apoll von Belvedere, der die capitolinische Venus aufhob, forttrug und in einen dunklen Schatten gesichert auf einen Gegenstand hinlegte; ein Wagen oder Karren, mit dem sie fortgebracht werden sollte, schien's zu sein, denn ein knarrender Ton scholl davon her. Dieser mythologische Vorgang verwunderte den jungen Archäologen nicht weiter, nur fiel ihm als merkwürdig auf, daß die beiden nicht Griechisch, sondern Deutsch miteinander redeten, denn er hörte sie, dadurch zu halber Besinnung gelangend, nach einem Weilchen sagen:

»Meine süße Grete –«

»Mein einziger August –«

Aber danach verwandelte sich das Traumbild um ihn herum vollständig. Lautlose Stille trat an die Stelle der verworrenen Töne, und statt des Rauches und Flammenscheines lag helles, heißes Sonnenlicht über den Trümmerresten der verschütteten Stadt. Die änderte sich ebenfalls allmählich um, ward zu einem Bett, auf dessen weißen Linnen Goldstrahlen sich bis an seine Augen heranringelten, und Norbert Hanold wachte, vom römischen Frühmorgen umfunkelt, auf.

Auch in ihm selbst war indes etwas anders geworden, wodurch, wußte er sich nicht anzugeben, doch hatte sich seiner abermals ein sonderbar beklemmendes Gefühl bemächtigt, daß er in einem Käfig eingesperrt sei, der diesmal Rom heiße. Wie er das Fenster öffnete, kreischten ihm von der Straße her die dutzendfachen Ausrufe der Verkäufer noch weit schrilltöniger im Ohr als in seiner deutschen Heimat; er war nur aus einer lärmvollen Steingrube in die andre geraten, und ihn schreckte ein wunderlich unheimliches Grauen vor den Altertumssammlungen, einer dortigen Begegnung mit dem Apoll von Belvedere und der capitolinischen Venus zurück. So stand er nach kurzem Besinnen von seinem Vorhaben, sich eine Wohnung zu suchen, ab, packte eilfertig seinen Koffer wieder und fuhr auf der Eisenbahn weiter nach Süden. Dies tat er, um den Inseparables zu entgehen, in einem Wagen dritter Klasse, zugleich in diesem eine interessante und ihm wissenschaftlich förderliche Umgebung von italienischen Volkstypen, den ehemaligen Modellen der antiken Kunstwerke, erwartend. Doch er fand nichts als landesüblichen Schmutz, entsetzlich riechende Monopol-Zigarren, kleine, windschiefe, mit Armen und Beinen fuchtelnde Kerle und Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes, gegen die ihm seine zwiegepaarten Landsmänninnen [36] in der Erinnerung fast noch als olympische Göttinnen erschienen.


Zwei Tage später bewohnte Norbert Hanold einen ziemlich fragwürdigen, ›camera‹ benannten Raum im ›Hotel Diomède‹ neben dem von Eukalyptusbäumen bewachten ›ingresso‹ zu den Ausgrabungen von Pompeji. Er hatte beabsichtigt, dauernd in Neapel zu bleiben, um die Skulpturen und Wandgemälde im Museo Nazionale eingehend wieder zu studieren, doch es war ihm dort ähnlich ergangen wie in Rom. Im Saale der pompejanischen Hausgerätesammlung sah er sich von einer Wolke weiblicher Reisekleider neuester Façon eingehüllt, die zweifellos sämtlich unmittelbar mit dem jungfräulichen Strahlenglanz von Atlas-, Seide-oder Gaze-Brautkleidern vertauscht worden waren; jedes hing durch die Vermittlung eines Ärmels am Arm eines ebenso tadellos männlich kostümierten, jüngeren oder ältlicheren Begleiters, und Norberts neugewonnene Einsicht in ein ihm bisher unbekannt gewesenes Wissensgebiet war so weit vorgeschritten, ihn auf den ersten Blick erkennen zu lassen, jeder war August und jede war Grete. Nur kam dies hier durch andere, vom Ohr der Öffentlichkeit modifizierte, gemäßigte und gemilderte Gesprächsführung zutage:

»O sieh' mal, das hatten sie praktisch, solchen Speisewärmer wollen wir uns doch auch anschaffen.«

»Ja, aber für die Gerichte, die meine Frau kocht, muß er aus Silber gemacht sein.«

»Weißt du denn schon, ob das, was ich koche, dir so gut schmecken wird?«

Die Frage wurde von einem schelmischen Aufblick begleitet und von einem wie mit Glanzlack gefirnißten bejaht. »Was du mir servierst, kann alles nur zur Delikatesse werden.«

»Nein, das ist ja ein Fingerhut! Haben denn die Leute damals schon Nähnadeln gehabt?«

»Das scheint beinah' so, aber du hättest nichts mit ihm anfangen können, mein Herz, dir würde er noch für den Daumen viel zu groß sein.«

»Meinst du wirklich? Und hast du denn schmale Finger lieber als breite?«

»Deine brauch' ich gar nicht zu sehen, die würde ich beim tiefsten Dunkel aus allen anderen auf der Welt herausfühlen.«

»Das ist wirklich alles furchtbar interessant. Müssen wir eigentlich auch noch nach Pompeji selbst?«

»Nein, das lohnt sich kaum, da sind nur alte Steine und Schutt, was von Wert war, steht im Baedeker, ist alles hierhergebracht. Ich fürchte, die Sonne würde dort auch für deinen [37] zarten Teint schon zu heiß sein, das könnte ich mir nie verzeih'n.«

»Wenn du auf einmal eine Negerin zur Frau hättest.«

»Nein, so weit reicht glücklicherweise doch meine Phantasie nicht, aber eine Sommersprosse auf deinem Näschen würde mich schon unglücklich machen. Ich denke, wenn's dir recht ist, wollen wir morgen nach Capri fahren, mein Liebchen. Dort soll alles sehr bequem eingerichtet sein, und in der wundervollen Beleuchtung der Blauen Grotte werde ich erst ganz er kennen, was für ein großes Los ich in der Glückslotterie gezogen habe.«

»Du, wenn jemand das anhört, ich schäme mich ja beinah'. Aber wohin du mich bringst, ist's mir überall recht und ganz einerlei, wo, denn ich habe dich ja bei mir.«

August und Grete rundum, für Auge und Ohr etwas gemäßigt und gemildert. Norbert Hanold war's, als ob er von allen Seiten mit verdünntem Honig angegossen würde und davon Schluck um Schluck auch über die Zunge herunterbringen müsse. Es wandelte ihn ein Übelkeitsgefühl an, und er lief aus dem Museo Nazionale davon, zur nächsten Osteria hinüber, um ein Glas Wermut zu trinken. Verzehntfacht drang's auf ihn ein: Wozu füllte dieser hundertfältige Dual die Museen von Florenz, Rom und Neapel an, statt sich seiner Pluralbeschäftigung in den heimischen deutschen Vaterländern hinzugeben? Doch war ihm aus einer Anzahl der Causerien und Kosereden aufgegangen, wenigstens die Mehrheit der Vogelpaare habe nicht im Sinn, zwischen dem Schutt von Pompeji zu nisten, sondern sehe eine Flugabschwenkung nach Capri als zweckdienlicher an, und daraus entsprang für ihn der rasche Antrieb, das zu tun, was sie nicht taten. Vergleichsweise bot sich ihm jedenfalls so noch am meisten Aussicht, aus dem Hauptschwarm ihres Schnepfenstriches loszukommen und dasjenige zu finden, wonach er hier im hesperischen Lande vergeblich herumsuchte. Das war auch eine Zweiheit, doch kein Hochzeits-, sondern ein Geschwisterpaar ohne stets girrende Schnäbel, die Stille und die Wissenschaft, zwei ruhige Schwestern, bei denen allein sich auf eine befriedigende Unterkunft rechnen ließ. Sein Verlangen nach ihnen enthielt etwas ihm bisher Unbekanntes – wenn es nicht ein Widerspruch in sich gewesen wäre, hätte er diesem Drang das Epitheton ›leidenschaftlich‹ beilegen können – und schon um eine Stunde später saß er in einer ›carozella‹, die ihn hurtig durch die Endlosigkeit von Portici und Resina davontrug. Eine Fahrt war's wie durch eine prangend für einen altrömischen Triumphator geschmückte Straße; links und rechts breitete fast jedes Haus, gelblichen Teppichbehängen ähnlich, zum Dörren in der Sonne einen überschwenglichen Reichtum von ›pasta da Napoli‹ aus, [38] dem höchsten Landesleckerbissen an dickeren oder dünneren maccheroni, vermicelli, spaghetti, cannelloni und fidelini, denen dort durch Fettdünste der Garküchen, Staubgewirbel, Fliegen und Flöhe, in der Luft herumtanzende Fischschuppen, Schornsteinrauch und sonstige Tag- oder Nachteinflüsse die intime Köstlichkeit ihres Wohlgeschmacks verliehen wurde. Dann sah über braune Lavageröllfelder der Vesuvkegel nah herunter, zur Rechten dehnte sich mit schillernder Bläue, wie aus flüssigem Malachit und Lapislazuli zusammengemischt, der Golf. Die kleine beräderte Nußschale flog, wie von einem tollen Sturm fortgewirbelt und als ob jeder Augenblick ihr letzter sein müsse, über das grausame Pflaster von Torre del Greco, durchrasselte Torre dell' Annunziata, erreichte das in unablässigem, stummgrimmigem Ringkampf seine Anziehungskräfte messende Dioskurenpaar des ›Hôtel Suisse‹ und ›Hôtel Diomède‹ und hielt vor dem letzteren an, dessen altklassischer Name den jungen Archäologen wieder, wie bei seinem ersten Besuch, zu der Gasthofswahl bestimmt hatte. Wenigstens mit scheinbar größter Gemütsruhe schaute indes der moderne schweizerische Konkurrent vor seiner Tür diesem Vorgange zu; er war darüber beruhigt, daß auch in den Töpfen des klassischen Nachbars nicht mit andrem Wasser gekocht wurde als in seinem und daß die drüben verführerisch zum Ankauf ausgestellten antiken Herrlichkeiten ebensowenig wie seine unter der Aschendecke herauf nach zwei Jahrtausenden wieder ans Licht gekommen seien.

So war Norbert Hanold wider Erwarten und Absicht in wenigen Tagen vom deutschen Norden nach Pompeji versetzt worden, fand den Diomed mit menschlichen Gästen nicht allzu stark angefüllt, dagegen von der musca domestica communis, der gemeinen Stubenfliege, bereits überreichlich bevölkert. Er hatte nie eine Erfahrung gemacht, daß sein Gemüt für ungestüme Regungen veranlagt sei, doch gegen diese Zweiflügler brannte ein Haß in ihm; er betrachtete sie als die niederträchtigste Bosheitserfindung der Natur, gab um ihretwillen dem Winter als der einzigen Zeit einer menschenwürdigen Lebensführung weitaus den Vorzug vor dem Sommer und erkannte in ihnen den unumstößlichen Beweis gegen das Vorhandensein einer vernünftigen Weltordnung. Nun empfingen sie ihn hier schon um mehrere Monate früher, als er ihrer Infamie in Deutschland anheimgefallen wäre, stürzten sich sofort dutzendweise über ihn als auf ein erharrtes Opfer, schwirrten ihm in die Augen, schnurrten im Ohr, verfingen sich im Haar, liefen kitzelnd auf Nase, Stirn und Händen. Manche erinnerten ihn dabei an hochzeitsreisende Paare, redeten sich vermutlich in ihrer Sprache auch »mein einziger August« und »meine süße Grete« an; dem Gedächtnis des Gequälten stieg ein [39] sehnsüchtiger Wunsch nach einer ›scacciamosche‹, einer vortrefflich angefertigten Fliegenklatsche, auf, wie er sie im etruskischen Museum in Bologna aus einer Gruftstele ausgegraben gesehen hatte. Also war im Altertum diese nichtswürdige Kreatur schon ebenso die Geißel der Menschheit gewesen, bösartiger und unabwendbarer als Skorpione, Giftschlangen, Tiger und Haifische, die es nur auf leibliche Schädigung, Zerreißung oder Verschlingung der von ihnen Überfallenen abgesehen hatten, vor denen man sich außerdem durch besonnenes Verhalten sichern konnte. Gegen die gemeine Stubenfliege aber gab es keinen Schutz, und sie lähmte, verstörte, zerrüttete schließlich das geistige Wesen des Menschen, seine Denk- und Arbeitsfähigkeit, jeden höheren Aufschwung und jede schöne Empfindung. Nicht Hungerbegier und Blutdurst trieb sie dazu, lediglich das teuflische Gelüst zu martern; sie war das ›Ding an sich‹, in dem das absolut Böse seinen Ausdruck und seine Verkörperung gefunden. Die etruskische scacciamosche, ein Holzstiel mit einem daran befestigten Bündel feiner Lederstreifen, bewies: so hatte sie schon im Kopf des Äschylos die erhabensten Dichtungsgedanken zugrunde gerichtet, so den Meißel des Phidias zu einem nicht wieder verbesserlichen Fehlschlag gebracht, die Stirn des Zeus, die Brust Aphrodites, vom Scheitel bis zur Sohle alle olympischen Götter und Göttinnen überlaufen, und Norbert empfand im Innersten, das Verdienst eines Menschen sei vor allem andern nach der Anzahl von Stubenfliegen zu bewerten, die er während seiner Lebzeit als ein Rächer seines ganzen Geschlechtes von Urzeit her erschlagen, aufgespießt, verbrannt, in täglichen Hekatomben ausgerottet habe.

Zu solchem Ruhmgewinn aber gebrach's ihm hier an der nötigen Waffe, und wie es auch der größte, doch in Vereinzelung geratene Schlachtenheld des Altertums nicht anders vermocht hatte, räumte er vor der hundertfältigen Überzahl der gemeinen Gegner das Feld oder vielmehr seine Stube. Draußen dämmerte ihm auf, er habe damit nur heute im engeren getan, was er morgen im weiteren wiederholen müsse; Pompeji bot seinem Bedürfnis offenbar auch keinen ruhig-befriedigenden Aufenthalt. Übrigens gesellte sich dieser Erkenntnis, wenigstens dunkel, noch eine andre hinzu, daß seine Unbefriedigung wohl nicht allein durch das um ihn herum Befindliche verursacht werde, sondern etwas ihren Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe. Allerdings war die Belästigung durch die Fliegen ihm immer sehr widerwärtig gewesen, aber in eine derartige Grimmaufwallung wie eben hatten sie ihn bisher doch noch nicht versetzt. Seine Nerven befanden sich unverkennbar von der Reise in einem erregten und reizbaren Zustand, dessen Anbahnung vermutlich schon zu Hause durch winterlange[40] Stubenluft und Überarbeitung begonnen. Er fühlte, daß er mißmutig sei, weil ihm etwas fehle, ohne daß er sich aufhellen könne, was. Und diese Mißstimmung brachte er überallhin mit sich; gewiß waren in Masse umschwärmende Stubenfliegen und Hochzeitspaare nicht dazu angetan, irgendwo das Leben zu verannehmlichen. Doch wenn er sich nicht in eine dicke Wolke von Selbstbeschönigung einwickeln wollte, konnte ihm nicht recht verborgen bleiben, daß er eigentlich ebenso zweck- und sinnlos, taub und blind wie sie, nur mit erheblich geringerer Vergnügungsbefähigung in Italien herumfuhr. Denn seine Reisebegleiterin, die Wissenschaft, hatte entschieden viel von einer alten Trappistin, tat den Mund nicht auf, wenn sie nicht angeredet wurde, und ihm kam's vor, er sei nicht weit davon, aus dem Gedächtnis zu verlieren, in welcher Sprache er überhaupt mit ihr verkehrt habe.

Durch den Ingresso noch nach Pompeji hineinzugehen, war's schon zu spät am Tage. Norbert erinnerte sich eines von ihm einmal auf der alten Stadtmauer gemachten Rundganges, suchte zu ihr durch allerhand Buschgestrüpp und Unkrautgewächs einen Aufstieg. So wanderte er eine Strecke weit etwas erhöht über der Gräberstadt dahin, die ihm, ohne Regung und Laut, zur Rechten lag. Als ein totes Schuttfeld erschien sie, größtenteils bereits vom Schatten zugedeckt, da die Abendsonne im Westen nicht weit mehr vom Rande des Tyrrhenischen Meeres entfernt stand. In der Runde umher dagegen überfloß sie alle Bergkuppen und Gelände noch mit einem zauberhaften Glanz des Lebens, vergoldete die über dem Vesuvkrater aufwachsende Rauchpinie, kleidete die Zinnen und Zacken des Monte Sant' Angelo in Purpur. Hoch und einsam stieg der Monte Epomeo aus der blauperlenden, Lichtfunken aufsprühenden See, der sich das Cap Misenum mit dunklem Umriß wie ein geheimnisvoller Titanenbau enthob. Wohin der Blick fiel, breitete sich ein wundervolles Bild aus, Erhabenheit und Anmut verschwisternd, ferne Vergangenheit und freudige Gegenwart. Norbert Hanold hatte geglaubt, hier das, wonach er ein unbestimmtes Verlangen trug, zu finden. Doch er war nicht in der Stimmung dazu, obwohl ihn auf der verlassenen Mauer keine Hochzeitspaare und Fliegen behelligten, aber auch die Natur war außerstande, ihm zu bieten, was er um sich und in sich vermißte. Mit einer nah an Gleichgültigkeit grenzenden Gelassenheit ließ er die Augen über alle Schönheitsfülle hingehen, bedauerte nicht im geringsten, daß diese beim Sonnenuntergang verblich und auslosch, und kehrte unbefriedigt, wie er gekommen, zum Diomed zurück.


Da er aber nun einmal, ob auch invita Minerva, durch seine [41] Unbedachtsamkeit hierher versetzt worden war, kam er über Nacht zum Beschluß, aus der begangenen Torheit wenigstens einen Tag lang wissenschaftlichen Nutzen zu ziehen, und begab sich, sobald am Morgen der Ingresso geöffnet ward, auf dem ordnungsmäßigen Wege nach Pompeji hinein. Vor ihm und hinter ihm wanderte in kleinen, von den Zwangsführern befehligten Trupps, mit rotem Baedeker oder ausländischen Vettern desselben bewaffnet, die derzeitige, nach heimlichen eignen Ausscharrungen lüsterne Bevölkerung der beiden Gasthöfe; fast ausschließlich erfüllte englisches oder anglo-amerikanisches Gequadder die noch frische Morgenluft, die deutschen Hochzeitspaare beglückten drüben hinter dem Monte Sant' Angelo auf Capri sich gegenseitig an dem Frühstückstisch des Pagano-Hauptquartiers mit germanischer Süßigkeit und Begeisterung. Norbert verstand's von früher her, sich durch richtig gewählte, mit einer guten ›mancia‹ verbundene Worte bald von der Lästigkeit seines ›guida‹ zu befreien, um unbehindert allein seinen Zwecken nachgehn zu können. Ihm gereichte etwas zur Befriedigung, daß er sich im Besitz eines tadellosen Gedächtnisses erkannte; wohin sein Blick fiel, lag und stand alles genauso, wie er es in sich trug, als ob er's erst gestern vermittelst sachverständiger Betrachtung seinem Kopf eingeprägt habe. Diese sich beständig wiederholende Wahrnehmung aber brachte andrerseits mit, daß ihm sein Hiersein eigentlich sehr unnötig vorkam und sich seiner Augen und geistigen Sinne mehr und mehr, wie am Abend auf der Mauer, eine entschiedene Gleichgültigkeit bemächtigte. Obwohl, wenn er aufsah, die Rauchpinie des Vesuvkegels zumeist gegen den blauen Himmel vor seinem Blick dastand, kam ihm doch merkwürdigerweise nicht ein einzigesmal in Erinnerung, daß er vor einiger Zeit einmal geträumt habe, bei der Verschüttung Pompejis durch den Kraterausbruch im Jahre 79 zugegen gewesen zu sein. Das stundenlange Umherwandern machte ihn wohl müde und halb schläfrig, allein von etwas Traumhaftem empfand er nicht den geringsten Anhauch, sondern ihn umgab lediglich ein Gewirr von Bruchstücken alter Torbogen, Säulen und Mauern, im höchsten Maße bedeutungsvoll für die archäologische Wissenschaft, doch ohne die esoterische Beihülfe dieser angesehen, eigentlich nicht viel anderes als ein großer, zwar sauber aufgeräumter, indes außerordentlich nüchterner Schutthaufen. Und obwohl Wissenschaft und Träumen sonst zueinander auf einem gegensätzlichen Fuße zu stehen gewöhnt waren, hatten sie offenbar heute hier ein Übereinkommen getroffen, Norbert Hanold gleicherweise ihre Hülfsleistungen zu entziehn und ihn völlig der Zwecklosigkeit seines Umhergehens und -stehens zu überlassen.

[42] So war er vom Forum bis zum Amphitheater, von der Porta di Stabia zur Porta del Vesuvio, durch die Gräberstraße wie durch unzählige andere kreuz und quer gewandert, und die Sonne hatte währenddessen ebenfalls ihren gewohnten Vormittagsweg gemacht bis zu der Stelle hin, wo sie ihren Aufstieg vom Bergrücken her zum bequemeren Abstieg nach der Seeseite umzuändern pflegte. Damit aber gab sie den von der Reisepflicht hergenötigten Engländern und Amerikanern, männlichen wie weiblichen, zur großen Zu friedenheit ihrer unverstanden heiser geredeten Führer ein Zeichen, auch der besseren Bequemlichkeit des Sitzens an den Mittagstischen der beiden Dioskuren-Gasthöfe eingedenk zu werden; sie hatten außerdem alles mit eignen Augen angesehen, was für die Konversation jenseits des großen und des Ärmelwassers erforderlich sein konnte, und so traten die von der Vergangenheit vollgesättigten Einzeltrupps den Rückzug an, ebbten in gemeinsamer Bewegung durch die Via Marina ab, um an den allerdings ziemlich euphemistisch-lukullischen Tafeln der Gegenwart im Hause des Diomedes und des Mr. Swiss für ihren Magen nicht den kürzeren zu ziehen. In Anbetracht sämtlicher innerer und äußerer Umstände war dies zweifellos auch das klügste, was sie zu tun vermochten, denn die Maimittagssonne meinte es zwar entschieden mit den Eidechsen, Schmetterlingen und sonstigen geflügelten Bewohnern oder Besuchern der weiten Trümmerstätte sehr gut, dagegen für den nordländischen Teint einer Mistreß oder Miß begann ihre scheitelrechte Aufdringlichkeit unbedingt weniger liebsam zu werden. Und vermutlich in einem Kausalverband damit hatten die ›charmings‹ sich in der letzten Stunde bereits erheblich vermindert, die ›shockings‹ sich um ebensoviel vermehrt und die männlichen ›auhs‹, zwischen noch weiter als vorher auseinandergeklafterten Zahnreihen hervorkommend, einen bedenklichen Übergang zum Gähnen angetreten.

Merkwürdig aber war's, wie gleichzeitig mit diesem Wegschwinden das, was ehemals die Stadt Pompeji gewesen, ein ganz verändertes Gesicht annahm. Nicht etwa ein lebendiges, vielmehr schien's sich jetzt erst völlig zu toter Reglosigkeit zu versteinern. Doch aus dieser rührte ein Gefühl an, daß der Tod zu sprechen anfange, nur nicht in einer für Menschenohren vernehmbaren Weise. Allerdings klang es da und dort, als komme ein raunender Ton aus dem Gestein hervor, den weckte indes nur der leise flüsternde Südwind auf, der alte Atabulus, der vor zwei Jahrtausenden so um die Tempel, Hallen und Häuser gesummt hatte und nun mit den grünen, flimmernden Halmen auf den niedrigen Mauerresten sein tändelndes Spiel trieb. Von der Küste Afrikas brauste er oftmals, aus voller Brust wildes Gefauch ausstoßend, herüber; das tat er heute nicht, umfächelte nur sanft die wieder ans[43] Licht zurückgekehrten alten Bekannten. Von seiner eingeborenen Wüstenart dagegen konnte er nicht lassen, blies alles, was er auf seinem Wege traf, wenn auch noch so leis, mit heißem Atem an.

Dabei half ihm die Sonne, die seine ewig jungbleibende Mutter war. Sie verstärkte seinen glühenden Hauch und vollbrachte dazu, was er nicht konnte, übergoß alles mit zitterndem, blinkendem und blendendem Glanz. Wie mit einem goldenen Radiermesser löschte sie an den Häuserrändern der semitae und crepidines viarum, wie man einst die Trottoire benannt hatte, jeden schmalen Schattenstrich weg, warf in alle vestibula, atria, peristyla und tablina ihre vollsten Strahlengarben oder, wo ein Überdach ihnen den graden Zugang wehrte, unter dies abspringende Funken hinein. Kaum irgendwo gab's noch einen Winkel, dem es gelang, sich gegen das Lichtgewoge zu schützen und mit einem silbernen Dämmergewebe zu umhüllen; jegliche Straße zog sich zwischen den alten Mauerwerken wie ein langer, zum Bleichen ausgebreiteter, weißrieselnder Linnenstreifen dahin. Und ohne Ausnahme alle gleich reglos und lautlos, denn nicht nur die schnurrenden und näselnden Sendboten Englands und Amerikas waren bis auf den letzten aus ihnen verschwunden, auch das bisherige kleine Leben der Lazerten und Falter schien ebenso die schweigsame Trümmerstatt verlassen zu haben. Sie hatten's wohl in Wirklichkeit nicht getan, doch der Blick nahm keine Bewegung mehr von ihnen gewahr. Wie's seit Jahrtausenden der Brauch ihrer Vorfahren draußen an den Berghängen und Felswänden gewesen, wenn der große Pan sich zum Schlafen hingelegt, hatten sie auch hier, um ihn nicht zu stören, sich regungslos ausgestreckt oder, die Flügel zusammenfallend, da und dort hingekauert. Und es war, als empfänden sie hier noch verstärkter das Gebot der heißen, heiligen Mittagsstille, in deren Geisterstunde das Leben verstummen und sich niederdrücken müsse, weil die Toten in ihr aufwachten und in tonloser Geistersprache zu reden begannen.

Dies andere Gesicht, das rundherum die Dinge angenommen, drängte sich eigentlich weniger den Augen auf, als das Gefühl oder richtiger ein umbenannter sechster Sinn davon angerührt wurde, dieser aber so stark und nachhaltig, daß ein mit ihm Begabter sich der auf ihn geübten Wirkung nicht zu entziehen vermochte. Zu den derartig Ausgerüsteten hätte allerdings unter den bereits mit dem Suppenlöffel beschäftigten schätzbaren Tischgästen der beiden alberghi am Ingresso schwerlich einer oder eine gezählt, doch Norbert Hanold hatte die Natur einmal so veranlagt, und er mußte die Folge davon über sich ergehen lassen. Durchaus nicht, weil er selbst damit im Einverständnis war; er wollte gar nichts und wünschte nichts [44] weiter, als, anstatt sich auf die zwecklose Frühlingsreise begeben zu haben, ruhig mit einem lehrreichen Buch in der Hand in seiner Studierstube zu sitzen. Allein wie er jetzt aus der Gräberstraße durch das Herkulanertor ins Stadtinnere zurückgekehrt und völlig absichts- und gedankenlos bei der Casa di Sallustio linkshin in den schmalen Vicolo abgebogen war, ward auf einmal jener sechste Sinn in ihm aufgeweckt. Oder eigentlich traf diese letzte Bezeichnung nicht zu, vielmehr wurde er von demselben in einen wunderlich traumhaften Zustand versetzt, der sich zwischen wacher Besinnung und ihrem Verlust ungefähr in der Mitte hielt. Wie überall ein Geheimnis behütend, lag die lichtübergossene Todesstille rings um ihn her, so atemlos, daß auch seine eigene Brust kaum Luft zu schöpfen wagte. Er stand an einer Straßenkreuzung, der Vicolo di Mercurio durchschnitt die breitere, zur Rechten und Linken sich lang hindehnende Strada di Mercurio; dem Handelsgott entsprechend, hatten hier ehemals Handel und Gewerbe ihren Sitz gehabt, stumm redeten die Straßenecken davon. Mehrfach öffneten sich nach ihnen tabernae, Verkaufsläden mit zersprungenen marmorbelegten Ladentischen; hier wies die Einrichtung auf eine Bäckerei hin, dort eine Anzahl großer, rundbauchiger Tonkrüge auf eine Öl- und Mehlhandlung. Gegenüber zeigten, in die Tischplatte eingelassen, schlankere, gehenkelte Amphoren an, daß der Raum hinter ihnen eine Schänkstube gewesen sei, doch dicht mochten sich hier abends auch Sklaven und Mägde der Nachbarschaft gedrängt haben, um in eigenen Krügen aus der caupona Wein für ihre Herrschaften zu holen; man sah, die nicht mehr lesbare, mit Mosaiksteinchen eingelegte Inschrift auf der semita vor dem Laden war von vielen Füßen abgetreten, vermutlich hatte sie den Vorüberkommenden eine Anpreisung des vini praecellentis entgegengehalten. Von der Mauerwand blickte ein ›graffito‹ her, nur in halber Manneshöhe, wahrscheinlich von einem Schuljungen mit dem eignen Nagel oder einem eisernen in den Bewurf eingeritzt, vielleicht spöttisch jene Lobpreisung dahin erläuternd, daß des Schankwirts Wein seine Unübertrefflichkeit nicht sparsamem Zusatz von Wasser verdanke.

Denn aus dem Gekritzel schien sich vor den Augen Norbert Hanolds das Wort caupo herauszuheben, oder war's nur Täuschung, sicher feststellen konnte er's nicht. Er besaß eine entschiedene Fertigkeit in der Entzifferung schwer enträtselbarer graffiti, hatte schon rühmlich Anerkanntes darin geleistet, doch gegenwärtig versagte sie ihm vollständig. Nicht das nur, er trug ein Gefühl in sich, daß er überhaupt kein Latein verstehe und es sei widersinnig von ihm, lesen zu wollen, was vor zwei Jahrtausenden ein pompejanischer Quartaner in die Wand gekratzt habe. Seine ganze Wissenschaft hatte ihn nicht [45] allein verlassen, sondern ließ ihn auch ohne das geringste Begehren, sie wieder aufzufinden; er erinnerte sich ihrer nur wie aus einer weiten Ferne, und in seiner Empfindung war sie eine alte, eingetrocknete, langweilige Tante gewesen, das ledernste und überflüssigste Geschöpf auf der Welt. Was sie mit hochgelehrter Miene über die verrunzelten Lippen brachte und als Weisheit vortrug, war alles eitel leere Wichtigtuerei, klaubte nur an den dürren Schalen der Erkenntnisfrüchte herum, ohne von ihrem Inhalt, dem Wesenskerne etwas zu offenbaren und zu innerem Verständnisgenuß zu bringen. Was sie lehrte, war eine leblose archäologische Anschauung, und was ihr vom Mund kam, eine tote, philologische Sprache. Die verhalfen zu keinem Begreifen mit der Seele, dem Gemüt, dem Herzen, wie man's nennen wollte, sondern wer danach Verlangen in sich trug, der mußte als einzig Lebendiger allein in der heißen Mittagsstille hier zwischen den Überresten der Vergangenheit stehen, um nicht mit den körperlichen Augen zu sehen und nicht mit den leiblichen Ohren zu hören. Dann kam's überall hervor, ohne sich zu regen, und begann zu reden ohne Laut – dann löste die Sonne die Gräberstarre der alten Steine, ein glühender Schauer durchrann sie, die Toten wachten auf, und Pompeji fing an, wieder zu leben.

Nicht eigentlich blasphemische Gedanken im Kopf Norbert Hanolds waren's, nur ein unbestimmtes, doch jenes Beiwort gleichfalls vollverdienendes Gefühl, und mit diesem sah er, regungslos stehend, vor sich hinaus, die Strada di Mercurio gegen die Stadtmauer zu hinunter. Die vielkantigen Lavablöcke ihrer Pflasterung lagen noch so tadellos zusammengefügt wie vor ihrer Verschüttung und waren im einzelnen von einer hellgrauen Farbe, doch brütete so blendender Glanz auf ihnen, daß sie sich wie ein gestepptes silberweißes Band zwischen den schweigenden Mauern und Säulentrümmern an den Seiten in glimmender Leere hinzogen.

Da plötzlich –

Mit geöffneten Augen blickte er die Straße entlang, doch war's ihm, als tue er's in einem Traum. Darin trat plötzlich ein wenig abwärts von rechts her aus der Casa di Castore e Polluce etwas hervor, und über die Lavatrittsteine, die vor dem Hause zur anderen Seite der Strada di Mercurio hinüberführten, schritt leichtbehend die Gradiva dahin.

Ganz zweifellos war sie's; wenn auch die Sonnenstrahlen ihre Gestalt wie mit einem dünnen Goldschleier umgaben, nahm er sie doch deutlich und genauso im Profil, wie auf dem Relief, gewahr. Ein wenig neigte der Kopf sich vor, dessen Scheitel ein auf den Nacken zurückfallendes Tuch überschlang, die linke Hand hielt das außerordentlich reichfaltige Kleid leicht aufgerafft, und nicht weiter als bis zu den Knöcheln reichend, [46] ließ es klar erkennen, daß bei der vorschreitenden Bewegung der rechte Fuß sich im Zurückbleiben, wenn auch nur einen Moment lang, auf den Zehenspitzen mit der Ferse beinah' senkrecht emporhob. Nur stellte hier nicht ein Steingebild alles in gleichmäßiger Farblosigkeit dar, das Gewand, sichtlich aus äußerst weich-schmiegsamem Stoff verfertigt, sah nicht mit kaltem Marmorweiß, sondern einem leicht ins Gelbliche fallenden warmen Ton an, und das leisgewellt unter dem Kopftuch auf der Stirn und an der Schläfe hervorblickende Haar hob sich mit goldbraunem Glanz von der Alabasterfarbe des Gesichtes ab.

Zugleich mit dem Anblick aber war's Norbert hell im Gedächtnis aufgewacht, daß er sie schon einmal so im Traum hier habe gehen seh'n, in der Nacht, als sie sich drüben am Forum ruhig wie zum Schlafen auf die Stufen des Apollotempels hingelegt hatte. Und mit dieser Erinnerung zusammen kam ihm noch etwas anderes zum erstenmal zum Bewußtwerden: Er sei, ohne selbst von dem Antrieb in seinem Innern zu wissen, deshalb nach Italien und ohne Aufenthalt von Rom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um danach zu suchen, ob er hier Spuren von ihr auffinden könne. Und zwar im wörtlichen Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart mußte sie in der Asche einen von allen übrigen sich unterscheidenden Abdruck der Zehen hinterlassen haben.

Ein Mittagstraumbild war's wieder, was sich da vor ihm bewegte, und doch auch eine Wirklichkeit. Denn das sprach aus einer Wirkung, die es verursachte. Auf dem jenseitigen letzten Trittsteine lag im brennenden Sonnenlicht bewegungslos eine große Lazerte ausgestreckt, deren wie aus Gold und Malachit zusammengewobener Leib deutlich bis zu den Augen Norberts herleuchtete. Aber vor dem herannahenden Fuß schoß sie jetzt plötzlich herunter und ringelte sich über die weißglimmernden Lavaplatten der Straße davon.

Die Gradiva überschritt in ihrer ruhigen Hurtigkeit die Trittsteine und ging, nun den Rücken wendend, auf dem Trottoir der andren Seite fort, ihr Wegziel schien das Haus des Adonis zu sein. Vor dem hielt sie auch einen Augenblick an, doch bewegte sich dann, wie nach andrem Besinnen, durch die Strada di Mercurio weiter abwärts. In dieser lag zur Linken von vornehmeren Gebäuden nur noch, nach den zahlreich dort aufgedeckten Apollobildern benannt, die Casa di Apollo, und dem ihr Nachschauenden kam's wieder, daß sie sich ja auch den Porticus des Apollotempels zum Todesschlaf ausgewählt hatte. So stand sie wahrscheinlich in einem näheren Verband mit dem Kultus des Sonnengottes und begab sich dorthin. Bald indes hielt sie nochmals an; Trittsteine überkreuzten auch hier die Straße, und sie schritt wieder zur rechten[47] Seite derselben zurück. So wendete sie jetzt ihre andere Profilseite zu und nahm sich ein wenig verändert aus, da ihre linke, das Gewand aufschürzende Hand nicht sichtbar ward und statt ihrer gebogenen Armhaltung die rechte gradlinig herabhing. In der weiteren Entfernung aber umwoben sie nun die goldwelligen Sonnenstrahlen mit dichterem Schleiergewirk, ließen nicht mehr unterscheiden, wo sie, auf einmal vor dem Haus des Meleager verschwindend, geblieben sei.

Norbert Hanold stand noch, ohne ein Glied gerührt zu haben. Nur mit den Augen, und diesmal mit den leiblichen, hatte er Schritt um Schritt ihr kleiner werdendes Bild in sich aufgenommen. Jetzt holte er zum erstenmal tief Atem, denn auch seine Brust war beinah reglos geblieben.

Zugleich aber hielt der sechste Sinn, die übrigen zur Nichtigkeit niederdrängend, ihn völlig in seiner Macht. War das, was eben vor ihm gestanden, ein Erzeugnis seiner Phantasie oder Wirklichkeit gewesen?

Er wußte es nicht, nicht ob er wache oder träume, suchte sich vergeblich darauf zu besinnen. Dann jedoch überlief's ihm plötzlich mit einem sonderbaren Schauer den Rücken. Er sah und hörte nichts, doch fühlte an geheimen Schwingungen seines Innern, daß Pompeji in der Mittagsgeisterstunde rings um ihn her zu leben begonnen hatte, und so lebte in ihr auch die Gradiva wieder und war in das Haus gegangen, das sie vor dem verhängnisvollen Augusttage des Jahres 79 bewohnt hatte.

Er kannte die Casa di Meleagro von früherem Besuch, war diesmal jedoch noch nicht dahin gekommen, sondern hatte nur im Museo Nazionale Neapels kurz vor dem Wandgemälde des Meleager und seiner arkadischen Jagdgenossin Atalanta angehalten, das in jenem Hause der Merkurstraße gefunden und nach dem das letztere benannt worden. Doch wie er nun, wieder zur Bewegungsfähigkeit gelangt, gleichfalls diesem zuschritt, ward ihm zweifelhaft, ob es wirklich seinen Namen nach dem Erleger des kalydonischen Ebers trage. Er entsann sich plötzlich eines griechischen Dichters Meleager, der allerdings wohl etwa um ein Jahrhundert vor der Zerstörung Pompejis gelebt hatte. Aber ein Nachkomme von ihm konnte hierher geraten sein und sich das Haus erbaut haben. Das stimmte mit etwas anderem in seinem Gedächtnis Aufgewachten überein, denn er erinnerte sich seiner Vermutung oder vielmehr gewissen Überzeugung, die Gradiva sei von griechischer Abkunft gewesen. Daneben freilich mischte sich in seine Vorstellung das Bild der Atalanta ein, wie's Ovid in einer der Metamorphosen geschildert:


Oben schloß ihr Gewand mit dem Dorn die geglättete Spange, [48] Kunstlos lag ihr das Haar in den einzelnen Knoten gesammelt.


Nicht im Wortlaut konnte er sich auf die Verse besinnen, doch ihr Inhalt war ihm gegenwärtig; und aus seinem Kenntnisvorrat gesellte sich hinzu, daß die junge Gattin des Öneussohnes Meleagros Kleopatra geheißen habe. Mit größerer Wahrscheinlichkeit aber handelte sich's nicht um den, sondern um den griechischen Dichter Meleager. So gaukelte es in der campanischen Sonnenglut mythologisch-literarhistorisch-archäologisch durch seinen Kopf.

An den Häusern des Castor und Pollux und des Centauren vorübergekommen, stand er jetzt vor der Casa di Meleagro, von deren Schwelle ihm, noch erkennbar, der eingelegte Gruß ›Have‹ entgegensah. An der Wand des Vestibulum überreichte Mercurius der Fortuna einen mit Geld gefüllten Beutel; das wies vermutlich allegorisch auf Reichtum und sonstige glückliche Umstände der ehemaligen Bewohner hin. Dahinter öffnete sich das Atrium, dessen Mitte ein runder, von drei Greifen getragener Marmortisch einnahm.

Leer und lautlos lag der Raum da, den Hineingetretenen völlig fremd anblickend, keine Erinnerung weckend, daß er schon hier gewesen sei. Doch dann tauchte sie ihm auf, denn das Hausinnere bot eine Abweichung von dem der übrigen ausgegrabenen Gebäude der Stadt. An das Atrium schloß sich nicht in gebräuchlicher Art das Peristylium jenseits des Tablinums nach rückwärts an, sondern zur linken Seite, dafür aber von weiterem Umfang und prächtigerer Ausstattung als irgendein anderes in Pompeji. Es war von einem Porticus umrahmt, den zwei Dutzend an der unteren Hälfte rot bemalte, an der oberen weiße Säulen trugen. Die verliehen dem großen, schweigsamen Raume Feierliches; hier befand sich in der Mitte eine Piscina in Gestalt eines Brunnens mit schön gearbeiteter Umfassung. Nach allem mußte das Haus einem angesehenen Manne von Bildung und Kunstsinn zur Wohnstatt gedient haben.

Die Augen Norberts gingen umher, und sein Ohr horchte. Doch auch hier regte sich nirgendwo etwas, klang kein leisester Ton. Zwischen diesem kalten Gestein gab es keinen Atemzug des Lebens mehr; wenn die Gradiva sich in das Haus des Meleager begeben hatte, war sie bereits wieder in nichts zergangen.

An die Rückseite des Peristyls stieß noch ein Raum, ein Oecus, der einstmalige Festsaal, ebenfalls an drei Seiten von Säulen, doch gelb bemalten, umgeben, die von weitem im Lichtauffall wie mit Gold belegt schimmerten. Zwischen ihnen indes leuchtete ein noch weit glühenderes Rot als von den Wänden [49] herüber, mit dem kein Pinsel des Altertums, sondern die heutige junge Natur den Boden übermalt hatte. Dessen früheres kunstvolles Paviment lag völlig zerstört, verfallen und verwittert; Mai war's, der seine urälteste Herrschermacht hier wieder übte, und den ganzen Oecus bedeckte wie zur Zeit in vielen Häusern der Gräberstadt gleicherweise rotblühender Feldmohn, dessen Samenkörner die Winde herübergetragen und die Asche zum Aufgehen gebracht. Ein Gewoge dichtzusammengedrängter Blüten war's, oder so erschien's, obwohl sie in Wirklichkeit unbeweglich dastanden, denn der Atabulus fand zu ihnen herunter keinen Zugang, summte nur in der Höhe leise darüber weg. Doch die Sonne warf so flammendes Glanzgezitter auf sie nieder, daß es den Eindruck regte, als schwankten in einem Weiher rote Wellen hin und her.

Norbert Hanolds Augen waren in andren Häusern achtlos über den ähnlichen Anblick hingegangen, aber hier ward er davon seltsam durchschauert. Die Traumblume erfüllte den Raum, am Rande des Lethewassers aufgewachsen, und Hypnos lag dazwischen hingestreckt, aus den Säften, welche die Nacht in den roten Kelchen gesammelt, sinnumdämmernden Schlaf ausspendend. Dem durch den Porticus des Peristyls in den Oecus Hineingeschrittenen war's, als fühle er seine Schläfe vom unsichtbaren Schlummerstab des alten Besiegers der Götter und Menschen angerührt, doch nicht mit schwerer Betäubung, nur eine traumhaft süße Lieblichkeit umwob ihm das Bewußtsein. Dabei indes blieb er noch Herr seines Fußes, setzte ihn an der Wand des ehemaligen Festsaales hin weiter vor, von der alte Bilder hersahen: Paris, den Apfel zuteilend, ein Satyr, der eine Aspisschlange in der Hand trug und eine junge Bacchantin mit ihr ängstigte.

Aber da wiederum plötzlich, unvorgesehen – nur etwa fünf Schritte von ihm entfernt, in dem schmalen Schatten, den ein einzelnes, noch erhalten gebliebenes Oberstück des Saalporticus herabwarf, saß zwischen zweien der gelben Säulen auf den niedrigen Stufen eine hellgewandete, weibliche Gestalt, die mit leichter Bewegung jetzt den Kopf ein wenig emporhob. Dadurch bot sie dem unbemerkt Herangekommenen, dessen Fußtritt sie offenbar erst eben vernommen, die Vollansicht ihres Antlitzes entgegen, das eine Doppelempfindung bei ihm hervorrief, denn es erschien seinen Augen zugleich als ein fremdes und doch auch als ein bekanntes, schon gesehenes oder vorgestelltes. Aber am Stocken seines Atemzuges und Aussetzen seines Herzschlages erkannte er als unzweifelhaft, wem es angehöre. Er hatte gefunden, wonach er gesucht, was ihn unbewußt nach Pompeji getrieben; die Gradiva führte ihr Scheinleben in der mittägigen Geisterstunde noch fort und saß hier vor ihm, so wie er sie im Traum sich auf die Stufen [50] des Apollotempels niederlassen gesehn. Auf ihren Knien lag etwas Weißes ausgebreitet, das sein Blick klar zu unterscheiden nicht fähig war; ein Papyrosblatt schien's zu sein, und eine Mohnblüte hob sich mit rotem Scheine von ihm ab.

In ihrem Gesicht drückte sich eine Überraschung aus, unter dem glanzbraunen Haare und der schönen alabasterfarbigen Stirn sahen ihn zwei außerordentlich hellgesternte Augen mit fragender Verwunderung an. Nur weniger Momente jedoch bedurfte es für ihn, dann hatte er die Übereinstimmung ihrer Züge mit denen des Profils erkannt. So mußten sie, von vorn wahrgenommen, sein, und deshalb waren sie ihm doch auch beim ersten Blick nicht wirklich fremd gewesen. In der Nähe erhöhte ihr weißes Kleid durch die leichte Neigung ins Gelbliche den warmen Farbenton noch; sichtlich bestand's aus einem feinen, äußerst weichen Wollenstoff, der den reichen Faltenwurf veranlaßte, und aus dem gleichen war das um den Kopf geschlagene Tuch verfertigt. Darunter schimmerte im Nacken mit einem Teil wieder das braune Haar hervor, kunstlos in einem einzelnen Knoten gesammelt; vorn am Hals, unter dem zierlichen Kinn, hielt eine kleine goldene Spange das Gewand zusammengeschlossen.

Das gelangte Norbert Hanold in halber Deutlichkeit zur Wahrnehmung, unwillkürlich hatte er nach seinem leichten Panamahut gefaßt, ihn abgezogen, und nun kam ihm in griechischer Sprache vom Mund: »Bist du Atalanta, die Tochter des Jasos, oder entstammst du dem Hause des Dichters Meleager?«

Die Angeredete blickte ihn, ohne eine Antwort zu geben, lautlos mit dem ruhig-klugen Ausdruck ihrer Augen an, und zwei Gedanken durchkreuzten sich in ihm: Entweder vermochte ihr wiedererstandenes Scheindasein überhaupt nicht zu sprechen, oder sie war doch nicht von griechischer Abkunft und der Sprache unkundig. So vertauschte er diese mit der lateinischen und fragte in ihr: »War dein Vater ein vornehmer Bürger Pompejis von latinischem Ursprung?«

Darauf erwiderte sie indes ebensowenig, nur um ihre feingeschwungenen Lippen ging etwas leise Huschendes, als drängten sie eine Lachanwandlung zurück. Jetzt befiel's ihn mit Schreck; offenbar saß sie nur als ein stummes Bild vor ihm, ein Scheinen, dem die Sprache versagt war. Die Bestürzung über diese Erkenntnis prägte sich voll in seinen Zügen aus.

Aber da vermochten ihre Lippen dem Antriebe nicht mehr zu widerstehen, ein wirkliches Lächeln umspielte sie, und zugleich klang zwischen ihnen eine Stimme hervor: »Wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie's auf deutsch tun.«

Das war eigentlich merkwürdig aus dem Munde einer vor zwei Jahrtausenden verstorbenen Pompejanerin, oder wär' es [51] für einen Hörer in anderer Sinnesverfassung gewesen. Doch Norbert verging jede Befremdlichkeit unter zwei über ihm zusammenschlagenden Empfindungswogen, der einen, daß die Gradiva Sprachfähigkeit besaß, und der andern, die von ihrer Stimme aus seinem Innern aufgedrängt worden. Die klang grade so hell, wie's der Blick ihrer Augen war; nicht scharf, doch an eine angeschlagene Glocke erinnernd, ging ihr Ton durch die Sonnenstille über das blühende Mohngefild hin, und dem jungen Archäologen kam's plötzlich zum Bewußtsein, in sich, in seiner Vorstellung habe er sie schon so gehört. Und unwillkürlich gab er seinem Gefühl laut Ausdruck: »Ich wußte es, so klänge deine Stimme.«

In ihrem Gesicht stand zu lesen, sie suche nach einem Verständnis für etwas, doch finde es nicht. Auf seine letzte Äußerung entgegnete sie nun: »Wie konnten Sie das? Sie haben doch noch nie mit mir gesprochen.«

Ihm war's nicht im geringsten mehr auffällig, daß sie Deutsch sprach und ihn nach dem heutigen Brauch in der dritten Person anredete; da sie's tat, begriff er vielmehr völlig, es könne nicht anders geschehn, und er erwiderte schnell: »Nein, gesprochen nicht – aber ich rief dir zu, als du dich zum Schlafen hinlegtest, und stand dann bei dir – dein Gesicht war so ruhig-schön wie von Marmor. Darf ich dich bitten – leg' es noch einmal wieder so auf die Stufe zurück –«

Während seines Sprechens hatte sich etwas Eigentümliches begeben. Von den Mohnblüten her war ein goldfarbiger Falter, am Innenrand der Oberflügel leicht rot überhaucht, zu den Säulen herangeflattert, umgaukelte ein paarmal den Kopf der Gradiva und ließ sich dann auf dem braunen Haargewell über ihrer Stirn nieder. Zugleich aber wuchs ihre Gestalt schlank und hoch empor, denn sie stand mit einer ruhig-raschen Bewegung auf, richtete Norbert Hanold kurz und stumm noch einen Blick entgegen, aus dem etwas sprach, als ob sie ihn für einen Irrsinnigen ansehe, und den Fuß versetzend, schritt sie in ihrer Gangart, den Säulen des alten Porticus entlang, davon. Nur flüchtig noch sichtbar, dann schien sie in den Boden versunken zu sein.

Er stand atemberaubt, wie betäubt, doch hatte er mit dumpfem Verständnis aufgefaßt, was sich vor seinen Augen zugetragen habe. Die Mittagsgeisterstunde war vorüber und in der Gestaltung eines Schmetterlings von der Asphodeloswiese des Hades herauf eine geflügelte Botin gekommen, um die Abgeschiedene an ihre Rückkehr dorthin zu mahnen. Damit verband sich ihm, ob auch in verworrener Undeutlichkeit, noch etwas anderes. Er wußte, daß der schöne Falter der Mittelmeerländer den Namen Kleopatra trug, und so hatte die junge Gattin des kalydonischen Meleager geheißen, die aus Schmerz [52] über seinen Tod sich selbst den Unterirdischen zum Opfer gebracht.

Von seinem Mund irrte der Fortschreitenden ein Ruf nach: »Kehrst du morgen in der Mittagsstunde wieder hieher?« Doch sie wendete sich nicht um, gab keine Antwort und verschwand nach wenig Augenblicken im Winkel des Oecus hinter den Säulen. Nun durchfuhr's ihn jäh wie mit einem treibenden Stoß, daß er ihr nacheilte. Aber ihr helles Gewand kam nirgendwo mehr zum Vorschein, von den heißen Sonnenstrahlen überflammt, lag rings um ihn die Casa di Meleagro ohne Regung und Laut, nur die Kleopatra schwebte auf ihren rotschimmernden Goldflügeln, langsame Kreise ziehend, wieder über dem dichten Gedränge der Mohnblüten dahin.


Wann und auf welche Weise er zum Ingresso zurückgekommen sei, war Norbert Hanold nicht im Gedächtnis haftengeblieben; er trug nur in der Erinnerung, daß sein Magen peremptorisch verlangt hatte, sich sehr verspätet im Diomed etwas auftischen zu lassen, und dann war er auf dem ersten besten Wege ziellos davongewandert, an den Golfstrand nördlich von Castellammare geraten, wo er sich auf einen Lavablock gesetzt und der Seewind ihm um den Kopf geblasen, bis die Sonne ungefähr in der Mitte zwischen dem Monte Sant' Angelo über Sorrent und dem Monte Epomeo auf Ischia untergegangen. Doch trotz diesem jedenfalls mehrstündigen Aufenthalt am Wasser hatte er aus der frischen Luft dort für seine geistige Sinnesbeschaffenheit keinen Vorteil gezogen, sondern kehrte zum Gasthof ziemlich im nämlichen Zustand zurück, in dem er ihn verlassen. Er traf die übrigen Gäste bei emsiger Beschäftigung mit der ›cena‹ an, ließ sich in einem Winkel der Stube einen Fiaschetto mit Vesuvwein bringen, betrachtete die Gesichter der Speisenden und hörte ihren Unterhaltungen zu. Aus den Mienen aller wie aus ihren Reden aber ging ihm als vollkommen zweifellos hervor, daß niemand unter ihnen einer toten, in der Mittagsstunde wieder flüchtig zum Leben gelangten Pompejanerin begegnet sei und mit ihr gesprochen habe. Dies war allerdings von vornherein anzunehmen gewesen, da sie sich um die Zeit sämtlich beim pranzo befunden hatten; warum und wozu eigentlich, wußte er sich nicht anzugeben, doch nach einer Weile ging er zum Konkurrenten des Diomed, ins ›Hotel Suisse‹ hinüber, setzte sich auch dort in eine Ecke, da er etwas bestellen mußte, ebenfalls vor ein Fläschchen Vesuvio, und gab sich hier mit Augen und Ohren den gleichen Nachforschungen hin. Sie führten genau zu dem nämlichen Ergebnis, nur außerdem noch zu dem weiteren, daß ihm nunmehr sämtliche zeitweiligen lebendigen Besucher Pompejis von Angesicht zu Angesicht bekannt geworden waren. Das [53] bildete zwar einen Zuwachs seiner Kenntnisse, den er kaum als Bereicherung ansehen konnte, allein dennoch berührte ihn daraus eine gewisse befriedigende Empfindung, daß in den beiden Unterkunftstätten kein Gast, weder männlichen noch weiblichen Geschlechtes, vorhanden sei, zu dem er nicht vermittelst Ansehens und Anhörens in ein, wenn auch einseitiges, persönliches Verhältnis getreten war. Selbstverständlich war ihm mit keinem Gedanken die widersinnige Annahme in den Sinn ge kommen, er könne möglicherweise in einer der beiden Wirtschaften die Gradiva antreffen, aber er hätte eidlich zu beschwören vermocht, daß sich niemand in jenen aufhalte, der oder die mit ihr nur im allerentferntesten eine Spur von Ähnlichkeit besitze. Während seiner Betrachtungen hatte er aus dem Fiaschetto ab und zu in sein Glas geschenkt, dies hin und wieder ausgetrunken, und als dadurch allgemach der erstere inhaltslos geworden, stand er auf und ging zum Diomed zurück. Den Himmel hielten jetzt unzählbare blitzende und flimmernde Sterne übersät, jedoch nicht in der herkömmlich-unbeweglichen Weise, sondern es erregte Norbert den Eindruck, als ob der Perseus, die Kassiopeia und die Andromeda mit noch einigen Nachbarn und Nachbarinnen, sich leicht hierhin und dorthin verneigend, einen langsamen Reigen aufführten, und auch unten auf dem Erdboden, schien's ihm, beharrten die dunklen Schattenrisse der Baumwipfel und Baulichkeiten nicht ganz auf dem nämlichen Standpunkt. Das konnte auf dem von altersher schwanken Boden der Gegend freilich nicht grade wundernehmen, denn die unterirdische Glut lauerte überall nach einem Aufbruch und ließ auch ein weniges von sich in die Rebstöcke und Trauben emporsteigen, aus denen der Vesuvio gekeltert wurde, der nicht zu den gewohnten Abendgetränken Norbert Hanolds zählte. Allein dieser trug in der Erinnerung, wenn gleich dem Wein ein bißchen mit an der kreisenden Bewegung der Dinge zuzuschreiben sein mochte, daß alle Gegenstände schon seit der Mittagsstunde eine Neigung offenbart hatten, sich leise um seinen Kopf herumzudrehen, und so empfand er in dem bißchen Mehr nichts Neues, sondern nur eine Fortsetzung des bereits vorher Gewesenen. Er stieg zu seiner Camera hinan und stand noch ein Weilchen am offenen Fenster, nach dem Vesuvkegel hinüberblickend, über dem jetzt keine Rauchpinie den Wipfel ausbreitete, vielmehr umfloß ihn etwas wie das Hin- und Herwallen eines dunkelpurpurnen Mantels. Dann kleidete der junge Archäologe sich, ohne Licht angezündet zu haben, aus und suchte seine Lagerstätte. Doch wie er sich auf diese hinstreckte, war sie nicht das Bett des Diomed, sondern ein rotes Mohnfeld, dessen Blüten als ein weiches, sonnenheißes Kissen über ihm zusammenschlugen. Seine Feindin, die musca domestica [54] communis, saß in halbhundertfältiger Anzahl, vom Dunkel zu lethargischem Stumpfsinn gebändigt, über seinem Kopf an der Stubenwand, nur eine schnurrte ihm, selbst in der Schlaftrunkenheit von ihrer Martergier getrieben, um die Nase. Aber er erkannte sie nicht als das absolut Böse, die jahrtausendealte Geißel der Menschheit, denn vor seinen geschlossenen Augen schwebte sie als eine rotgoldene Kleopatra um ihn her.

Als am Morgen die Sonne unter reger Beihülfe der Fliegen ihn aufweckte, konnte er sich nicht besinnen, was in der Nacht noch weiter an wundersamen ovidischen Metamorphosen um sein Bett vorgegangen sei. Doch zweifellos hatte irgendein mystisches Wesen, unablässig Traumgespinste webend, neben ihm gesessen, denn er fühlte seinen Kopf vollständig damit angefüllt und verhängt, so daß alle Denkfähigkeit darin ausweglos eingesperrt saß und nur das eine ihm im Bewußtsein stand, er müsse genau um die Mittagsstunde wieder im Hause des Meleager sein. Dabei hatte sich indes eine Scheu seiner bemächtigt, wenn die Torhüter am Ingresso ihm ins Gesicht sähen, würden sie ihn nicht hineinlassen, überhaupt sei's nicht ratsam, daß er sich in der Nähe der Beobachtung von Menschenaugen aussetze. Dem zu entgehen, gab's für den Pompeji-Kundigen ein, freilich vorschriftswidriges Mittel, doch er befand sich nicht in der Verfassung, gesetzlichen Anordnungen eine Bestimmung seines Verhaltens zuzuerkennen, stieg wieder, wie am Abend seiner Ankunft, zur alten Stadtmauer hinan und umschritt auf dieser in weitem Halbbogen die Trümmerwelt bis zur einsam-unbewachten Porta di Nola. Hier fiel's nicht schwierig, ins Innere hinunterzugelangen, und er begab sich abwärts, ohne sein Gewissen übermäßig damit zu beschweren, daß er der ›amministrazione‹ durch sein selbstherrliches Verfahren vorderhand zwei Lire Eintrittsgeld entzog, die er ihr wohl später auf irgendeine andere Weise zukommen lassen konnte. So hatte er ungesehn einen sonst von niemandem aufgesuchten, interesselosen, zum größten Teile noch unausgegrabenen Stadtteil erreicht, setzte sich in einen verborgenen Schattenwinkel und wartete, dann und wann seine Uhr zu Rat ziehend, auf das Vorrücken der Zeit. Einmal traf sein Blick in einiger Entfernung auf etwas silberweiß glänzend aus dem Schutt Aufragendes, ohne daß sein unsicheres Sehvermögen erkannte, was es sei. Doch trieb's ihn unwillkürlich hinanzugehn, und da stellte es sich als ein hoher, ganz mit weißen Glockenkelchen behängter Asphodelos-Blütenschaft heraus, dessen Samen der Wind von draußen hierhergetragen. Die Blume der Unterwelt war's, deutungsvoll und, wie's ihm zum Gefühl kam, für sein Vorhaben bestimmt, hier aufzuwachsen; er brach den schlanken Stengel ab und [55] kehrte damit nach seinem Sitz zurück. Mehr und mehr brannte die Maisonne heiß wie gestern nieder, näherte sich endlich ihrer Mittagshöhe, und nun machte er sich durch die lange Strada di Nola auf den Weg. Diese lag todesstill verlassen, wie auch fast alle übrigen schon; drüben nach Westen drängten sich bereits sämtliche Vormittagsbesucher wieder der Porta Marina und den Suppentellern zu. Nur glutdurchwirkte Luft zitterte, und in der Glanzblendung erschien die einsame Gestalt Norbert Hanolds mit der Asphodilstaude wie die eines in moderner Kleidung daherschreitenden Hermes Psychopompos, auf der Wanderung begriffen, um eine abgeschiedene Seele zum Hades hinunterzugeleiten.

Nicht bewußt, doch einem Instinkttrieb folgend, fand er sich durch die Strada della Fortuna weiter bis zur Merkurstraße zurecht und gelangte, rechtshin in diese abbiegend, vor die Casa di Meleagro. Ebenso leblos wie gestern empfingen ihn hier das Vestibulum, Atrium und Peristylium, zwischen den Säulen des letzteren flammten die Mohnblüten des Oecus herüber. Dem in diesen Eintretenden aber war's nicht deutlich, ob er gestern oder vor zweitausend Jahren hier gewesen sei, um bei dem Eigentümer des Hauses irgendeine Erkundigung einzuziehn, die für die archäologische Wissenschaft größte Wichtigkeit besessen; welche, wußte er sich indes nicht anzugeben, und außerdem war ihm, ob auch in einem Widerspruch damit, die gesamte Altertumswissenschaft das Zweckloseste und Gleichgültigste auf der Welt. Er begriff nicht, daß ein Mensch sich mit ihr befassen könne, da es doch nur ein einziges gab, auf das sich alles Denken und Ergründen richten mußte; von welcher Beschaffenheit die körperliche Erscheinung eines Wesens sei, das zugleich tot und lebendig, wenn auch dies letztere nur in der Mittagsgeisterstunde, war. Oder nur grade am gestrigen Tage gewesen war, vielleicht nur ein einzigesmal in einem Jahrhundert oder Jahrtausend, denn ihn überfiel's jetzt plötzlich mit Gewißheit, seine heutige Rückkehr hieher sei vergeblich. Er treffe die Gesuchte nicht an, weil ihr nicht verstattet worden wiederzukommen, erst nach einer Zeit, in der auch er seit lange nicht mehr zu den Lebenden gehöre, ebenfalls tot, begraben und vergessen sei. Allerdings, wie sein Fuß nun an der Wand unter dem apfelausteilenden Paris entlangschritt, gewahrte sein Blick die Gradiva ebenso wie gestern vor sich, in derselben Gewandung zwischen den gleichen zwei gelben Säulen auf der nämlichen Stufe sitzend. Doch er ließ sich nicht von einem Gaukelspiel seiner Einbildungskraft täuschen, sondern wußte, nur die Phantasie gestalte ihm als Trugwerk wieder vor Augen, was er gestern dort in Wirklichkeit gesehn. Nicht umhin aber konnte er, sich der Anschauung der von ihm selbst geschaffenen wesenlosen [56] Erscheinung hinzugeben, stand anhaltend, und ohne sein Wissen kamen ihm in einem Ton des Leides die Worte vom Mund: »Oh, daß du noch wärest und lebtest!«

Seine Stimme verhallte, und danach lag wieder das hauchlose Schweigen zwischen den Überresten des alten Festsaales. Doch dann durchklang eine andere die leere Stille und sagte: »Willst du dich nicht auch setzen? Du siehst ermüdet aus.«

Norbert Hanolds Herzschlag stand einmal still. So viel brachte sein Kopf an Besinnung zusammen: Eine Vision vermochte nicht zu sprechen. Oder übte auch eine Gehörhalluzination Betrug an ihm? Starr dreinblickend, stützte er sich mit der Faust an einer Säule.

Da fragte die Stimme wieder, und es war die, welche niemand sonst als die Gradiva besaß:

»Bringst du mir die weiße Blume?«

Ein Betäubungsschwindel faßte ihn an, er fühlte, daß die Füße ihn nicht mehr hielten, sondern zum Sitzen zwangen, und er ließ sich ihr gegenüber an der Säule auf die Stufe niedergleiten. Ihre hellen Augen waren auf sein Gesicht gerichtet, doch mit andersgeartetem Blick, als mit dem sie ihn gestern bei ihrem plötzlichen Aufstehen und Davongehn angesehen hatte. Aus dem hatte etwas Unmutiges und Zurückweisendes gesprochen, das war weggeschwunden, als ob sie inzwischen zu einer veränderten Auffassung gelangt sei, und ein Ausdruck von suchender Neugier oder Wißbegier an die Stelle getreten. Und ähnlich schien sie sich auch darauf besonnen zu haben, daß die heute bräuchliche Anrede in der dritten Person ihrem Munde und den Umständen des Raumes nicht angemessen sei, denn sie hatte sich auch des ›Du‹ bedient, und es kam ihr eigentlich ohne Schwierigkeit, wie etwas Natürliches von den Lippen. Da er aber auf ihre letzte Frage gleichfalls stumm geblieben war, nahm sie nochmals wieder das Wort und sagte:

»Du sprachst gestern, du hättest mir einmal zugerufen, als ich mich zum Schlafen hingelegt, und nachher bei mir gestanden; mein Gesicht sei da ganz weiß wie Marmor gewesen. Wann und wo war das? Ich kann mich nicht daran erinnern und bitte dich, es mir genauer mitzuteilen.«

Norbert hatte jetzt so viel Sprachfähigkeit gewonnen, daß ihm möglich fiel zu antworten: »In der Nacht, als du dich am Forum auf die Stufen des Apollotempels setztest und der Aschenfall vom Vesuv dich zudeckte.«

»Ach so – damals. Ja richtig – das war mir nicht eingefallen. Aber ich hätte mir denken können, daß es eine derartige Bewandtnis damit haben müsse. Als du's gestern sagtest, kam's mir nur zu unerwartet, und ich war zu wenig darauf vorbereitet. Doch das geschah, wenn ich mich recht besinne, vor bald [57] zwei Jahrtausenden. Lebtest du denn damals schon? Mich deucht, du siehst jünger aus.«

Sie sprach's sehr ernsthaft, nur am Schluß spielte ihr ein leichtes, äußerst anmutiges Lächeln um den Mund. Er war in eine verlegene Unschlüssigkeit geraten und erwiderte ein wenig stotternd: »Nein, wirklich, glaub' ich, lebte ich wohl im Jahre 79 noch nicht – es war vielleicht – ja, es ist wohl der Seelenzustand, den man Traum nennt, gewesen, der mich in die Zeit vom Untergang Pompejis zurückbrachte – aber ich erkannte dich auf den ersten Blick wieder –«

In den Zügen der ihm nur auf ein paar Schritte Entfernung gegenüber Sitzenden kennzeichnete sich merklich eine Überraschung, und sie wiederholte mit einem Ton von Verwunderung: »Du erkanntest mich wieder? In dem Traum? Woran?«

»Gleich zuerst an deiner besonderen Gangart.«

»Auf die hattest du acht gegeben? Und gehe ich denn besonders?«

Ihr Erstaunen hatte sich wahrnehmbar noch erhöht; er versetzte: »Ja – weißt du's selbst nicht? – anmutreicher als irgendeine sonst, wenigstens unter den jetzt Lebenden gibt es keine. Doch ich erkannte dich auch sofort an allem übrigen, der Gestalt und dem Antlitz, deiner Haltung und Gewandung, denn alles stimmte aufs genaueste mit deinem Reliefbild in Rom überein.«

»Ach so –« wiederholte sie noch einmal in ähnlichem Ton wie vorher – »mit meinem Reliefbild in Rom. Ja, daran hatte ich auch nicht gedacht und weiß sogar im Augenblick nicht genau – wie ist es doch – und dort hast du's also gesehen?«

Nun berichtete er, der Anblick desselben habe ihn so angezogen, daß er hocherfreut gewesen sei, in Deutschland einen Abguß davon zu bekommen, der schon seit Jahren in seinem Zimmer hänge. Den betrachte er täglich, ihm sei die Vermutung aufgegangen, das Bild müsse eine junge Pompejanerin darstellen, die in ihrer Heimatstadt über die Trittsteine einer Straße wegschreite, und das habe jener Traum ihm bestätigt. Jetzt wisse er auch, daß er dadurch getrieben worden, wieder hierher zu reisen, um nachzusuchen, ob er nicht irgendeine Spur von ihr auffinden könne. Und wie er gestern mittags an der Ecke der Merkurstraße gestanden, sei sie selbst plötzlich grade ebenso wie ihr Bildnis vor ihm über die Trittsteine weggeschritten, als ob sie sich drüben in das Haus des Apollo begeben wollte. Dann habe sie weiterhin die Straße wieder zurück überkreuzt und sei vor dem Hause des Meleager verschwunden.

Dazu nickte sie mit dem Kopf und sagte: »Ja, ich hatte die Absicht, das Haus des Apollo aufzusuchen, ging dann jedoch hierher.«

[58] Er fuhr fort: »Dadurch kam mir der griechische Dichter Meleager ins Gedächtnis, und ich glaubte, du seiest eine Nachkommin von ihm und kehrtest – in der Stunde, die es dir verstattet – in dein Vaterhaus zurück. Aber, als ich dich Griechisch ansprach, verstandest du es nicht.«

»War das Griechisch? Nein, das verstand ich nicht oder hab' es wohl vergessen. Doch wie du jetzt wiederkamst, hörte ich dich etwas sprechen, was mir verständlich wurde. Du drücktest den Wunsch aus, jemand möchte doch noch dasein und leben. Nur begriff ich nicht, wen du damit meintest.«

Das ließ ihn erwidern, er habe bei ihrem Anblick geglaubt, sie sei es nicht wirklich, sondern nur seine Phantasie täusche ihm ihr Bild an der Stelle, wo er sie gestern angetroffen, wieder vor. Dazu lächelte sie und pflichtete bei: »Es scheint, daß du Grund haben magst, dich vor einem Übermaß von Einbildungsvermögen in acht zu nehmen, obwohl ich bei meinem Zusammensein mit dir nicht auf solche Vermutung gekommen war.« Aber sie brach davon ab und fügte nach: »Was ist es denn mit meiner Gangart, von der du vorhin sprachst?«

Merkbar war's, daß ein in ihr rege gewordenes Interesse sie darauf zurückbrachte, und ihm kam vom Mund: »Wenn ich dich bitten darf –«

Dabei indes stockte er, denn ihm geriet schreckhaft in Erinnerung, daß sie gestern plötzlich aufgestanden und davongeschritten sei, als er sie gebeten hatte, sich noch einmal so auf der Stufe, wie auf der des Apollotempels, zum Schlaf hinzulegen, und dunkel brachte etwas in seinem Kopf den Blick, den sie beim Weggang auf ihn gerichtet, damit in Verbindung. Doch jetzt erhielt sich der ruhig-freundliche Ausdruck ihrer Augen gleichmäßig fort, und da er nicht weitersprach, sagte sie: »Es war artig von dir, daß dein Wunsch, jemand möge noch leben, mir galt. Wenn du dafür etwas von mir bitten willst, erfülle ich es dir gern.«

Das beschwichtigte seine Furcht, und er entgegnete: »Es würde mich glücklich machen, dich in der Nähe so gehen zu sehn wie dein Bildnis –«

Bereitwillig, ohne etwas zu erwidern, stand sie auf, schritt eine Strecke zwischen der Wand und den Säulen entlang. Genau die ihm so festeingeprägte, ruhig-behende Gangart mit der sich fast senkrecht emporhebenden Sohle war's, nur nahm er zum erstenmal gewahr, daß sie unter dem fußfreien Gewand keine Sandalen, sondern sandfarbig helle Schuhe von feinem Leder trug. Als sie zurückkehrte und sich schweigend wieder hinsetzte, zog er unwillkürlich diesen Unterschied ihrer Fußbekleidung von der auf dem Relief in Rede. Darauf entgegnete sie: »Die Zeit ändert ja immerzu an allem, und für die gegenwärtige passen Sandalen nicht, darum lege ich Schuhe [59] an, die besser gegen Staub und Regen schützen. Aber weshalb batest du mich, vor dir zu gehen? Was ist denn Besonderes daran?«

Ihr nochmals ausgedrückter Wunsch, dies zu erfahren, bekundete sie nicht ganz von einer weiblichen Neugierde frei. Der Befragte erläuterte nun, daß es sich um die eigenartig hohe Aufstellung ihres zurückgehaltenen Fußes während des Ausschreitens handle, und knüpfte daran, wie er in seiner Heimat mehrere Wochen lang auf der Straße den Gang der heutigen Frauen zu beobachten gesucht habe. Doch es scheine, daß diese schöne Bewegungsweise ihnen völlig verloren gegangen sei, mit Ausnahme vielleicht von einer einzigen, die ihm einmal den Eindruck, so zu gehen, gemacht. Sicher habe er dies indes in dem Menschengedränge um sie her nicht feststellen können und ihn wohl eine Augentäuschung befallen gehabt, da ihm vorgekommen sei, als ob auch ihre Gesichtszüge etwas denen der Gradiva geähnelt hätten.

»Wie schade«, antwortete sie, »denn die Feststellung wäre doch von großer wissenschaftlicher Bedeutung gewesen, und wenn sie dir gelungen wäre, hättest du vielleicht die weite Reise hierher nicht zu machen gebraucht. Doch von wem sprachst du eben? Wer ist die Gradiva?«

»So habe ich mir dein Bild benannt, da ich deinen wirklichen Namen nicht wußte – und auch jetzt noch nicht weiß.«

Das letzte setzte er ein bißchen zögernd hinzu, und auch ihr Mund zauderte ein wenig, ehe sie auf die indirekte Frage seiner Nachfügung erwiderte: »Ich heiße Zoë.«

Ihm entflog mit einem schmerzlichen Ton: »Der Name steht dir schön an, aber er klingt mir als ein bitterer Hohn, denn Zoë heißt das Leben.«

»Man muß sich in das Unabänderliche finden«, entgegnete sie, »und ich habe mich schon lange daran gewöhnt, tot zu sein. Nun aber ist für heute meine Zeit vorbei; du hast die Grabesblume mitgebracht, daß sie mich auf den Weg zurückgeleiten soll. So gib sie mir.«

Aufstehend streckte sie die schmale Hand vor, und er reichte ihr die Asphodelosstaude, doch behutsam, ihre Finger nicht zu berühren. Den Blütenzweig annehmend, sagte sie: »Ich danke dir. Solchen, die besser daran sind, gibt man im Frühling Rosen, doch für mich ist die Blume der Vergessenheit aus deiner Hand die richtige. Morgen wird es mir verstattet sein, um diese Stunde noch wieder hierher zu kommen. Wenn auch dich dein Weg dann noch einmal ins Haus des Meleager führt, können wir uns wie heute am Mohnrand gegenübersitzen. Auf seiner Schwelle steht: Have, und ich spreche es dir: Have!«

Sie ging und verschwand wie gestern an der Umbiegung des [60] Porticus, als ob sie dort in den Boden niedergesunken sei. Leer und stumm lag alles wieder, nur aus einiger Entfernung her scholl einmal kurz ein heller, gleich wieder abgebrochener Ton wie von einem lachenden Ruf eines über die Trümmerstadt hinfliegenden Vogels. Der Zurückgebliebene sah auf den verlassenen Stufensitz hinunter, dort schimmerte etwas Weißes, das Papyrusblatt schien's zu sein, das die Gradiva gestern auf den Knien gehalten und heute mitzunehmen vergessen hatte. Doch wie er scheu die Hand danach streckte, war's ein kleines Skizzenbuch mit Bleistiftzeichnungen verschiedener Überreste aus mehreren Häusern Pompejis. Das vorletzte Blatt zeigte den Greifentisch im Atrium der Casa di Meleagro abgebildet, und auf dem letzten war ein Anfang gemacht, über die Mohnblüten des Oecus hin den Durchblick durch die Säulenreihe des Peristyls wiederzugeben. Ebenso Verwundersames rührte daraus an, daß die Abgeschiedene in einem Skizzenbuch von heutiger Art zeichnete, wie daß sie ihren Gedanken in deutscher Sprache Ausdruck gab. Doch waren das nur geringfügige Wunderzugaben neben der großen ihrer Wiederbelebung, und offenbar benützte sie die mittägige Freistunde dazu, die Umgebung, in der sie einst gelebt, mit ungewöhnlicher künstlerischer Begabung sich gegenwärtig zu erhalten. Die Darstellungen zeugten von fein ausgebildetem Auffassungssinn, wie jedes ihrer Worte von klugem Denkvermögen, und vermutlich hatte sie oftmals an dem alten Greifentisch gesessen, so daß er ihr ein besonders wertvolles Erinnerungsstück war.

Mechanisch ging Norbert mit dem Büchlein ebenfalls den Porticus entlang und nahm an der Stelle, wo dieser umbog, in der Mauer einen schmalen Spalt gewahr, doch breit genug, um eine Gestalt von ungewöhnlicher Schlankheit in das Nebengebäude und wohl weiter nach dem Vicolo del Fauno an der andern Seite des Hauses hindurchzulassen. Zugleich aber durchschoß es ihm den Kopf mit der Erkenntnis, die Zoë-Gradiva versinke hier nicht in den Boden – das war an sich auch vernunftwidrig, und er begriff nicht, es geglaubt zu haben – sondern begebe sich auf diesem Wege zu ihrer Gruft zurück. Die mußte in der Gräberstraße sein, und fortstürzend eilte er in die Merkurstraße hinaus und weiter bis zum Tor des Herkules. Allein, als er an diesem atemlos und in Schweiß gebadet eintraf, war's schon zu spät; leer dehnte sich die breite Strada di Sepolcri weißblendend hinunter, nur an ihrem Ende schien hinter dem glitzernden Strahlenvorhang ein leichter Schatten ungewiß vor der Villa des Diomedes zu zergehen.


Norbert Hanold verbrachte die zweite Hälfte dieses Tages mit einem Gefühl, daß Pompeji überall oder wenigstens da, wo er [61] sich grad aufhalte, in eine Nebelwolke eingehüllt sei. Die war nicht nach ihrer sonstigen Art grau, düster und trübsinnig, vielmehr eigentlich heiter und äußerst vielfarbig, blau, rot und braun, hauptsächlich leicht gelblich-weiß und alabasterweiß, dazu von Sonnenstrahlen mit goldenen Fäden durchsponnen. Auch beeinträchtigte sie weder das Sehvermögen des Auges noch die Gehörkraft des Ohres, nur durch sie hindurch denken ließ sich nicht, und das machte doch eine Wolkenmauer daraus, deren Wirkung mit dem dichtesten Nebel wetteiferte. Dem jungen Archäologen war's ungefähr, als werde ihm allstündlich in unsichtbarer und auch sonst nicht bemerkbarer Weise ein Fiaschetto mit Vesuvio beigebracht, der einen unterlaßlosen Kreislauf in seinem Gehirn ausführe. Davon suchte er sich instinktiv durch Anwendung von Gegenmitteln zu befreien, indem er einerseits häufig Wasser trank, andrerseits möglichst viel und weit umherlief. Seine medizinischen Kenntnisse waren nicht umfangreich, allein sie verhalfen ihm doch zu der Diagnose, dieser unbekannte Zustand müsse einem zu starken Blutandrang nach dem Kopf, vielleicht in Verbindung mit einer beschleunigten Herztätigkeit, entspringen, denn er fühlte die letztere, ebenfalls als etwas ihm bisher völlig Fremdartiges, ab und zu an einem raschen Klopfen gegen seine Brustwandung. Im übrigen verhielten sich seine Gedanken, die nicht nach außen durchdringen konnten, im Innern keineswegs untätig, oder richtiger war's nur ein Gedanke, der dort den Alleinbesitz angetreten hatte und eine rastlose, wenngleich vergeblich bleibende Geschäftigkeit betrieb. Er drehte sich dabei immerwährend um die Frage herum, von welcher leiblichen Beschaffenheit die Zoë-Gradiva sein möge, ob sie während ihres Aufenthaltes im Hause des Meleager ein körperhaftes Wesen oder nur eine Trugnachahmung dessen, das sie ehemals besessen habe, sei. Für das erstere schien physikalisch-physiologisch-anatomisch zu reden, daß sie über Organe zum Sprechen verfügte und mit den Fingern einen Bleistift zu halten vermochte. Aber bei Norbert überwog doch die Annahme, wenn er sie berühren, etwa seine Hand auf die ihrige legen würde, träfe er damit nur auf leere Luft. Sich darüber zu vergewissern, trieb ihn ein eigentümlicher Drang, indes eine ebenso große Scheu hielt ihn in der Vorstellung auch davon zurück. Denn er empfand, die Bestätigung jeder der beiden Möglichkeiten müsse etwas Bangniseinflößendes mit sich bringen. Die Körperhaftigkeit der Hand würde ihn mit einem Schreck durchfahren und ihre Körperlosigkeit ihm einen starken Schmerz verursachen.

Mit diesem, nach wissenschaftlicher Ausdrucksweise ohne Anstellung eines Experimentes nicht lösbaren Problem fruchtlos beschäftigt, gelangte er bei seiner weiten Umherwanderung [62] am Nachmittag bis zu den südwärts von Pompeji aufsteigenden Vorbergen der großen Gebirgsgruppe des Monte Sant' Angelo und traf hier unvorgesehen mit einem älteren, schon graubärtigen Herrn zusammen, der nach seiner Ausrüstung mit allerhand Gerätschaften ein Zoolog oder Botaniker zu sein und an einem heißbesonnten Abhang eine Nachspürung anzustellen schien. Der drehte den Kopf um, da Norbert dicht an ihn hingeraten war, sah diesen einen Augenblick überrascht an und sagte dann: »Interessieren Sie sich auch für die Faraglionensis? Das hätte ich kaum vermutet, aber mir ist es durchaus wahrscheinlich, daß sie sich nicht nur auf den Faraglionen bei Capri aufhält, sondern sich mit Ausdauer auch am Festland finden lassen muß. Das vom Kollegen Eimer angegebene Mittel ist wirklich gut, ich habe es schon mehrfach mit bestem Erfolg angewendet. Bitte, halten Sie sich ganz ruhig –«

Der Sprecher brach ab, setzte behutsam einige Schritte am Gelände empor vorwärts und hielt, sich reglos auf den Boden hinstreckend, eine aus einem langen Grashalm hergestellte kleine Schlinge vor eine schmale Felsritze, aus der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse hervorsah. So blieb er ohne die leiseste Bewegung liegen, und Norbert Hanold wendete sich hinter seinem Rücken geräuschlos um und kehrte auf den Weg, den er gekommen, zurück. Ihm war's dunkel, das Gesicht des Lazertenjägers sei schon einmal, wahrscheinlich in einem der beiden Gasthöfe, an seinen Augen vorübergegangen, darauf wies auch die Anrede desselben hin. Es hatte etwas kaum Glaubliches, was für närrisch merkwürdige Vorhaben Leute zu der weiten Fahrt nach Pompeji veranlassen konnten; froh, daß es ihm gelungen sei, sich so rasch von dem Schlingensteller loszumachen, und wieder imstande zu sein, seine Denkkraft auf das Problem der Körperhaftigkeit oder -losigkeit zurückzurichten, begab er sich auf die Rückwanderung. Doch verleitete ein Seitenweg ihn einmal zu unrichtigem Abbiegen und brachte ihn, statt zum westlichen Rand, an das Ostende der langgestreckten alten Stadtmauer; in seine Gedanken vertieft, nahm er die Irrung erst gewahr, als er dicht an ein Gebäude herangekommen, das weder der ›Diomed‹ noch das ›Hotel Suisse‹ war. Trotzdem trug es die Anzeichen einer Wirtschaft an sich, unweit davon erkannte er die Reste des großen pompejischen Amphitheaters, und ihm kam von früher ins Gedächtnis, daß in der Nähe des letzteren noch ein Gasthaus, der ›Albergo del Sole‹, vorhanden sei, wegen seiner abgelegenen Entfernung vom Bahnhof meistens nur von einer geringen Gästezahl aufgesucht werde und ihm selbst auch unbekannt geblieben sei. Der Weg hatte ihm heiß gemacht, dazu das nebelhafte Kreisen in seinem Kopf nicht vermindert, so trat er in die offene Tür ein und ließ sich das [63] von ihm als nützlich gegen den Blutandrang erachtete Mittel einer Flasche kohlensauren Wassers geben. Das Zimmer stand, selbstverständlich bis auf den vollzählig versammelten Fliegenbesuch, leer, und der unbeschäftigte Wirt nützte, mit dem Eingekehrten eine Unterhaltung anknüpfend, die Gelegenheit, sein Haus und die darin enthaltenen ausgegrabenen Schätze bestens in Empfehlung zu bringen. Nicht grade unverständlich deutete er darauf hin, daß es in der Nähe von Pompeji Leute gäbe, bei denen unter den vielen von ihnen zum Verkauf ausgestellten Gegenständen kein einziges Stück echt, sondern alle nachgemacht seien, während er, sich mit einer geringeren Anzahl begnügend, seinen Gästen nur zweifellos Ungefälschtes anbiete. Denn er erwarb lediglich Dinge, bei deren Zutageförderung er selbst anwesend war, und im Weitergang seiner Beredsamkeit ergab sich, daß er auch zugegen gewesen, als man in der Gegend des Forum das junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei der Erkenntnis des unabwendbaren Unterganges fest mit den Armen umschlungen und so den Tod erwartet habe. Davon hatte Norbert schon früher gehört, darüber als über eine Fabelerfindung irgendeines besonders phantasiereichen Erzählers die Achsel gezuckt, und er wiederholte dies auch jetzt, wie der Wirt ihm zum Beleg eine mit grüner Patina überkrustete Metallspange herbeiholte, die in seiner Gegenwart neben den Überresten des Mädchens aus der Asche gesammelt worden. Aber als der im Sonnenhof Eingekehrte sie in die eigene Hand nahm, übte doch die Einbildungskraft solche Übermacht auf ihn aus, daß er plötzlich, ohne weiteres kritisches Bedenken, den dafür verlangten Engländerpreis entrichtete und eilig mit seinem Erwerb den ›Albergo di Sole‹ verließ. In diesem sah er bei einer nochmaligen Umdrehung oben an einem offenstehenden Fenster einen in ein Wasserglas gestellten, mit weißen Blüten behängten Asphodilschaft herabnicken, und ohne eines logischen Zusammenhanges dafür zu bedürfen, durchdrang's ihn bei dem Anblick der Gräberblume, daß von ihr ihm eine Beglaubigung der Echtheit seines neuen Besitztums zuteil werde.

Dies betrachtete er, jetzt längs der Stadtmauer den Weg zur Porta Marina innehaltend, zugleich angespannt und scheu, vor allem mit einem zwiespältigen Gefühl. Es war also doch kein Märchen, daß ein junges Liebespaar in solcher Umschlingung unweit des Forums ausgegraben worden sei, und dort am Apollotempel hatte er die Gradiva sich zum Todesschlaf hinlegen gesehn. Aber nur in einem Traum, das wußte er jetzt bestimmt; in Wirklichkeit konnte sie vom Forum noch weitergegangen, mit jemand zusammengetroffen und gemeinsam mit ihm gestorben sein.

Aus der grünen Spange zwischen seinen Fingern durchfloß ihn [64] ein Gefühl, sie habe der Zoë-Gradiva angehört, das Gewand derselben am Halse geschlossen gehalten. Dann aber war diese die Geliebte, Verlobte, vielleicht die junge Frau dessen gewesen, mit dem sie zusammen sterben gewollt.

Es wandelte Norbert Hanold an, die Spange fortzuschleudern. Sie brannte seine Finger, als ob sie in glühenden Zustand gerate. Oder richtiger, sie verursachte ihm den Schmerz wie bei der Vorstellung, daß er seine Hand auf die der Gradiva lege und nur leere Luft antreffe.

Indes die Vernunft behauptete in seinem Kopf die Oberhand, er ließ ihn nicht willenlos von der Phantasie beherrschen. Wie wahrscheinlich es sein mochte, fehlte doch der unumstößliche Beweis, daß die Spange ihr angehört habe und daß sie es gewesen sei, die man in den Armen des jungen Mannes aufgefunden. Diese Erkenntnis verhalf ihm zur Fähigkeit eines befreienden Atemzuges, und als er im Dämmerungsbeginn den ›Diomed‹ erreichte, hatte die langstündige Umherwandrung seiner gesunden Konstitution doch auch leibliches Nahrungsbedürfnis eingebracht. Er verzehrte die ziemlich spartanische Abendkost, die der ›Diomed‹ trotz seiner argivischen Abkunft bei sich am Tisch adoptiert hatte, nicht ohne Eßlust und nahm dabei zwei im Laufe des Nachmittags neueingetroffene Gäste gewahr. Durch Aussehen und Sprache kennzeichneten sie sich als Deutsche, ein Er und eine Sie; sie hatten beide jugendliche, einnehmende und mit einem geistigen Ausdruck begabte Gesichtszüge; ihr Verhältnis zueinander ließ sich nicht entnehmen, doch schloß Norbert nach einer gewissen Ähnlichkeit auf ein Geschwisterpaar. Allerdings unterschied das Haar des jungen Mannes sich durch Blondfarbigkeit von ihrem lichtbraunen; sie trug eine rote Sorrentiner Rose am Kleid, deren Anblick an etwas im Gedächtnis des aus seiner Stubenecke Hinüberschauenden rührte, ohne daß er sich darauf besinnen konnte, was es sei. Die beiden waren die ersten ihm auf seiner Reise Begegnenden, von denen er einen sympathischen Eindruck empfing. Sie redeten, bei einem Fiaschetto sitzend, miteinander, weder zu laut vernehmbar noch in besorglichem Flüsterton, augenscheinlich bald über ernsthafte Dinge und bald über heitere, denn zuweilen ging gleichzeitig um ihre Lippen ein halblachender Zug, der ihnen hübsch stand und Lust zu einer Anteilnahme an ihrer Unterhaltung erweckte. Oder vielleicht bei Norbert hätte erwecken können, wenn er um zwei Tage früher mit ihnen in dem sonst nur von den Anglo-Amerikanern bevölkerten Raum zusammengetroffen wäre. Doch er fühlte, was in seinem Kopf vorging, stehe in einem zu starken Gegensatz zu der fröhlichen Natürlichkeit der beiden, um die unverkennbar kein leisester Nebel lag und die zweifellos nicht über die Wesensbeschaffenheit einer vor [65] zwei Jahrtausenden Verstorbenen tiefgrundig nachsannen, sondern sich ohne alle Abmühung an einem rätselvollen Problem ihres Lebens in der gegenwärtigen Stunde freuten. Damit stimmte sein Zustand nicht zusammen; er kam sich einerseits höchst überflüssig für sie vor und scheute andrerseits vor dem Versuch, eine Bekanntschaft mit ihnen anzuknüpfen, zurück, da er eine dunkle Empfindung hatte, ihre heiteren, hellen Augen könnten ihm durch die Stirnwandung in seine Gedanken hineingehen und dabei einen Ausdruck annehmen, als ob sie ihn nicht ganz richtig bei Verstand hielten. So begab er sich zu seinem Zimmer hinauf, stand noch etwas wie gestern, nach dem mächtigen Purpurmantel des Vesuv hinüberblickend, am Fenster und legte sich dann zur Ruhe. Übermüdet schlief er auch bald ein und träumte, doch merkwürdig unsinnig. Irgendwo in der Sonne saß die Gradiva, machte aus einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse drin zu fangen, und sagte dazu: »Bitte halte dich ganz ruhig – die Kollegin hat recht, das Mittel ist wirklich gut, und sie hat es mit bestem Erfolg angewendet –«

Norbert Hanold kam's im Traum zum Bewußtwerden, das sei in der Tat vollständige Verrücktheit, und er warf sich herum, um von ihr loszukommen. Dies gelang ihm auch durch die Beihülfe eines unsichtbaren Vogels, der einen kurzen lachenden Ruf ausstieß, wie es schien, die Lazerte im Schnabel forttrug, und danach war alles verschwunden.


Beim Aufwachen erinnerte er sich, daß in der Nacht eine Stimme gesprochen habe, im Frühling gäbe man Rosen, oder eigentlich ward ihm dies durch die Augen ins Gedächtnis gerufen, da sein aus dem Fenster gehender Blick drunten auf einen mit roten Blumen leuchtenden Strauch fiel. Sie waren von der nämlichen Art wie die, welche die junge Dame vor der Brust getragen, und als er hinuntergekommen, pflückte er unwillkürlich ein paar von ihnen ab und roch daran. Es mußte mit den Sorrentiner Rosen in der Tat eine absondere Bewandtnis haben, denn ihr Duft bedünkte ihn nicht nur wundervoll, sondern auch völlig neu und fremdartig, und dabei, als ob sie eine etwas lösende Wirkung in seinem Kopf ausübten. Wenigstens entledigten sie ihn seiner gestrigen Scheu vor den Torwächtern, er begab sich vorschriftsmäßig durch den Ingresso nach Pompeji hinein, entrichtete unter einer Vorgabe den doppelten Betrag des Eintrittsgeldes und schlug rasch Wege ein, die ihn aus der Nähe der übrigen Besucher davonbrachten. Das kleine Skizzenbuch aus der Casa di Meleagro trug er nebst der grünen Spange und den roten Rosen mit sich, doch zu frühstücken hatte er über dem Duft der letzteren vergessen, und seine Gedanken befanden sich nicht in der Gegenwart, [66] sondern ausschließlich auf die Mittagsstunde vorausgerichtet. Bis zu der war's indes noch lang, er mußte die Wartezeit verbringen und trat zu dem Behuf bald in dieses, bald in jenes Haus ein, von dem ihm wahrscheinlich vorkam, daß auch die Gradiva es ehemals öfter betreten habe oder noch jetzt zuweilen aufsuche – seine Annahme, daß sie lediglich um Mittag dazu imstande sei, war etwas ins Schwanken geraten. Vielleicht stand's ihr auch noch zu anderen Tagesstunden frei, möglicherweise ebenfalls bei Nacht im Mondschein; verwunderlich bekräftigten ihm diese Mutmaßung die Rosen, wenn er sie einatmend an seine Nase hielt, und dieser neuen Auffassung kam sein Nachsinnen willfährig und überzeugungsbereit entgegen. Denn er konnte sich das Zeugnis zuerkennen, daß er durchaus nicht bei einer vorgefaßten Meinung beharre, vielmehr jeder vernünftigen Einwendung freien Lauf lasse, und eine solche machte sich hier entschieden, nicht nur logisch, auch ebenso wünschenswert geltend. Nur geriet in Frage, ob dann bei einer Begegnung mit ihr auch die Augen anderer imstande seien, sie als leibliche Erscheinung wahrzunehmen, oder ob nur den seinigen die Befähigung dazu innewohne. Das erstere ließ sich nicht abweisen, behauptete sogar die Wahrscheinlichkeit für sich und wandelte das Wünschenswerte zum Gegenteil um, versetzte ihn in eine unmutig-unruhige Stimmung. Der Gedanke, andere könnten sie ebenfalls anreden, sich zu ihr setzen, um eine Unterhaltung mit ihr zu führen, entrüstete ihn; darauf besaß nur er ein Anrecht oder jedenfalls ein Vorrecht, denn er hatte die Gradiva, von der niemand sonst gewußt, entdeckt, sie täglich betrachtet, in sich aufgenommen, gewissermaßen mit seiner Lebenskraft durchdrungen, und ihm war's, als ob er ihr dadurch ein Leben wieder verliehen habe, das sie ohne ihn nicht besessen hätte. Daraus aber fiel seinem Gefühl ein Recht zu, auf das er allein Anspruch erheben durfte und verweigern konnte, es mit irgend jemand sonst zu teilen.

Der vorschreitende Tag war noch heißer als die beiden voraufgegangenen, die Sonne schien es heut' auf eine ganz außerordentliche Leistung abgesehen zu haben und machte nicht nur in archäologischer, auch in praktischer Hinsicht bedauerlich, daß die Wasserleitung Pompejis seit zwei Jahrtausenden zerborsten und ausgetrocknet dalag. Straßenbrunnen erhielten da und dort ihr Gedächtnis fort und legten ingleichem noch Zeugnis von ihrer umstandslosen Benützung durch vorübergekommene durstige Leute ab. Sie hatten, um sich an das verschwundene Mündungsrohr vorzubücken, eine Hand auf den marmornen Brunnenrand gestützt und diesen, wie der Tropfen den Stein höhlte, allmählich an der Stelle zu einer Einmuldung ausgeschürft; Norbert machte diese Wahrnehmung an[67] einer Ecke der Strada della Fortuna, ihm stieg daraus die Vorstellung auf, daß auch die Hand der Zoë-Gradiva sich ehemals hier so aufgestützt haben möge, und unwillkürlich legte seine Hand sich in die kleine Aushöhlung hinein. Doch verwarf er die Annahme sogleich, empfand einen Verdruß über sich selbst, daß er darauf hatte geraten können. Sie stand in keinem Einklang zu dem Wesen und Benehmen der jungen Pompejanerin aus feingebildetem Hause; Entwürdigendes lag darin, daß sie sich so übergebeugt und ihre Lippen an das nämliche Rohr gelegt haben sollte, aus dem die Plebs mit rohem Munde trank. Im edlen Sinn Schicklicheres, als es sich in ihrem Tun und ihren Bewegungen kundgab, war ihm noch nie zu Gesicht gekommen; ihn überkam's schreckhaft, sie könne ihm den unglaublich verstandwidrigen Einfall ansehen. Denn ihre Augen besaßen etwas Eindringliches; ihn hatte ein paarmal das Gefühl angerührt, während seines Zusammenseins mit ihr trachteten sie danach, einen Zugang ins Innere seines Kopfes auszufinden und darin wie mit einer stahlhellen Sonde herumzusuchen. Er mußte deshalb sehr behutsam achtgeben, daß sie nichts Törichtes in seinen Gedankenvorgängen antrafen.

Noch immer war's eine Stunde bis Mittag, und um sie zu verbringen, ging er quer über die Straße in die Casa del Fauno, das umfänglichste und stattlichste aller ausgegrabenen Häuser, hinein. Wie kein anderes, besaß es ein doppeltes Atrium und zeigte in dem bedeutendsten inmitten des Impluviums den leeren Sockel, auf dem die berühmte Statue des tanzenden Fauns, nach dem es benannt worden, gestanden hatte. Doch ward bei Norbert Hanold nicht das geringste Bedauern rege, daß sich dies von der Wissenschaft am höchsten geschätzte Kunstwerk nicht mehr hier befinde, sondern zugleich mit dem Mosaikbilde der Alexanderschlacht ins Museo Nazionale nach Neapel überführt worden sei; er trug keinerlei weitere Absicht noch Wunsch in sich, als die Zeit weiterrücken zu lassen, und wanderte zu diesem Zweck planlos durch das große Gebäude umher. Hinter dem Peristyl öffnete sich ein weiter, von zahlreichen Säulen umfaßter Raum, entweder auch eine nochmalige Wiederholung des Peristyls oder als Xystos, Schmuckgarten, angelegt; so erschien's gegenwärtig, denn wie der Oecus der Casa di Meleagro war er ganz mit blühendem Mohn überdeckt. In abwesenden Gedanken schritt der Besucher durch die stille Verlassenheit.

Dann aber hielt er einmal stutzend den Fuß an, er befand sich doch nicht allein hier, sein Blick traf in einiger Entfernung auf zwei Gestalten, die zuerst nur den Eindruck von einer erregten, da sie so nah als irgend möglich aneinandergedrängt standen. Sie nahmen ihn nicht gewahr, denn sie waren ganz nur [68] mit sich beschäftigt und mochten sich dabei in dem Winkel durch die Säulen für etwaige andere Augen unentdeckbar gemacht glauben. Wechselseitig sich mit den Armen umschlingend, hielten sie auch ihre Lippen zusammengeschlossen, und der unvermutete Zuschauer erkannte zu seiner Überraschung, es seien der junge Herr und die junge Dame, an denen er gestern abend zum erstenmal auf seiner Reise ein Gefallen gefunden hatte. Für zwei Geschwister aber bedünkten ihn ihr gegenwärtiges Verhalten, die Umarmung und der Kuß von zu langer Andauer, also war es doch ein Liebes-und mutmaßlich junges Hochzeitspaar, auch ein August und eine Grete.

Merkwürdigerweise indes gerieten die beiden letzteren Norbert augenblicklich nicht in den Sinn, und der Vorgang rührte ihn durchaus nicht lächerlich oder widerwärtig an, vielmehr erhöhte noch sein Wohlgefallen an den beiden. Was sie taten, kam ihm ebenso natürlich wie vollbegreiflich vor, seine Augen hafteten auf dem lebenden Bild mit größer aufgewerteten Lidern als je auf einem der am höchsten bewunderten antiken Kunstwerke, und gern hätte er sich dieser Betrachtung noch länger überlassen. Doch war's ihm zumut, als sei er unberechtigt in einen geweihten Raum eingedrungen und stehe im Begriff, darin eine geheime Andachtsübung zu stören; die Vorstellung, dabei wahrgenommen zu werden, befiel ihn mit Schreck, er wendete sich hastig um, ging geräuschlos ein Stück auf den Zehen zurück und lief, aus der Hörweite gelangt, beengten Atems und klopfenden Herzens auf den Vicolo del Fauno hinaus.


Als er vor dem Hause des Meleager ankam, wußte er nicht, ob es bereits Mittagsstunde sei, und geriet auch nicht darauf, seine Uhr danach zu befragen, doch er blieb vor der Tür, unschlüssig eine Weile auf das ›Have‹ des Einganges niederblickend, stehen. Ihn hielt eine Furcht ab hineinzutreten, und sonderbar fürchtete er sich gleicherweise davor, die Gradiva drinnen nicht anzutreffen und sie dort zu finden, denn in seinem Kopf hatte sich während der letzten Minuten festgesetzt, im ersteren Falle halte sie sich anderswo mit irgendeinem jüngeren Herrn auf und im zweiten leiste dieser ihr auf den Stufen zwischen den Säulen Gesellschaft. Gegen den aber empfand er einen Haß noch weit stärker als gegen die Gesamtheit aller gemeinen Stubenfliegen, hatte bis heute nicht für möglich gehalten, daß er einer so heftigen inneren Erregung fähig sein könne. Das Duell, das er immer für eine sinnlose Dummheit angesehen, erschien ihm plötzlich in einem veränderten Lichte; hier ward es zum Naturrecht, das der in seinem eigensten Recht Gekränkte, zu Tod Beleidigte an sich nahm als einzig vorhandenes Mittel, eine befriedigende Vergeltung zu[69] üben oder sich eines zwecklos gewordenen Daseins entäußern zu lassen. So setzte sein Fuß sich mit jäher Bewegung doch zum Eintritt vor; er wollte den frechen Menschen herausfordern und wollte – das drängte sich fast noch gewaltsamer in ihm auf – ihr rückhaltlos zum Ausdruck bringen, daß er sie für etwas Besseres, Edleres, solcher Gemeinschaft nicht fähig gehalten habe –.

So bis zum Lippenrande voll war er von diesem Vorhaben der Empörung, daß es ihm auch vom Mund flog, wo durchaus keinerlei Anlaß dafür zutage lag. Denn wie er mit stürmischer Eile die Entfernung bis zum Oecus hinter sich gebracht hatte, stieß er ungestüm aus: »Bist du allein?!« obwohl der Augenschein keinen Zweifel darüber beließ, daß die Gradiva grad ebenso einsam wie an den beiden vorigen Tagen auf der Stufe dasaß. Sie sah ihn verwundert an und erwiderte: »Wer sollte denn nach Mittag noch hier sein? Da sind die Leute alle hungrig und sitzen beim Essen. Das hat die Natur für mich sehr erfreulich so eingerichtet.«

Seine überwallende Aufregung konnte sich jedoch so rasch nicht beschwichtigen und ließ ihm ohne Wissen und Willen noch weiter die Mutmaßung entfahren, die eben draußen mit der Stärke einer Gewißheit über ihn geraten; denn, setzte er, zwar einigermaßen widersinnig, hinzu, es lasse sich ja eigentlich gar nicht anders denken. Ihre hellen Augen hielten sich in sein Gesicht gerichtet, bis er zu Ende gesprochen, dann machte sie mit einem Finger einmal eine Bewegung gegen ihre Stirn und sagte: »Du –.« Danach aber fuhr sie fort: »Mir scheint's grade genug, daß ich nicht von hier wegbleibe, obgleich ich erwarten muß, daß du um diese Zeit hieherkommst. Aber der Platz gefällt mir einmal gut, und ich sehe, du hast mir mein Skizzenbuch, das ich gestern vergessen hatte, mitgebracht. Ich danke dir für deine bessere Achtsamkeit. Willst du's mir nicht geben?«

Die letzte Frage war wohlbegründet, denn er traf keinerlei Anstalt dazu, sondern blieb unbeweglich auf demselben Fleck stehen. In seinem Kopf dämmerte es, daß er sich eine ungeheure Dummheit ein- und ausgebildet, dazu auch noch ausgesprochen habe; um sie, soweit es möglich fiel, wieder gut zu machen, trat er nun hastig vor, reichte der Gradiva das Buch hin und setzte sich zugleich mechanisch neben ihr auf die Stufe nieder. Einen Blick auf seine Hand werfend, sagte sie: »Du scheinst ein Freund von Rosen zu sein.«

Bei den Worten kam's ihm auf einmal zum Bewußtwerden, was ihn zum Abpflücken und Mitnehmen derselben veranlaßt habe, und er entgegnete: »Ja – doch, ich habe sie nicht für mich – du sprachst gestern – und auch heut' nacht sagte mir's jemand – man gäbe sie im Frühling –«

[70] Sie dachte merklich kurz nach, ehe sie antwortete: »Ach so – ja, ich erinnere mich – anderen, meinte ich, gäbe man nicht Asphodil, sondern Rosen. Das ist artig von dir; es scheint, du hast deine Ansicht von mir ein wenig verbessert.«

Ihre Hand streckte sich zum Empfang der roten Blumen aus, und diese ihr jetzt hinreichend, versetzte er: »Ich glaubte zuerst, du könntest nur in der Mittagsstunde hier sein, aber mir ist wahrscheinlich geworden, daß du auch zu anderer Zeit – das macht mich sehr glücklich –«

»Warum macht dich das glücklich?«

Ihr Gesicht drückte Verständnislosigkeit aus, nur um ihre Lippen ging ein kaum merkbar leises Zucken. Verwirrt brachte er hervor: »Es ist schön, lebendig zu sein – mir ist dies früher nie so – ich wollte dich noch fragen –«

Er suchte in seiner Brusttasche und setzte, das Gefundene herausziehend, hinzu: »Hat diese Spange ehemals dir gehört?«

Ihr Gesicht bewegte sich ein klein wenig danach vor, doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Der Zeitrechnung nach wär's sonst wohl nicht unmöglich, denn sie wird vermutlich erst aus diesem Jahr herstammen. Hast du sie vielleicht in der Sonne gefunden? Bekannt kommt die schöne grüne Patina mir doch vor, als hätte ich sie schon gesehen.«

Unwillkürlich wiederholte er: »In der Sonne – warum in der Sonne?«

»Sole heißt sie hier, die bringt mancherlei von der Art zustande. Sollte die Spange nicht einem jungen Mädchen gehört haben, das mit einem Begleiter zusammen, ich glaube in der Umgegend des Forums, verunglückt sein soll.«

»Ja, der seine Arme um sie geschlungen hielt –«

»Ach so –«

Die beiden Wörtchen lagen offenbar der Gradiva als eine Lieblings-Interjektion auf der Zunge, und sie hielt danach einen Augenblick inne, ehe sie hinzufügte: »Deshalb meintest du, ich hätte sie an mir getragen. Und hätte das dich etwa – wie sagtest du vorhin? – dich unglücklich gemacht?«

Ihm war anzusehen, daß er sich außerordentlich erleichtert fühle, und vernehmlich klang's auch aus seiner Antwort: »Ich bin sehr froh darüber – denn die Vorstellung, daß dir die Spange gehört habe, verursachte mir einen – einen Schwindel im Kopf –«

»Dazu scheint er bei dir etwas Neigung zu hegen. Hast du vielleicht heut' morgen zu frühstücken vergessen? Das verstärkt leicht solche Anfälle noch; ich leide nicht daran, aber sehe mich vor, da es mir am besten zusagt, um die Mittagszeit hier zu sein. Wenn ich dir von dem mißlichen Zustand deines Kopfes dadurch ein bißchen abhelfen kann, daß ich meinen Vorrat mit dir teile –«

[71] Sie zog ein in Seidenpapier eingewickeltes Weißbrot aus ihrer Kleidertasche, brach es durch, legte ihm die eine Hälfte in seine Hand und begann die andere mit sichtlichem Appetit zu verzehren. Dabei blitzten ihre ausnehmend zierlichen und tadellosen Zähne nicht nur mit einem perlenden Glanz zwischen den Lippen auf, sondern verursachten beim Durchbeißen der Rinde auch einen leicht krachenden Ton, so daß sie durchaus den Eindruck erregten, nicht wesenlose Scheingebilde, sondern von wirklicher körperhafter Beschaffenheit zu sein. Im übrigen hatte sie mit ihrer Vermutung bezüglich des versäumten Frühstückes wohl das Richtige getroffen; mechanisch aß er ebenfalls und empfand eine entschieden günstige Wirkung davon auf die Klärung seiner Gedanken ausgeübt. So sprachen sie beide ein Weilchen nicht weiter, sondern gaben sich schweigend der gleichen nützlichen Beschäftigung hin, bis die Gradiva sagte: »Mir ist's, als hätten wir schon vor zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot gegessen. Kannst du dich nicht darauf besinnen?«

Das konnte er nicht, doch nahm's ihn jetzt wunder, daß sie von einer so unendlich fernen Vergangenheit sprach, denn die Stärkung des Kopfes durch das Nährmittel hatte eine Umänderung in seinem Gehirn nach sich gezogen. Die Annahme, sie sei schon seit so langer Zeit hier in Pompeji umhergegangen, wollte sich nicht mehr mit der gesunden Vernunft in Einklang bringen lassen; alles an ihr erschien ihm gegenwärtig so, als ob es kaum mehr als zwanzig Jahre alt sein könne. Die Formen und Farbe des Gesichtes, das überaus reizvolle, braungewellte Haar und die makellosen Zähne; auch die Vorstellung, das helle, von keinem Schatten eines Fleckens beeinträchtigte Gewand habe ungezählte Jahre in der Bimssteinasche gelegen, enthielt im höchsten Maße Widerspruchsvolles. Norbert ward von einem Empfindungszweifel angefaßt, ob er eigentlich in wachem Zustande hier sitze oder nicht wahrscheinlicher in seiner Studierstube, wo er bei der Betrachtung des Bildes der Gradiva von Schlaf überkommen worden, geträumt habe, daß er nach Pompeji gefahren, mit ihr als einer noch Lebenden zusammengetroffen sei, und weiter träume, noch so an ihrer Seite in der Casa di Meleagro zu sitzen. Denn daß sie wirklich noch lebte oder wieder lebendig geworden sei, konnte sich doch wohl nur in einem Traume zutragen – die Naturgesetze erhoben dagegen einen Einwand –

Seltsam freilich war's, daß sie eben gesagt hatte, sie habe schon vor zweitausend Jahren einmal so ihr Brot mit ihm geteilt. Davon wußte er nichts und konnte doch darauf auch im Traum nicht geraten –

Ihre linke Hand lag mit den schmalen Fingern ruhig auf ihren [72] Knien – die trug den Schlüssel zur Lösung eines unentwirrbaren Rätsels in sich –

Auch vor dem Oecus der Casa di Meleagro machte die Frechheit der gemeinen Stubenfliege nicht halt; an der gelben Säule ihm gegenüber sah er eine nach ihrer nichtswürdigen Gepflogenheit in suchender Gier auf und ab rennen; nun schwirrte sie dicht an seiner Nase vorbei.

Er mußte doch irgend etwas auf ihre Frage, ob er sich nicht an das schon früher gemeinsam mit ihr verzehrte Brot erinnere, antworten und brachte, jäh herausgestoßen, vom Mund: »Waren die Fliegen damals schon ebenso teuflisch wie jetzt, daß sie dich bis zum Lebensüberdruß gemartert haben?«

Sie blickte ihn mit einem völlig begrifflosen Erstaunen an und wiederholte: »Die Fliegen? Hast du jetzt eine Fliege im Kopf?«

Da saß auf einmal das schwarze Ungeheuer auf ihrer Hand, die nicht durch die leiseste Regung kundgab, daß sie etwas davon verspüre. Bei dem Anblick aber mischten sich in dem jungen Archäologen zwei gewaltsame Antriebe zur Ausführung einer und der nämlichen Handlung ineinander. Seine Hand fuhr plötzlich in die Höh' und klatschte mit einem keineswegs gelinden Schlag auf die Fliege und die Hand seiner Nachbarin herunter.

Mit diesem Zuschlag erst kam Besinnung, Bestürzung und doch auch ein freudiger Schreck über ihn. Er hatte den Streich nicht durch leere Luft hindurch geführt, auch nicht auf etwas Kaltes und Starres, sondern auf eine unzweifelhaft wirkliche, lebendige und warme Menschenhand, die einen Moment lang, augenscheinlich vollständig verblüfft, regungslos unter der seinigen liegen blieb. Doch dann zog sie sich mit einem Ruck fort, und der Mund über ihr sagte: »Du bist doch offenbar verrückt, Norbert Hanold.«

Der Name, von dem er niemand in Pompeji Mitteilung gemacht, ging der Gradiva so glatt, zweifellos und deutlich über die Lippen, daß der Inhaber desselben noch stärker erschrocken von der Stufe aufflog. Zugleich ertönten im Säulengang unvermerkt nah herangekommene Fußtritte, vor verworrenem Blick tauchten ihm die Gesichter des sympathischen Liebespaars aus der Casa di Fauno auf, und die junge Dame rief mit einem Ton höchlicher Überraschung: »Zoë! du auch hier? Und auch auf der Hochzeitsreise? Davon hast du mir ja kein Wort geschrieben!«


Norbert befand sich wieder draußen vor dem Haus des Meleager in der Strada di Mercurio. Wie er dorthin gekommen, war ihm nicht klar, es mußte instinktiv geschehen sein, und zwar von einer blitzartigen Erleuchtung in ihm veranlaßt, das [73] einzige sei's, was er tun könne, um nicht eine überaus lächerliche Figur darzustellen. Vor dem jungen Paar, mehr noch vor der von diesem freundschaftlich Begrüßten, die ihn eben mit seinem Vor- und Zunamen angeredet, und am allermeisten vor sich selbst. Denn wenn er auch nichts begriff, war ihm doch eines als ganz unanfechtbar aufgegangen. Die Gradiva mit der nicht wesenlosen, sondern körperhaft wirklichen, warmen Menschenhand hatte eine zweifellose Wahrheit ausgesprochen, sein Kopf war in den beiden letzten Tagen in einem Zustand völliger Verrücktheit gewesen. Und zwar keineswegs in unklugem Traum, vielmehr mit so wachen Augen und Ohren, als sie zu ihrer vernünftigen Anwendung Menschen von der Natur mitgegeben wurden. Wie das sich derartig zugetragen habe, entzog sich, gleich allem übrigen, seinem Verständnis; nur dunkel rührte ihn eine Empfindung an, ein sechster Sinn müsse dabei im Spiel gewesen sein, der, in solcher Weise zur Oberhand gelangend, etwas sonst vielleicht Schätzenswertes zum Gegenteil umwandte. Um darüber durch einen Nachdenkungsversuch wenigstens ein bißchen mehr Aufschluß zu gewinnen, war ein in unbesuchter Stille abgelegener Ort durchaus erforderlich; zunächst aber trieb es Norbert an, sich möglichst rasch aus dem Bereich der Augen, Ohren und sonstigen Sinne zu entfernen, die ihre Naturmitgift so benutzten, wie's dem eigentlichen Gebrauchszweck entsprach.

Was die Besitzerin jener warmen Hand betraf, so war sie jedenfalls von dem unvorgesehenen und um die Mittagsstunde nicht erwarteten Besuch in der Casa di Meleagro auch, und nach ihrem allerersten Mienenausdruck nicht in ausschließlich angenehmer Weise, überrascht worden. Doch ließ vom letzteren schon der nächste Augenblick in ihrem klugen Gesicht keine Spur mehr erkennen, sie stand hurtig auf, trat der jungen Dame entgegen und versetzte, ihr die Hand reichend: »Das ist ja wirklich hübsch, Gisa, der Zufall hat zuweilen auch einen netten Einfall. Also das ist seit vierzehn Tagen dein Mann? Ich freue mich, ihn mit Augen kennenzulernen, und brauche nach eurem beiderseitigen Aussehen offenbar meinen Glückwunsch nicht nachträglich zu einer Kondolation umzuändern. Paare, bei denen das angebracht wäre, pflegen um diese Zeit in Pompeji bei Tisch zu sitzen; ihr seid vermutlich am Ingresso in Quartier, da suche ich euch heut' nachmittag auf. Nein, geschrieben habe ich dir nichts; das wirst du mir nicht übelnehmen, denn du siehst, meine Hand genießt nicht die Berechtigung der deinigen, sich durch einen Ring auszuzeichnen. Die Luft hier wirkt außerordentlich kräftig auf die Einbildung, das merke ich an dir; besser ist's ja freilich, als wenn sie zu nüchtern machte. Der junge Herr, der [74] eben fortging, laboriert auch an einem merkwürdigen Hirngespinst, mir scheint, er glaubt, daß ihm eine Fliege im Kopf summt; nun, irgendeine Kerbtierart hat wohl jeder drin. Pflichtmäßig verstehe ich mich etwas auf Entomologie und kann deshalb bei solchen Zuständen ein bißchen von Nutzen sein. Mein Vater und ich wohnen im Sole, er bekam auch einen plötzlichen Anfall und dazu den guten Einfall, mich mit hierher zu nehmen, wenn ich mich auf meine eigene Hand in Pompeji unterhalten und an ihn keine Anforderungen stellen wollte. Ich sagte mir, irgend etwas Interessantes würde ich wohl schon allein hier ausgraben. Freilich, auf den Fund, den ich gemacht – ich meine das Glück, dich zu treffen, Gisa, hatte ich mit keinem Gedanken gerechnet. Aber ich verschwatze die Zeit, wie's bei einer alten Freundin so geht – ganz uralt allerdings sind wir doch grade noch nicht. Mein Vater kommt um zwei Uhr aus der Sonne an den Sonnentisch, da muß ich seinem Appetit Gesellschaft leisten und darum leider augenblicklich auf deine weitere verzichten. Ihr werdet die Casa di Meleagro ja auch ohne mich besichtigen können; ich verstehe das zwar nicht, aber ich denke es mir. Favorisca signor! A rivederci, Gisetta! So viel Italienisch habe ich schon gelernt, und viel mehr braucht man eigentlich nicht. Was sonst noch nötig ist, schöpft man aus sich selbst – bitte, nein, senza complimenti!«

Dies letzte Ersuchen der Sprecherin bezog sich auf eine höfliche Bewegung, mit der ihr der junge Eheherr das Geleit geben zu wollen schien. Sie hatte sich höchst lebendig, äußerst unbefangen und ganz den Umständen der unerwarteten Begegnung mit einer nahstehenden Freundin entsprechend ausgedrückt, doch mit einer außerordentlichen Schnelligkeit, die für die Dringlichkeit ihrer Aussage, daß sie sich gegenwärtig nicht länger aufhalten könne, Zeugnis ablegte. Und so waren nicht mehr als ein paar Minuten seit dem eilfertigen Abgang Norbert Hanolds verflossen, wie sie gleichfalls aus dem Hause des Meleager in die Strada di Mercurio hinaustrat. Diese lag, der Tageszeit gemäß, einzig da und dort von einer schwänzelnden Lazerte belebt da, und für ein paar Augenblicke gab sich die an ihrem Rande Innehaltende offenbar einem kurz überwägenden Nachdenken hin. Dann schlug sie hurtig die nächste Richtung dem Tor des Herkules zu ein, überschritt an der Kreuzung des Vicolo di Mercurio und der Strada di Sallustio mit dem anmutig-behenden Gradiva-Gang die Trittsteine und gelangte so sehr rasch bis an die beiden Seitenmauerreste der Porta Ercolanese. Hinter dieser dehnte sich lang die Gräberstraße abwärts, doch nicht weißblendend und von glitzernden Strahlen verhängt wie vor vierundzwanzig Stunden, als der junge Archäologe ebenso mit suchenden [75] Augen von hier durch sie hinuntergeblickt hatte. Die Sonne schien heut' von einem Gefühl überkommen zu sein, daß sie am Vormittag doch des Guten ein wenig zuviel getan habe; sie hielt einen grauen Schleier vor sich gezogen, an dessen Verdichtung sichtlich noch weitergearbeitet wurde, und infolge davon hoben die hin und wieder an der Strada de' Sepolcri aufgewachsenen Zypressen sich ungewöhnlich scharf und schwarz gegen den Himmel ab. Ein anderes Bild als gestern war's, der geheimnisvoll alles überflimmernde Glanz fehlte ihm; auch die Straße befliß sich einer gewissen trübsinnigen Deutlichkeit, hatte gegenwärtig ein ihrem Namen Ehre machendes totes Gesicht angenommen. Dieser Eindruck ward durch eine vereinzelte Regung an ihrem Ende nicht aufgehoben, sondern eher noch erhöht; es sah aus, als ob dort in der Umgegend der Villa des Diomedes eine Schattengestalt ihren Tumulus aufsuche und unter einem der Gräberdenkmäler verschwinde.

Nicht der nächste Weg vom Haus des Meleager zum Albergo del Sole war's, vielmehr eigentlich die grade entgegengesetzte Richtung dorthin, aber die Zoë-Gradiva mußte nachträglich zur Einsicht gekommen sein, daß die Zeit doch noch nicht so übermäßig zum Mittagstisch dränge. Denn nach einem ganz flüchtigen Anhalten am Herkulestor ging sie, die Sohle des zurückbleibenden Fußes jedesmal beinahe senkrecht emporrichtend, über die Lavaplatten der Gräberstraße weiter.


Die ›Villa des Diomedes‹ – äußerst beliebig von den Heutlebenden so nach einem Grabmal benannt, das ein ›Libertus‹ Marcus Arrius Diomedes, der zu einem Vorstand des früher hier gelegenen Stadtteiles aufgerückt gewesen, in der Nähe für seine vormalige Gebieterin Arria sowie für sich und seine Angehörigen errichtet hatte – war ein sehr umfänglicher Bau und barg ein nicht von der Phantasie erfabeltes, sondern recht schauerlich-wirkliches Stück der Geschichte vom Untergang Pompejis in sich. Eine Wirrnis weitläufiger Trümmerreste machte den oberen Teil aus, darunter lag vertieft ein ungemein großer, ringsum von einem erhalten gebliebenen Pfeilerporticus umschlossener Gartenraum mit kargen Überbleibseln eines Brunnens und kleinen Tempels in der Mitte, und noch weiter abwärts führten zwei Treppen in ein rundlaufendes, nur matt von trübem Dämmerlicht angehelltes Kellerganggewölbe nieder. Auch in dies war die Vesuvasche eingedrungen, und man hatte hier in ihr die Skelette von achtzehn Frauen und Kindern gefunden; Schutz suchend, waren sie mit einigen hastig zusammengerafften Nahrungsmitteln in das halbunterirdische Gelaß geflüchtet und die trügerische Zuflucht allen zur Gruftstatt geworden. An anderer Stelle lag der mutmaßliche, [76] namenlose Herr des Hauses gleichfalls erstickt auf dem Boden hingestreckt; er hatte sich durch die verschlossene Gartentür retten wollen, denn er hielt den Schlüssel zu ihr in den Fingern. Neben ihm kauerte ein anderes Gerippe, wahrscheinlich das eines Dieners, der eine beträchtliche Anzahl goldener und silberner Münzen mit sich getragen. Von der erhärteten Asche waren die Körperformen der Verunglückten erhalten gewesen; im Museo Nazionale in Neapel ward unter Glas der hier aufgefundene genaue Abdruck des Halses, der Schultern und des schönen Busens eines jungen, mit florartig feinem Gewand bekleideten Mädchens bewahrt.

Die Villa des Diomedes bildete wenigstens einmal unerläßlich das Wegziel für jeden pflichtgetreuen Pompeji-Besucher, doch jetzt um die Mittagszeit ließ sich bei ihrer ziemlich weiten räumlichen Abgeschiedenheit mit großer Sicherheit annehmen, daß keinerlei Neugier sich in ihr aufhalte, und so war sie Norbert Hanold als geeignetster Zufluchtsort für sein neuestes Kopfbedürfnis erschienen. Das verlangte dringlichst nach grabesartiger Einsamkeit, atemloser Stille und unbeweglicher Ruhe; wider die letztere aber erhob eine treibende Unruhe in seinem Gefäßsystem einen energischen Gegenanspruch, und er hatte zwischen den beiden Forderungen eine Übereinkunft schließen müssen, daß der Kopf die seinige zu behaupten suchte, dagegen den Füßen freigab, ihrem Drang Folge zu leisten. So wanderte er seit seiner Hierherkunft rundum durch den Porticus; ihm gelang dabei, das körperliche Gleichgewicht zu bewahren, und er mühte sich, sein geistiges in den gleichen Normalzustand zu versetzen. Das aber erwies sich in der Ausführung schwieriger als in der Absicht; allerdings stand als unanzweifelbar vor seiner Erkenntnis, er sei völlig ohne Sinn und Verstand gewesen zu glauben, daß er mit einer mehr oder weniger leiblich wieder lebendig gewordenen jungen Pompejanerin beisammensitze, und diese deutliche Einsicht seiner Verrücktheit bildete unstreitig einen wesentlichen Fortschritt auf dem Rückweg zur gesunden Vernunft. Doch fand diese sich damit entschieden noch nicht in ihre ordnungsmäßige Verfassung zurückgebracht, denn wenn ihr auch aufgegangen war, die Gradiva sei nur ein totes Steinbild, so stand trotzdem gleicherweise außer Zweifel, daß sie noch lebte. Dafür war ein unumstößlicher Beweis beigebracht; nicht er allein, auch andere sahen sie, wußten, daß sie Zoë hieß, und sprachen mit ihr als einer ihnen gleichartigen Leibhaftigkeit. Andrerseits aber wußte sie auch seinen Namen, und das konnte wieder nur einer übernatürlichen Befähigung ihres Wesens entstammen; diese Doppelnatur blieb auch für die in den Kopf einziehende Vernunft unenträtselbar. Doch gesellte sich der unvereinbaren Zwiespaltigkeit eine anähnelnde in [77] ihm selbst hinzu, denn er hegte den inständigen Wunsch, vor zweitausend Jahren hier in der Villa des Diomedes mitverschüttet worden zu sein, damit er nicht Gefahr laufe, der Zoë-Gradiva nochmals irgendwo zu begegnen; zugleich indes klopfte ein außerordentlich freudiges Gefühl in ihm, daß er noch lebte und dadurch instand gesetzt ward, irgendwo noch wieder mit ihr zusammenzutreffen. Das drehte sich in einem vulgären, doch zutreffenden Vergleich wie ein Mühlenrad durch seinen Kopf herum, und ebenso lief er anhaltlos rundum durch den langen Porticus, der ihm nicht zu einer Aufhellung der Widersprüche verhalf. Im Gegenteil rührte ihn eine undeutliche Empfindung an, daß sich alles nur noch immer mehr um ihn und in ihm verdunkle.

Da prallte er plötzlich einmal, eine der vier Ecken des Pfeilerganges umbiegend, zurück. Auf ein halbes Dutzend Schritte entfernt vor seinem Gesicht saß ziemlich erhöht auf einem abgebrochenen Mauerstück eines der jungen Mädchen, die hier in der Asche den Tod gefunden.

Nein, das war ein Unsinn, den seine Vernunft abgetan. Auch seine Augen und noch etwas anderes, nicht mit einem Namen Belegtes in ihm erkannten es. Die Gradiva war's, sie saß auf dem Steinrest wie sonst auf der Stufe, nur sahen, da jener beträchtlich höher war, ihre frei herabhängenden schmalen Füße in den sandfarbigen Schuhen bis an das zierliche Knöchelgelenk unter dem Kleidsaum hervor.

Mit instinktiver erster Bewegung wollte Norbert zwischen zwei Pfeilern durch den Gartenraum hinaus fortlaufen; das, wovor er sich seit einer halben Stunde am meisten auf der Welt fürchtete, war jählings eingetreten, sah ihn mit den hellen Augen und darunter mit Lippen an, die nach seiner Empfindung im Betriff standen, in ein spöttisches Lachen auszubrechen. Doch taten sie's nicht, sondern die bekannte Stimme klang nur ruhig von ihnen her: »Draußen wirst du naß.«

Nun sah er's zum erstenmal, es regnete; davon war's so dunkel geworden. Das gereichte fraglos allem Pflanzenwachstum um und in Pompeji zum Vorteil, aber anzunehmen, daß ein Mensch des nämlichen dadurch teilhaft werde, enthielt eine Lächerlichkeit, und Norbert Hanold scheute augenblicklich weit mehr als vor einer Todesgefahr davor zurück, sich lächerlich zu machen. Deshalb gab er unwillkürlich den Versuch davonzukommen auf, stand ratlos da und sah auf die beiden Füße, die jetzt, als ob sie etwas in eine Ungeduld gerieten, leicht hin und her schlenkerten. Und da auch dieser Anblick nicht grade so klärend auf seine Gedanken einwirkte, daß er einen sprachlichen Ausdruck für sie finden konnte, nahm die Besitzerin der zierlichen Füße nochmals das Wort: »Wir wurden vorhin unterbrochen, du wolltest mir etwas von Fliegen [78] erzählen – ich dachte mir, daß du hier wissenschaftliche Untersuchungen anstelltest – oder von einer Fliege in deinem Kopf. Ist dir's geglückt, sie auf meiner Hand zu erwischen und umzubringen?«

Das letzte sagte sie mit einem lächelnden Zug um die Lippen, der indes so leicht und anmutig war, daß er nichts Schreckhaftes an sich trug. Im Gegenteil verlieh er dem Befragten jetzt Sprechfähigkeit, nur mit der Beschränkung, daß der junge Archäolog auf einmal nicht wußte, welches Pronomens er sich eigentlich bei seiner Antwort bedienen solle. Um diesem Dilemma zu entkommen, fand er's am besten, überhaupt keines anzuwenden, sondern erwiderte: »Ich war – wie jemand sagte – etwas verwirrt im Kopf und bitte um Verzeihung, daß ich die Hand derartig – wie ich so sinnlos sein konnte, ist mir nicht begreiflich – aber ich bin auch nicht imstande zu begreifen, wie ihre Besitzerin mir meine – meine Unvernunft mit meinem Namen vorhalten konnte.«

Die Füße der Gradiva hielten in ihrer Bewegung inne, und sie entgegnete, bei der Anrede in der zweiten Person verbleibend: »So weit ist dein Begreifen also noch nicht vorgeschritten, Norbert Hanold. Wundernehmen kann's mich allerdings nicht, da du mich lange daran gewöhnt hast. Um die Erfahrung wieder zu machen, hätte ich nicht nach Pompeji zu kommen gebraucht, und du hättest sie mir um gut hundert Meilen näher bestätigen können.«

»Um hundert Meilen näher« – wiederholte er verständnislos und halb stotternd – »wo ist das?«

»Deiner Wohnung schräg gegenüber, in dem Eckhaus, an meinem Fenster steht ein Käfig mit einem Kanarienvogel.«

Wie eine Erinnerung aus einer weiten Ferne rührte das letzte Wort den Hörer an, der es wiederholte: »Ein Kanarienvogel –«, und er fügte, noch entschiedener stotternd, hinzu: »Der – der singt?«

»Das pflegen sie zu tun, besonders im Frühling, wenn die Sonne wieder warm zu scheinen anfängt. In dem Haus wohnt mein Vater, der Professor der Zoologie Richard Bertgang.«

Norbert Hanolds Augen erweiterten sich zu einer noch niemals von ihnen erreichten Größe. Er sprach abermals nach: »Bertgang – dann sind Sie – sind Sie – Fräulein Zoë Bertgang? Die sah aber doch ganz anders aus –«

Die beiden herabhängenden Füße fingen wieder ein wenig an zu schlenkern, und Fräulein Zoë Bertgang sprach dazu: »Wenn du die Anrede passender zwischen uns findest, kann ich sie ja auch anwenden, mir lag nur die andere natürlicher auf der Zunge. Ich weiß nicht mehr, ob ich früher, als wir täglich freundschaftlich miteinander herumliefen, gelegentlich uns zur Abwechslung auch knufften und pufften, anders ausgesehen [79] habe. Aber wenn Sie in den letzten Jahren einmal mit einem Blick auf mich achtgegeben hätten, wäre Ihren Augen vielleicht aufgegangen, daß ich schon seit längerer Zeit so aussehe. – Nein, jetzt schüttet's, wie man bei uns sagt, Schusterjungen, da behalten Sie keinen trockenen Faden.«

Nicht nur die Füße der Sprecherin hatten auf eine Erneuerung der Ungeduld in ihr oder was es sonst sein mochte, hingedeutet, auch in den Tonfall ihrer Stimme war ein bißchen von lehrhaft unmutiger Anzüglichkeit geraten und Norbert dabei von einem Gefühl überkommen worden, daß er Gefahr laufe, etwas in die Rolle eines ausgescholtenen und auf den Mund geschlagenen großen Schuljungen zu verfallen. Das ließ ihn mechanisch noch einmal nach einem Ausweg zwischen den Pfeilern suchen, und auf seine Bewegung, durch welche er diesen Antrieb kundgegeben, hatte sich die letzte, gleichmütig nachgefügte Äußerung Fräulein Zoës bezogen. Und allerdings in unanfechtbar zutreffender Weise, denn für das, was sich jetzt außerhalb des Schutzdaches zutrug, war ›schütten‹ eigentlich eine gelinde Bezeichnung. Ein tropischer Wassersturz, wie er sich nur selten einmal des sommerlichen Durstes der kampanischen Gefilde erbarmte, schoß senkrecht herunter, rauschte, als ergieße sich das Tyrrhenische Meer vom Himmel her auf die Villa des Diomedes, und stand andrerseits wie eine feste, aus Milliarden nußgroßer und perlenhaft blinkender Tropfen zusammengefügte Mauer da. Das machte in der Tat ein Entkommen in die freie Luft hinaus zur Unmöglichkeit, zwang Norbert Hanold, in der Schulstube des Porticus zu verbleiben, und die junge Lehrmeisterin mit dem feinen, klugen Gesicht benützte diesen Riegelverschluß zu einer noch weiteren Fortsetzung ihrer pädagogischen Erörterungen, indem sie nach einer kurzen Pause fortfuhr:

»Damals, so bis um die Zeit, in der man uns, ich weiß nicht weshalb, Backfische tituliert, hatte ich mir eigentlich eine merkwürdige Anhänglichkeit an Sie angewöhnt und glaubte, ich könnte nie einen mir angenehmeren Freund auf der Welt finden. Mutter und Schwester oder Bruder hatte ich ja nicht, meinem Vater war eine Blindschleiche in Spiritus bedeutend interessanter als ich, und etwas muß man, wozu ich auch ein Mädchen rechne, wohl haben, womit man seine Gedanken und was sonst mit ihnen zusammenhängt beschäftigen kann. Das waren also Sie damals; doch als die Altertumswissenschaft über Sie gekommen war, machte ich die Entdeckung, daß aus dir – entschuldigen Sie, aber Ihre schickliche Neuerung klingt mir doch zu abgeschmackt und paßt auch nicht zu dem, was ich ausdrücken will – ich wollte sagen, da stellte sich heraus, daß aus dir ein unausstehlicher Mensch geworden war, der, wenigstens für mich, keine Augen mehr im Kopf, keine [80] Zunge mehr im Mund und keine Erinnerung mehr da hatte, wo sie mir an unsere Kindheitsfreundschaft sitzengeblieben war. Darum sah ich wohl anders aus als früher, denn wenn ich ab und zu in einer Gesellschaft mit dir zusammenkam, noch im letzten Winter einmal, sahst du mich nicht, und noch weniger bekam ich deine Stimme zu hören, worin übrigens keine Auszeichnung für mich lag, weil du's mit allen andern ebenso machtest. Ich war Luft für dich, und du warst mit deinem blonden Haarschopf, an dem ich dich früher oft gezaust, so langweilig, vertrocknet und mundfaul wie ein ausgestopfter Kakadu und dabei so großartig wie ein – Archäopteryx heißt das ausgegrabene vorsintflutliche Vogelungetüm ja wohl. Nur daß dein Kopf eine ebenfalls so großartige Phantasie beherbergte, hier in Pompeji mich auch für etwas Ausgegrabenes und wieder lebendig Gewordenes anzusehn – das hatte ich nicht bei dir vermutet, und als du auf einmal ganz unerwartet vor mir standest, kostete es mich zuerst ziemliche Mühe, dahinter zu kommen, was für ein unglaubliches Hirngespinst deine Einbildung sich zurechtgearbeitet hatte. Dann machte mir's Spaß und gefiel mir auch trotz seiner Tollhäusigkeit nicht so übel. Denn, wie gesagt, das hatte ich bei dir nicht vermutet.«

Damit beendete Fräulein Zoë Bertgang, am Schluß im Ausdruck und Ton etwas abgemildert, ihre rückhaltlose, ausführliche und lehrreiche Strafrede, und merkwürdig in der Tat war's, wie genau sie dabei dem Reliefbildnis der Gradiva glich. Nicht nur in den Gesichtszügen, der Gestalt, den mit klugem Ausdruck blickenden Augen, dem reizvoll gewellten Haar wie in der mehrfach zur Schau gestellten graziösen Gangweise; auch ihre Gewandung, Kleid und Kopftuch aus einem cremefarbigen, feinen, viel- und weichfaltigen Kaschmirstoff vollendeten die außerordentliche Ähnlichkeit der gesamten Erscheinung. Es mochte viel Torheit in dem Glauben gelegen haben, daß eine vor zwei Jahrtausenden vom Vesuv verschüttete Pompejanerin zeitweilig wieder lebend herumgehen, sprechen, zeichnen und Brot essen könne, aber wenn der Glaube selig machte, nahm er überall eine erhebliche Summe von Unbegreiflichkeiten in den Kauf. Und in Berücksichtigung sämtlicher Umstände lagen unstreitig bei der Beurteilung der Kopfverfassung Norbert Hanolds doch einige Milderungsgründe für die Verrückheit vor, daß er zwei Tage lang die Gradiva als Rediviva angesehen hatte.

Obwohl er trocken unter dem Porticusdach dastand, ließ sich doch nicht ganz unzutreffend ein Vergleich zwischen ihm und einem begossenen Pudel anstellen, dem eben ein voller Wasserkübel über den Kopf geschüttet worden. Allein eigentlich hatte das kalte Brausebad ihm wohlgetan. Ohne recht zu wissen[81] warum, fühlte er seine Brust davon wesentlich zu besserem Atemholen erleichtert. Dazu mochte freilich besonders die Tonumänderung am Schlusse der Predigt – denn die Rednerin saß wie auf einem Kanzelstuhl – mit beigetragen haben, wenigstens war bei ihr zwischen seine Lider ein verklärender Schimmer geraten, wie er aus den Augen andächtig ergriffener Kirchenbesucher die erweckte Hoffnung auf ein Seligwerden durch den Glauben zum Vorschein bringt. Und da die Abkanzlung nun überstanden war, ohne daß eine weitere Fortsetzung zu befürchten schien, gelang's ihm, vom Mund zu bringen: »Ja, nun erkenne ich – nein, im Grunde hast du dich gar nicht verändert – du bist es, Zoë – meine gute, fröhliche, klugsinnige Kameradin – das ist höchst sonderbar –«

»Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu werden. Aber für die Archäologie ist das wohl notwendig.«

»Nein, ich meine dein Name –«

»Warum ist der sonderbar?«

Der junge Archäolog erwies sich nicht nur in den klassischen Sprachen, sondern auch in der Etymologie der germanischen bewandert und versetzte: »Weil Bertgang mit Gradiva gleichbedeutend ist und ›die im Schreiten glänzende‹ bezeichnet.«

Die beiden sandalenähnlichen Schuhe Fräulein Zoë Bertgangs erinnerten augenblicklich durch ihre Beweglichkeit gradezu an eine ungeduldig wippende, auf etwas wartende Bachstelze; doch sprachwissenschaftliche Erläuterungen schienen nicht das zu sein, worauf die Inhaberin der im Schreiten glänzenden Füße gegenwärtig ihr Augenmerk verwendete. Auch durch ihre Miene erregte sie den Eindruck, mit irgendeiner hurtigen Ausführung umzugehen, ward davon indes noch durch einen hörbar aus tiefster Überzeugung heraufkommenden Ausruf Norbert Hanolds abgehalten: »Aber welches Glück, daß du nicht die Gradiva bist, sondern so wie die sympathische junge Dame!«

Das ließ einen Zug wie aufhorchender Verwunderung über ihr Gesicht gehen, und sie fragte: »Wer ist das? Wen meinst du?«

»Die dich im Haus des Meleager anredete.«

»Kennst du die?«

»Ja, ich hatte sie schon gesehen. Es war die erste, die mir vortrefflich gefallen hat.«

»So? Wo hast du sie denn gesehen?«

»Heut' vormittags im Haus des Faun. Da taten die beiden auch etwas ganz Sonderbares.«

»Was taten sie denn?«

»Sie sahen mich nicht und küßten sich.«

[82] »Das war ja eigentlich recht vernünftig. Wozu sind sie sonst in Pompeji auf der Hochzeitsreise?«

Mit einem Schlage veränderte sich bei dem letzten Wort vor den Augen Norberts das bisherige Bild, denn der alte Mauerrest lag leer geworden da, weil die, welche sich ihn zum Sitz, Lehrkatheder und Kanzel auserwählt gehabt, von ihm heruntergekommen war. Oder eigentlich geflogen, und zwar ebenfalls mit der eigenartig wiegenden Behendigkeit einer sich durch die Luft davonschwingenden Bachstelze, so daß sie schon wieder auf den Gradivafüßen stand, ehe der Blick ihren Niederflug mit Bewußtsein aufgefaßt hatte. Und wie unmittelbar im Sprechen fortfahrend, sagte sie: »Nun hat der Regen aufgehört, zu gestrenge Herren regieren nicht lange. Das ist ja auch vernünftig, und so ist alles wieder zur Vernunft gekommen, ich nicht am wenigsten, und du kannst Gisa Hartleben, oder welchen neuen Namen sie trägt, wieder aufsuchen, um ihr bei dem Zweck ihres Aufenthalts in Pompeji wissenschaftlich behilflich zu sein. Ich muß jetzt in den Albergo del Sole, denn mein Vater wird schon zum Mittagessen auf mich warten. Vielleicht treffen wir uns in einer Gesellschaft in Deutschland oder auf dem Mond noch einmal wieder. Addio.«

Das sprach Zoë Bertgang in dem durchaus artigen, doch auch ebenso gleichmütigen Ton einer jungen Dame von bester Erziehung und stellte, den linken Fuß versetzend, nach ihrem Brauch die Sohle des rechten beinah senkrecht zum Weitergange auf. Da sie außerdem in Anbetracht des draußen stark durchnäßten Bodens mit der linken Hand ihr Kleid ein wenig in die Höh' raffte, war das Ebenbild der Gradiva vollendet, und der auf kaum mehr als doppelte Armlänge von ihr entfernt Stehende nahm nur zum erstenmal eine ganz geringfügige Abweichung der lebendigen von der steinernen gewahr. Dieser fehlte etwas, das jene besaß und das augenblicklich besonders deutlich an ihr zutage trat, ein kleines Grübchen auf der Wange, darin sich ein winziger, nicht bestimmbarer Vorgang zutrug. Es hielt sich ein bißchen gekraust und gefältelt, konnte damit einen Verdruß oder auch einen verhaltenen inneren Lachreiz, möglicherweise beides zusammen zum äußeren Ausdruck bringen. Darauf sah Norbert Hanold hin, und obwohl er nach dem ihm eben ausgestellten Zeugnis wieder völlig zur Vernunft gelangt war, mußten seine Augen doch nochmals einer optischen Täuschung unterliegen. Denn er stieß mit einem eigentümlich über seine Entdeckung triumphierenden Ton aus: »Da sitzt die Fliege wieder!«

So absonderlich klang's, daß der verständnislosen Hörerin, die sich nicht selbst anzusehen vermochte, unwillkürlich die Frage entflog: »Die Fliege – wo?«

»Da auf deiner Wange!« Und zugleich schlang der Antwortende [83] plötzlich einen Arm um ihren Nacken und haschte diesmal nach dem von ihm so tief verabscheuten Insekt, das die Vision seinem Blick in dem Grübchen vorgaukelte, mit den Lippen. Offenbar indes ohne Erfolg, denn gleich danach rief er nochmals: »Nein, nun sitzt sie dir auf der Lippe!«, und damit wendete er blitzgeschwind seinen Fangversuch dieser zu, jetzt aber so lang ausdauernd, daß kein Zweifel darüber bleiben konnte, er gelange zur vollkommensten Erreichung seines Zweckes. Und merkwürdigerweise behinderte die lebendige Gradiva ihn diesmal durch nichts dabei, und als ihr Mund nach Ablauf von ungefähr einer Minute sich einmal genötigt sah, tief nach Atem zu ringen, sagte sie, zur Sprachfähigkeit zurückversetzt, nicht: »Du bist wirklich verrückt, Norbert Hanold«, vielmehr ließ ein überaus reizvolles Lächeln um ihre erheblich stärker als zuvor geröteten Lippen erkennen, sie sei eher noch mehr von der vollständigen Gesundung seiner Vernunft überzeugt worden.

Die Villa des Diomedes hatte vor zwei Jahrtausenden in einer bösen Stunde sehr Schauerliches gesehen und gehört, doch gegenwärtig vernahm und gewahrte sie ungefähr eine Stunde lang nur Dinge, die sich nicht im allergeringsten zur Einflößung eines Grausens eigneten. Dann jedoch machte sich einmal bei Fräulein Zoë Bertgang eine verständige Besinnung geltend, und infolge davon geriet ihr, eigentlich wider Wunsch und Willen, vom Mund: »Jetzt aber muß ichwirklich gehen, sonst verhungert mein armer Vater. Mich deucht, du kannst heute auf die Mittagsgesellschaft Gisa Hartlebens verzichten, da du nichts mehr von ihr zu lernen hast, und nimmst am besten mit mir in der Sonnenwirtschaft vorlieb.«

Daraus ließ sich auf einiges schließen, das während der Stunde unter vielem anderm mit zur Rede gekommen sein mußte, denn es wies auf eine hülfreiche Lehrtätigkeit hin, die Norbert von der genannten jungen Dame zuteil geworden. Doch faßte er aus den mahnenden Worten nicht dies auf, sondern etwas zum erstenmal ihm erschreckend ins Bewußtwerden Kommendes, das sich durch die Wiederholung kundgab: »Dein Vater – was wird der –?«

Fräulein Zoë fiel indes, ohne irgendein Anzeichen in ihr dadurch erweckter Beunruhigung, ein: »Wahrscheinlich wird er nichts, ich bin kein unentbehrliches Stück in seiner zoologischen Sammlung; wär' ich das, hätte sich mein Herz vielleicht nicht so unklug an dich gehängt. Im übrigen bin ich mir schon von frühauf darüber klar gewesen, daß ein Frauenzimmer auf der Welt nur zu etwas nützt, wenn sie einem Mann die Mühe abnimmt zu bestimmen, was im Hause geschehen soll; die erspare ich meinem Vater fast stets, und du kannst nach dieser Richtung also auch für deine Zukunft ziemlich beruhigt [84] sein. Sollte er jedoch zufällig einmal und grade in diesem Fall eine andere Meinung haben als ich, da machen wir's so einfach wie möglich. Du fährst für ein paar Tage nach Capri hinüber, fängst dort mit einer Grasschlinge – wie man's macht, kannst du an meinem kleinen Finger einüben – eine Lacerta faraglionensis, läßt sie hier wieder laufen und fängst sie vor seinen Augen noch einmal. Dann stellst du ihm die Wahl frei zwischen ihr und mir, und du hast mich so sicher, daß es mir beinah' um dich leid tut. Gegen den Kollegen Eimer aber, fühle ich heut', hab' ich mich bisher undankbar verhalten, denn ohne seine geniale Eidechsenfang-Erfindung wäre ich wahrscheinlich nicht in das Haus des Meleager gekommen, und das wäre doch schade gewesen, nicht nur für dich, sondern auch für mich.«

Dieser letzten Ansicht gab sie bereits außerhalb der Villa des Diomedes Ausdruck, und leider war kein Mensch mehr auf Erden vorhanden, der über die Stimme und Sprechweise der Gradiva irgendwelche Angaben machen konnte. Doch wenn auch sie denen des Fräuleins Zoë Bertgang ebenso wie alles sonstige geglichen hatten, mußten sie einen ganz ungewöhnlich schönen und schalkhaften Reiz besessen haben.

Von dem ward wenigstens Norbert Hanold so stark überkommen, daß er, ein wenig zu poetischem Aufschwung emporgetragen, ausrief: »Zoë, du liebes Leben und liebliche Gegenwart – unsere Hochzeitsreise machen wir nach Italien und Pompeji!«

Das bildete einen entschiedenen Beleg für die Erfahrung, wie sehr veränderte Umstände auch eine Umwandlung im Menschengemüt herbeiführen und zugleich eine Gedächtnisschwächung damit verbinden können. Denn es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er sich und seine Begleiterin auf jener Reise dadurch der Gefahr aussetzen werde, von misanthropisch-mißmutigen Eisenbahngenossen die Namen August und Grete zu empfangen; aber er dachte daran augenblicklich so wenig, wie daß sie Hand in Hand miteinander durch die alte Gräberstraße von Pompeji dahingingen. Freilich drängte diese sich auch gegenwärtig der Empfindung nicht mehr als solche auf; wolkenloser leuchtete und lachte wieder über ihr, die Sonne deckte ein goldenes Teppichgewirk auf die alten Lavaplatten, der Vesuv breitete seine duftige Pinienkrone aus, und die ganze ausgegrabene Stadt erschien, statt mit Bimssteinen und Asche, von dem wohltätigen Regensturz mit Perlen und Diamanten überschüttet. Mit den letzteren wetteiferte auch ein Glanz in den Augen der jungen Zoologentochter, doch ihre klugen Lippen entgegneten auf den kundgegebenen Reisezielwunsch ihres gewissermaßen gleichfalls aus der Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes: »Darüber,[85] denke ich, wollen wir uns heute nicht den Kopf zerbrechen; das ist eine Sache, die wohl besser von uns beiden erst noch öfter in reiflichere Erwägung gezogen und künftigen Eingebungen überlassen wird. Ich fühle mich wenigstens zu solcher geographischen Entscheidung jetzt doch noch nicht völlig lebendig genug.«

Das zeugte auch von einer der Sprecherin innewohnenden großen Bescheidenheit hinsichtlich der Beurteilung ihres Einsichtsvermögens in Dinge, über die sie bis heute noch nie nachgedacht hatte. Sie waren an das Herkulestor zurückgelangt, wo am Anfang der Strada Consolare alte Trittsteine die Straße überkreuzten. Norbert Hanold hielt vor ihnen an und sagte mit einem eigentümlichen Klang der Stimme: »Bitte, geh' hier vorauf!« Ein heiter verständnisvoll lachender Zug umhuschte den Mund seiner Begleiterin, und mit der Linken das Kleid ein wenig raffend, schritt die Gradiva rediviva Zoë Bertgang, von ihm mit traumhaft dreinblickenden Augen umfaßt, in ihrer ruhigbehenden Gangart durch den Sonnenglanz über die Trittsteine zur anderen Straßenseite hinüber.

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TextGrid Repository (2012). Jensen, Wilhelm. Erzählung. Gradiva. Gradiva. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8D70-5