An die Melpomene
wegen des Prinzen Heinrichs des jüngern Königlichen Hoheit

(Verstorbenen Bruder Seiner Majestät des Königs.)


Den 30sten December 1763.


Jüngst bat ich von dem Schöpfer aller Töne,
Von dem Apoll, das Saitenspiel
Des Sophocles, und rief, o Melopomene!
Dich an mit tragischem Gefühl,
Dich lud ich ein zum klangenden Gesange,
Denn Preußens großer Genius
Gab mit verhüllter thränenvoller Wange
Dem kranken Heinrich seinen Kuß.
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Und stürmte des Olymp-Beherrschers Ohren,
Wenn er für diesen Prinzen bat,
Der schön ist, wie das Antlitz von Auroren,
So schön war nicht Alcibiad;
Den Socrates platonisch feurig liebte,
Und küssend ihn zur Weisheit riß;
So schön war nicht Pompejus der Verliebte,
Den in die Lippe Flora biß.
O Muse! deine Schwestern senkten alle
Mit aufgebundnem Haar und Kranz
Sich über ihn, und riefen: Wenn er falle;
Dann schwiegen Saitenspiel und Tanz.
Dann würde wie bey Kriegesdonnerwetter
Der Saal verschlossen, wo die Nacht
Den König sieht, der Siegeslorbeerblätter
Versteckt in frischer Myrthen Pracht.
Und bey der Symphonien süßem Tone
Die Größe seines Ruhms vergißt,
Und froher, als auf rund umknieten Throne
In seiner Freunde Zirkel ist.
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Und jezt Empfindung lächelt in die Scene,
Wenn hoch des Sängers Busen bebt;
Und lieblich spricht zur preußischen Alcmene:
Daß ihr Alcides wieder lebt.
Daß Aesculap und die Natur verbunden,
Ihn rissen aus des Charons Kahn,
Und seinen Blick die Parce selbst empfunden,
Die an dem goldnen Faden spann.
[109]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1792). Gedichte. An die Melpomene. An die Melpomene. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-91D7-4