Dem Andenken des Herrn Hofrath Stahl
bei seinem Grabe

Berlin, im Nov. 1772.


Hier liegen sie, die heiligen Gebeine
Des Menschenfreundes, der zum Schooße Gottes flog,
Komm, meine Tochter, komm und weine!
Hier gab der Mann, der dich erzog 1,
Das staubgewebte Kleid der Erde
Zurück, und wird nicht mehr gesehn;
Sein Flug ist ohne feurige Pferde,
Ist ohne flammenden Wagen geschehn,
Durch alle Sterne die über uns glimmen
Wie Funken, und doch Welten sind;
Ihm rufen tausend klagende Stimmen:
Mein Vater! – mein Vater! – denn Er hat manch verwaysetes Kind
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Gespeißt, gekleidet, auf immer beglücket,
Viel matte dürftige Kranken erquicket,
Erwärmet, und wieder zum Leben erweckt;
Und seine sanfte wohlthätige Rechte
Vor seiner Linken verdeckt,
Damit es ihr unwissend bleiben möchte;
Sein Engel aber hat alles bemerkt,
Und in der letzten zielerstrebenden Stunde
Die müdegewordene Seele gestärkt,
Die sich vom freundlich geschlossenen Munde
Mit ihrem Begleiter gen Himmel erhob,
In welchem sein frommer Gedanke längst schwebte;
O Tochter, besinge du künftig sein Lob:
Wie beyspielleuchtend er lebte,
Wie unveränderlich gütig Er blieb!
Ich kann es nicht singen,
Mich hindern Thränen, Er war mir zu lieb.
Die Zeit kann Schätze wiederbringen,
Und jedem gewässerverheereten Thal
Noch schönere Blumen verleihen,
Nur mit dem redlichgepriesenen Stahl,
Kann sie nicht mehr die Herzen erfreuen
Die seine Tugend gewann.
Ihn klagen Spalding, Sulzer und Leßer,
Und Sack und Hermann vereint;
[261]
Sie alle kannten Ihn länger und besser,
Den nimmer wankenden Freund,
Den immer heiteren Christen und Weisen,
Der alles vertragen konnte, nur nicht
Geschminkte Lügen, und heuchelndes Preisen
Ins Angesicht.
Sie alle giessen, statt Honig und Weines,
Aus trauriger Pflicht
Ihm Thränenopfer aufs Grab, und eines
Der größesten bringet der edele Mann,
Der ältesten klagenden Tochter, sie lehnet
Am Pfeiler des Grabes sich an,
Das Auge zur Erde geheftet, und sehnet
Sich nach dem Vater, und spricht:
»Komm jüngere Schwester, und mische die Zähren
Mit meinen; du sahest Ihn nicht
Noch einmal 2; und wirst es vergebens begehren,
Bis dermaleinst zum großen Gericht
Des Engels Posaune die Todten vereinet,
Und Er gleich einem der Engel erscheinet
Im seeligen Licht.«
[262]

Fußnoten

1 Fünf Jahre lang auf der Heckerschen Realschule.

2 Weil dieselbe damals zu Magdeburg war.

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TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1792). Vermischte Gedichte. Dem Andenken des Herrn Hofrath Stahl bei seinem Grabe. Dem Andenken des Herrn Hofrath Stahl bei seinem Grabe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8FFF-A