Die göttlichverkannte Phillis im Walde

1763.


Als jüngst der Hirsch voll Liebesflamme
Sein Thier verfolgte, das ihn floh,
Da stand an einem Birkenstamme
Der alte Jäger Sylvio.
Ein Greis ist er, und noch verstocken
In ihm des Lebens Säfte nicht,
Ihm flattern taubenweiße Locken
Um rosenfarbnes Angesicht.
Betrachtend stand vom Messerschnitte
Verwachsen in den starren Baum:
Da rauschten meiner Phillis Tritte
Vorbei und ihres Kleides Saum.
Zurück fuhr Sylvio der Alte,
Ihr Götter! rief er, ja sie rauscht
An mir vorbei, die wohlgestalte
Diana, die das Wild belauscht.
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Welch eine Miene! welche Wangen!
O, Phöbus! welch ein Angesicht!
Sie kann den Hirsch durch Blicke fangen
Und brauchet Pfeil und Bogen nicht.
Fleuch nicht, Diana! bleib, ich schlachte
Zum Opfer dir ein junges Reh,
Das ich so zahm wie Lämmer machte,
So weiß ist es wie neuer Schnee.
Ich will dir einen Eber würgen,
Der trotzig durch Moräste brach,
Dem ich vergebens auf Gebirgen
Und in Gebüschen spähte nach.
Ich will ihn finden, o Diane!
Drei Liebesgötter helfen mir.
Mein Wurfspieß trift trotz seinem Zahne,
Zu Füßen soll er bluten dir –
Ha! welch ein Blick! mich zu verachten?
Nun will ich dir auf diesem Block
Kein weißes Reh zum Opfer schlachten,
Nein, einen schwarzen Ziegenbock.
[253]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1792). Vermischte Gedichte. Die göttlichverkannte Phillis im Walde. Die göttlichverkannte Phillis im Walde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9111-F