[430] Achtes Kapitel
Regine
Als Lucia schwieg, wußte Reinhart nicht sogleich etwas zu sagen, da eine gewisse Nachdenklichkeit ihn zunächst befangen und verlegen machte. Des Fräuleins ausführliche und etwas scharfe Beredsamkeit über die Schwächen einer Nachbarin und Genossin ihres Geschlechts hatte ihn anfänglich befremdet und ein fast unweiblich kritisches Wesen befürchten lassen. Indem er sich aber der Lieblingsbücher erinnerte, die er kurz vorher gesehen, glaubte er in dieser Art mehr die Gewohnheit zu erkennen, in der Freiheit über den Dingen zu leben, die Schicksale zu verstehen und jegliches bei seinem Namen zu nennen. Bedachte er dazu die Einsamkeit der Erzählerin, so wollte ihn von neuem die neugierige und warme Teilnahme ergreifen, die ihn schon zu einer unzeitigen Frage verleitet hatte. Dann aber, als Lucia von dem törichten Küssen und Kosen in so überlegen heiterer Weise und mit einem Anfluge verächtlichen Spootes erzählte, war er geneigt, das als eine strafende Anspielung auf die Torheit zu empfinden, mit der er selbst heute ausgezogen war. Solchen Angriff von sich abzuwehren, schritt er zum Widerspruche und sogar zu einer Art Schutzrede für die verunglückte Salome, indem er begann:
»Die stolze Resignation, zu welcher sie so unerwartet gelangte, scheint mir fast zu beweisen, daß auch Vorzüge, die nur in der Einbildung vorhanden sind, wenn sie beleidigt oder in Frage gestellt werden, die gleiche Wirkung zu tun vermögen, wie wirklich vorhandene Tugenden, so daß z.B. die Torheit, [431] wenn ihre eingebildete Klugheit angegriffen wird, in ihrem Schmerze darüber zuletzt wahrhaft weise und zurückhaltend werden kann. Übrigens ist es doch schade, daß die arme Schöne nicht einen Mann hat!«
»Sie ist nun zwischen Stuhl und Bank gefallen«, erwiderte Lucia; »denn mit den Herren war es nichts und mit den Bauern geht es auch nicht mehr, und doch hätte sie einen Mann ihres Standes sogar noch beglücken können, der bei gleichen Geisteskräften und täglich harter Arbeit ihrer Unklugheit nicht so innegeworden wäre und vielleicht ein köstliches Kleinod in ihr gefunden hätte.«
»Gewiß«, sagte Reinhart, »mußte es irgendeinen Mann für sie geben, dem sie selbst mit ihren Fehlern wert war; doch scheint mir die Gleichheit des Standes und des Geistes nicht gerade das Unentbehrlichste zu sein. Eher glaube ich, daß ein derartiges Wesen sich noch am vorteilhaftesten in der Nähe eines ihm wirklich überlegenen und verständigen Mannes befinden würde, ja sogar, daß ein solcher bei gehöriger Muße seine Freude daran finden könnte, mit Geduld und Geschicklichkeit das Reis einer so schönen Rebe an den Stab zu binden und geradezuziehen.«
»Edler Gärtner!« ließ sich hier Lucia vernehmen; »aber die Schönheit geben Sie also nicht so leicht preis wie den Verstand?«
»Die Schönheit?« sagte er; »das ist nicht das richtige Wort, das hier zu brauchen ist. Was ich als die erste und letzte Hauptsache in den bewußten Angelegenheiten betrachte, ist ein gründliches persönliches Wohlgefallen, nämlich daß das Gesicht des einen dem andern ausnehmend gut gefalle. Findet dieses Phänomen statt, so kann man Berge versetzen, und jedes Verhältnis wird dadurch möglich gemacht.«
»Diese Entdeckung«, versetzte Lucia, »scheint nicht übel, aber nicht ganz neu zu sein und ungefähr zu besagen, daß ein wenig Verliebtheit beim Abschluß eines Ehebündnisses nicht gerade etwas schade!«
[432] Durch diesen Spott wurde Reinhart von neuem zur Unbotmäßigkeit aufgestachelt, so daß er fortfuhr: »Ihre Mutmaßung ist sogar richtiger, als Sie im Augenblick zu ahnen belieben; dennoch erreicht sie nicht ganz die Tiefe meines Gedankens. Zur Verliebtheit genügt oft das einseitige Wirken der Einbildungskraft, irgendeine Täuschung, ja es sind schon Leute verliebt gewesen, ohne den Gegenstand der Neigung gesehen zu haben. Was ich hingegen meine, muß gerade gesehen und kann nicht durch die Einbildungskraft verschönert werden, sondern muß dieselbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es schon jahrelang täglich und stündlich gesehen haben, so soll es bei jedem Anblick wieder neu erscheinen, kurz, das Gesicht ist das Aushängeschild des körperlichen wie des geistigen Menschen; es kann auf die Länge doch nicht trügen, wird schließlich immer wieder gefallen und, wenn auch mit Sturm und Not, ein Paar zusammenhalten.«
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Lucia abermals, »aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf demselben Fleck herumdrehen?«
»So wollen wir aus dem Kreise herausspringen und der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es denn nicht jederzeit gescheite, hübsche und dabei anspruchsvolle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem Manne verbunden waren, der von diesen Vorzügen nur das Gegenteil aufweisen konnte, und haben nicht solche Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit solchen Männern gelebt und sich vor der Welt sogar einen Ruhm daraus gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgendein den andern verborgener Zug ihre Sympathie erregte und ihre Anhänglichkeit nährte, so war diese doch eine Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer stehen sollen als die Frauen! Im Gegenteil, ich behaupte: ein kluger und wahrhaft gebildeter Mann kann erst recht ein Weib heiraten und ihr gut sein, ohne zu sehen, wo sie herkommt und was sie ist; das Gebiet seiner Wahl umfaßt alle Stände und Lebensarten, [433] alle Temperamente und Einrichtungen, nur über eines kann er nicht hinauskommen, ohne zu fehlen: das Gesicht muß ihm gefallen und hernach abermals gefallen. Dann aber ist er der Sache Meister, und er kann aus ihr machen, was er will!«
»Dem Anscheine nach haben Sie immer noch nichts Außerordentliches gesagt«, versetzte Lucia; »doch fange ich an zu merken, daß es sich um gewisse kennerhafte Sachlichkeiten handelt; das gefallende Gesicht wird zum Merkmal des Käufers, der auf den Sklavenmarkt geht und die Veredlungsfähigkeit der Ware prüft, oder ist's nicht so?«
»Ein Gran dieser böswilligen Auslegung könnte mit der Wahrheit in gehöriger Entfernung zusammentreffen; und was kann es dem einem oder dem andern Teile schaden, wenn das zu verhoffende Glück alsdann um so längere Dauer verspricht?«
»Die Dauer des glatten Gesichtes, das der Herr Kenner sich so vorsichtig gewählt hat?«
»Verdrehen Sie mir das Problem nicht, grausame Gebieterin und Gastherrin! Von Vorsicht ist ja von vornherein keine Rede in diesen Dingen.«
»Ich glaub es in der Tat auch nicht, zumal wenn Sie, wie zu erwarten steht, sich eine Magd aus der Küche holen werden.«
»Was mir beschieden ist, weiß ich nicht; ich geharre demütig meines Schicksals. Doch habe ich den Fall erlebt, daß ein angesehener und sehr gebildeter junger Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und so lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis sie richtig zur ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erst das Unheil eintraf.«
»Das würde ja gerade gegen Ihre orientalischen Anschauungen zeugen!«
»Es scheint allerdings so, ist aber doch nicht der Fall, abgesehen von dem abscheulichen Titel, mit dem Sie meine harmlose Philosophie bezeichnen!«
»Und ist Ihre Geschichte ein Geheimnis, oder darf man dieselbe vernehmen?«
[434] »So gut ich vermag, will ich sie gern aus der Erinnerung zusammenlesen mit allen Umständen, die mir noch gegenwärtig sind, wobei ich Sie bitten muß, das Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten selbst innewohnt, wenn sie wiedererzählt werden, mit gläubiger Nachsicht zu beurteilen!«
Da die zwei spinnenden Mädchen die Räder anhielten und ihre vier Äuglein neugierig auf den Erzähler richteten, sagte Lucia zu ihnen: »Fahrt nur fort zu spinnen, ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren verlockt und unterstützt, den Faden seiner Erzählung um so weniger verliert! Ihr könnt euch die Lehre, die sich ergeben wird, dennoch merken und lernen, die Gefahr zu meiden, wenn die furchtbaren Frauenfänger ihre Netze bis in die Küchen spannen!«
Reinhart begann somit, da die Rädchen wieder surrten, folgendes zu erzählen:
»In Boston lebt eine Familie deutscher Abkunft, deren Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nordamerika ausgewandert sind. Die Nachkommen bilden ein altangesehenes Haus, wie wenige in der ewigen Flut der Bewegung sich erhalten; und selbst das Haus im wörtlichen Sinne, Wohnung und Geräte, sollen bereits einen Anstrich altvornehmen Herkommens aufweisen, insofern während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt erwachsen kann. Die deutsche Sprache erlosch niemals unter den Hausgenossen; insbesondere einer der letzten Söhne, Erwin Altenauer, hing so warm an allen geistigen Überlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er dem Verlangen nicht widerstand, das Urland selbst wieder kennenzulernen, und zwar um die Zeit, da er sich schon dem dreißigsten Lebensjahre näherte.
Er entschloß sich also, nach der alten Welt und Deutschland auf längere Zeit herüberzukommen; weil er aber, bei einigem Selbstbewußtsein, sich in bestimmter Gestalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen wünschte, bewarb er sich in Washington [435] um die erste Sekretärstelle bei einer Gesandtschaft, deren Sitz in einer der größeren Hauptstädte war. Mit nicht geringer Erwartung segelte er anher, vorzüglich auch auf das schönere Geschlecht in den deutschen Bundesstaaten begierig; denn wenn wir germanischen Männer uns mit Eifer den Ruf ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, so versahen wir wiederum unsere Frauen mit dem Ruhm einer merkwürdigen Gemütstiefe und reicher Herzensbildung, was in der Ferne gar lieblich und Sehnsucht erweckend funkelt, gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem Glanze dieses Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies von seinen Verwandten scherzweise ermahnt worden, eine recht sinnige und mustergültige deutsche Frauengestalt über den Ozean zurückzubringen.
Er fühlte sich auch bald so heimisch, wie wenn sein Vater schon ein Jenenser Student gewesen wäre; doch begab sich das nur in der Männerwelt, und sobald die Gesellschaft sich aus beiden Geschlechtern mischte, haperte das Ding. Sei es nun, daß, wie in sonst gesegneten Weinbergen es gewisse Schattenstellen gibt, wo die Trauben nicht ganz so süß werden wie an der Sonnenseite, er in eine etwas ungünstig Gegend geraten war, oder sei es, daß der Fehler an ihm lag und er nicht die rechte Traubenkenntnis mitgebracht, genug, es schienen ihm zusammengesetzte Gebräuche zu walten, die zu entwirren er sich nicht ermuntert fand. Erwin sowohl wie die übrigen Gesandtschaftsglieder waren von einfachen Sitten, klar und bestimmt in ihren Worten und ohne Umschweife. Sie stellten noch die ältere echte Art amerikanischen Wesens dar und gingen den geraden Weg, ohne um die hundert kleinen Hinterhalte und Absichtlichkeiten sich zu kümmern oder sie auch nur zu bemerken; sie ließen es bei ja und nein bewenden und sagten nicht gern eine Sache zweimal.
Nun erstaunte Erwin, von dieser oder jener Dame sich plötzlich den Rücken zugewendet zu sehen, wenn er auf eine Frage oder Behauptung nach seinem besten Wissen ein einfaches Ja [436] oder Nein erwidert hatte; noch weniger konnte er sich erklären, warum eine andere das selbst begonnene Gespräch nach zwei Minuten abbrach in dem Augenblicke, wo er demselben durch eine ehrliche Einwendung festern Halt gab; unbegreiflich erschien ihm eine dritte, die wiederholt seine Vorstellung verlangt, ihn dann nach dem Klima seiner Heimat befragt und ohne die Antwort abzuwarten, mit andern ein neues Gespräch eröffnete. Diese Schneidigkeit war allerdings mehr nur der Mantel für innere Unfreiheit, wie die Zurückhaltung überhaupt, mit welcher er mit seinen Gefähften behandelt wurde, wo er hinkam, während sie gelegentlich entdeckten, daß in ihrer Abwesenheit das breiteste Studium ihrer Personen stattfand. Wenn in diesen Gärten auch hie und da eine Pflanze blühte, die unbefangener und freundlicher dreinschaute, so war auch diese überwacht und sie hütete sich ängstlich, nicht durch die Hecke zu wachsen.
Erwin gab es daher auf, ein Meer von Putz zu befahren, in welchem so wenig persönliche Gestaltung auftauchen wollte, und um sich von den bestandenen Fährlichkeiten zu erholen, machte er längere Ausflüge. Er hielt sich bald in einer der schön gelegenen Universitätsstädte auf, um zugleich die berühmtesten Gelehrten kennen zu lernen und einige gute Studien mitzunehmen; bald machte er sich mit den Orten bekannt, wo vorzüglich die Kunst ihre Pflege fand, und schulte Sinn und Gemüt an dem festlichen Wesen der Künstler. Auf allen diesen Fahrten sah er sich in eine veredelte bürgerliche Welt versetzt, welche, die besseren Güter des Lebens wahrend, sich dieses Lebens mit ungeheucheltem Ernst erfreute. Hier wurden die Kenntnisse und Fähigkeiten mit Fleiß und Ehren geübt, schwärmten und glühten die Frauen wirklich für das, was sie für schön und gut hielten, pflegte jedes Mädchen seine Lieblingsneigung und baute dem Ideal sein eigenes Kapellchen; und weit entfernt, ein aufrichtiges Gespräch darüber zu hassen, wurden sie nicht müde, vom Guten und Rechten zu hören. Dazu brachte der Wechsel der [437] Jahreszeiten mannigfache Festfreuden, die bei aller Einfachheit von altpoetischem Zauber belebt waren. Die schönen Flußtäler, Berghöhen, Waldlandschaften wurden als traute Heimat mit dankbarer Zufriedenheit genossen, wobei sich die Frauen tagelang in freier Luft und guter Laune bewegten; der Waldduft schien ihnen von den Urmüttern her noch wohl zu behagen, und selbst die Bescheidenste scheute sich nicht, einen grünen Kranz zu winden und sich aufs Haupt zu setzen.
Das gefiel dem wackern Erwin nun ungleich besser. Das nähert sich, dachte er, schon eher den Meinungen, die ich herübergebracht habe; es ist nicht möglich, daß diese frohherzigen, sinnigen Wesen inwendig schnöd und philisterhaft beschaffen seien! Auch geriet er ein- oder zweimal dicht an den Rand eines Verhältnisses, wie man gemein zu sagen pflegt. Aber o weh! nun zeigte sich auch hier eine Art von Kehrseite. Es herrschte nämlich durch einen eigenen Unstern, wo er hinkam, eine solche Öffentlichkeit und gemeinschaftliche Beaufsichtigung in diesen Dingen, daß es unmöglich war, auch nur die ersten Regungen und Blicke ohne allgemeines Mitwissen auszutauschen, geschweige denn zu einem Bekenntnisse zu gelangen, welches zuerst das süße Geheimnis eines Pärchens gewesen wäre freien schien nur in großer Gesellschaften zu lieben und zu freien und durch die Menge der Zuschauer dazu aufgemuntert zu werden. Sobald ein junger Mann mehrmals mit dem gleichen Mädchen gesprochen, wurde das Verhältnis festgestellt und zur öffentlichen Verlebung gewaltsam in Beschlag genommen. Diese Art war aber für Erwin wie ein Gift. Was nach seinem Gefühle das geheime Übereinkommen zweier Herzen sein mußte, das sollte gleich im Beginn der allgemeinen Teilnahme zu Verfügung gestellt und das Hausrecht des Herzens, der früheste Goldblick des Liebesfrühlings dahingegeben sein. So wurde er schon vor dem ersten Kapitel seiner Romane zurückgeschreckt und trug nichts davon als den Verdruß von einigen Klatschereien. Das beweist freilich, daß er eine ordentliche Leidenschaft [438] nicht erfahren hatte; sonst hätte er sich durch solche Schwächen, die dem braven Bürgertum hier und da ankleben, nicht vertreiben lassen. Nichtsdestominder empfand er Verdruß und setzte sich, alles aus dem Sinne schlagend, im ausschließlichen Umgange mit Männern fest, die sich aufeinander angewiesen sahen.
Um diese Zeit, es mögen etwa zwölf Jahre her sein, sah ich Erwin Altenauer in meiner damaligen Heimatstadt, wenn man den Sitz einer Hochschule so nennen darf, wo der Vater als Lehrer hinberufen worden ist, sich ein Haus gekauft und die Tochter des Ortsbankiers geheiratet hat. Ich selbst war kaum zwanzig Jahre alt, obgleich schon seit zwei Jahren Student, so daß ich die Gesellschaft des Deutschamerikaners im Hause meiner Eltern und anderwärts zuweilen genoß. Es war ein nicht kleiner fester Mann mit einem blonden Kopf und trug nur neue Hüte, aber stets so, als ob es alte Hüte wären. Nur ein paar Sommermonate wollte er in unserer Stadt zubringen, um namentlich eine gewisse Partie älterer Geschichte anzuhören, die ein berühmter Historiker vortrug, und unter dessen Aufsicht die Urkunden zu studieren.
In einem stattlichen Hause, das indessen nur zwei Familien bewohnten, hatte er bei der einen derselben einige Zimmer gemietet, in denen er nicht ermangelte von Zeit zu Zeit seine Bekannten in der Weise der Junggesellen zu bewirten; sonst aber verbrachte er die Abende gern im fröhlichen Umgange mit gereifteren jungen Leuten verschiedener Nationalität, wie sie, mit Bürgerssöhnen aus gutem Hause vermischt, in solchen Orten sich zusammenzutun pflegen und von der Mützen tragenden Jugend leicht zu unterscheiden sind, wiewohl sie nicht verschmähen, bei derselben zuweilen vorzusprechen.
In jenem Hause, das noch mit weitläufigen Treppen und Gängen versehen war, fiel ihm seit einiger Zeit bei Ausgang und Rückkehr eine Dienstmagd auf von so herrlichem Wuchs und Gang, daß das ärmliche, obgleich saubere Kleid das Gewand [439] eines Königskindes aus alter Fabelzeit zu sein schien. Ob sie das Wassergefäß auf dem Haupte oder den gefüllten Holzkorb vor sich her trug, immer waren Glieder und Bewegung von der gleichen geschmeidigen Kraft und gelassenen Schönheit; alles aber war beherrscht und harmonisch zusammengehalten durch ein Gesicht, dessen ruhige Regelmäßigkeit von einem Zug leiser unbewußter Schwermut veredelt wurde, einem Zug so leicht und rein wie der Schatten eines durchsichtigen Kristalles. Erwin begegnete der schönen Person nicht oft; jedesmal aber, wenn sie mit bescheiden gesenktem Blick still vorüberging, blieb die Erscheinung ihm stundenlang im Sinne haften, ohne daß er jedoch besonders darauf achtete. Eines Tages indessen, als sie auf den Stufen der untern Treppe kniete und scheuerte und er eben herunterstieg, richtete sie sich auf und lehnte sich an das Geländer, um ihn vorbeizulassen; er konnte sich nicht versagen, guten Tag zu wünschen und eine kleine flüchtige Entschuldigung vorzubringen, ohne sich aufzuhalten. Aber in diesem Augenblicke schlug sie ihr Auge groß und schön auf, und ein so mildes halbes Lächeln schwebte wie verwundert um die ernsten Lippen, daß das Bild der armen Magd nicht mehr aus seinen Sinnen verschwand, so zwar, wie wenn einer etwas Gutes weiß, zu dem seine Gedanken jedesmal ruhig zurückkehren, sobald sie nicht zerstreut oder beschäftigt sind. Sonst begab oder änderte sich weiter nichts, als daß er sie gelegentlich nach ihrem Namen frug, der auf Regine lautete.
Eines schönen Sonntags, den er im Freien zugebracht, kehrte er spät in der Nacht nach seiner Wohnung heim, mit langsamen Schritten und wohlgemut die Sommerluft genießend. Da und dort schwärmten singende Studenten durch die Gassen, in welche der helle Vollmond schien; vor dem Hause aber, das er endlich erreichte, befand sich ein ganzer Trupp dieses mutwilligen Volkes und umringte eine einsame Frauensperson, die sich an die Haustüre drückte. Ich kann den Auftritt beschreiben, denn ich stand selber dabei. Es war Regine, die auf der runden Freitreppe, [440] drei bis vier Stufen hoch, mit dem Rücken an die Türe gelehnt, dastand und lautlos auf die sehr angeheiterte Schar herabschaute. Sie hatte von ihrer Herrschaft die Erlaubnis erhalten, die Eltern in dem mehrer Stunden entfernten Heimatdorfe zu besuchen, bei der Rückkehr aber die Fahrgelegenheit verfehlt und den Weg in die Nacht hinein zu Fuß zurücklegen müssen. Allein auch die Herrschaft war auf eine Landpartie gegangen und noch nicht zurück, und da Regine keinen Hausschlüssel bei sich führte und überhaupt niemand im Gebäude auf die Glocke zu hören schien, die sie schon mehrmals gezogen, so fand sie sich ausgeschlossen und mußte die Ankunft anderer Hausbewohner abwarten. So fiel sie ihrer Gestalt wegen den jungen Taugenichtsen auf, die nicht säumten, sie zu umringen und mit mehr oder weniger feinen Artigkeiten zu belagern. Der eine nannte sie Liebchen, der andere Schätzchen, dieser Gretchen, jener Mariechen; dann brachten sie ihr ein halblautes Ständchen, und was solcher Kindereien mehr waren; sowie aber einer die Stufen hinansprang, um eine Liebkosung zu wagen, lehnte sie den Angriff mit einer ruhigen Bewegung des freien Armes ab; denn mit der andern Hand hielt sie den von ihr selbst blankgefegten Türknopf gefaßt. Wenn nun einer nach dem andern die Stufen rückwärts hinabstolperte, so lachte der Haufen mit großem Geräusch, ohne daß die Bedrängte darüber ein Vergnügen empfand; vielmehr stieg sie jetzt selbst hinunter und suchte zu entkommen. Aber die Studenten riefen: ›Die Löwin will hinaus! Laßt sie nicht durchbrechen!‹ und schlossen den Ring nur um so dichter.
In diesem Augenblicke drang Erwin, der dem Spiel schon ein Weilchen ganz erstaunt zugesehen, durch die Leute, ergriff die zitternde Magd bei der Hand und führte sie in das Haus, der er mit einer Drehung seines Schlüssels rasch öffnete und ebenso rasch wieder verschloß. Das war so schnell geschehen, daß die Nachtschwärmer ganz verblüfft dastanden und nichts Besseres tun konnten, als ihres Weges zu ziehen.
[441] Auf dem Flur, wo jederzeit des Nachts Leuchter bereitstanden, zündete Erwin sein Licht an und teilte das Flämmchen mit der aufatmenden Magd, welche froh war, sich geborgen zu wissen und die Herrschaft gebührlicherweise in der Küche erwarten zu können. Und wie es der Welt Lauf ist, wurde sie von der Sprödigkeit verlassen, die sie soeben noch vor der Türe aufrecht gehalten, und sie litt es, als Erwin ihr mehr schüchtern als unternehmend Hand und Wange streichelte und dies nur einen Augenblick lang; denn obgleich ihr Sonntagskleid fast so dürftig war wie der Werktagsanzug, vom billigsten Zeuge und der ärmlichsten Machenschaft, so verboten doch Form und Ausdruck des Gesichtes die unzarte Berührung jedem, der nicht eben zu den angetrunkenen Gesellen gehörte, und dennoch schien dies Gesicht die Demut selber zu sein.
Von diesem Abend an nahm die stille Erscheinung Erwins Gedanken schon häufiger in Anspruch, und statt ihnen zum bloßen Ruhepunkt zu dienen, zog sie dieselben an sich, auch wenn sie anderwärts verpflichtet waren. Das verspürte er in wenigen Tagen, als er am Fuße der Treppe einen baumlangen Reiterkorporal bei ihr stehen sah, der, auf den schweren Pallasch gestützt, mit Reginen sprach, während sie nachdenklich an einem Postamente des Geländers lehnte. Erwin merkte im Vorübergehen, daß ein leichtes Rot über ihr Gesicht ging, und schloß daraus auf eine Liebeschaft. Das aber störte ihm so alle Ruhe, daß er nach einer halben Stunde das Haus wieder verließ, obgleich niemand mehr im Flur stand, und dermaßen in steter Bewegung den Tag zubrachte. Vergeblich sagte er sich, es sei ja der prächtigen Person nur von Herzen zu gönnen, wenn sie einen so stattlichen Liebsten besitze, der auch ein ernster Mann zu sein schien, wie er in der Schnelligkeit gesehen. Der Umstand, daß es in der Stadt keine Garnison gab und der Reitersmann also von auswärts gekommen sein mußte, ließ das Bestehen eines ernstlichen Liebesverhältnisses noch gewisser erscheinen. Aber nur um so trauriger ward ihm zu Mut. Umsonst fragte er [442] sich, ob er denn etwas Besseres wisse für das Mädchen, ob er sie selbst heimführen würde? Er wußte keine Antwort darauf. Dafür wurde die schöne Gestalt durch das Licht einer Liebesneigung, die er sich recht innig und tief, so recht im Tone deutscher Volkslieder vorstellte, von einem romantischen Schimmer übergossen, der die erwachende Trauer des Ausgeschlossenseins noch dunkler machte. Denn an einem offenen Paradiesgärtlein geht der Mensch gleichgültig vorbei und wird erst traurig, wenn es verschlossen ist.
Früher als gewöhnlich verließ er am Abend seine Gesellschaft und suchte seine Wohnung auf. Da holte er vor der Türe, die zu seinen Zimmern führte, unversehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in den Dachräumen hinaufstieg. Sie hielt neben dem Lichte einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der war ihr soeben auf den Boden gefallen, dabei leicht beschmutzt und auch etwas zerknittert worden, und sie besah sich den Schaden, fügte aber sogleich noch einen Ölfleck hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der Herrschaft gegönnt war.
›Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Regine?‹ fragte Erwin, indem er die Türe aufschloß.
›Ach Gott‹, sagte sie, ›ich soll einen Brief schreiben und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt ist es schon verdorben, eh ich nur oben bin!‹
›Kommen Sie mit mir herein, ich geb Ihnen ein anderes!‹ versetzte er, und sie ging mit gutem Vertrauen mit ihm, blieb aber bescheiden an der Zimmertür stehen, während er ein Büchlein des schönsten Papieres zurechtmachte. ›Haben Sie denn auch Tinte und Federn?‹
›Etwas Tinte habe ich in einem Fläschchen, freilich halb eingetrocknet, und eine kritzliche, kratzliche Stahlfeder ist auch noch da!‹ erwiderte sie.
›So nehmen Sie hier von diesen Federn mit und holen Sie sich Tinte, oder nehmen Sie gleich die Flasche, die Sie [443] ja wiederbringen können. Haben Sie auch einen Tisch zum Schreiben?‹
›Leider nein, nur meine Kleiderkommode!‹
›Ei, so schreiben Sie hier an diesem Tisch! Ich werde Sie nicht stören und Sie haben sich keineswegs zu scheuen! Oder mögen Sie am Pult schreiben, so sind Sie gerade noch groß genug dazu.‹
Er zündete gleichzeitig eine Lampe an, die helles Licht verbreitete, und wendete sich dann wieder zu der schweigenden Person, deren Gesicht, wie am Tage schon einmal, die leichte Röte überflog, mit den Worten: ›Sagen Sie, Regine, der schöne Dragoner, der heute bei Ihnen war, ist natürlich Ihr Schatz? Da ist Ihnen wahrhaftig Glück zu wünschen!‹ Welche Worte er mit veränderter, etwas unsicherer Stimme hervorbrachte, wie wenn er in Herzensangelegenheiten vor einer großen Weltdame stände.
Das Rot in ihrem Gesichte wurde tiefer und spiegelte sich in dem seinigen, das trotz seiner acht- oder neunundzwanzig Jahre ebenfalls rötlich anlief. Zugleich aber blitzten ihre Augen nicht ohne einige Schalkheit der harmlosesten Art zu ihm hinüber, als sie antwortete: ›Das war ein Bruder von mir!‹ Ob sie im übrigen einen Schatz besitze oder nicht, vergaß sie zu sagen. Auch verlangte Erwin diesmal nichts weiteres zu erfahren, sondern schien mit dem Bruder so vollkommen zufrieden, daß seine anbrechende Heiterkeit unverkennbar war und auch dem Mädchen das Herz leicht machte. Ehe sie sich dessen versah, stand sie am dem Stehpulte und schrieb ihren Brief. Sie schrieb, ohne sich zu besinnen, in schönen geraden Zeilen eine Seite herunter und faltete das Blatt, ohne das Geschriebene nochmals anzusehen. Erwins Vergnügen, ihr von einem Sofa aus gemächlich zuzuschauen, war daher schon vorbei. Er gab ihr einen Umschlag und sie schrieb, wie er nun in der Nähe sah, mit regelmäßigen sauberen Zügen die Adresse an ihre Mutter.
[444] ›Wollen Sie gleich siegeln?‹ fragte er, was sie dankbar bejahte. Er bot ihr eine Achatschale hin, worin ein Siegelring und mehrere Petschafte lagen mit fein geschnittenen Wappen, Namenszügen oder antiken Steinen, und lud sie ein, sich ein Siegel zu wählen. Nach Jahren, als sich das Zukünftige begeben hatte, erinnerte er sich mit Wehmut des zartsinnigen Zuges, wie das unwissende junge Weib sich scheute, eines von den kostbaren fremden Siegeln zu gebrauchen, und wünschte, mit dem zinnernen Jackenknopfe zu petschieren, den sie zu diesem Zwecke aufbewahre. Es sei ein kleiner Stern darauf abgebildet.
›Damit kann ich auch dienen!‹ rief er und zog seinen goldenen Bleistifthalter aus der Tasche; das obere Ende desselben war wirklich mit einem runden Plättchen versehen, das einen Stern zeigte und zum Versiegeln eines Briefes tauglich war. Das ließ sich Regine gefallen. Erwin erwärmte das hochrote Wachs und brachte es auf den Brief; Regine drückte den Stern darauf, und als das schwierige Werk vollbracht war, atmete sie bedächtig auf und sah ihn mit einem treuherzigen Lächeln an.
Den Brief in der Hand haltend, konnte sie jetzt füglich gehen; doch wußte der junge Mann sie mit einer Frage aufzuhalten, an die sich eine andere und eine dritte reihte, und so stand Regine an derselben Stelle, bis eine gute Stunde verflossen war, und plauderte mit ihm, der an seinem Arbeitstische lehnte. Er frug nach ihrer Heimat und nach den Ihrigen, und sie beantwortete die Fragen ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht noch niemand, seit sie unter Fremden ihr Brot verdiente, sich so teilnehmend nach diesen Dingen erkundigt hatte. Sie war das Kind armer Bauersleute, die einen Teil des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur die acht Kinder, Söhne und Töchter, sondern auch die Eltern waren wohlgestaltet große Leute, ein Geschlecht, dessen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten Volkstumes hervorgegangen. Nicht so verhielt es sich mit dem Seelenwesen, der Beweglichkeit, der moralischen Widerstandskraft und der Glücksfähigkeit [445] der großwüchsigen Familie. In Handel und Wandel wußten sie sich nicht zeitig und aufmerksam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vorzubereiten und zu sichern, und statt der Not gelassen aus dem Wege zu gehen, ließen sie dieselbe nahe kommen und starrten ihr ratlos ins Gesicht. Der Vater war durch einen fallenden Waldbaum verstümmelt, die lange Mutter voll bitterer Worte und nutzloser Anschläge; zwei Söhne standen im Militärdienste, der dritte half zu Hause, und die fünf Töchter lebten meistens zerstreut als Dienstmägde und mit verschiedenen Schicksalen, die nicht alle erfreulich oder kummerlos waren für sie und die Angehörigen.
Ungefähr so gestaltete sich das Bild, das Erwin den Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender Größe, welche ihre Sterne verlassen haben, eines Geschlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht seine Freiheit dreimal verloren und wiedergewonnen hatte, zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es über den Leiden des Kampfes das Geschick verloren. Oder war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adelsgeschlechte, das sich in die Lebensart des Jahrhunderts nicht finden kann? Aus den unzusammenhängenden Mitteilungen schloß er aber auch, daß Regine, obgleich das jüngste der Kinder, gewissermaßen das beste, nämlich der stille, anspruchslose Halt der Familie war, an welchen sich alle wendeten, und das deshalb so ärmlich gekleidet ging, weil es alles hergab, was es aufbrachte, während die andern Schwestern nicht ermangelten sich aufzuputzen, so gut sie es vermochten.
Auch heute war sie wieder in Anspruch genommen worden. Erst neulich hatte sie fast ihren ganzen Vierteljahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in übeln Umständen heimgekommen. Jetzt wurde der Vater von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld geplagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner schreiben lassen, daß er entweder selbst etwas Geld zu entlehnen trachten oder aber zu Regine gehen solle, daß diese helfe. Natürlich konnte der Soldat nichts tun, denn er [446] hatte genug zu schaffen, mit kümmerlichen Entlehnungen seinen Sold zu ergänzen. Darum war er zur Schwester herübergekommen, und diese empfand zur übrigen Sorge den Verdruß über die fruchtlosen Reisekosten des Bruders, so klein sie waren, weil sie im Augenblicke auch nicht helfen konnte. Sie hatte darum der Mutter geschrieben, man müsse unter allen Umständen einige Wochen Frist zu erlangen suchen; vorher dürfe sie ihre Herrschaft nicht schon wieder um Geld angehen. Auch hatte sie bei diesen Aussichten bereits seit dem heutigen Vormittage auf den kühnen Plan verzichtet, sich im Herbst einmal ein wollenes Kleid machen zu lassen, wie andere ordentliche Mädchen es im Winter trugen.
Als Erwin sie zum ersten Mal soviel hintereinander sprechen hörte, wurde er von der weichen Beweglichkeit ihrer Stimme angenehm erregt, da die traulichen Worte, je mehr sie in Fluß gerieten, immer mehr einen der schönen Gestalt entsrprechenden Wohlklang an nahmen, den vielleicht noch niemand im Hause kannte. Aber noch wärmer erregte ihn der Gedanke, daß der Not des guten Wesens so leicht zu steuern sei; um sie jedoch nicht allfällig sofort zu verscheuchen oder argwöhnisch zu machen, unterließ er für einmal jedes Anerbieten einer Hilfe und begnügte sich mit ein paar leichthin tröstenden Wlrten: das sei ja alles nicht so betrüblich, wie es aussehe, und werde sich schon ein Ausweg finden, sie solle nur so gut und brav bleiben, und so weiter. Ihr düster gewordenes Angesicht hellte sich auch zusehends auf, so freundlich wirkte der ungewohnte Zuspruch auf ihr einsames Gemüt, und gewiß zehnmal wohltuender, als wenn er sofort die Börse gezogen und sie gefragt hätte, wieviel sie bedürfe.
Es lief indessen doch nocht ohne Bedenklichkeiten ab. Denn als sie, über die so schnell verflossene Stunde erschreckend, sich entfernen wollte und die Zimmertüre öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräusch von Weiberstimmen. Es waren die übrigen Dienstboten des Hauses, die ihre Schlafstellen [447] aufsuchten, und es schien allerdings nicht geraten, daß Regine in diesem Augenblicke aus der Türe des fremden Herrn und Hausgenossen trat. Sie drückte ängstlich die Türe wieder zu und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht erblassend an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlingsabende schwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wortlos auf das Verhallen der Mädchenstimmen lauschen. In diesem Augenblicke sahen sie sich an und wußten, daß sie allein zusammen seien und ein Geheimnis hatten, wenn auch ein unschuldiges. Als man nichts mehr hörte, öffnete Erwin sachte die äußere Türe und entließ die schöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte sie ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke, das ihr wohl selbst nicht bewußt war; doch flackerte das Flämmchen ihrer bescheidenen Lampe hell und tapfer in der Zugluft, welche durch das Treppenhaus wehte, weil die Vorgängerinnen wahrscheinlich die Bodentüre offengelassen.
Es vergingen nicht viele Tage, bis es Erwin gelang, das Mädchen mit seinem Lämpchen abermals in sein Zimmer zu locken, und bald stellte sich die Gewohnheit ein, daß Regine jeden Abend ein halbes oder auch ein ganzes Stündchen bei ihm eintrat, bald vor dem Aufstieg der anderen Mägde, bald nach demselben; wahrscheinlich war das bewahrte Geheimnis, die Heimlichkeit der vorzüglichste Anreiz, welcher der guten Freundschaft und dem Wohlgefallen der jungen Leute den Charakter einer Liebschaft gab. Regine war aber so ganz von Vertrauen zu dem stets besonnenen und an sich haltenden Manne erfüllt, daß sie alle Bedenken aus den Augen setzte und sich rückhaltlos dem Vergnügen hingab, die kurzen Stunden eines bessern Daseins zu genießen. Sie war, mit Verlaub zu sagen, Weib genug, um von ihrer günstigen Erscheinung zu wissen; aber mit um so größerer Dankbarkeit empfand sie zum ersten Mal die Ehre, die ein gesitteter Mann ihrer Schönheit antat, ohne daß sie wie eine gescheuchte Katze sich zu wehren brauchte. Erwin aber tat ihr die [448] Ehre an, weil er bereits den Gedanken großzog, sich hier aus Dunkelheit und Not die Gefährtin zu holen.
Also lebten sie in rein menschlicher Lebensluft so beglückt, wie zwei ebenbürtige Wesen in stiller Heimlichkeit es nur sein konnten; Regine nur die gegenwart genießend, ohne Hoffnung für die Zukunft, Erwin zugleich von frohen Ahnungen dessen bewegt, was noch kommen mochte. Als er sie eines Abends bei guter Gelegenheit überredete, nur der Eltern wegen der ersehnten Hilfe zu gedenken, und sie zwang, zu schreiben und sogleich die nötige Barschaft zu verpacken, die ihm lächerlich klein erschien, da fügte sie sich mit geheimer Zärtlichkeit des Herzens nicht aus Eigennutz, sondern weil es von ihm und nicht von einem andern kam. Diesmal las er den Brief, den sie schrieb, und sah, daß die Sätze allerdings kurz und mager waren, wie eben das Volk schreibt; allein er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Rechtschreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn und Gebrauch der Sprache.
›Sie schreiben ja wie ein Aktuarius!‹ sagte er, indem ein Strahl von Freude seine Augen erhellte.
›O wir hatten einen guten Schulmeister!‹ erwiderte sie, froh über sein Lob; ›aber das ist nichts, ich habe eine Schwester, die schreibt im Umsehn ganze Briefe voll Torheiten ohne alle Fehler; wenn sie nur sonst recht täte!‹ schloß sie mit einem Seufzer. Wie sich später erwies, reiste nämlich die Schwester auf Liebschaften herum und stellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch war sie schon einmal mit einme kleinen Kinde heimgekommen.
Zum Schreiben hatte Regine jetzt gesessen, was sie in Erwins Zimmer noch nie getan. Sie nahm eine amerikanische Zeitung in die Hand, die auf dem Tische lag, und versuchte zu lesen.
›Das ist Englisch!‹ sagte Erwin, ›wollen Sie's lernen? Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und einen reichen Mann heiraten!‹
[449] Sie errötete stark. ›Lernen möcht ich es schon‹, sagte sie, ›vielleicht fahr ich doch einmal hinüber, wenn es hier zu arg wird!‹
Erwin sprach ihr einige Worte vor; sie lachte, bemühte sich aber, in den Geist der wunderbaren Laute einzudringen, und es gelang ihr noch am gleichen Abend eine Reihe von Worten richtig zu wiederholen und das Alphabet englisch auszusprechen. Ernstlich schlug er ihr nun vor, jeden Abend eine förmlich Unterrichtsstunde bei ihm durchzumachen. Sie tat es mit ebensoviel Eifer als Geschick; kaum waren zwei Wochen verflossen, so sah Erwin, daß dieses höchst merkwürdige Wesen, das sich selbst nicht kannte, alles zu lernen imstande war, ohne einen Augenblick die demütige Ruhe zu verlieren. Er schlug plötzlich das Buch zu, über welchem sie zusammen saßen, ergriff ihre Hand und sagte:
›Liebe Regine, ich will nicht länger warten und säumen! Wollen Sie meine Frau sein und mit mir gehen?‹
Sie zuckte zusammen, erbleichte und starrte ihn an, wie eine Tote.
›Nun ist es aus‹, sagte sie endlich, indem sie den Kopf auf die Hände stützte; ›und ich war so vergnügt!‹
›Wieso? Was will das sagen, liebes Kind? Bin ich dir zuwider, oder ist sonst etwas im Wege, das dich bedrängt und hindert?‹ rief Erwin und legte unwillkürlich den Arm um sie, wie um sie zu schützen und aufrecht zu halten. Aber sie legte seinen Arm leidvoll und entschieden weg und fing an zu weinen.
Sei es nun, daß sie in ihrer geringen und aus trüben Quellen geschöpften Weltkenntnis den Augenblick gekommen wähnte, wo ein geliebter Mann sich mit einem Heiratsversprechen entlarvte, das ja niemals ernst gemeint sein konnte; sei es, daß sie es für ihre Pflicht hielt, einem ernsten Antrag zu widerstehen, indem sie sich als Gattin eines vornehmen Herrn unmöglich dachte; oder sei es endlich, daß sie schon um ihrer Familienverhältnisse willen, die schlimmer waren, als sie bisher geoffenbart, [450] sich scheute, den fremden Mann, der so glücklich lebte, an sich zu binden: sie wußte sich nicht zu helfen und schüttelte nur den Kopf.
›Ich glaubte, due seiest mir ein wenig gut!‹ sagte Erwin kleinlaut und betroffen.
›Es war nicht recht von mir‹, rief sie schluchzend, ›es auch einmal ein bißchen gut haben und etwa ein Stündchen ungestraft bei einem sitzen zu wollen, den ich so gern habe! Mehr wollte ich ja nicht! Nun ist es vorbei, und ich muß gehen!‹
Sie stand gewaltsam auf, zündete das Lämpchen an, und ohne sich halten zu lassen, eilte sie hinaus und so stürmisch die Treppe hinauf, daß das Flämmchen verlöschte und sie im Dunkeln verschwand. Am andern Tage, als er ihr zu begegnen suchte, war sie aus dem Hause verschwunden. Da er vorsichtig nachforschte, hörte er, sie sei plötzlich aufgebrochen und in ihre Heimat gegangen, una als sie nach mehreren Tagen noch nicht zurückgekehrt war, nahm er einen Wagen und fuhr hinaus, sie aufzusuchen. Er traf sie auch in der ärmlichen Behausung der Ihrigen, und zwar in großer Trauer sitzend. Gleich einem Türken bestaunten ihn die großen Leute, Weiber und Männer; aber er erklärte sich sogleich und verlangte die Tochter Regina zur Frau. Und um zu beweisen, wie er es meine, begehrte er den Stand ihrer häuslichen Angelegenheiten zu erfahren und versprach, ohne Verzug zu helfen. Nachdem die Leute sich erst etwas gesammelt und seine Meinung verstanden hatten, beeiferten sie sich, alles offen darzulegen, wobei aber der Alte die Weiber, mit Ausnahme Reginens, hinausschieben mußte, da sie alles vermengten und verdrehten. Auch der Sohn benahm sich neben dem einbeinigen Alten vernünftig und schien doch nicht ohne Hoffnung. Es zeigte sich, daß das kleine Gütchen verschuldet war; allein die Auslösung erforderte eine Summe, die für Erwins Mittel nicht in Betracht kam; es waren eben kümmerlich kleine Verhältnisse. Ließ er obenein noch eine ähnliche oder geringere Summe da, so geriet das reckenhafte Völklein in einen ungewohnten [451] kleinen Wohlstand, und die fernere Vorsorge war ja nicht benommen. Überdies versprach Erwin, seinen Einfluß dafür zu verwenden, daß die beiden im Dienste stehenden Söhne, deren Entlassung nahe bevorstand, ein gutes Unterkommen fänden, wo sie sich emporbringen könnten, bis er besser für sie zu sorgen vermochte, und was die Töchter betraf, so mischte er sich nicht in deren Geschäfte, sondern empfahl dieselben in seinem Innern der lieben Vorsehung. Kurz, es begab sich alles auf das zweckdienlichste nach menschlicher Berechnung. Regine sah zu und redete nicht ein Wort, auch nicht, als Erwin sie in die Kutsche hob, mit welcher er sie unter dem Segen der Eltern entführte. Erst als sie drinsaß und die Pferde auf der Landstraße trabten, fiel sie ihm um den Hals und tat sich nach den ausgestandenen Leiden gütlich an seiner Freude, sie nun doch zu besitzen.
Er fuhr aber nicht in unsere Stadt zurück, sondern nach der nächsten Bahnstation und bestieg dort mit Reginen den Bahnzug. In einer der deutschen Städte, darin er schon gelebt, kannte er eine würdige und verständige Gelehrtenwitwe, welche genötigt war, fremden Leuten Wohnung und Kost zu geben. Er hatte selbst dort gewohnt. Dieser wackeren Frau vertraute er sich an, ließ Regine für ein halbes Jahr bei ihr, damit sie gute Kleider tragen lernte und die von der Arbeit rauhen Hände weiß werden konnten. Dann trennte er sich, wenn auch ungern, von der wie im Traume wandelnden Regine, reiste in unsere Universitätsstadt zurück, um den dortigen Aufenthalt zu beendigen, und so weiter, bis nach Verfluß von weniger als sieben Monaten die brave schöne Regine als seine Gattin abermals neben ihm in einem Reisewagen saß.«
Als Reinhart glücklich die Magd auf die Hochzeitsreise geschickt, hielt er einen Augenblick inne und bemerkte erst jetzt, daß das Schnurren der Spinnräder nicht mehr zu hören war; denn die beiden Mädchen hatten über dem erfreulichen Schicksal [452] der Regine das Spinnen vergessen, und die Augen gespannt auf den Erzähler gerichtet, hielten sie Daum und Zeigefinger in der Luft, ohne daß der Faden lief. Die eine mochte sich das schöne Reisekleid der glückhaften Person vorstellen, die andere in Gedanken die goldene Damenuhr betrachten, die ihr ohne Zweifel an langer Kette hing. Hinwiederum bedachte jene die Herrlichkeit des Augenblicks, wo sie im Fall wäre, selbsteigene Dienstboten anzustellen und aus einer großen Zahl sich meldender Mädchen, auf dem Sofa sitzend, einige auszuwählen. Die andere aber nahm sich vor, an Reginens Stelle jedenfalls sofort wenigstens sechs Paar neue Stiefelchen von Zeug und von feinstem Leder machen zu lassen, und mit süßen Schauer sah sie schon den jungen, ledigen Schuhmachermeister vor sich, den sie hatte ins Haus kommen lassen, die Stiefelchen anzumessen, jedes Paar besonders, und hielt ihm huldvoll den Fuß hin, bereit, ihm auch die Hand zu schenken, um welche der Blöde endlich anhalten würde. Aber wie ist denn das? Sie wäre ja schon verheiratet und könnte den Schuhmacher nicht mehr nehmen? Aber sie ist ja nicht die Regine, welche den Amerikaner hat, sondern das ledige Bärbchen! Aber nun ist sie ja nicht reich und kann die Stiefeletten nicht bestellen – kurz, sie verwickelte sich ganz in dem Garn ihrer Spekulationen, während Ännchen, das andere Mädchen, bereits drei Köchinnen angestellt und zwei wieder weggejagt hatte.
Da sagte Lucie: »Wenn ihr müde seid, ihr Mädchen, so stellt die Räder weg und geht schlafen! Die merkwürdige Regine ist jetzt versorgt und braucht wahrscheinlich nicht mehr früh aufzustehen, wie ihr es morgen tun müßt.«
Die hübschen Dienerinnen erhoben sich ohne Zögern, als sie dergestalt aus ihrer kurzen Träumerei geweckt worden, und trugen gehorsam die Spinnrädchen aus dem Zimmer.
Zu Reinhart gewendet fuhr Lucie fort: »Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, daß die guten Kinder die Kehrseite oder den Ausgang Ihrer Geschichte mit anhören; denn soviel ich [453] vermuten kann, wird es nun über die Bildung hergehen, welche an dem in Aussicht stehenden Unheil schuld sein soll, und da wünschte ich denn doch nicht, daß die Mädchen gegen den gebildeten Frauenstand aufsätzig würden!«
»Ich überlege soeben«, erwiderte Reinhart lächelnd, »daß ich am Ende unbesonnen handle und meine eigenen Lehrsätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die Geschichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinanderlese. Vielleicht werden Sie sagen, es sei nicht die rechte Bildung gewesen, an welcher das Schiff gescheitert. Am besten tu ich wohl, wenn ich Sie mit dem Schlusse verschone!«
»Nein, fahren Sie fort, es ist immer lehrreich zu vernehmen, was die Herren hinsichtlich unseres Geschlechtes für wünschenswert und erbaulich halten; ich fürchte, es ist zuweilen nicht viel tiefsinniger, als das Ideal, welches unsern Romanschreiberinnen bei Entwerfung ihrer Heldengestalten oder ersten Liebhaber vorschwebt, wegen deren sie so oft ausgelacht werden.«
»Sie vergessen, daß ich keine eigene Erfindung offenbare, sondern über fremdes Schicksal berichte, das mich persönlich wenig berührt hat.«
»Um so gewissenhafter halten Sie sich an die Wahrheit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich beraten können!« sagte Lucie, und Reinhart erzählte weiter:
»Erwin Altenauer hatte seine Verheiratung so geheim betrieben, daß in unserer Stadt niemand darum wußte; selbst die Herrschaft der ehemaligen Magd und die übrigen Hausgenossen ahnten nichts von dem Vorgange, und jedermann glaubte, er habe einfach seinen Aufenthalt bei uns beendigt und sei abgereist, wie man das an solchen Gästen ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre später lebte ich in der Hauptstadt, in welcher jene amerikanische Gesandtschaft residierte. Ich benutzte die dortigen Anstalten zur Fortsetzung meiner etwas willkürlichen und ungeregelten Studien, dünkte mich übrigens schon über das [454] Studententum hinaus zu sein und ging nur mit Leuten um, die alle einige Jahre älter waren als ich.
Auf einmal tauchte Herr Erwin wieder auf. Als ich ihm irgendwo begegnete, lud er mich ein, ihn zu besuchen. Ich fand ihn in wohleingerichteter Wohnung, die von gutem Geschmacke förmlich glänzte, und zwar in tiefer, stiller Ruhe. Zu meiner Überraschung wurde ich der Gemahlin vorgestellt, einer vornehm gekleideten, allerschönsten Dame von herrlicher Gestalt. Das reiche Haar war modisch geordnet, die nicht zu kleine, aber wohlgeformte Hand ganz weiß und mit altertümlichen bunten Ringen geschmückt, den Geschenken aus den Familienschätzen des Hauses in Boston. Ich hatte die Regine nur jenes einzige Mal in der Nacht gesehen, wo ich dabeistand, als sie von den Studenten bedrängt wurde; ihre Gesichtszüge waren mir kaum erkennbar geworden, doch auch sonst hätte ich jetzt nicht vermuten können, daß die arme Magd vor mir stand, weil die kleine Begebenheit mir vollkommen aus dem Gedächtnis verschwunden war. Ein Anflug von Schwerfälligkeit in den Bewegungen, der sich erst mit der eleganten Bekleidung eingestellt, war schon im Verschwinden begriffen und schien eher ein Zeichen fremdartigen Wesens als etwas anderes zu sein. Sie sprach ziemlich geläufig Englisch und auch etwas Französisch, wie sich im Verlaufe zeigte, letzteres sogar besser als die meisten Damen bei den amerikanischen Legationen. Als sie hörte, woher ich sei, sah sie ihren Mann flüchtig an, wie wenn sie ihn über ihr Verhalten befragen wollte; er rührte sich aber nicht, und so ließ sie sich auch weiter nichts merken. Dennoch schämte er sich nicht etwa ihres frühern niedern Standes, sondern wollte denselben nur so lange geheim halten, bis sie die völlige Freiheit und Sicherheit der Haltung und damit eine Schutzwehr gegen Demütigungen erworben habe.
Da er indessen das Bedürfnis offener Mitteilung an irgendeiner Seite hin nicht ganz unterdrücken konnte, schon um dem Geheimnisse jeden verdächtigen Charakter zu nehmen, wählte [455] er mich bald zum Mitwisser, und ich war nicht wenig verwundert, in der eigentümlichen Staatsdame die arme Magd wiederzufinden, die jetzt allmählich im meinem Gedächtnisse lebendig ward, wie sie wortlos die Bedränger von sich abwehrte. Auch der Frau geschah damit ein Gefallen; denn sie hatte wenigstens außer ihrem Manne noch einen Menschen, mit welchem sie ohne Rückhalt von sich sprechen konnte.
Ich erfuhr nun auch, in wie seltsamer Art Erwin die Ausbildung der Frau bis anhin durchgeführt hatte. Vor allem war er mit ihr nach London gegangen, da es ihm zuerst um die englische Sprache zu tun gewesen; und damit sie vor jeder häuslichen Arbeit bewahrt blieb, wohnte er, wie später in Paris, nur in Gasthäusern, und auch dort mußte er fortwährend aufpassen und dazwischentreten, daß sie nicht die Zimmer selbst aufräumte und die Betten machte oder gar zu den Dienstboten und Angestellten in die Küche ging, um ihnen zu helfen. Ebenso kostete es ihn einige Mühe, sie an größere Zurückhaltung gegenüber den Dienenden und Geringen zu gewöhnen, so zwar, daß sie, ohne der menschlichen Freiheit Abbruch zu tun, die zu große Vertraulichkeit vermieden lernte, um einst leichter befehlen zu können. Dieser Punkt soll für beide Personen nicht ohne etwelche Bekümmernis erledigt worden sein; denn während Regine sich immer wieder vergaß und schwer begriff, warum sie nicht mit ihresgleichen über alles plaudern sollte, was diese freute oder betrübte, dachte Erwin fortwährend nur an den gemessenen Ton, der in seinem elterlichen Hause herrschte, und an die Rangstufe, welche Regine dort einzunehmen berufen war. Die Heimführung, die noch bevorstand, beherrschte alle seine Gedanken; in Reginen hoffte er ein Bild verklärten deutschen Volkstumes über das Meer zu bringen, das sich sehen lassen dürfe und durch ein außergewöhnliches Schicksal nur noch idealer geworden sei. Wollte er aber diesen Erfolg nicht nur einem Glücksfunde, sondern auch seiner liebevoll bildenden Hand verdanken, so war ihm nur um so mehr daran gelegen, daß auch [456] in Nebendingen das Werk so vollkommen als möglich sei und sein Triumph durch keine kleinste Unzukömmlichkeit gestört werde. Man kann eben sagen, daß er bei aller Humanität und Freisinnigkeit, die ihn beseelte, hierin um so geiziger, ja ängstlicher war, als er sich in allen wesentlichen und wichtigen Dingen ganz sicher fühlte.
Ein zweifelloser Erfolg seiner Erziehungskunst blühte ihm fast unerwartet auf einem andern Gebiete. Während des Aufenthaltes in England war ein berühmter deutscher Männerchor dorthin gekommen, um in einer Reihe von Konzerten sich mit großem Aufsehen hören zu lassen. Erwin, der keine Gelegenheit versäumte, seiner Frau alle bildenden Genüsse zugänglich zu machen, führte Reginen ebenfalls in die weite Halle, wo Tausende von Menschen als Zuhörer versammelt waren. Sie wagte sich kaum zu rühren, mitten in dem Heere von reichen und geschmückten Leuten sitzend, und vernahm nicht eben viel Einzelnes von den Gesängen. Da hoben die neunzig bis hundert Sänger so deutlich und ausdrucksvoll, wie wenn sie nur ein Mann wären, die Weise eines altdeutschen Volksliedes an, daß Regine jedes Wort und jeden Ton augenblicklich erkannte, denn sie hatte das Lied als halbwüchsiges Mädchen einst selber gesungen und es erst in der Dienstbarkeit und Mühsal des Lebens vergessen. Unverwandt lauschend blickte sie nach dem Häuflein der schwarzgekleideten Männer hin, das wie eine dunkle Klippe aus dem schweigenden und schimmernden Menschenmeere ragte, und was sie hörte, war und blieb das Lied aus ihren Jugendtagen, die so schwermütig waren wie das Lied. Der brausende Beifall, der dem letzten Tone folgte, weckte sie aus der traumartigen Versenkung, und erst jetzt schaute sie erstaunt zu ihrem Manne hinüber, als ob sie fragen wollte, was das gewesen sei. Der wies auf den Text in dem Hefte hin, das sie in der Hand hielt, ohne es bis jetzt gebraucht zu haben, und wahrlich, da stand das Lied zu lesen, Wort für Wort.
Beim Nachhausefahren fing sie es im Dunkel des Wagens an [457] zu singen, und als Erwin über die anmutige Regung erfreut ihre Hand faßte, frug sie, was das nur sei, daß ein schlichtes Liedchen armer Landleute so fern von der Heimat gesungen werde und einer vornehmen Menschheit so gut gefalle? Noch mehr vergnügt über diese Frage, erwiderte er, Grund und Ursache der Erscheinung seien die gleichen, warum auch sie, das Kind des Volkes, ihm so wohl gefalle und so sehr von ihm geliebt werde. Dann sagte er ihr vorderhand das Nötigste über die Sache; schon am nächsten Tage aber suchte er einen deutschen Buchhändler auf, der, wie er gehört, auch alte Sachen kaufte und wieder verkaufte, und bei diesem fand er die bekannte Sammlung, welche ›Des Knaben Wunderhorn‹ heißt. Er lehrte sie das kleine Lied in den stattlichen Bänden auffinden, und sie erblickte und las es mit einem gewissen Stolze zwischen den Hunderten von ähnlichen und noch schöneren Liedern. Aber auch diese las sie und legte das Buch nicht aus der Hand, bis sie es durchgelesen hatte, manches Lied zwei- und dreimal. So ereignete sich das Seltene, daß ein ungeschultes Volkskind ein starkes Buch Gedichte mit Aufmerksamkeit und Genuß durchlas in einem Zeitalter, wo Gebildete dergleichen fast nie mehr über sich bringen. Da sie liebte, so fühlte sie erst jetzt noch das schöne Glühen der Leidenschaft mit, wie es in jenen Liedern zum Ausdruck kommt, und sie empfand dies Glühen um so glückseliger, als sie selbst ja in sicheren Liebesarmen ruhte.
Jetzt aber nahm Erwin den Augenblick wahr und holte die Goetheschen Jugendlieder herbei. Zugleich zeigte er ihr diejenigen, die der Dichter dem Volkstone abgelauscht und nachgesungen; dann las er mit ihr eins ums andere der aus dem eigenen Blute enstandenen, indem er der wohlig an ihn gelehnten Frau die betreffenden Geschichten dazu erzählte. Wie über eine leichte Regenbogenbrücke ging sie vom Wunderhorn in dieses lichte Gehölz maigrüner Ahornstämmchen hinüber, oder einfacher gesagt, es dauerte nicht lange, so regierte sie das Büchlein selbständig,[458] und es lag auf ihrem Tisch, wie wenn sie die erinnerungsreiche und wählerische Matrone einer vergangenen Zeit gewesen wäre, und doch lebte sie alles, was darin stand, mit Jugendblut durch, und Erwin küßte die erwachenden Spuren eines neuen Geistes ihr von Augen und Mund.
Es kann natürlich nicht jeder Pfad und jedes Brücklein aufgezeigt werden, auf denen Altenauer nun dem holden Weibe das Bewußtsein zuführte, nicht als ein Schulmeister, sondern mehr als ein aufmerksamer und dankbarer Finder von allerlei kleinen Glücksfällen. In Paris, wohin er sie nachher führte, galt es vorzugsweise durch das Auge zu lernen, und da er selbst vieles zum ersten Male sah, so lernte er mit ihr gemeinsam und erklärte ihr gemächlich, was er soeben erfahren. Sie nahm ihm die Neuigkeiten begierig vom Munde und sammelte sie so geizig auf wie ein junges Mädchen die Blumen ihres Liebhabers. Und die kleinen Dinge, die ein solches etwa in der Schule gelernt hat, wie das Verständnis der Landkarte und dergleichen, wurden ganz nebenbei, ohne allen Zeitverlust, betrieben. Nur wollte einstweilen kein rechter Zusammenhang in die Sachen kommen; auch beschäftigte es zuweilen Erwins Gedanken, daß Regine wohl allerlei Lehrhaftes aus seinem Munde hören, nie aber solches für sich allein lesen wollte. Sie brachte es nicht über sich, nur einige Seiten Geschichtliches oder Beschauliches hintereinander in sich aufzunehmen, und legte jedes Buch dieser Art bald weg. Doch hoffte er nun, nachdem über alles Erwarten es bis jetzt so herrlich gegangen, die Hauptsache eben in Deutschland zu erreichen, und er stellte sich, in seinem Glücke immer begieriger auf einen glänzenden Abschluß seines Bildungswerkes geworden, nunmehr kühnere Anforderungen, als er früher je gewagt haben würde. In diesem Zustande war es, daß ich das merkwürdige Ehepaar vorfand, und als ich dann das undschuldige Geheimnis desselben erfuhr, nahm ich den wärmsten Anteil an seinem Schicksal und Wohlergehen. Die Frau war bei all dem Außergewöhnlichen ihres Lebensganges und trotz der [459] Glücksumstände, in die sie geraten, die Bescheidenheit selbst, einfach, liebenswert und dabei so ehrlich wie ein junger Hund.
Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf eine Nachricht aus Boston ein, infolge welcher Erwin, ohne einen Tag zu verziehen, nach Amerika abreisen mußte, um bei der Ordnung gewisser Verhältnisse hilfreich zu sein, von denen das Wohl der ganzen Familie abhing. Er entschloß sich augenblicklich zur Reise, entschied aber nach einigem Schwanken, daß Regine über die paar Monate seiner Abwesenheit hier zurückbleiben sollte. Die Herbststürme hatten eben begonnen, und schon waren Nachrichten von auf der See stattgehabten Unglücksfällen und vermißten Schiffen eingetroffen. Um keinen Preis wollte er das Leben und die Gesundheit seiner Frau den Gefahren der Meeresfahrt aussetzen; umsonst fiel sie ihm fast zu Füßen und flehte wie ein Kind, sie mitzunehmen, damit sie bei ihm sei: sobald er nur einen Blick auf ihre Gestalt und ihr Gesicht warf, graute es ihm, dieses schöne Geschöpf sich auf einem untergehenden Schiffe zu denken, und so bitter ihm die zeitweilige Trennung auch war, so zog er sie doch der offenbaren Gefährdung des teuersten Wesens vor.
›Siehst du, mein Kind‹, sagte er, indem er ihre Wange sanft streichelte, ›es gehört auch zum Leben, sich einer schweren Notwendigkeit unterziehen zu lernen und von der Hoffnung zu zehren! Solches wird uns noch mehr widerfahren, und so wollen wir guten Mutes den Anfang machen!‹
Im geheimen freilich bestärkte ihn noch der Gedanke, um jeden Preis die letzte Hand an sein Bildungswerk legen zu können, ehe er die Gattin in das Vaterhaus mitbringe; die menschliche Eitelkeit vermengt sich ja mit den edelsten Ideen und verleiht ihnen oft eine Hartnäckigkeit, die uns sonst fehlen würde.
Erwin verreiste also ohne Verzug, um den nächsten Dampfer nicht zu versäumen, und er reiste um so gefaßter, als er Ursache zu haben glaubte, seine Frau in gutem Umgange zurückzulassen, so wie auch das Haus mit erfahrenen und ordentlichen [460] Dienstboten versehen war. Er langte wohlbehalten in der Heimat an; allein die Geschäfte wickelten sich nicht so rasch ab, wie er gehofft, und es dauerte gegen drei Vierteljahre, bis er nach Europa zurückkehren konnte. Während der Zeit genoß Regine allerdings einer hinreichenden Gesellschaft. Da waren voraus drei Damen, deren Umgange ihrem Manne zweckmäßig für sie geschienen hatte, da sie im Rufe einer großen und schönen Bildung standen; denn überall, wo es etwas zu sehen und zu hören gab, waren sie in der vordersten Reihe zu finden, und sie verehrten, beschützten alles und jedes, das von sich reden machte. Erst später erfuhr ich freilich, daß man sie in manchen Kreisen schon um diese Zeit die drei Parzen nannte, weil sie jeder Sache, deren sie sich annahmen, schließlich den Lebensfaden abschnitten. Sie waren immer in Geräusch, Bewegung und Unruhe; denn sie besaßen alle drei selbstzufriedene und gleichgültige Männer, die sich nicht um die Frauen kümmerten. Obgleich diese nicht eben sehr jung waren, umarmten sie sich doch mit stürmischer Leidenschaft, wenn sie sich trafen, küßten sich laut schallend und nannten sich Kind und süßer Engel. Auch hatten sie einander liebliche Spitznamen gegeben, und eine hieß die Sammetgazelle, die andere das Rotkäppchen, die dritte das Bienchen; die erste, weil sie das Sammetauge des genannten Tieres habe, die zweite, weil sie einst in einem lebenden Bilde jene Märchenfigur vorgestellt, die letzte, weil sie in Gärten oder Gewächshäusern keine Blume sehen konnte, ohne sie zu betasten und zu erbetteln. Trotz dieser harmlosen Schwärmerei gab es böse Leute, welche behaupteten, die Parzen führten unter sich eine Sprache wie mit allen Hunden gehetzt und von allen Teufeln geritten, ungefähr wie alte Studenten, besonders seit sie als Wahrzeichen ihres Geniewesens eine junge Malerin in ihren Verband aufgenommen hatten, die schon in allen Schulen gewesen. Eigentlich war es ein junger Maler, denn sie schneuzte wie ein kleines Kätzchen, wenn man sie Malerin sagte. Die schöne wohlklingende Endsilbe, mit welcher unsere [461] deutsche Sprache in jedem Stande, Berufe und Lebensgebiete die Frau bezeichnet und damit dem Begriffe noch einen eigenen poetischen Hauch und Schimmer verleihen kann, war ihr zuwider wie Gift, und sie hätte die verhaßten zwei Buchstaben am liebsten ganz ausgereutet. War man dagegen gezwungen, den männlichen Artikel der und ein mit ihrem Berufsnamen zu verbinden, so tönte ihr das wie Musik in die Ohren. Sie trug stets ein schäbiges Filzhütchen auf dem Kopfe und ließ das Kleid so einrichten, daß sie ihre Hände zu beiden Seiten in die Taschen stekcen konnte wie ein Gassenjunge. Diese Art Verirrung mahnt mich immer an die mittelalterliche Sage vom Kaiser Nero. Die wirklich verübten Tollheiten desselben fand sie nicht abscheulich und verrückt genug, und um das denkbar Schmählichste hinzuzufügen, ersann sie die Geschichte von seinem Gelüste nach der Geschlechtsänderung. Er habe wollen guter Hoffnung werden und ein Kind gebären und zweiundsiebenzig Ärzten bei Todesstrafe befohlen, ihm dazu zu verhelfen. Die hätten keinen andern Ausweg gewußt, als dem Scheusal einen Zaubertrank zu brauen. Weil aber der Teufel nichts Wirkliches, sondern nur Blendwerke schaffen könne, so sei Nero allerdings schwanger geworden, zu seiner großen Zufriedenheit, und habe aber dann eine dicke Kröte aus dem Munde zutage gefördert. Auch für das Tierlein sei er dankbar gewesen und habe sich voll Eitelkeit Domina und Mutter nennen lassen. Dann habe er ein großes Freudenlager errichtet, um das Geburtsfest zu begehen. Die Amme des Kindleins, in grünen, mit goldenen Vögeln gestickten Atlas gekleidet, sei mit dem Kind auf dem Schoße auf einen silbernen Wagen gesetzt worden, welchem hundert fremde Könige hätten folgen müssen nebst unendlichen Würdenträgern, Priestern und Kriegern. Und so sei der Zug unter dem Schalle der Posaunen, Flöten und Pauken hinausgegangen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine Brücke gefahren sei, unter der sich eine trübe Lache befunden, habe die Kröte das schöne Sumpfwasser gewittert und sei vom Schoße [462] der Amme hinuntergesprungen und nicht mehr gesehen worden. Auf diese Art dachte die Sage den Nero am allerärgsten zu brandmarken, und sie knüpfte an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.
In der Tat hat die Wut, sich die Attribute des andern Geschlechts anzueignen, immer etwas Neronisches; möge jedesmal die Kröte in den Sumpf springen!
Die Malerin besaß mehr Männer- als Frauenkleider; wenn sie jene auch nicht am Tage tragen durfte, so zog sie dieselben um so häufiger des Nachts an und streifte so in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle, bald das Rotkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer allmählich eintretenden größeren Korpulenz sich zuweilen in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer unter das Volk zu gehen und die unauslöschliche Neugierde zu befriedigen.
Als einst ein junger Gelehrter in öffentlichem Saale eine Reihe geistvoller Vorträge hielt, hatte Erwin seine Frau hingeführt, in der Hoffnung, daß für ihr Verständnis doch einige Brosamen abfallen und die Pforten der Bildung immerhin sich etwas weiter auf tun würden, wenn auch nur durch ahnende Einblicke. In den Saal tretend, fanden sie unter dem bescheidenern allgemeinen Publikum keinen Platz mehr und sahen sich genötigt, immer weiter nach der Vordergrunde in der Gegend der Kanzel zu dringen, wo diejenigen saßen, die überall die gleichen sind und zuvorderst zu sitzen pflegen. Da glänzten und schimmerten dicht unter den Augen des Redners richtig die drei Renomistinnen, die jedoch liebenswürdig und gefällig der schönen Fremden sogleich einen Platz zwischen sich ermöglichten, so daß Erwin froh war, die Regine untergebracht zu sehen, und sich in eine Fensternische zurückzog. Seit geraumer Zeit hatten die Parzen schon die ebenso eigenartige als geheimnisvolle Frau ins Auge gefaßt; sie benutzten jetzt die Gelegenheit, aufs freundlichste und betulichste mit ihr Bekanntschaft, ja [463] Freundschaft zu schließen, denn zu ihren Renomistereien gehörte unter anderem auch, für schöne oder sonst interessante Frauen ganz besonders zu schwärmen und solche Kreaturen mit neidloser Huldigung geräuschvoll vor aller Welt zu umgeben. Erwin sah von seinem Standorte aus mit Befriedigung, wie seine Frau so gut aufgehoben war, und als er sie nach dem Schlusse des Vortrages wieder in Empfang nahm, erwiderte er die Einladungen der Damen zu baldigem Besuche mit dankbarer Zusage. Als nicht lange hernach seine Abreise notwendig wurde, hielt er es, wie schon gesagt, für einen glücklichen Umstand, daß Regine einen so bildend anregenden Verkehr gefunden habe, und er anempfahl ihr, denselben fleißig zu suchen; mit arglosem Vertrauen gehorchte sie, obschon die wortreichen, lauten und unruhigen Auftritte und Lebensarten ihr wenigstens im Anfang nichts weniger als wohl zu behagen schienen.
Indessen verlor ich sie aus den Augen, wenigstens für den persönlichen Umgang. Ich war meinem Versprechen gemäß nach Erwins Abreise noch zwei- oder dreimal hingegangen, um zu sehen, ob ich etwas nützen könne. Schon das erste Mal waren zwei von den Renommistinnen dort anwesend; ich hörte zu, wie sie die Regine bereden wollten, auf dem im Wurfe liegenden Wohltätigkeitsbasar eine Verkaufsstelle zu übernehmen, und wie sie das Kostüm berieten. Es gelang ihnen jedoch diesmal noch nicht, ihre Bescheidenheit zu hintergehen. Später traf ich sie nicht mehr zu Hause. Die ältere Dienerin klagte, daß die Damen sie immer häufiger hinwegholten, und doch müsse man gewissermaßen jede Zerstreuung willkommen heißen, denn wenn die Frau allein sei, so sehne sie sich unaufhörlich nach ihrem Manne und weine, wie wenn sie ihn verloren hätte.
Eines Tages geriet ich zufällig in die sogenannte permanente Gemäldeaustellung. Was sah ich gleich beim Eintritt? Reginens Bildnis als phantastisch angeordneten Studienkopf, über Lebensgröße, mit theatralisch aufgebundenem Haar und einer dicken Perlenschnur darin, mit bloßen Nacken und gehüllt in [464] einen Theatermantel von Hermelin und rotem Sammet, d.h. jener von Katzenpelz und dieser von Möbelplüsch, das alles mit einer scheinbaren Frechheit gemalt, wie sie von gewissen Kunstjüngern mit unendlichem mühevollem Salben und Schmieren und ängstlicher Hand zuweilen erworben oder wenigstens geheuchelt wird.
Natürlich war der ›Studienkopf‹ das Werk der Malerin und Regine von den Parzen beschwatzt worden, derselben in ihrem Atelier aus Gefälligkeit zu sitzen. Ob sie wußten, daß die Künstlerin das Bild ausstellen und verkaufen wollte, kann ich nicht sagen; Regine wußte es jedenfalls nicht, wie mich ihre Haushälterin versichterte, als ich hinging, um jene zu sprechen, aber nur diese antraf. Denn ich hatte bemerkt, daß das Bild bereits von einem Händler angekauft war, der Gemäldetransporte nach Amerika lieferte. – Die Geschichte gefiel mir keineswegs, und ich schwankte, ob ich dem Erwin Altenauer schreiben solle oder nicht. Allein die drei Renommistinnen galten trotz ihrer wunderlichen Aufführung für ehrbare Frauen und waren es wohl auch, und sie machten nicht unansehnliche Häuser. Der Mann der Gazelle war ein großer Sprithändler, derjenige des Rotkäppchens ein Justiz rat, der vierzehn Schreiber beschäftigte, und der Mann des Bienchens der oberste Regent über die vierzig Töchterschulen der Provinz, der zudem eine polyglotte Riesenchrestomathie herausgab, alles bedeutende Gewährleistungen für die Ehrbarkeit, während ich selber ein unerfahrener und unbedeutender Mensch war.
Ich sah die gute Regine nun nicht mehr als etwa in einer Theaterloge inmitten ihrer Beschützerinnen, welche vor Vergnügen glänzten, wenn sie durch die schöne Erscheinung die Augen des ganzen Hauses auf sich lenken konnten. Auch empfingen sie genugsamen Herrenbesuch. Regine schien mir das eine Mal traurig und gedrückt zu sein; das andere Mal aber schien sie aufzutauen und eine wachsende Sicherheit und Munterkeit des Benehmens zu zeigen. Vielleicht, dachte ich, ist das gerade, was [465] Erwin wünscht, und die drei Gänse haben am Ende nichts Böses zu bedeuten.
Ein einziges Mal vor Erwins Rückkunft sprach ich seine Frau noch näher in vertraulicher Weise und sah sie sogar während eines ganzen Tages. Der Monat Juni war gekommen und das prächtigste Sommerwetter im Lande. Da bat sie mich eines Tages in einem zierlichen Briefchen, bei ihr vorzusprechen, und als ich kam, teilte sie mit, es sei von ihren Freundinnen und deren Freunden eine große Landpartie verabredet, die zu Wagen gemacht werden sollte. Nun wolle ihr die Sache doch nicht recht gefallen, und sie wünsche wenigstens einen guten Freund und Bekannten ihres Mannes und ihres eigenen Hauses dabei zu wissen, weil ihr ja manche von den Teilnehmern weder vertraut genug noch sonst angenehm seien. Sie glaube im Sinne Altenauers zu handeln, wenn sie so verfahre; denn sie wisse, daß er etwas auf mich halte usw. Sie habe daher kurzweg angekündigt, sie werde mich als ihren besondern Begleiter mitbringen, und sie bitte mich nun, wenn ich ihr den Gefallen erweisen wolle, einen Wagen zu bestellen und sie zur bestimmten Stunde abzuholen und auf den Sammelplatz zu bringen. Man habe allerdings ihren Wunsch teilweise dadurch gekreuzt, daß ich sofort zum Kavalier der jungen Malerin bestimmt worden sei, wozu ich mich vortrefflich eigne; doch hoffe sie, die Regine, daß ich mich wohl zuweilen werde losmachen und ein bißchen mit ihr plaudern könne.
Ich sagte mit Freuden zu und nahm mir vor, den weiblichen Schmierteufel von Maler je eher, je lieber hinzusetzen und mich an die Frau Altenauer zu halten. Als ich diese dann holte, fand ich es ehrenvoll, an ihrer Seite zu fahren; sie war in hellfarbigen duftigen Sommerstoff gekleidet und in jeder Beziehung einfach, aber tadellos ausgerüstet. Sie räkelte sich nicht in der Wagenecke herum, sondern saß mit ihrem Sonnenschirme in anmutiger Haltung aufrecht, während die Malerin, die später uns beigesellt wurde, sich so fort zurückwarf und die Beine übereinanderschlug.[466] Auch die übrigen Damen erschienen, als wir den Sammelplatz erreichten, alle in heiterer Sommertracht, weiß oder farbig, und auch die Herren hatten sich mit Hilfe der Mode so schäferlich als möglich gemacht. Nur die Malerin war wie eine Krähe; sie steckte in einem trostlos dunklen, nüchternen und schlampigen Kleide, mit der beleidigenden Absicht, ja keinen Anspruch auf weibliche Anmut und Frühlingsfreude machen zu wollen. Statt des Filzes trug sie freilich ein Strohhütchen auf dem Kopfe, aber ein schwarzgefärbtes, das von den feinen weißen Florentinerhüten der andern Frauenzimmer schustermäßig abstach. Von einer freien Locke oder Haarwelle war nichts zu sehen; gleich einem Kranze von Schnittlauch trug sie das gestutzte Haar um Ohren und Genick. Was werden das für traurige Zeiten sein, wenn es so kommt, daß mit den lichten Kleidern und den fliegenden Locken der jungen Mädchen und Frauen die Frühlungslust aus der Welt flieht!
Ich wurde von der Gesellschaft nicht unartig aufgenommen; da aber durch den von mir mitgebrachten Wagen überschüssiger Raum gewonnen war, setzte man uns, wie bemerkt, die Malerin herein mit der Anzeige, daß das meine Schutzbefohlene sei. Als man abfuhr und die Kutschen im Freien rollten, zog der Künstler ungesäumt ein Stück Brot und ein paar Äpfel aus der Tasche und biß hinein; denn er hatte noch nicht gefrühstückt, wie er sagte, und er genoß immer nur rohes Obst und Brot des Morgens, weil es das Billigste war. Das tat er nicht aus Armut, sondern aus Geiz; denn er verstand es sehr wohl, gehörig Geld zu verdienen, und studierte auch nichts mehr, seit das Geld einging. Beim Erwerbe aber wußte sie, um ihrem Geschlechte jetzt wieder die Ehre zu geben, sich sehr unschüchtern überall vorzudrängen, und hier nahm sie urplötzlich die Rücksichten auf das Geschlecht von jedermann in Anspruch. Der rohe Äpfelschmaus, wobei sie Kerne und Hülsenstücke über die Wagenwand hinausspuckte, ärgerte mich dergestalt, daß ich beschloß, sie jetzt schon zu verscheuchen. Ich begann ein Gespräch über die Künstlerinnen [467] im allgemeinen und einige merkwürdige Erscheinungen im besondern, und ich lobte vorzüglich diejenigen, welche neben ihrem Rufe in den schönen Künsten zugleich des unvergänglichen Ruhmes einer idealen Frauengestalt mit heiterem oder tragischem Schicksale genossen. Zuletzt schilderte ich den lieblichen Eindruck, den das Bildnis der Angelika Kauffmann, von ihr selbst gemalt, auf mich gemacht habe, den blühenden Kopf mit den vollen reichen Locken von einem grünen Efeukranze umgeben, der Körper in weißes Gewand gehüllt, und ich vervollständigte die Gestalt, indem ich sie begeistert an die Glasharmonika setzte, das Auge emporgehoben, und rings um sie her die edelste römische Gesellschaft gruppierte, welche den ergreifenden Tönen lauschte.
›Das sind tempi passati‹, unterbrach mich die Malerin, ›jetzt haben wir Künstler anderes zu tun als Glasglocken zu reiben und mit Efeukränzchen zu kokettieren!‹
›Das sehen wir wohl!‹ sagte ich mit einem Seufzer, ›aber es war doch eine schönere Zeit!‹
Sobald nun die Wagen den ersten Halt machten, stieg, um ein stattliches Maskulinum zu gebrauchen, der Unhold aus und mischte sich unter die Gesellschaft, ohne mich weiter anzusehen. Damit war es freilich noch nicht getan. Eben als Frau Regine sich freute, von der Malerin erlöst zu sein, gegen die sie einen unerklärlichen Widerwillen empfinde, kamen die Parzen herbei und stellten den für heute ihr bestimmten Kavalier vor, einen jungen Herrn von der brasilianischen Gesandthschaft mit einem langen, aus vielen Wörtchen bestehenden Grafentitel, er selbst lang und schlank wie ein alter Ritterspeer, pechschwarz und blaß, mit der schönsten graden Nase und glühenden Augen. Er war die neueste Schwärmerei der drei Parzen, und weil er gewünscht hatte, mit der schönen Regine bekannt zu werden, brachten sie ihn unverzüglich mit ihr zusammen, womit sie zu erreichen hofften, daß beide interessante Erscheinungen zugleich in ihrer Umgebung gesehen würden.
[468] Als Wirt des Wagens mußte ich dem Herren natürlich den guten Sitz neben meiner Dame einräumen, die eigentlich nun seine Dame wurde. Er benahm sich übrigens durchaus artig und ernst, ja nur zu ernsthaft nach meiner Meinung, da dies auf weitgehende verwegene Absichten deuten konnte. Regine war still, soviel an ihr lag; sie beantwortete aber seine Anreden mit freiem Anstande, und da der Brasilianer nicht Deutsch und nicht viel mehr Englisch oder Französisch verstand als sie, so blieb die Unterhaltung von selbst in bescheidenen Schranken. Das Ziel der Fahrt war der neben einem fürstlichen Landschlosse liegende Meierhof, wo eine gute Wirtschaft für Stadtleute betrieben wurde und die unbenutzten Räume, die Rasengründe, Gehölze und Alleen der anstoßenden Gärten zur Verfügung standen. Nachdem das gemeinschaftliche Frühstück eingenommen, zerstreute sich die Gesellschaft für den übrigen Teil des Vormittages zum freien Ausschwärmen und verlor sich nach allen Seiten in den reizenden Gärten. Allein Regine ließ mich keineswegs von meiner Seite; immer wußte sie mich für irgend etwas in Anspruch zu nehmen und herbeizurufen, und da zuletzt die Absicht offenbar wurde, daß nicht der Südländer, sondern ich als ihr dienstbarer Geist gelten und genannt werden sollte, so zog sich der Graf mit der besten Art von der Welt ein wenig zurück, ohne Aufsehen zu erregen; er schloß sich andern Gruppen an, deren Wege die unsrigen kreuzten, kam zuweilen wieder, um einige artige Worte zu wechseln und sich abermals zu entfernen, als ob er es eilig hätte, auch anderswo gegenwärtig zu sein. Es gab auch zu tun für ihn; so mußte er einen scheltenden Gärtner beschwichtigen, als Bienchen aus einem Treibhause schon ein paar prächtige Blumen ohne weiteres hervorgeholt hatte, obgleich die freie Luft von Blütenduft geschwängert war und der Boden von Farben glänzte.
Mich aber ergriff jetzt Regine unversehens beim Arme und zog mich raschen Schrittes beiseite, bis wir auf einmsamere Schattenwege gelangten. Jetzt öffnete sie auf einmal ihr Herz: sie [469] habe sich auf diesen Tag gefreut, um sich von Erwin satt sprechen zu können. Die anderen Frauen sprächen nie von ihren Männern, und auch von dem ihrigen, nämlich Erwin, täten sie es nur, um alles mögliche auszufragen und ihre Neugierde nach Dingen zu befriedigen, die sie nichts angingen. Da schweige sie lieber auch. Mit mir aber, der ich ein guter Freund und ja ein Landsmann sei, wolle sie nun reden, was sie freue. Sie fing also an zu plaudern, wie sie auf seine baldige Ankunft hoffe, wie gut und lieb er sei, auch in den Briefen, die er schreibe; was er für Eigentümlichkeiten habe, von denen sie nicht wisse, ob sie andere gebildete oder reiche Herren auch besitzen, die sie aber nicht um die Welt hingeben möchte; ob ich viel von ihm wisse aus der Zeit, ehe sie ihn gekannt? Ob ich nicht glaube, daß er glücklicher gewesen sei als jetzt, und tausend solcher Dinge mehr. Sie redete sich so in die Aufregung hinein, daß sie schneller zu gehen und zu eilen begann, wie wenn sie ihn gleich jetzt zu finden gedächte, und so gelangten wir unerwartet auf einen freien sonnigen Platz, der einen kleinen Teich umgab. In der Mitte des letztern erhob sich eine flache goldene Schale, aus welcher das Wasser über ein großes Bouquet frischer Blumen so sanft und gleichmäßig herabfiel und so ohne jedes Geräusch, daß es vollkommen aussah, als ob die schönen Blumen unter einer leise fließenden Glasglocke ständen, die von der Sonne durchspielt war. Regine hatte diese Wasserkunst noch niemals gesehen. ›Wie schön!‹ rief sie stillstehend; ›wie ist es nur möglich, das hervorzubringen?‹
Unwillkürlich setzte sie sich auf eine Bank, dem artigen Wunder gegenüber, und schaute unverwandt hin. Ein seliges Lächeln spielte ebenso leis um den Mund wie das Wasser um die Blumen, und ich sah wohl, daß die lebendige Kristallglocke, die so treu die Rosen schützte, die Gedanken der Frau nur wieder auf den Mann zurückgewendet hatte. Wie ich so neben ihr stand und sie meinerseits voll Teilnahme betrachtete, ohne daß sie dessen inne ward, fühlte ich mich innig bewegt. Ich hätte vormals [470] nie geglaubt, daß es eine so reine Freude geben könnte, wie diejenige ist, in die Liebe einer holden Frau zu einem Dritten hineinzusehen und ihr nur Gutes zu wünschen!
Aber unvermerkt nahm ich wahr, wie die stille Heiterkeit sich wandelte, leise, leis! und einer immer dunkler werdenden Schwermut Raum zu geben schien. Die Lippen blieben leicht geöffnet, wie sie es im Lächeln gewesen, aber mit bekümmertem Ausdruck. Das Haupt senkte sich ein weniges, wie von tiefem Nachdenken, und endlich fielen schwere Tränen ihr aus den Augen.
Betroffen weckte ich sie aus diesem Zustande, indem ich mir erlaubte, die Hand leicht auf ihre Schulter zu legen und zu fragen, was ihr so Trauriges durch den Sinn fahre? Sie schrak zusammen, suchte sich zu fassen, und aus den paar Worten, die sie stammelte, ahnte ich, daß erst das Heimweh nach dem Manne sie ergriffen und dann der Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Dauer ihres Glückes sie beschlichen hatte. Ich bestrebte mich, sie durch einige zuversichtliche Scherzworte aus der verzwickten Stimmung herauszubringen. Sie wurde auch wieder ruhig und unbefangen, und als wir weitergehend bald darauf dem Brasilianer begegneten, der uns suchte, um uns zur Mittagstafel zu holen, die unter Bäumen schon bereitstehe, empfing sie ihn mit Freundlichkeit. Von dem bescheiden dienstfertigen Wesen des hübschen Ritters bestochen, schien sie ihre frühere Härte gutmachen zu wollen und nahm seinen Arm an für den kurzen Weg, den wir bis zum Orte des Speisevergnügens noch zurückzulegen hatten, und sie duldete sogar seine Gesellschaft und Bedienung bei Tische, was er in tadellosester Weise benutzte. Dagegen entzog sie sich den üblichen Lauf-, Spring- und Lärmspielen, welche später beliebt wurden, und nahm mich unverhohlen abermals in Anspruch, was mich bei aller Teilnahme und guten Freundschaft, die ich für sie empfand, doch nachgerade ein wenig zu demütigen begann, da ich mir beinahe wie ein unbedeutendes junges Vetterlein vorkam, das ein stolzes [471] Mädchen als Bedeckung mit sich führt. An dem großen Kaffeekränzchen, das dann unter erneuter Lustbarkeit abgehalten wurde, nahm sie wiederum teil und versorgte jetzt den immer gleichen Südländer selbst mit Kaffee und Kuchen. Als es dann zur Heimfahrt ging, mußte ich natürlich den Herrn wieder in unsern Wagen bitten, zumal unter den übrigen Gruppen verschiedene Spannungen entstanden waren. Insbesondere die Renommistinnen schmollten alle drei etwas mehr oder weniger, aus welcher Ursache, blieb mir unbekannt; ich hörte nur das halblaute Wort eines Fahrtgenossen, es pflege so das gewöhnliche Ende aller Landpartien zu sein, die jene anstellten. Indessen glaubte ich mehr als einmal während des Tages das Phänomen bemerkt zu haben, daß eine gewisse innere Unruhe und Unzufriedenheit durch alle Lustbarkeit ging, wie ein heimlicher Lufthauch im welkenden Laub zittert und raschelt, oder wie es im Liede von einer Gesellschaft von Männer und Frauen heißt, die in einer Lustgondel auf stillem Wasser fahren:
Die Herzen schlagen unruhvoll,
Kein Auge blickt wohin es soll!
und die einzige Regine schien die ruhigste Person von allen zu sein.
Doch machte ihr die sinkende Sonne, die wir vom Wagen aus so schön niedergehen sahen, und die mählich eintretende Dämmerung, welche die Kinder und Volksfrauen gern gesprächig und munter macht, viel Vergnügen; sie plauderte ordentlich und in einer Stunde mehr, als sie seit dem Vormittage gesprochen hatte, und erst als es vollends dunkel wurde und die Sterne nacheinander aufgingen, wurde sie stiller und schwieg zuletzt ganz.
Der Graf flüsterte mir auf französisch zu, er glaube, daß Madame schlafe. Sie sagte aber ganz vergnügt: ›Ich schlafe nicht!‹ Und als wir endlich an ihrem Hause vorfuhren, nachdem die Gesellschaft ziemlich ohne Abschied auseinandergerasselt [472] war, und sie von ihrer kleinen Dienerschaft, die mit Lichtern im Torwege stand, empfangen wurde, schüttelte sie uns beiden ganz herzhaft die Hände zum Abschied, so gutes Vertrauen schien sie jetzt wieder zur Weltordnung gefaßt zu haben.
Der Brasilianer und ich waren nicht minder zufrieden, als vernünftige und ordentliche Leute, die einen guten Eindruck davontrugen, und wir wurden einig, zusammen noch eine wohlberufene Weinstube zu besuchen und uns bei einer ruhigen Zigarre etwas Gutes zu gönnen. Wir stießen auf das Wohl der schönen Frau mit einigen lobenden Worten an, der Graf wie ein ruhiger und anständiger Kenner, und ich machte ihm es großartig nach, worauf wir nicht mehr davon sprachen, sondern uns der Betrachtung des nächtlich angeheiterten Weltlaufes überließen. Doch sprach der des Trinkens nur mäßig gewöhnte Südländer dem Weine nicht eifrig zu; ich mußte das Beste tun, und so trennten wir uns nach ausgerauchter Zigarre schon vor zehn Uhr. Der schwarzäugige Graf suchte seine Wohnung auf; ich aber verfügte mich, zur Schande meiner Jugendjahre sei es gestanden, schleunig noch in eine neun Schuh hohe Bierhalle, wo junge deutsche Männer saßen, die einst Studenten gewesen und sich langsam und vorsichtig der braunen Studentenmilch entwöhnten.
Ich hielt es am andern Tage für schicklich, der Frau Regine einen Besuch abzustatten. Als ich an ihrer Türe die Glocke zog, öffnete mir die ältere Dienerin oder Haushälterin, oder wie man die Person nennen will, die von allem etwas vorstellte und versah. Zu meiner Verwunderung betrachtete sie mich mit einem unheimlich ernsten Gesichte, das zugleich von quälender Neugierde eingenommen schien. Sie besah mich vom Fuß bis zum Kopfe und ließ den Blick über diesen hinaus noch weiter in die Höhe gehen, als ob sie in dem Luftraume über mir nach etwas suchte. Sie schüttelte unbewußt den Kopf, brach aber das Wort, das sie zu sagen im Begriff war, ab und wies mich kurz in das [473] Zimmer, wo die Frau sich aufhielt. Hier befiel mich ein neues Erstaunen, ja ein völliger Schrecken. Im Vergleich mit dem blühenden Zustande, in welchem ich die Regine am vorigen Tage gesehen, saß sie jetzt in einer Art Zerstörung am Fenster und vermochte sich kaum zu erheben, als ich eintrat; sie ließ sich aber gleich wieder auf den Stuhl fallen. Das Antlitz war totenbleich, überwacht und erschreckt, beinahe gefurcht; die Augen blickten unsicher und scheu, auch fand sie kaum die Stimme, als sie meinen Gruß erwiderte. Besorgt und fast ebenso tonlos fragte ich, ob sie sich nicht wohl befinde? ›Allerdings nicht zum besten‹, antwortete sie mit einem müden und erzwugenen Lächeln, das aus einem rechten Elende hervorkam; aber sie versuchte kein Wort der Erklärung hinzuzufügen, und nachdem sie in einem kurzen richtungslosen Gespräche sich und mich furchtsam überwacht hatte, begab ich mich in der sonderbarsten Verfassung von der Welt wieder nach Hause. Denn ich war so verdutzt und unbehaglich im Gemüte, ohne mir irgendeine Rechenschaft darüber geben zu können, daß ich vorzog, allein zu bleiben. Kaum saß ich aber eine kleine Stunde bei meinen Büchern, so klopfte es an die Türe, die Altenauersche Haushälterin kam herein, stellte einen Korb mit Markteinkäufen neben die Türe und setzte sich, kurz um Erlaubnis bittend, auf einen Stuhl, der unweit davon an der Wand stand.
›Sie sind noch ein junger Mann‹, sagte sie, ›aber Sie kennen meine Herrschaft von früher her, und ich weiß, daß der Herr etwas auf Sie hält. Da kann ich mir nicht anders helfen und muß mich Ihnen anvertrauen, ob Sie einen Rat wissen in der schwierigen Sache, die mich bedrückt!‹
Immer mehr betroffen und verwirrt fragte ich, was es sei und was denn vorgehe?
Nachdem sie sich etwas verschnauft und sich zögernd besonnen, sagte sie: ›Gestern nachts, als ich in meinem Schlafzimmer, das außerhalb unserer abgeschlossenen Wohnung in einem Zwischengeschosse liegt, noch wach war und eine zerrissene [474] Schürze flickte, es mochte schon zehn Uhr vorüber sein, hörte ich an der Flurtüre sachte klingeln, so daß die Glocke nur einen einzigen Ton von sich gab. Ich horchte auf; dann hörte ich, wie der inwendig steckende Schlüssel umgedreht und die Türe geöffnet, zugleich aber ein halbunterdrückter Ausruf oder Schrei ausgestoßen wurde. Da ging ich, immer horchend, nach meiner Türe und machte sie auf, um zu sehen, was es denn so spät noch gebe. In diesem Augenblicke aber sah ich einen Lichtschein verschwinden und die Flurtüre sich schließen, und der Schlüssel wurde zweimal gedreht. Ich eilte hin, um wieder zu horchen, da ich doch einigermaßen besorgt war. Ich hörte nur noch ein kleines Getrappel von Schritten und darauf eine der inneren Türen zugehen, worauf ich nichts mehr vernehmen konnte. Endlich dachte ich, es müsse die Köchin oder das jüngste Mädchen sein, das noch einen Auftrag oder ein Anliegen gehabt. Ich ging also wieder in mein Zimmer und bald darauf schlafen. Vor Tagesanbruch erwachte ich über einem kurzen Gebell des großen Hundes, welchen die über uns wohnende Herrschaft auf ihrem Flur liegen hat. Wieder hörte ich eine Türe gehen; ernstlich beunruhigt, stellte ich mich schnell auf die Füße, öffnete ein weniges meine Türe und sah hinaus. Ein großer Mann, höher als Sie sind, Herr Reinhart, ging nach der Treppe zu, mit schwerem Gange, obgleich er so behutsam als möglich auftrat. Ich konnte aber nichts Deutliches von ihm sehen, es war eben nur wie ein riesiger Schatten, da meine Frau, wie mir schien auf zitternden Füßen, mit dem Nachtlämpchen vor ihm herschwankte und das Licht mit der Hand so bedeckte, daß nach rückwärts kein Schein fallen konnte. So ging's die Treppe hinunter, das Haustor wurde geöffnet und geschlossen, die Frau kam wieder heraufgestiegen, vor ihrer Türe hielt sie einen Augenblick an und tat einen tiefen Seufzer; dann verschwand sie, und alles ward wieder still. Dann schlug es zwei Uhr auf den Türmen. Die Frau war, soviel ich sehen konnte, in ihrem Nachtgewande.
Begreiflich fand ich keinen Schlaf mehr. Die Laterne in unserm [475] Treppenhaus wird Punkt zehn Uhr gelöscht und das Tor geschlossen; der Mensch, oder was es war, mußte also sich vor dieser Zeit ins Haus geschlichen haben oder dann einen Hausschlüssel besitzen. Als ich um die fünfte Morgenstunde schellte, tat mir die Frau die Türe auf, nach der während der Abwesenheit des Herren eingeführten Ordnung; denn wenn er da ist, so wird der Flurschlüssel nicht inwendig umgedreht, damit ich des Morgens selbst öffnen kann und nicht zu läuten brauche. Die Frau zog sich aber wie ein Geist sogleich wieder in ihr Schlafzimmer zurück. In den von der Sonne erhellten Zimmern bemerkte ich wenig Unordnung. Einzig in dem Eßzimmer stand das Büfett geöffnet; eine Karaffe, in der sich seit Wochen ungefähr eine halbe Flasche sizilianischen Weines fast unverändert befunden hatte, war geleert, das vorhandene Brot im Körbchen verschwunden und ein Teller mit Backwerk säuberlich abgeräumt. Auf dem Tische sah ich den vertrockneten Ring von einem überfüllten Weinglase, auf dem Boden einige Krumen; der Teppich vor dem Sofa war von unruhigen Füßen verschoben, von bestäubten Schuhen befleckt.
Als die Frau später zum Vorschein kam, war sie verändert, wie Sie ja wohl selbst gesehen haben. Nicht ein Wort hat sie verlauten lassen, und ich habe bis jetzt noch nicht gefragt und weiß nicht, was ich tun soll; ich weiß, es ist ein fremder Mann über die Nacht dagewesen und heimlich wieder fort. Ich kann das Geheimnis nicht aufdecken und doch dem braven Ehemanne gegenüber nicht die Mitwisserin und Hehlerin eines Verbrechens sein! Und ich kann das arme schöne Geschöpf auch nicht ohne weiteres zugrunde richten. Was denken Sie nun hiervon, Herr Reinhart, was zu tun sei?‹
Ich war wie erstarrt. Sorge und Entrüstung für Erwin Altenauer, aber zugleich auch tiefes Mitleid mit dem Weibe, wenn es wirklich schuldig sein sollte, durchstürmten mich, als ich mich einigermaßen besann. Ich dachte unwillkürlich an den Brasilianer und fragte die ganz verstörte Haushälterin, wie denn der[476] Fremde gekleidet gewesen sei, ob fein oder gewöhnlich? Sie beharrte aber darauf, daß sie nichts habe erkennen können; nur einen breiten, tief ins Gesicht hängenden Schlapphut glaube sie gesehen zu haben.
Ich grübelte und schwieg einige Zeit, während die redliche Person verschiedene Male merklich stöhnte, so nahe ging ihr die Sache, und ich konnte daraus ersehen, wie sehr sie an der Frau gehangen hatte, die jetzt so unglücklich war. Diese Erkenntnis verstärkte meine eigene Teilnahme. Endlich sagte ich: ›Wir müssen uns, glaube ich, in den Fall versetzen, wo in einem Hause gebildeter Leute ein Gespenst gesehen worden ist oder gar eine fortgesetzte Spuk- und Geistergeschichte rumort hat. Die schreckhaften Dinge, Erscheinungen, Poltertöne sind nicht mehr zu leugnen, weil vernünftige und nüchterne Personen Zeugen waren und sie zugeben müssen. Allein obgleich keine natürliche Erklärung, kein Durchdringen des Geheimnisses für einmal möglich ist, so bleibt doch nichts anderes übrig, als an dem Vernunftgebote festzuhalten und sich darauf zu verlassen, daß über kurz oder lang die einfache Wahrheit ans Tageslicht treten und jedermann zufriedenstellen wird. So müssen auch wir den unerklärlichen Vorgang auf sich beruhen lassen, überzeugt oder wenigstens hoffend, die Rechtlichkeit der Frau werde sich so unwandelbar herausstellen wie ein Naturgesetz.‹
Die gute Dienerin, die mehr an Gespenster als an Naturgesetze glauben mochte, schien durch meine Worte nicht aufgerichtet zu werden; doch gelobte sie mir auf mein Andringen, gegen jedermann ohne Ausnahme das Geheimnis zu wahren und schweigend zu erwarten, wie es mit der Frau weitergehen wolle.
Ich selbst war keineswegs beruhigt. Immer fiel mir der lange Brasilianer wieder ein, wie ein Dolchstich. Sollte doch gestern ein rasches Einverständnis stattgefunden haben, als Abschluß längern Widerstandes und fortgesetzter Verführungskünste? Und wenn der Verführer vielleicht wirklich ins Haus gedrungen [477] ist, muß er denn wirklich gesiegt haben? Aber seit wann trinken feine Herren, wenn sie auf solche Abenteuer ausgehen, so viel süßen Wein, und seit wann frißt ein vornehmer Don Juan so viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn er Hunger hat? Der erst recht!
Kurz, ich wurde nicht klug daraus. Nach Tisch wollte ich den schwarzen Grafen in einem Gartencafé aufsuchen, in welchem jüngere Leute seiner Gesellschaftsklasse sich eine Stunde aufzuhalten pflegten. Ich dachte wenigstens zu beobachten, was er für ein Gesicht machte. Allein ich kam von der Idee zurück, sie widerte mich an, und was hatte ich mich dareinzumischen? Dafür traf ich ihn von selbst auf einer Promenade mit andern Herren. Er grüßte mich genauso ruhig, gesetzt und unbefangen, wie er mich gestern verlassen.
Nach der Regine getraute ich mir vorderhand nicht mehr zu sehen. Das sind Dinge, die du am Ende nicht zu behandeln verstehst, noch zu verstehen brauchst! sagte ich mir. Einige Tage später ging ich in das Theater und sah Reginen in der Loge der drei Parzen sitzen und hinter ihr den Grafen. Die Parzen spiegelten sich offenbar in dem Bewußtsein, aller Augen auf sich gerichtet zu sehen. Der Graf saß ruhig und unterhielt sich höflich mit den Damen; Regine war blaß und schien unzweifelhaft mehr hergeschleppt worden, als freiwillig gekommen zu sein. Es wurde Maria Stuart gegeben. Gegen den Schluß des Trauerspiels betrachtete ich die Loge von meinem dunklen Winkel aus durch das Glas, während die Augen des ganzen Hauses auf die Bühne gerichtet waren, wo Leicester die Hinrichtung der Maria belauschte, die unter seinen Füßen vor sich ging. Der Schauspieler war ein dummer Geck, der in seinem weißen Atlaskleide die kümmerlichsten Faxen machte, weshalb ich auch meine Blicke von ihm abgewendet hatte. Aber Regine, welche bis dahin, wie ich gut gesehen, der Handlung nur mit mühseliger Teilnahme gefolgt war, blickte jetzt mit einer wahren Seelenangst hin, und als der Schauspieler das Fallen des Hauptes mit [478] einem ungeschickten Umpurzeln anzeigte, zuckte sie schrecklich zusammen, so daß der Graf sie einen Augenblick lang aufrecht halten mußte. Sonst hatte vielleicht niemand den Vorfall bemerkt.
Endlich kam die Nachricht, Erwin sei auf der Rückreise begriffen. Ich will, was noch zu erzählen ist, so folgen lassen, wie es sich teils für ihn entwickelt hat, teils mir durch ihn später bekannt wurde. Die Geschäfte hatten ihn zuletzt nach New York geführt, wo er sich dann einschiffte. Dort war er in die Verkaufsräume eines Kunsthändlers getreten, der nebenbei ein Lager von amerikanischen Gewerbserzeugnissen eleganter Art hielt; er wollte nur schnell nachsehen, ob sich etwas für Reginen Geeignetes und Erfreuliches fände. Indem er das auf einem Tische ausgebreitete glänzende Spielzeug musterte, wurde sein Blick durch ein starkfarbiges Bild seitwärts gezogen, das an der Wand unter andern Sachen hing, die alle mit der Bezeichnung ›Neue deutsche Schule‹ versehen waren. Sobald er nun hinsah, kam es ihm vor, als ob das seine Frau wäre. Die rechte Persönlichkeit und Seele fehlten zwar dem Bild, und der fremdartige Aufputz machte die zweifelhafte Ähnlichkeit noch fraglicher; es konnte sich um einen allgemeinen Frauentypus, um ein Spiel des Zufalls handeln. Allein Regine hatte ihm ja geschrieben, daß sie einer talentvollen Künstlerin zum Studium gesessen sei; hier stand der Name der Malerin mit großen Buchstaben auf dem Bilde geschrieben, der Vorname freilich in einer Abkürzung, die ebensowohl einen männlichen wie einen weiblichen Vornamen bedeuten konnte; hingegen war die Stadt und die Jahrzahl zutreffend. Erwin fühlte sich, trotz dem blitzartigen Eindruck von Lust, den ihm der unerwartete Anblick verursacht hatte, gleich darauf ganz widerwärtig berührt. Nicht nur, daß das Bildnis seiner Gattin als Verkaufsgegenstand herumreiste, auch die komödienhafte Tracht und die Aufschrift ›Studienkopf‹, als ob es sich um ein käufliches Malermodell handelte, kurz, der ganze Vorgang verursachte ihm, je länger er darüber [479] dachte, den größten Ärger. Doch verschluckte er den, so gut er konnte, und erhandelte das Bild mit möglichst gleichgültiger Miene, ohne ahnen zu lassen, wie nah ihm das Original stehe. Er ließ es verpacken und sandte es Boston, eh er zu Schiffe ging, nicht ohne den Vorsatz, ein wenig nachzuspüren, wer eigentlich an der begangenen Taktlosigkeit die Schuld trage. Denn diese maß er keineswegs der Regine bei, obgleich er bei dem Anlaß einen kleinen Seufzer nicht unterdrücken konnte, ob diese höhere, diese Taktfrage der Bildung (oder wie er die Worte sich stellen mochte) sich bis zu der immer näher rückenden Heimführung auch noch vollständig lösen werde?
Nun, er kam also eines schönen Julimorgens an. Er war die Nacht über gefahren, um schneller da zu sein. Als er den Torweg betrat, sah er durch eine offen Türe die Hausdienerschaft auf dem Hofe um einen Milchmann versammelt und freute sich, seine Frau unversehens überraschen zu können. Die Wohnung stand offen und ganz still und er ging leise durch die Zimmer. Verwundert fand er im Gesellschaftssaal eine große Neuigkeit: auf eigenem Postamente stand ein mehr als drei Fuß hoher Gipsabguß der Venus von Milo, ein Namenstagsgeschenk der drei Parzen; jede von ihnen besaß einen gleichen Abguß, der zu Dutzenden in Paris bestellt wurde; denn es war eine eigentümliche Muckerei im Kultus dieses ernsten Schönheitsbildes aufgekommen; allerlei Lüsternes deckte sich mit der Anbetung des Bildes, und manche Damen feierten gern die eigene Schönheit durch die herausfordernde Aufrichtung desselben auf ihren Hausaltären.
Erwin betrachtete einige Sekunden die edle Gestalt, die übrigens in ihrem trockenen Gipsweiß die Farbenharmonie des Saales störte. Aber wie überrascht stand er eine Minute später unter der Türe des Schlafzimmers, das er leise geöffnet, als er eine durchaus verwandte, jedoch von farbigem Leben pulsierende Erscheinung sah. Den herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften eine damaszierte Seidendraperie von blaßgelber [480] Farbe geschlungen, die in breiten Massen und gebrochenen Falten bis auf den Boden niederstarrte, stand Regine vor dem Toilettenspiegel und band mit einem schwermütigen Gesichtsausdrucke das Haar auf, nachdem sie sich eben gewaschen zu haben schien. ›Welch ein Anblick!‹ hat er später noch gesagt. Freilich weniger griechisch, als venezianisch, um in solchen Gemeinplätzen zu reden.
Aber auch welche Gewohnheiten! Wie kommt die einfache Seele dazu, auf solche Weise die Schönheit zu spiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Woher hat sie das große Stück unverarbeiteten Seidendamast? Ist sie mittlerweile so weit in der Ausbildung gekommen, daß sie so üppige Anschaffungen macht, wie ein solcher Stoff ist, nur um ihn des Morgens um die Lenden zu schlagen während eines kleinen Luftbades? Und hat sie diese Künste für ihn gelernt und aufgespart?
Diese Gedanken jagten wie ein grauer Schattenknäuel durch sein Gehirn, nur halb kenntlich; sie zerstoben jedoch gänzlich, als er den Ausdruck ihres Gesichtes im Spiegel sah und sie ungesäumt beim Namen rief, um den Kummer zu verscheuchen, den er erblickte. Das war seine nächste treue Regung. Sie lag nun glückselig in seinen Armen und alles ging in den ersten paar Stunden, bis sie sich etwas ausgeplaudert, gut vonstatten, auch das kleine Verhör wegen des Aufzuges, in welchem er sie getroffen. Errötend und mit verfinsterten Augen erzählte sie, man habe ihr nicht Ruhe gelassen, bis sie der bewußten Malerin für eine Studie hingestanden; das sei eine wahre Pflichterfüllung, eine Gewissenssache und durchaus unverfänglich und alles bleibe unter ihnen, d.h. den Freundinnen, von welchen eine der Malstunde beigewohnt habe. Nun, da man ein solches Wesen von ihrem Wuchse gemacht und sie den Damast einmal gekauft und bezahlt, habe sie gedacht, das erste Anrecht, sie so zu sehen, wenn es doch etwas Schönes sein solle, gehöre ihrem Mann, und darum habe sie sich schon seit ein paar Tagen [481] daran zu gewöhnen gesucht, das Tuch ohne die Malerin in gehöriger Weise umzuschlagen und festzumachen. Es sei auch nur ein kleines Bildchen gemacht worden.
Aber wo es denn sei? fragte der Mann, seinerseits errötend. Ei, die Malerin habe es mitgenommen, es sei ja ein Frauenzimmer, erwiderte Regine betreten. Überdies wolle es eine der drei Freundinnen als Andenken in Anspruch nehmen. Erwin sah die Unerfahrenheit und Unschuld der guten Regine oder glaubte jetzt wenigstens daran, nahm sich aber doch vor, die seltsamen Damen aufzusuchen und sich das Bild zu verschaffen. Den ersten Tag blieb er zu Hause; eh es Abend wurde, war Regine mehr als einmal von neuem in Trauer und Angst verfallen, wenn sie sich auch wieder zusammenraffte oder über dem Besitze des Mannes ihr Gemüt sich aufhellte. Genug, Erwin fühlte, daß sie nicht mehr die gleiche sei, die sie gewesen, daß irgendein Etwas sich ereignet haben müsse. Ohne die verhoffte Ruhe brachte er die Nacht zu, während die Frau schlief; er wußte aber nicht, ob sie zum ersten Male wieder den Schlaf fand oder stets geschlafen hatte.
Am zweiten Tage nach seiner Ankunft ging er auf seine Gesandtschaft, um einige Verrichtungen zu besorgen, die man ihm in Washington zur mündlichen Abwickelung übertragen. Unter anderem gab es do obschwebende seerechtliche Interessen, wegen welcher mit den brasilianischen Diplomaten Rücksprache zu nehmen war, eh bei den europäischen Staaten vorgegangen wurde; übrigens handelte es sich weder um ein entscheidendes Stadium, noch um eine sehr große Bedeutung der Sache. Erwin trug seinem Gesandten dasjenige vor, was sich auf unsern Ort, wo wir lebten, bezog. Der Herr hatte Zahnweh und ersuchte ihn, nur selbst zu den Brasilianern zu gehen und in seinem Namen das Nötigste zu verhandeln. Erwin ging hin, traf aber bloß einen Sekretär. Der Gesandte sei in Karlsbad, hieß es; doch habe der Attaché, Graf Soundso, die bezüglichen Akten an sich genommen und studiere sie soeben; er sei ohne Zweifel in der [482] Lage, Aufschluß zu erteilen und entgegenzunehmen und Vorläufiges anzuordnen. Um keine weitere Zeit zu verlieren, begab sich Erwin ohne Aufenthalt zu dem Grafen, welcher eben der unsrige war. Die beiden Männer hatten sich noch nie gesehen, weil der Basilianer erst während Erwins Abwesenheit an die Stelle gekommen war. Der Südamerikaner begrüßte den nördlichen Mann unbefangen, sagte, er habe das Vergnügen, dessen Gemahlin zu kennen, und fragte nach ihrem Befinden. Dann ging die geschäftliche Unterredung vor sich, welche etwa eine halbe Stunde dauerte. Erwin war nicht, was man im gemeinen Sinne eifersüchtig nennt; daher war ihm die Bekanntschaft des Grafen mit seiner Frau nicht aufgefallen, trotz der schwarzäugigen Romantik; er hatte seine Häuslichkeit über der gemächlichen Verhandlung vergessen und ging jetzt vollkommen ruhig an der Seite des Grafen, der ihn hinausbegleitete. Wieder, wie in New York, leuchtete plötzlich ein Bild auf, das er vorher nicht gesehen. Neben der Zimmertüre, welcher er bisher den Rücken gekehrt, stand ein Ziertischchen und auf demselben, an die Wand gelehnt, ein kleines Ölbild in breitem, krausgeschnitztem Goldrahmen. Es war die Figur von Erwins Frau, wie er sie bei seiner Rückkunft im Schlafzimmer angetroffen. Die Malerin hatte doch die Rücksicht genommen, das Gesicht unkenntlich zu machen, d.h. dasjenige eines andern Modells hinzumalen; allein Erwin erkannte den Seidenstoff und die ganze Erscheinung auf den ersten Blick. Die dämonische Malerin hatte ihr zum Überfluß beide Hände an das Hinterhaupt gelegt, wie Erwin sie mit dem Haar beschäftigt zuerst gesehen.
Er trat mit einem Schritte vor das Tischchen und ließ die Augen an dem Bild haften, indessen es vor denselben in einen Nebel zerfloß und sich wieder herstellte, abwechselnd, man könnte sagen, wie Aphrodite aus dem Dunst und Schaum des Meeres. Er wagte nicht wegzublicken, noch den Grafen anzusehen, und doch war es ihm zu Mut wie einem Ertrinkenden. Aber zum Glück jagten sich die Vorstellungen ebenso schnell, [483] als es bei einem solchen geschehen soll. Es war immer eine Möglichkeit, daß der Graf nicht wußte, was er besaß; warum also am unrechten Orte sich selbst und die Frau verraten? Nötigenfalls konnte er ja wiederkommen und den Feind seiner Ehre im Angesichte des Bildes niederstoßen. Aber müßte nicht das Weib vorher gerichtet, vielleicht vernichtet sein? Denn ein böser Zusammenhang wird immer deutlicher; woher sonst das elende Wesen im Hause? Was ist indessen mit einer solchen Vernichtung gewonnen, und wer ist der Richter? Ich, der ich ein junges, ratloses Geschöpf fast ein Jahr lang allein lasse?
So war vielleicht eine Minute vergangen, eine von den scheinbar zahllosen und doch so wenigen, die wir zu leben haben. Plötzlich faßte er sich gewaltsam zusammen, sah den Grafen flüchtig an und sagte, ohne den Mund zu veziehen: ›Sie haben da ein hübsches Bildchen!‹
›Ich habe es in einem hiesigen Atelier gekauft‹, sagte der andere, ›es soll nach dem Leben gemalt sein!‹
Sie schüttelten sich mit der bei Diplomaten üblichen Herzlichkeit die Hand und Erwin zog seines Weges. Er ging aber nicht in seine Behausung, auch nicht zu der Malerin oder zu den Parzen, wie er früher willens gewesen, noch auch zu mir oder sonst zu jemandem, sondern er lief eine Stunde weit auf der heißen Landstraße vor das Tor hinaus, genau bis zum ersten Stundenzeiger, und von da wieder zurück. In dieser Zeit wollte er mit seinem Entschlusse im reinen sein und dann um kein Jota davon abgehen; kein Fremder sollte davon wissen oder dareinreden.
In der Mittagshitze, im Staube der Straße, unter den Wolken des Himmels, im Angesichte mühseliger Wandersleute, die ihres Weges zogen, müder Lasttiere, heimwärts eilender Feldarbeiter ließ er die Frau unsichtbar neben sich gehen, um die traurige Gerichtsverhandlung sozusagen unter allem Volke mit ihr zu führen. Es bedünkte ihn in der Tat beinah, als säh er sie mühsam an seiner Seite wandeln, nach Antwort auf seine Fragen [484] suchend, und seine Bitterkeit wurde von Mitleiden umhüllt, aber nicht versüßt.
Als er an das Stadttor zurückkam, war sein Beschluß fertig, wenn auch nicht das Urteil. Er wollte nicht den Stab, sondern die ganze Geschichte überm Knie brechen, die Frau übers Meer entführen und der Zeit die Aufklärung des Unheils überlassen. Auch gegen Regine wollte er schweigen, gewärtig, ob sie Recht und Kraft zur freien Rede aus sich selber schöpfe, und je nach Beschaffenheit würde sich dann das Weitere ergeben. Unterdessen sollte die stumme Trennung, die zwischen sie getreten, ihr nicht verborgen bleiben und sie fühlen, daß die Entscheidung nur aufgeschoben sei.
Mit diesem Vorsatze trat er wieder in sein Haus, wo er Regine nicht fand. Ihr war erst seit Erwins Ausgang das Bedenkliche und Unzulässige des Vorfalls mit dem Bilde schwer ins Gewissen gefallen; Blick und Wort Erwins hatten sie getroffen und die Dämmerung ihres Bewußtseins plötzlich erleuchtet. Von Angst erfüllt war sie fortgeeilt, zunächst zur Malerin, das Bild von ihr zu fordern. Sie suchte Ausflüchte, versprach es zu schicken oder selbst zu bringen, und gedrängt von der Flehenden, sagte sie endlich, das Bild müsse bei einer der drei Damen sein (der Parzen nämlich), jedenfalls sei es gut aufgehoben und in sicheren Händen. Regine lief zum sogenannten Bienchen, zur Sammetgazelle, zum Rotkäppchen, keine wollte etwas von dem Bilde wissen, jede lächelte zuerst verwundert, und jede erhob dann einen dummen Lärm und wollte durchaus die Ärmste auf der Jagd nach ihrem Bildnis geräuschvoll weiterbegleiten.
Unverrichtetersache, aber mit doppelter Last beladen kehrte sie heim und traf ihren Mann in Geschäften mit einem Agenten, dem er, wie sie trotz der Erschöpfung allmählich bemerkte, den Verkauf der ganzen hausrätlichen Einrichtung, das Verpacken und Spedieren der mitzunehmenden Gegenstände und ähnliche Dinge auftrug. Als der Agent fort war, sagte Erwin zu Regine, welche bleich und stumm in einer Ecke saß: ›Du [485] kommst gerade recht und kannst die Dienstboten auszahlen und entlassen; es schickt sich das besser für die Frau! Wir reisen nämlich heute abend weg und sind in zwei Tagen auf der See; denn wir gehen zu meinen Eltern!‹
Kein Wort mehr noch weniger sagte er zu ihr, und sie wagte nicht ein einziges zu sprechen. Nur tief aufatmen hörte er sie, wie wenn sie sich durch die Aussicht, über das Meer zu kommen, erleichtert fühlte.
Am selben Tage noch wurden also Koffer gepackt, Rechnungen bezahlt und alle Dinge verrichtet, die mit einer plötzlichen Abreise verbunden sein mögen. Erwin brachte dann noch eine halbe Stunde auf der Gesandtschaft zu, sonst nahm er von niemandem Abschied. Ich vernahm von alledem das erste Wort durch die entlassene Haushälterin, die mich wenige Tage später nochmals aufsuchte, um ihr Gewissen zu beschwichtigen, indem sie mir gestand, sie habe im Tumulte des letzten Nachmittages während eines stillen Augenblickes dem Erwin mit wenig Worten leise gesagt, es sei ein einziges Mal in der Nacht ein fremder Mann dagewesen und von da an sei die Verstörung im Hause. Sie wisse nicht, wer und was es gewesen sei, glaube aber, es ihm nicht verschweigen zu dürfen, damit er in seiner Sorge nicht zuviel und nicht zuwenig sehe. Darauf habe Erwin sie mit trüben Augen angeschaut und, obgleich sie gemerkt, wie ihn die Mitteilung erschüttert, gesagt, er wisse die Sache wohl, es sei ein Geheimnis, das sie nur verschweigen solle, er habe den Mann selbst gesandt.
Unmittelbar nach der kurzen Unterredung habe er in der gleichen milden und gelassenen Weise wie vorher das wenige mit Reginen gesprochen, was er zu sprechen hatte, und beim Verlassen des Hauses der dichtverschleierten Frau den Arm gegeben. Nun wisse sie, die Haushälterin, doch nicht, ob sie recht getan und das Unglück vergrößert habe.
Ich fragte sie, ob sie von der Sache jemals den übrigen Bediensteten oder Hausgenossen oder sonst jemand etwas gesagt? [486] Sie beteuerte das Gegenteil und versprach nochmals, es ferner so zu halten, und ich glaube, sie hat es auch getan. Indessen beruhigte ich sie wegen des Geschehenen. Wenn jener geheimnisvolle Besuch übler Art gewesen sei, meinte ich, so sei nicht viel zu verderben; sei er aber unschuldiger Natur, so komme die dunkle Geschichte um so eher zur Abklärung.
Es fiel mir schwer, an das ganze Ereignis so recht zu glauben. Die plötzliche Abreise machte nicht soviel Aufsehen, da die Ankunft Erwins noch nicht einmal in weiteren Kreisen bekannt gewesen, und die Parzen schienen sich ausnahmsweise still zu halten. Ich ging nach einigen Tagen mit einer Art Heimweh durch die Straße, wo Altenauers gewohnt, und sah an das Haus hinauf. Da wurde soeben aus dem Portale ein niederes vierrädriges Kärrchen gezogen, auf welchem die Venus von Milo stand und ein wenig schwankte, obgleich sie mit Stricken festgebunden war. Ein Arbeiter hielt sie mit Gelächter aufrecht und rief: ›Hüh!‹ während der andere den Wagen zog. Ich schaute ihr lange nach, wie sie sich fortbewegte, und dachte: So geht es, wenn schöne Leute unter das Gesindel kommen! Ich glaubte, die Regine selbst dahinschwanken zu sehen.
Drei Jahre später, als Regine längst tot war, traf ich Erwin Altenauer als amerikanischen Geschäftsträger in der gleichen Stadt wieder. Er hatte die Stelle absichtlich gewählt, um durch seine Anwesenheit das Andenken der Toten zu ehren und zu schützen, und von ihm erfuhr ich den Abschluß der Geschichte; denn er liebte es, mit mir von dieser Sache zu sprechen, da ich die Anfänge kannte.
Schon die Seefahrt nach dem Westen muß ein eigenartiger Zustand von Unseligkeit gewesen sein. Die wochenlange Beschränkung auf den engen Raum bei getrennten Seelen, die doch im Innersten verbunden waren, das wortkarge, einsilbige Dahinleben, ohne Absicht des Wehtuns, die hundert gegenseitigen Hilfsleistungen mit niedergeschlagenen Augen, das Herumirren dieser vier Augen auf der unendlichen Fläche und am verdämmernden [487] Horizonte des Ozeans, in den Einsamkeiten des Himmels, um vielleicht einen gemeinsamen Ruhepunkt zu suchen, den sie in der Nähe nicht finden durften, alles mußte dazu beitragen, daß die Reise dem Dahinfahren zweier verlorenen Schatten auf Wassern der Unterwelt ähnlich war, wie es die Traumbilder alter Dichter schildern. Schon das gedrängte Zusammensein mit einer Menge fremder Menschen verhinderte natürlich den Austrag des schmerzlichen Prozesses; aber auch ohne das tat Regine keinen Wank; sie schien sich vor dem Fallen einer drohenden Masse und jedes Wörtlein zu fürchten, welches dieselbe in Bewegung bringen konnte. Ebenso ängstlich, wie sie ihre Zunge hütete, überwachte sie auch jedes Lächeln, das sich aus alter Gewohnheit etwa auf die Lippen verirren wollte, wenn sie unverhofft einmal Erwins Auge begegnete. Er sah, wie es um den Mund zuckte, bis die traurige Ruhe wieder darauf lag, und er war überzeugt, daß sie damit jeden Verdacht auch der kleinsten Anwandlung von Koketterie vermeiden wollte, oder nicht sowohl wollte als mußte. Welch ein wunderbarer Widerspruch, diese Kenntnis ihrer Natur, dieses Vertrauen, und das dunkle Verhängnis!
Erwin aber scheute sich ebenso ängstlich vor dem Beginn des Endes; nach dem bekannten Spruche konnte er begreifen und verzeihen, aber er konnte nicht wiederherstellen, und das wußte er.
Und nun erst der Einzug in das Vaterhaus zu Boston! Statt der siegreichen Freude der Anerkennung, des Beifalls, ein geheimnisvolles gedrücktes Ansichhalten, ein schweigsames vorsichtiges Wesen und zuletzt eine allgemeine Stille im Hause als Folge des halbwahren Vorgebens von einem plötzlichen Zerwürfnisse, einer krankhaften Laune der jungen Frau. Nur der Mutter anvertraute Erwin einen Teil der Wahrheit, soweit diese nicht zu grausam, zu hart für Reginen und ganz unerträglich auch für die Mutter gewesen wäre. Indem ihr der erste Anblick Reginens ein hohes Wohlgefallen und ihre ganze Haltung [488] eine schmerzliche Teilnahme, aber freilich auch die tiefste Sorge verursacht hatten, war sie mit einem behutsam schonenden Vorgehen einverstanden, und sie suchte das Beispiel zu geben, die halb Geächtete mit einer gewissen ernsten Sanftmut zu behandeln, wie es etwa verwirrten kranken Personen gegenüber geschieht. Alle Familienglieder, Angestellten und Dienstboten des Hauses hielten den gleichen Ton inne, ohne sichtbare Verständigung; Regina hingegen sah sich mitten in der Schar der neuen Verwandten und Hausgenossen vereinsamt, ohne zu fragen oder zu klagen. In der entlegenen Wohnung eines Seitenflügels lebte sie bald wie eine freiwillige Gefangene, während Erwin gleich anfangs auf einige Wochen verreist war, um das getrennte Leben weniger auffällig zu machen. Allein wo er ging und stand, fühlte er die Last des Elendes, in das er mit Reginen geraten, die Sehnsucht nach ihrer Gegenwart und nach den vergangenen Tagen und zugleich den Abscheu vor dem Abgrunde, den er mehr als nur ahnen und fürchten mußte. Und je unvermeidlicher ihm der Verlust erschien, um so unersetzlicher und einziger dünkte ihm die Unselige, an welche er alle die Liebe und Sorge gewendet hatte. Zuletzt überwog das Velangen nach ihrem Anblicke so stark, daß er am achtzehnten Tage seiner Reise umkehrte, in der Absicht, die Entscheidung herbeizuführen und die Frau auf die Gefahr hin, si sofort auf immer zu verlieren, wenigstens dies eine Mal noch zu sehen.
Während der Zeit hatte seine Mutter die einsame Regine jeden Tag besucht und ein Stündchen mit einer Arbeit bei ihr gesessen, ihr auch etwas zu tun mitgebracht und ein ruhiges Gespräch in Güte mit ihr unterhalten, wobei sie freilich das meiste tun mußte. Jedoch vermied sie es gewissenhaft, mit Fragen und Verhören in die junge Frau zu dringen, die in aller einsilbigen Trauer Zeichen demütiger Dankbarkeit erkennen ließ, wie eine edle Natur auch in zeitweiliger Geistesabwesenheit die Spuren des Guten zeigt. An dem Tage, an welchem Erwin bereits auf dem Heimwege begriffen war, fand seine Mutter [489] die Regine in eifrigem Schreiben begriffen. Dies erregte ihre Aufmerksamkeit und wollte ihr gar wohl gefallen; es lagen schon mehrere beschiriebene Blätter da, welche Regine ruhig zusammenschob, ohne sie ängstlich zu verbergen. Den Umstand, daß sie überhaupt nie etwas zu verheimlichen suchte und ihr Zimmer stets ebenso reinlich geordnet als unverschlossen und für jedermann zugänglich hielt, hatte die Mutter überhaupt schon wahrgenommen.
Erwin fuhr in peinlicher Ungeduld wieder mit einem sausenden Nachtzuge und betrat morgens um sechs Uhr sein Haus. Schnell eilte er nach seinem eigenen Schlafzimmer, um sich zu reinigen und die Kleider zu wechseln. Kaum hörte jedoch die Mutter von seiner Ankunft, so suchte sie ihn auf und erzählte ihm von Reginen. Nachdem sie, teilte sie ihm in sichtbarer Ergriffenheit mit, die Zeit her von ihrem ganzen Benehmen einen solchen Eindruck erhalten, daß jene eine entsetzliche Heuchlerin und Schauspielerin sein müßte, wenn es erlogen wäre, habe sie in der vergangenen Nacht oder vielmehr kurz vor Anbruch des Tages eine seltsam rührende Entdeckung gemacht. Von Schlaflosigkeit geplagt, sei sie aufgestanden und habe sich in der Finsternis nach dem kleinen Saale hingetappt, welcher dem von Regine bewohnten Seitenflügel gegenüber liege. Dort sei auf einem Tischchen ein kleines Fläschchen mit erfrischender Essenz unter Nippsachen stehengeblieben, das sie seit lange nicht mehr gebraucht. Wie sie dasselbe nun gesucht, habe sie über den Hof weg einen schwachen Lichtschimmer bemerkt, während sonst noch alles in der nächtlichen Ruhe gelegen. Als sie genauer hingeschaut, habe sie gleich erkannt, daß der Schimmer aus Reginens Fenster komme, und sodann habe sie diese selbst gesehen vor einem Stuhle knien, mit gefalteten Händen. Auf dem Stuhle habe ein kleines Buch gelegen, offenbar ein Gebetbuch, beleuchtet von dem daneben stehenden Nachtlämpchen. Das Gesicht der Frau habe sie nicht sehen können, sie habe es tief vornüber gebeugt, und so sei sie unbeweglich verharrt, eine Viertelstunde, [490] die zweite und vielleicht auch die dritte. Lange habe die Mutter der Erscheinung zugeschaut; ein paarmal habe Regine das Blatt umgewendet und es dann wieder rückwärts umgeschlagen, auch das Umwenden etwa vergessen und längere Zeit ins Leere hinaus gebetet oder sonst Schweres gedacht; immerhin scheine sie nur ein und dasselbe Gebet, oder was es sein möge, gelesen zu haben. Jedesmal, wenn sie sich ein wenig bewegt habe, sei das schauerlich rührend anzusehen gewesen in der nächtlichen Stille und bei der Verlassenheit der armen Person. Endlich, da die Mutter im leichten Nachtkleide gefröstelt, habe sie sich nicht getraut, länger zu stehen, und gedacht, jene sei ja wohl aufgehoben bei ihrem Gebetbuche, und sei wieder zu Bett gegangen, allerdings ohne den Schlaf noch zu finden. ›O mein Sohn‹, rief die Mutter mit überquellenden Augen, ›es wäre doch ein großes Glück, wenn dieses Geschöpf gerettet werden könnte! Ich habe noch nichts Schöneres gesehen auf dieser Welt! Wozu sind wir denn Christen, wenn wir das Wort des Herren das erste Mal verachten wollen, wo es sich gegen uns selbst wendet?‹
Erschüttert mit sich selber ringend, rief Erwin, der mehr wußte als die Mutter: ›O Mutter, Christus der Herr hat die Ehebrecherin vor dem Tode beschützt und vor der Strafe; aber er hat nicht gesagt, daß er mit ihr leben würde, wenn er der Erwin Altenauer wäre!‹
Doch schon im Widerspruch mit seinen Worten ließ er die Mutter stehen und ging, wie er war, in den Reisekleidern und vom Rauche des nächtlichen Schnellzuges geschwärzt, nach Reginens Zimmer und klopfte sanft an die Türe. Kein Laut ließ sich hören; er öffnete also die unverriegelte Türe und trat hinein. Das Zimmer war leer; mit klopfendem Herzen sah er sich um. Auf der Kommode lag ihr altes Gesangbuch, das er wohl kannte mit seinen Liedern und einer Anzahl Kirchen- und Hausgebeten. Es war geschlossen und ordentlich an seinen Platz gelegt.
Ihr Bett stand in einem Alkoven, dessen schwere Vorhänge [491] nur zum kleinern Teile vorgezogen waren. Er trat näher und sah, daß das Bett leer war; nur eines der feinen und reichverzierten Schlafhemden von der Aussteuer, die er seiner Frau selbst angeschafft, lag auf dem Bette; es schien getragen, lag aber zusammengefaltet auf der Decke. Erschrocken und noch mehr verlegen kehrte er sich und schaute sich um, ob sie nicht vielleicht dennoch im Zimmer hinter ihm stünde, allein es war leer wie zuvor. Indem er sich nun abermals kehrte und dabei einem der Vorhänge näherte, stieß er an etwas Festes hinter demselben, wie wenn eine Person sich dort verborgen hielte. Rasch wollte er den dicken Wollstoff zurückschlagen, was aber nicht gelang; denn die Laufringe an der Stange waren gehemmt. Er trat also, den Vorhang sanft lüftend, so gut es ging, hinter denselben und sah Reginens Leiche hängen. Sie hatte sich eine der starken seidenen Ziehschnüre, die mit Quasten endigten, um den Hals geschlungen. Im gleichen Augenblicke, wo er den edlen Körper hängen sah, zog er sein Taschenmesser hervor, das er auf Reisen trug, stieg auf den Bettrand und schnitt die Schnur durch; im andern Augenblicke saß er auf dem Bette und hielt die schöne und im Tode schwere Gestalt auf den Knien, verbesserte aber sofort die Lage der Frau und legte sie sorgfältig auf das Bett. Aber sie war kalt und leblos; er aber wurde jetzt rat- und besinnungslos, und er starrte mit großen Augen auf die Leiche. Gleich aber erwachte er wieder zum Bewußtsein durch die ungewohnte Tracht der Toten, die sein starrendes Auge reizte. Regina hatte das letzte Sonntagskleid angezogen, welches sie einst als arme Magd getragen, einen Rock von elendem braunen, mit irgendeinem unscheinbaren Muster bedruckten Baumwollzeuge. Er wußte, daß sie ein Köfferchen mit einigen ihrer alten Kleidungsstücke jederzeit mit sich geführt, und er hatte diesen Zug wohl leiden mögen, der ihm jetzt das Seelenleid verdoppelte. Endlich besann er sich wieder auf einen Rettungsversuch; er öffnete das ärmliche Kleid, das nach damaliger Art solcher Mägderöcke auf der Brust zugeheftet war. [492] Unter dem Kleide zeigte sich eines der groben Hemden der Mädchenzeit, und zwischen dem Hemde und der Brust lag ein ziemlich dicker Brief mit der an Erwin gerichteten Überschrift. Hastig küßte er den Brief, warf ihn aber auf das Bett und fing an, Reginens Brust mit der Hand zu reiben, sprang empor, hob die Leiche wie eine leichte Puppe in die Höhe, drückte sie an seine Brust und hielt ihr stöhnend das Haupt aufrecht, legte sie gleich wieder hin und lief hinaus, um Hilfe zu suchen. Alles eilte herbei, und ein Arzt war bald zur Stelle; doch die arme Regine blieb leblos, und der Doktor stellte den Todesfall fest, welcher die schwermütige junge Deutsche nach kurzem Eheglücke getroffen habe. Erwin blieb endlich allein bei der Leiche zurück und las den Brief.
Die Stätte, an welcher man den Brief finden werde, solle beweisen, wie sie ihn bis in den Tod liebe. Mit diesen Worten begann die Schrift. Einige weitere Sätze ähnlicher Natur verschwieg Erwin, wie er sich ausdrückte, als heiliges Geheimnis der Gattenliebe. Woher sie solche Töne genommen, sei eben das Rätsel der ewigen Natur selbst, wo jegliches Ding unerschöpflich zahlreich geboren werde und in Wahrheit doch nur ein einziges Mal da sei.
Dann folgte die Eröffnung dessen, was sie bedrückt und ihr Leben verdorben, ohne daß sie geahnt hatte, in welchem Umfange. Es war freilich traurig und einfach genug, das Geheimnis jenes nächtlichen Besuches, von dem sie nicht einmal wußte, daß er gesehen worden. Der Zustand ihrer Verwandten hatte sich mit der Zeit hie und da doch wieder etwas verschlimmert und wiederholtes Eingreifen und Aushelfen nötig gemacht. Jedesmal verursachte das der armen Regine, die jetzt ihrem Manne mehr anhing als den Eltern und Geschwistern, Kummer und Sorge. Besonders der eine der Brüder, der Soldat gewesen, konnte sich mit dem Leben nicht zurechtfinden. Unzufrieden und düstern Gemütes wechselte er immerfort die Stelle und den Aufenthalt, da er sich ungerecht behandelt glaubte und es [493] zuletzt auch wurde, weil es nicht lange dauert, bis die Menschen, die sich selbst mißhandeln, auch von den andern mißhandelt werden, sozusagen aus Nachahmungstrieb. So war er von einer guten Zugführerstelle, die man ihm bei einer Eisenbahn verschafft hatte, allmählich bis zum Gehilfen oder vielmehr Knechte eines Pferdehändlers heruntergekommen, der ihn als ehemaligen Reitersmann gut brauchen konnte und doch schlecht behandelte. Mit einer Anzahl Pferde durch den Wald reitend, waren sie in schweren Streit geraten; der Meister hieb dem Knechte mit der Peitsche über das Gesicht, und der Knecht schlug ihn hinwieder ohne Zögern tot und floh auf einem der Pferde aus dem Wald. Einige Meilen von der Mordstätte entfernt verkaufte er das Tier und irrte mit dem Erlös im Land umher, ohne den Ausweg finden zu können. Der erschlagene Roßhändler war von einem unbekannt gebliebenen zweiten Verbrecher, der zuerst auf den Platz gekommen, seines Geldranzens beraubt, diese Schuld aber natürlich dem Totschläger aufgebürdet und derselbe als Raubmörder verfolgt worden; so wenigstens hatte er ausgesagt und er ging nicht von seiner Aussage ab. Dieser Bruder nun, und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei Regine Zuflucht und Hilfe gesucht, nachdem er halb verhungert sich nur nächtlicherweile herumgetrieben, überall von den Häschern verfolgt. Er war schon in einem Seehafen gewesen und hatte seine Barschaft von dem verkauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder hinweggescheucht ins Binnenland. In der alleräußersten Not hatte er der Schwester Wohnung umschlichen und war bei ihr eingedrungen; sie hatte ihn mit einigen Kleidungsstücken von ihrem Manne und mit Geld versehen, damit er wiederum die Flucht über die See versuchen konnte. Aber von Stund an war ihre Ruhe dahin; denn sie war nur von dem einzigen Gedanken besessen, daß sie als die Schwester eines Raubmörders ihren Gatten Erwin in ein schmachvolles Dasein hineingezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie teilhaftig [494] gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der Jammer über die Ihrigen und selbst den unglücklichen Bruder.
Aber wie mußte sich der heimliche Jammer steigern, als sie in einem Tagblatte, das mehr für die Dienstboten als für sie da war, zufällig die schreckliche Nachricht las, der Raubmörder sei endlich gefangen worden. Niemand in der Stadt, außer mir, kannte ihren Namen, und so achtete niemand darauf. Was mich betraf, so las ich überhaupt dergleichen Sachen nicht und blieb somit auch in der Unwissenheit. Der Gefangene verriet mit keiner Silbe den Besuch bei der Schwester, obgleich er sich damit über die bei ihm gefundene Barschaft hätte ausweisen können; es war dies bei aller Verkommenheit ein Zug von Edelmut. So lebte sie wochenlang in der trostlosen Seelenstimmung dahin, bis sie plötzlich die Nachricht und Beschreibung von der Hinrichtung las und alle Geister der Verzweiflung auf sie einstürmten. Wie sollte Erwin fernerhin mit der Schwester eines hingerichteten Raubmörders leben? Wie der Ertrinkende am Grashalm, hielt sie sich an dem einzigen Gedanken, dessen sie fähig war: nur schweigen, schweigen!
Nach diesem ward ihr Selbstvertrauen zum Überfluß noch ershchüttert durch den Vorfall mit der Malerin. Sie wußte nicht, daß das Bild in den Händen eines Mannes, des Brasilianers, war, und doch bekannte sie es jetzt als eine Sünde, daß sie sich habe verleiten lassen. Sie habe daraus den Schluß ziehen müssen, daß sie nicht die Sicherheit und Kenntnis des Lebens besitze, die zur Erhaltung von Ehre und Vertrauen erforderlich sei. Allerdings hatte die Ärmste ja annehmen müssen, die Malergeschichte allein habe hingereicht, Erwins Vertrauen zu untergraben; hätte sie ahnen können, daß der Besuch des Bruders gesehen und wie er ausgelegt worden, so würde sie keine Rücksicht abgehalten haben, sich vom Verdacht zu reinigen, und dann wäre alles anders gekommen. Allein das Schicksal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit einem andern Geheimnis, dasselbe aus Vorsorge und Schonung verbergend, an sich vorbeigingen [495] und den einzigen Rettungsweg so verfehlten. Um auf den Brief zurückzukommen, so schloß Regine mit der Bitte, sie in dem Gewande zu begraben, in welchem sie einst als arme Magd gedient habe. Möge Erwin dann dasjenige Kleid, in welchem er sie in der schönen Zeit am liebsten gesehen, zusammenfalten und es ihr im Sarge unter das Haupt legen, so werde sie dankbar darauf ruhen.
Nach ihrem Begräbnisse war das erste, was er unternahm, die neue Versorgung der armen Angehörigen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er, daß der hingerichtete Bruder den erschlagenen Meister wirklich nicht ausgeplündert, indem der wahre Täter, wegen anderer Verbrechen in Untersuchung geraten, auch dieses freiwillig gestanden hatte. Erwin Altenauer hat sich bis jetzt nicht wieder verheiratet.«
Als Reinhart schwieg, blieb es ein Weilchen still; dann sagte Lucie nachdenklich: »Ich könnte nun einwenden, daß ihre Geschichte mehr eine Frage des Schicksals als der Bildung sei; doch will ich zugeben, daß eine schlimme Abart der letzteren durch die Parzen, wie sie die Trägerinnen derselben nennen, von Einfluß auf das Schicksal der armen Regine gewesen ist. Aber auch so bleibt sicher, daß es dem guten Herrn Altenauer eben unmöglich war, seiner Frauenausbildung den rechten Rückgrat zu geben. Wäre seine Liebe nicht von der Eitelkeit der Welt umsponnen gewesen, so hätte er lieber die Braut gleich anfangs nach Amerika zu seiner Mutter gebracht und dieser das Werk überlassen; dann wäre es wohl anders geworden! Jetzt ist es aber Zeit, unsere merkwürdige Sitzung aufzuheben; ich bitte zu entschuldigen, wenn ich mich zurückziehe, obgleich ich beinahe fürchte, im Traum die schöne Person wie eine mythische Heroenfrau an der seidenen Schnur hängen zu sehen; denn trotz ihrer Wehrlosigkeit steckt etwas Heroisches in der Gestalt. Der Wahlherr hat diesmal wirklich auf Rasse zu halten gewußt!«
Sie bot dem Gaste gute Nacht und sandte gleich darauf den [496] bejahrten Diener her, den Reinhart bei seiner Ankunft gesehen. Der freundliche Mann führte ihn nach seinem Schlafgemache, indem er ihm erzählte, der alte gichtbrüchige Herr beabsichtige, am Morgen mit dem Herrn Reinhart zu frühstücken, da nach gewissen Anzeichen der dermalige Anfall zu weichen beginne.
Mit wunderlich aufgeregtem Gefühle legte sich Reinhart in dem fremden Hause zu Bett, unter einem Dache mit dem ziervollsten Frauenwesen der Welt. Wie es Leute gibt, der Körperliches, wenn man es zufällig berührt oder anstößt, sich durch die Kleidung hindurch fest und sympathisch anfühlt, so gibt es wieder andere, deren Geist einem durch die Umhüllung der Stimme im ersten Hören schon vertraut wird und uns brüderlich anspricht, und wo gar beides zusammentrifft, ist eine gute Freundschaft nicht mehr weit außer Weg. Dazu kam, daß Reinhart heute mehr von menschlichen Dingen, wie die Liebeshändel sind, gesprochen hatte, als sonst in Jahren.