Vierzehntes Kapitel
Das Narrengefecht
Die Sonne ging eben auf, als ich in den Saal trat. Alle Frauen und älteren Leute waren schon weggegangen; die Menge der [541] Jüngeren aber, von höchster Lust bewegt, wogte durcheinander und schickte sich an, eine Reihe von Wagen zu besteigen, um unverzüglich, ohne auszuruhen, ins Land hinauszufahren und das Gelage in den Forsthäusern und Waldgärten fortzusetzen, welche an den Ufern des breiten Bergflusses gelegen waren.
Rosalie besaß in jener Gegend ein Landhaus, und sie hatte die fröhlichen Leute der Mummerei eingeladen, sich am Nachmittage dort einzufinden, bis wohin sie als bereite Wirtin ebenfalls dasein würde. Insbesondere waren dazu noch einige Frauen gebeten, und diese hatten ausgemacht, da es einmal Fasching sei, in der alten Tracht hinauszufahren; denn auch sie wünschten so lang als möglich sich des glänzenden Ausnahmezustandes zu erfreuen.
Erikson war in seine Wohnung gegangen, um sich in seine gewohnten Kleider zu werfen, die er nur etwas sorgfältiger als sonst auswählte. Da auch Rosalie später in moderner Toilette erschien, wie sie der Jahreszeit und dem Tage einfach angemessen war, ließ sich denken, daß hierin entweder eine Verständigung stattgefunden oder ein übereinstimmendes Gefühl waltete, beides schlichte Anzeichen, die von ruhigen Beobachtern nicht übersehen wurden.
Auch Lys war nach Hause geeilt, doch in entgegengesetztem Sinne. Er hatte seinerzeit zu Studien für das Bild mit dem Salomo versuchsweise ein altorientalisches Königskostüm anfertigen lassen; das lange Gewand war von weißem feinem Batistleinen, in viele Falten gelegt und mit purpurfarbigen, blauen und goldenen Borten, Troddeln und Fransen besetzt. Kopf- und Fußbekleidung entsprachen ebenfalls dem ungefähren vorderasiatischen Stile des Altertums. Die betreffende Studie hatte er in der Ausführung zwar nicht benutzt; jetzt aber schien ihm das Kleid tauglich, um darin einen Scherz vorzubringen und am Hofe der Liebesgöttin sich als gestriger Jagdkönig im Hofgewande einzufinden. Dazu ließ er Haar und Bart mit Brenneisen und duftenden Ölen formieren und kräuseln und [542] legte schließlich um die nackten Vorderarme abenteuerliche Spangen und Ringe. Das alles beschäftigte ihn reichlich bis zur Mitte des Tages, nachdem er in der leidenschaftlichen Verirrung, die ihn befallen, wenig genug geschlafen haben mochte.
Meinerseits hatte ich gar nicht geschlafen, sondern fuhr gleich in der Morgenfrühe mit der Hauptschar hinaus. Große Wagen, mit Landsknechten beladen und von deren Spießen starrend, rasselten voraus und ihnen nach eine lange Reihe von Fuhrwerken aller Art in die helle Morgensonne hinein, am Rande der schönen Buchenwälder, hoch auf den Uferhängen des Stromes, der in glänzenden Windungen um die Geschiebe- und Gebüschinseln rauschte.
Es war ein milder Februartag und der Himmel blau; die Bäume wurden bald von der Sonne durchschossen, und wenn ihnen das Laub fehlte, so glänzte das weiche Moos auf dem Boden und auf den Stämmen um so grüner, und in der Tiefe leuchtete das blaue Bergwasser.
Das bunte Volk ergoß sich über eine malerische Gruppe von Häusern, welche vom Wald umgeben auf der Uferhöhe lag. Ein Forsthof, ein altertümliches Wirtshaus und eine Mühle am schäumenden Waldbach waren bald in ein gemeinsames Lustlager verwandelt und verbunden; die stillen Bewohner sahen sich von dem berühmten Feste gleichsam in Person überrascht und umklungen und hatten genug zu tun mit Sehen und Hören, Bewundern und Belachen alles dessen, was sie in hundert Gestalten so plötzlich von allen Seiten umgab. Den Künstlern aber weckte die freie Natur, der erwachende Lenz den Witz in der tiefsten Seele; die frische Luft legte die beweglichsten Fühlfäden der Freude bloß, und wenn die Lust der entschwundenen Nacht auf Verabredung und geplanter Einrichtung beruhte, so lockte die jetzige Tageslust zufällig und frei zum lässigen Pflücken, wie die Frucht am Baume. Die dem phantasierenden Fühlen und Genießen angemessenen Kleider waren nun wie etwas Hergebrachtes, das schon nicht mehr [543] anders sein kann, und in ihnen begingen die Glücklichen tausend neue Scherze, Spiele und Torheiten von der geistreichsten wie von der kindlichsten Art, oft plötzlich unterbrochen durch einen wohlklingenden, festen Gesang, hier unter Bäumen, dort aus einer Schenkstube oder aus dem Ringe von Landsknechten, welche die Müllerstochter umstellt hatten. Aber bei allem Selbstvergessen blieb jeder, was er war, und huschten die ewigen Menschlichkeiten wie leise Schatten über die frohen Gesichter. Der Mürrische schmollte ein weniges bei Gelegenheit, der Mutwillige reizte den Übelnehmer, der Sorglose den Tadelsüchtigen zu einem kleinen Gezänk; der Gedrückte dachte unversehens einmal an seine Sorgen und tat einen tiefern Atemzug; der Sparsame und Ängstliche überzählte verstohlen seine Barschaft, und der Leichtsinnige, der schon fertig war, überraschte und kränkte ihn durch ein Darlehnsbegehren. Aber alles dies kräuselte sich im Fluge vorüber wie der Lufthauch auf dem Glanze eines Wasserspiegels.
Auch ich geriet eine Weile in einen solchen Wolkenschatten. Ich war dem Mühlbache nach tiefer in das Gehölz gegangen und wusch mir das Gesicht mit den frischklaren Wellen; dann setzte ich mich auf das Holzwerk einer Wasserschwelle und überdachte die vergangene Nacht und das seltsame Abenteuer im Hausflur der Agnes. Das sanfte Rauschen des Wassers brachte mich in einen Halbschlummer, in welchem meine Gedanken wie träumend in die Heimat wanderten; ich glaubte an der Seite der toten Anna an dem stillen Waldwasser zu sitzen in der Tracht des Tellenspieles; dann sah ich mich an ihrer Seite durch die Abendlandschaft reiten und sah alles mit ruhigem Herzen wie eine Erscheinung verschollener Tage, welche für sich abgeschlossen und nicht mehr zu ändern ist. Unversehens aber verlor sich und verblich das Bild vor der Gestalt der Judith, mit der ich durch die Nacht wandelte; ich war bei ihr im Hause, während die barmherzigen Brüder es belagerten, ich sah sie in ihrem Baumgarten aus dem Herbstdufte hervortreten und endlich [544] auf dem Wagen der Auswanderer in die Ferne verschwinden. Wo ist sie? Was ist aus ihr geworden? rief es in mir, und das Heimweh nach ihr machte mich plötzlich munter. Im hellsten Tageslicht sah ich sie vor mir stehen und gehen, aber ich sah keine Erde unter ihren lieben Füßen, und es war mir, als ob ich das Beste, was ich je gehabt und noch haben könnte, gewaltsam und unwiederbringlich mit ihr verloren hätte.
Ich dachte an die Flucht der räuberischen Zeit, seufzte und schüttelte leise den Kopf, und erst jetzt wurden durch den Klang der Schellen meine Gedanken ganz wach und geordnet, daß ich endlich auch der Mutter gedachte, freilich nur wie eines Selbstverständlichen und Unverlierbaren, wie eines guten Hausbrotes; denn daß ein solches eines Tages am ehesten abhanden kommen kann, hatte ich noch nicht erfahren. Dennoch dachte ich mit ziemlichem Ernste an die Frau in der stillen Stube; schon ging ich in meinem zweiundzwanzigsten Jahre, und noch hatte ich ihr keine klare Rechenschaft ablegen können über den Stand meiner irdischen Aussichten, über die Frage des Fortkommens in der Welt. Rasch rückte ich das Täschchen herum, das an meinem Gurte hing und neben dem Schnupftuch und anderen Dingen einen Teil der letzten Barschaft enthielt, die ich noch zu verzehren und die mir die Mutter, wie die früheren Summen, pünktlich und getreulich vor kurzer Zeit gesendet hatte. Freilich nützte das Zählen jetzt nichts, und ich schob die Tasche wieder zurück, verhehlte mir aber nicht, daß meine kleine Hausvorsehung zu Hause die Teilnahme an dem Feste nicht billigen werde. Das Narrenkleid kostete zwar nicht viel, und ich hatte es auch hauptsächlich aus diesem Grunde gewählt; dennoch konnte die Stunde kommen, wo ich den bescheidenen Betrag bitter entbehren mußte. Doch jetzt verstand ich besser als die Mutter, was nötig und ersprießlich war für einen jungen Gesellen, besonders als ein frisches Lied aus dem Lager der Freude herübertönte. Ich schüttelte abermals den Kopf, daß die Schellen klangen, sprang auf und eilte davon.
[545] Ich trieb mich vergnüglich herum und machte allerlei Gänge in die Landschaft hinein, bald mit anderen, bald allein. Gegen Mittag lief ich dem stattlichen Erikson in die Hände, der eben aus der Stadt geschritten kam. Unser erstes Gespräch war das Benehmen unsers Freundes Lys. Erikson zuckte die Achsel und sagte nicht viel, während ich mein Erstaunen ausdrückte und viele Worte machte, wie jener so schmählich handeln könne. Ich ergoß mich im schärfsten Tadel und um so lauter, als ich das dunkle Gefühl empfand, ich sei bei der verwirrten Umhalsung Agnesens in verwichener Nacht einer unerlaubten Anwandlung nur mit Not entgangen. Meine Selbstgerechtigkeit stand ja auf festen Füßen, weil ich durch das erwachte Andenken an Judith und ein starkes Heimweh nach ihr mich jetzt sicher fühlte. Und allerdings war es eigentümlich, daß Erlebnisse, die in vergangenen Tagen gefährlich und ungehörig für mich gewesen, jetzt dazu dienen mußten, mich gegen Verlockungen der heutigen Stunde zu schützen.
»Ich will wetten«, unterbrach mich Erikson, »daß er das arme Ding heute sitzenläßt und nicht mitbringt. Wir sollten ihm aber einen Streich spielen, damit er zur Vernunft kommt. Nimm einen Wagen, fahre in die Stadt und sieh ein wenig zu! Findest du den Tollkopf nicht zu Hause noch bei dem Mädchen, so bring dieses ohne weiteres mit, und zwar in Rosaliens Namen und Auftrag, so kann die Mutter nichts dagegen haben; ich werde das verantworten. Zu Lys wirst du nachher einfach sagen, daß du für deine Pflicht gehalten, dem Gebote nachzukommen, da er dir die Schöne in letzter Nacht so beharrlich anvertraut.«
Ich fand diesen Einfall nur in der Ordnung und fuhr sogleich in die Stadt. Auf dem Wege begegnete ich Lys, der ganz allein in einer Kutsche saß, in einen warmen Mantel gehüllt; die kegelförmige Königsmütze mit ihren Anhängseln, der wunderlich gelockte schwarze Bart verrieten aber genugsam den festschwärmenden Nachzügler.
[546] »Wohin willst du?« rief er mir zu. »Ich soll«, erwiderte ich, »dich aufsuchen und sehen, daß du das gute Mädchen Agnes mitbringst, im Falle du es nicht ohne hin tun würdest! Dies scheint nun so zu sein, und ich will sie holen, wenn du nichts dagegen hast, und in deinem Namen. Eriksons schöne Witwe wünscht es.«
»Tu das, mein Sohn!« sagte Lys möglichst gleichgültig, obschon er sichtlich etwas überrascht war. Er hüllte sich dichter in den Mantel, indem er seinem Kutscher barsch befahl weiterzufahren, und ich hielt bald nachher vor Agnesens Wohnung. Das Pferdegetrampel und Rollen der Räder sowie das plötzliche Stillstehen widerhallte in ungewohnter Weise auf dem still entlegenen Plätzchen, so daß Agnes im selben Augenblicke mit strahlenden Augen ans Fenster fuhr. Als sie mich aussteigen sah, verschleierte sich der Blick wieder, doch harrte sie noch erwartungsvoll, als ich in die Stube trat.
Ihre Mutter war auch da, beschaute mich von allen Seiten, und indem sie fortfuhr, mit einer alten Straußenfeder ihren Altar, das darüber hängende Bild, die Porzellantassen und Prunkgläser, auch die Wachslichter abzustäuben und zu reinigen, fing sie an zu plaudern: »Ei, da kommt uns ja auch ein Stück Karneval ins Haus, gelobt sei Maria! Welch allerliebster Narr ist der Herr! Aber was Tausend habt Ihr denn? was hat Herr Lys nur mit meiner Tochter angefangen? Da sitzt sie den ganzen Morgen, ißt nichts, schläft nicht, lacht nicht und weint nicht! Dies ist mein Bild, Herr, wie ich vor zwanzig Jahren gewesen bin! Doch Sie haben es, glaub ich, auch schon gesehen! Dank unserm Herren und Heiland, man darf es noch betrachten! Sagen Sie nur, was ist es mit dem Kinde? Gewiß hat Herr Lys sie zurechtweisen müssen, ich sag es immer, sie ist noch zu dumm und ungebildet für den feinen Herren! Sie lernt nichts und beträgt sich unschicklich. Ja, ja, sieh nur zu, Agnes! lernst du das von mir? Siehst du nicht auf diesem Bild, welchen Anstand ich hatte, als ich jung war? Sah ich nicht aus wie eine Edelfrau?«
[547] Ich antwortete auf alles dies mit meiner Einladung, die ich sowohl in Lysens als in Frau Rosaliens Namen ausrichtete; auch brachte ich einige Gründe vor, warum jener nicht selbst kommen könne, indes die Mutter einmal über das andere rief: »So mach, so mach, Nesi! Jesus Maria, wie reiche Leute sind da beisammen! Ein bißchen zu klein, ein bißchen zu klein ist die gnädige Frau, sonst aber reizend! Nun kannst du nachholen, was du gestern etwa versäumt und verbrochen! Geh, kleide dich an, Undankbare! mit den kostbaren Sachen, die Herr Lys dir geschenkt! Da liegt der Halbmond am Boden! Aber zuerst muß ich dir das Haar machen, wenn's der Herr erlaubt!«
Agnes setzte sich mitten in die Stube, und ihre Wangen röteten sich leise von wiederaufkeimender Hoffnung. Die Mutter frisierte sie nun mit großer Geschicklichkeit. Sie führte nicht ohne Anmut den Kamm, und als ich die hochgewachsene Frau betrachtete und die immer noch schönen Anlagen und Züge ihres Gesichtes sah, mußte ich gestehen, daß ihre Eitelkeit einst berechtigt gewesen sei.
Agnes saß mit bloßem Halse, von der Nacht der aufgelösten Haare umschattet, und es gewährte mir einen lieblich ruhevollen Anblick, wie die Mutter die langen Stränge kämmte, salbte und flocht und dabei weit zurücktreten mußte. Sie sprach fortwährend, indessen wir andern schwiegen und wohl wußten warum. Ich merkte aus allen den Reden, daß Agnes ihrer eigenen Mutter von dem Unsterne der Nacht noch nichts anvertraut hatte, und entnahm daraus, wie grausam die Sache sie würgen mußte.
Endlich war das Haar ungefähr so gemacht, wie es gestern gewesen, und Agnes ging mit der Mutter nach ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, das Dianengewand wieder anzuziehen; sobald sie aber damit nur einigermaßen zustande gekommen, erschienen sie wieder und vollendeten den Anzug in meiner Gegenwart, weil die Alte sich unterhalten und soviel möglich [548] von dem Feste, und wie alles verlaufen sei, erfahren wollte. Dann aber kochte sie schnell eine kräftige Schokolade, ihre Lieblingsnahrung, deren Bestandteile nebst Gebäck sie schon seit dem frühen Morgen in Bereitschaft gehalten für den erwarteten Besuch des assyrischen Königs.
Jetzt mußte das duftende Getränk der genügsamen Frau zugleich das Mittagsmahl versehen, und sie ließ es sich eifrig schmecken, denn sie hatte eine ausreichende Menge gebraut; auch Agnes nahm zwei Tassen zu sich und aß ein gutes Stück Kuchen, und ich hielt vergnüglich mit, obgleich ich schon Verschiedenes genossen hatte. So erlebt der Mensch mancherlei Unterkunft in seinen Tagen; es ist mir kaum mehr glaublich, daß ich einst in solcher Tracht, in einem so kunstreich zierlichen Baudenkmälchen, zwischen der Diana und der alten Sibylle gesessen und friedlich gefrühstückt habe.
Weil das Wetter so schön war und die Alte es verlangte, um vor ihren Nachbaren zu triumphieren, wurde die Decke des Wagens niedergelassen, als wir wegfuhren, und sie schwenkte ihr Tuch aus dem offenen Fenster unter Abschiedsgrüßen und Glückwünschen. Agnes aber seufzte dabei verstohlen und atmete erst etwas freier, als wir vor dem Tore waren. Ohne der Vorfälle der letzten Nacht mit einem Worte zu gedenken, fing sie an zu plaudern. Ich mußte berichten, wie die heutige Lustbarkeit sich veranlaßt habe, wer draußen zu treffen sei und wann wir wieder zurückkehrten? Denn sie wagte noch nicht, offen vorauszusetzen, wie sie hoffte, daß sie nicht mit mir, sondern mit Lys heimfahren werde. Ich wußte noch weniger einen Aufschluß zu erteilen und sprach, die allgemeine Vermutung aus, es werde die ganze Gesellschaft zusammen aufbrechen, und wenn es auf mich ankomme, so gehe man heute überhaupt noch nicht heim! Da sei sie auch dabei, sagte sie fast so fröhlich, wie wenn es ihr Ernst wäre. Als wir schon das weiße Landhaus in einiger Entfernung glänzen sahen, geriet Agnes aufs neue in Bewegung; sie wurde rot und blaß, und da sich [549] zur Seite der Straße auf einem kleinen Hügel eine Kapelle zeigte, verlangte sie auszusteigen.
Sie eilte, ihr Silbergewand zusammenfassend, den Stufen weg hinan und ging in das Kirchlein; der Kutscher nahm seinen Hut ab, stellte ihn neben sich auf den Bock, bekreuzte sich und betete, die fromme Muße benutzend, ein Vaterunser. So blieb mir nichts übrig, als verlegen unter die Kapellentür zu treten und zu warten, bis die unerwartete Zwischenhandlung vorüber war. An einem der Türpfosten sah ich ein gedrucktes Gebet hinter Glas gefaßt aufgehängt, welches ungefähr folgende Überschrift trug Gebet zur allerlieblichsten, allerseligsten und allerhoffnungsreichsten heiligen Jungfrau Maria, der gnadenreichen und hilfespendenden Fürbitterin Mutter Gottes. Approbiert und zum wirksamen Gebrauche empfohlen für bedrängte weibliche Herzen durch den hochwürdigsten Herren Bischof usf. Dazu war noch eine Gebrauchsanweisung gefügt, wie viele Ave und andere Sprüche herzusagen seien. Dasselbe Gebet lag auf Pappe gezogen auf ein paar alten Holzbänken umher. Sonst zeigte das Innere der Kapelle nichts als einen einfachen Altar, der mit einer verblichenen veilchenfarbigen Decke behangen war. Das Altarbild zeigte den Englischen Gruß, von roher Hand gemalt, und vor demselben stand noch ein kleines Marienbildchen im starren Reifröckchen von Seide und Metallflittern in allen Farben. Rings um den Altar hingen an der Wand geopferte Herzen von Wachs, in allen Größen und auf die mannigfaltigste Weise verziert; im einen stak ein seidenes Blümchen, im andern eine Flamme von Rauschgold, das dritte durchbohrte ein Pfeil, wieder ein anderes war ganz in rote Seidenläppchen gewickelt und mit Goldfaden umwunden, und eines war gar mit großen Stecknadeln besetzt wie ein Nadelkissen, wohl zur Schilderung der schmerzlichen Pein seiner Spenderin; dagegen schien ein mit grüner Farbe und vielen roten Röschen bemaltes Herz von der zur Zufriedenheit gelungenen Heilung Kunde zu geben.
[550] Leider versäumte ich, den Text des Gebetes selbst zu lesen, weil ich nur auf die Beterin sehen mußte, die in ihrem heidnischen Göttergewande, den keuschen Halbmond über der Stirne, auf der Altarstufe vor dem wächsernen Frauenbilde kniete, mit zitternden Lippen das Gebet von einem der Pappdeckel ablas, dann die Hände faltete, zu dem Bilde aufblickte und die vorgeschriebene Zahl der übrigen Sprüche, die zum Glücke nicht groß war, leise murmelte oder flüsterte. In dieser großen Stille und bei diesem Anblicke fühlte ich das Ineinanderweben der Zeiten, und es war mir fast zu Mut, als lebte ich vor zweitausend Jahren und stünde vor einem kleinen Venustempel irgendwo in alter Landschaft. Ich dünkte mich jedoch unendlich erhaben über die Szene, so artig sie war, und dankte meinem Schöpfer für das stolze und freie Gefühl, das mich beseelte.
Endlich schien Agnes sich der Hilfe der Himmelskönigin genugsam versichert zu haben; sie erhob sich mit einem Seufzer und ging nach dem in meiner Nähe hängenden Weihkessel. Da sah sie mich in der Türe gelehnt, wie ich sie aufmerksam betrachtete, und erinnerte sich über meiner ganzen Haltung daran, daß ich ein Ketzer war. Ängstlich tauchte sie den Wedel tief in den Kessel, eilte mir damit entgegen und besprengte mir das Gesicht über und über mit Wasser, indem sie mit dem Wedel viele Kreuze schlug. So hatte sie mich in weniger als zwölf Stunden zum zweiten Male durchnäßt, erst mit ihren Tränen und nun mit dem Weihwasser, und ich rückte doch den Hals etwas unbehaglich her und hin, da mir die Feuchte in den Nacken rieselte. Das doppelt mythologische Geschöpf aber war nun über die schädliche Einwirkung meiner Ketzerei beruhigt; sie ergriff meinen Arm und ließ sich wieder in die Kutsche bringen, deren Lenker seine geistliche Erquickung längst beendigt hatte und zur Weiterfahrt bereit war. Er machte ein kurios lächelndes Gesicht gegen mich, weil er den Volksglauben kannte, der an dem kleinen Gnadenörtchen haftete. Er [551] selbst mochte den weichlichen Liebessegen nur mitgenommen haben, wie ein derberer Trinker etwa aus Versehen ein Gläschen süßen Likörs schnappt, das gerade dasteht.
Der Landsitz, bei dem wir anlangten, war schon ziemlich belebt; in einem geräumigen Gartenland gelegen, zeigte seine gemischte Bauart, daß er früher den Zwecken einer Gastwirtschaft gedient und erst seit neuerer Zeit und jetzt noch in der Umwandlung zum Sommerhaus einer Familie begriffen war, wo ein Pächter oder Wirtschaftsführer zugleich für allerhand haushälterischen Nutzen sorgte. So kam jetzt vorzüglich der gute Rahm bei dem erquicklichen Kaffeetrinken zustatten, welches Frau Rosalie für den Empfang der Gäste veranstaltet hatte. Die Sonne schien so warm, daß mehrere den Trank im Freien, vor den Türen der neueingerichteten Gartenzimmer, genossen, während andere inwendig um die Kaminfeuer oder gar in einer alten Wirtsstube beim geheizten Ofen saßen.
Ich war nicht viel kecker als meine Schutzbefohlene und drang sachte mit ihr vor; doch wurden wir bald von der schönen Wirtin entdeckt, die jetzt in stattlichem Seidenkleide sich munter bewegte und Agnesen unverweilt ins Innere des Hauses führte.
»Die Göttertracht«, sagte sie, »will sich doch nicht recht für unser Klima schicken, besonders für uns Frauen! Gehen wir hinein, wo es ein Feuer gibt! Auch der König von Babylon oder Ninive, Herr Lys, ist drinnen; denn er würde hier erfrieren.«
Lys hatte es in der Tat mit seinen bloßen Armen und im Batisthabit nicht im Freien ausgehalten und saß nicht eben in bester Laune an einem großen Ofen; auch der Kaffee, für uns andere gut genug, vermochte nicht die Sorgen zu zerstreuen, die auf seiner Stirne lagerten. Die Alltagstracht, in welcher er unerwartet nicht nur Frau Venus, sondern auch Erikson angetroffen, hatte diese Sorgen heraufbeschworen, und mehr noch die rüstige Tätigkeit des guten Freundes, den man bald ein [552] Faß des besten Bieres über den Hof rollen, bald einige Brote zerschneiden oder sonst etwas hantieren sah, als stände er da Tagelohn. Der Anblick Agnesens war dem düstern Assyrer unter solchen Umständen nicht unwillkommen. Er bot ihr sofort freundlich den Arm als einer schicklichen Ergänzung für die Zeit der Einsamkeit oder Abwesenheit Rosaliens, welche sich vor dem Hause aufhielt, um nicht nur die vom Walde herüberkommenden Festgenossen, sondern auch verschiedene ihr verwandte und befreundete Personen zu empfangen; denn auch solche hatte sie in der Schnelligkeit herbeirufen lassen. Gerade die ungewohnte Heftigkeit der Leidenschaft, die Lys befallen, hieß ihn auch, wie einen Kriegshelden im Felde, eine verdoppelte Wachsamkeit üben; er konnte jetzt eine gefährliche Erkältung oder gar tödliche Krankheit nicht brauchen und mußte die Torheit seiner Kleidung durch vorsichtige Zurückhaltung gutmachen; und da diente ihm nun die silberne Diana, deren Gewänder er ja gekauft hatte, trefflich zur Verhüllung seiner Lage.
So war sie jetzt an seiner Seite, in der Heimat ihrer Liebe, und schien zu ihrem Rechte zu kommen. Aber sie zeigte keinen Triumph, keine Überhebung, sondern atmete nur etwas ruhiger auf, die innere Glut bis auf weiteres verschließend; denn sie hatte in kurzer Zeit zu Schlimmes erfahren, um es schon vergessen zu können. Sie ging vielmehr mit gesammeltem Ernste am Arme des schönen Großkönigs durch die Zimmer, der sich scherzend für den alten Nimrod ausgab und behauptete, er habe mit bekanntem Jägerglück die Göttin der Jagd selbst gefangen. Erst als sie an einem großen Spiegel vorübergingen, kannte sie deutlicher seine veränderte, glänzende Tracht und Gestalt, sah sich selber daneben und die Blicke der Anwesenden, welche das eigentlich leuchtende Paar mit Verwunderung vefolgten. Da überflog eine leichte heitere Röte das weiße Gesicht; allein sie hielt sich tapfer zusammen und bewahrte das gleichmütige Aussehen, obschon sie vielleicht die einzige [553] Person im Hause war, auf welche Lysens auffälliger Putz in dem verführerischen Sinne wirkte, wie seine Verirrung es wollte.
Inzwischen ertönte aus den entlegeneren Räumen des Hauses eine lockende Tanzmusik, wie es von dem jungen Volke und der Karnevalszeit nicht anders zu erwarten war. In einem ehemaligen Wirtschaftssaale war noch die kleine Tribüne der Spielleute vorhanden, mit bunten Teppichen behängt und mit Topfpflanzen verziert worden. Auf diesem Gestelle saßen vier musizierende Kunstgesellen, die ihre Instrumente herbeigeschafft hatten, auf denen sie an manchen Abenden zusammen zu spielen pflegten, als unter sich verbundene, sinnig lebende Leute. Sie wurden die vier frommen Geiger genannt, weil sie teils aus Liebhaberei, teils auch um einen kleinen Nebengewinn zu erzielen, sonntags auf dem Chore einer der vielen Kirchen der Stadt mitspielten. Ihr Hauptmann war ein hübscher bräunlicher Rheinländer von etwas untersetzter Gestalt, mit heitern Augen und treuherzigem Munde, der von krausligem Barte umgeben war. Er hieß bei der Künstlerschaft der Gottesmacher, weil er nicht nur silberne Kirchengeräte von guter Form schmiedete, sondern auch Kruzifixe und Muttergottesbilder sauber in Elfenbein schnitt und zur tieferen Ausbildung in diesen Übungen vom Rheine herübergekommen war. Überall wohlgelitten, bezeigte er keineswegs eine fanatische Gesinnung und wußte eine Menge lustiger Pfaffenstücklein zu erzählen. Dergestalt logierte er in dem katholischen Wesen wie in einer alten Gewohnheit, die nicht zu ändern ist, dachte darüber niemals nach und führte übrigens stets ein Faß eigenen Weines aus der Heimat mit sich, das er schleunigst zum Füllen sandte, wenn es leer geworden.
Der Gottesmacher handhabte das Cello, und zwar in der Tracht eines Winzers aus dem Bacchuszuge; die erste Violine spielte der lange Bergkönig, der seinen Bart beiseite gelegt hatte und nun als ein junger Bildhauer zum Vorschein kam. [554] Er modellierte, wie man sagte, seit zwei Jahren an einer Kreuztragung, konnte aber nicht von einem bekannten klassischen Vorbilde abkommen; dafür strich er um so fertiger die Geige. Die mittleren Spieler waren zwei Glasmaler; sie machten an den Kirchenfenstern die prächtigen Teppichmuster und anderes Beiwerk und ließen sich nie einer ohne den andern sehen. Sie waren zu uns aus dem Zug der Nürnberger Zünfte herübergekommen, wo sie unter den Meistersingern gegangen; ich aber kannte die ganze Musik vom Mittagstische her, den ich in einer billigen Wirtschaft aufzusuchen gewohnt war. Viele gute Brüder lösten sich dort an den stets vollbesetzten Tischen täglich ab; aber die beiden Glasmaler waren die einzigen, welche ihr Geld in rundlichen wohlverschnürten Lederbeutelchen führten; denn sie freuten sich ihres bescheidenen, aber sichern Erwerbes, lebten sparsam und verdienten jeden Sonntag einen Extragulden mit der Kirchenmusik.
Doch heute taten die vier um der Freude willen ein übriges und lockten mit recht wohlgezogenem Tone das Volk zum Tanze. Bald drehte sich ein halbes Dutzend Paare bequemlich im weiten Raume, darunter Agnes mit Lys, in dessen Arm sie mit erwachender Glückseligkeit dahinschwebte, zum ersten Male seit dem Beginne des ganzen Festes. Das Gebet in der Kapelle schien geholfen zu haben; freilich gehörten auch so fromme Spielleute dazu, und besonders der Gottesmacher, der die Gestalt mit glänzenden Augen verfolgte, drückte jedesmal, wenn sie in seine Nähe kam, den Cellobogen mit vollerer und doch weicher Kraft auf die Saiten und gab seinem Wohlgefallen auf diese Weise den zierlichsten Ausdruck. Ich saß ausruhend bei einem Krüglein frischen Bieres an einem Tischchen, beobachtete ihn mit Vergnügen und begriff vollkommen, wie dem Arbeiter in Silber und Elfenbein das feine Wesen einleuchten mußte.
Nun ging es diesem während ein paar Stunden nach Wunsch; die frommen Geiger spielten als Freiwillige nicht zu oft, so daß [555] niemand ermüdet wurde und genugsam Zeit zu geruhiger Unterhaltung übrigblieb. Die Sonne ging dem Untergange entgegen, und im Hause begann es zu dämmern; Erikson erschien an allen Enden gleich einem Haushofmeister und ließ die Lichter anzünden, aufhängen, hinstellen, wie es gehen wollte. Dann verschwand er wieder, um in einem neuern Saale das einfache Abendessen zu ordnen, mit welchem die frohsinnige Witwe ihre Eingeladenen bewirten wollte so gut es sich in der Eile habe tun lassen, teilte der Unermüdliche entschuldigend mit, als ob es bereits seine eigene Angelegenheit wäre.
Lys indessen ging ab und zu, sich anderwärts umzusehen; endlich aber kam er nicht mehr zurück. Wir harrten seiner beinah eine Stunde; Agnes verhielt sich schweigend und gab mir kaum eine Antwort, wenn ich das Wort an sie richtete; auch mit andern wollte sie weder plaudern noch tanzen. Zuletzt, da ich sah, daß sie des Wartens müde war und wieder zu leiden begann, schlug ich ihr vor, in die anderen Teile des Hauses zu gehen und zu betrachten, was alles dort vorfiele. Das nahm sie an, und ich führte sie langsam durch verschiedene Räume, wo sich überall einzelne Gesellschaften vergnügten, bis wir in ein Kabinett gelangten, in welchem an zwei oder drei kleinen Tischen behaglich gespielt wurde. An einem derselben saß Lys, der Hausherrin gegenüber und zwischen zwei älteren Herren, und spielte eine Partie Whist; denn die letzteren gehörten zu Rosaliens Verwandten, welchen sie die Zeit so angenehm als möglich zu vertreiben wünschte, und natürlich hatte sich Lys beeilt, das Opfer mit ihr zu teilen. Er war so glücklich und in seine Lage vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie wir dem Spiele zuschauten und sich noch andere Zuschauer sammelten.
Die Partie ging zu Ende; Lys und Rosalie hatten den alten Herren einige Louisdors abgenommen, was den Unverbesserlichen als ein günstiges Zeichen so bewegte, daß er seine Freude nicht verbergen konnte. Doch Rosalie nahm die Karten zusammen [556] und bat die Spieler, zu welchen auch die von den andern Tischen getreten waren, eine kleine Rede von ihr anzuhören.
»Ich habe mich«, begann sie mit artiger Beredsamkeit, »bisher arg gegen die Kunst versündigt, indem ich, obgleich mit Glücksgütern gesegnet, soviel wie nichts für sie getan habe! Ich bin um so tiefer beschämt, als es mir so gut unter den Künstlern ergeht, und ich glaube auch schon meine Dankbarkeit für die ehrenvolle Anwesenheit so fröhlicher Musenkinder am besten einigermaßen abzutragen, wenn ich endlich beginne, etwas Nützliches zu tun. Nun aber ist es eine bekannte Eigenschaft der Protektoren und Gutesstifter, daß sie für ihre Sache stets Teilnehmer anwerben und möglichst ins Breite wirken müssen, damit das Gute um so mehr Boden gewinne. So hören Sie denn, werte Freunde! Am heutigen Nachmittage, als ich um das Haus herumging, irgendeinen Dienstboten zu rufen, fand ich in einer verborgenen Ecke des Gartens den jüngsten und zierlichsten unserer Gäste, den Pagen Gold des Herren Bergkönigs, der am Zuge so großmütig seine Schätze ausgestreut hat. Der noch nicht siebzehn Jahre zählende Knabe stand bei seinem Genossen, dem Pagen Silber, einen offenen Brief in der Hand, bleich und entsetzt und schwere heiße Tränen in seinen hübschen Augen zerdrückend. In der offenen und teilnehmenden Stimmung, in der wir uns ja alle befinden, konnte ich mich nicht enthalten, hinzuzutreten und mich nach der Ursache solchen Leidwesens freundlich zu erkundigen. Da vernehme ich, daß schon in den gestrigen Abendzeitungen die Nachricht von einem großen Feuer gestanden hat, welches seit Tagen in der fernen Vaterstadt des trauernden Knaben watet, während wir in unserm Freudengedränge hievon keine Ahnung hatten. Und heute bringt der Silberpage, der in der Morgenfrühe ordentlich schlafen gegangen ist und mittags seinen Freund abholen wollte – denn beide sind Zöglinge unserer Akademie und arbeiten nebeneinander –, heute nachmittags bringt [557] er jenen Brief hier hinaus, wo er den Freund aufgesucht hat. In dem Briefe steht, daß auch die Straße, darin jener geboren und seine alternde Mutter wohnt, bereits in Asche liegt und die Mutter ohne Obdach ist. Ich lasse durch Herren Erikson in der Eile weitere Nachfrage halten. Der blutjunge Mensch, ungewöhnlich begabt, ist in ungewohnt frühem Alter hierhergesandt worden, um mit Hilfe einiger geringer Sparmittel sich frühzeitig emporzubringen, ein Wagnis, welches sich bis jetzt durch den glücklichen Fleiß des Schülers zu rechtfertigen schien. Nun ist alles in Frage gestellt! Nicht nur sind vielleicht die Existenzmittel durch das Feuer für immer verloren, sondern der arme Gesell kann im Augenblicke nicht einmal hineilen und sein Mütterchen in dem Elend und Wirrsal aufsuchen, weil er die paar Taler, die hiezu dienen würden, an die Kosten dieses Karnevals gewendet hat, überredet von andern, die seine glückliche Knabengestalt nicht entbehren mochten! und weil er ohnedies gerade einer Sendung von Hause entgegensah, die nun nicht kommen kann. Und eben über seinen vermeintlichen Leichtsinn macht er sich die bittersten Vorwürfe und will in Selbstanklagen vergehen, wie wenn er das entsetzliche Feuer selber angezündet hätte! Ich habe den unseligen Pagen, dem das Goldausstreuen so schlecht bekommen ist, sogleich veranlaßt, nach seiner Wohnung zu gehen und seine Sachen zu packen; allein mich dünkt, man sollte trachten, daß er auch wieder kommen und weiterlernen kann, sobald das Mütterchen versorgt und beruhigt ist. Mit einem Wort ich möchte für den Unglücksvogel eine bescheidene Pension stiften, die ein paar Jährchen hinreicht, und hier den Anfang machen! Ich lege die Karten aus, halte Bank, wie ich es leider an Badeorten gesehen habe, als ich meine seligen Eltern dahin begleiten mußte. Wer verliert, muß es verscherzen; wer gewinnt, legt die Hälfte des Gewinnes in diese Schale, die den Pensionsfonds vorstellt! Spielen dürfen nur Nichtkünstler; Herr Lys ist ausgenommen, der nicht von seiner Kunst lebt, wie ich höre!«
[558] Nach diesen Worten zog sie eine beschwerte Börse und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann mischte sie die Karten und rief: »Also machen Sie Ihr Spiel, Herren und Damen! Rot oder Schwarz?«
Die etwas überraschte Gesellschaft zögerte ein paar Sekunden; da setzte Lys ritterlich ein Goldstück und gewann. Rosalie zahlte ihm die Hälfte und warf die andere in eine geleerte Zuckerschale, die gerade zur Hand war.
»Schönsten Dank, Herr Lys! Wer setzt weiter?« sagte sie fröhlich und huldvoll.
Ein älterer Mann, den sie mit »Brav, Herr Oheim!« anredete, setzte ein Zweiguldenstück und gewann auch. Sie legte einen Gulden in die Schale und gab ihm den andern samt seinem Einsatz. Drei oder vier Damen, hiedurch ermutigt, wagten gleichzeitig jede ein Guldenstück und verloren, und Rosalie warf lachend für jede einen halben Gulden in das Gefäß. Die Frauen zu rächen, wie er sagte, legte Lys abermals einen Louisdor hin, worauf einige Herren sich mit doppelten Talerstücken einstellten und auch die Frauen sich wieder mit einzelnen halben, ja ganzen Gulden hervorwagten. Das Gewinnen und Verlieren wechselte ziemlich gleichmäßig, aber stets fiel etwas in die Zuckerbüchse, und wenn auch langsam, wuchs der Pensionsfonds, wie Rosalie es nannte, doch sichtbarlich an.
Doch Lys rief jetzt: »Das geht zu sachte voran!« und setzte vier Goldstücke, den Rest des Bargeldes, das er in seiner Börse trug. »Schönen Dank abermals!« sagte Rosalie, als sie gewann und die Hälfte in die Schale warf. Es war nicht recht ersichtlich, ob Lys sich mit ihr freute; doch ergriff er einen Stuhl und setzte sich der schönen Frau gegenüber, indem er rief: »Noch immer besser muß es kommen!« Er pflegte niemals auszugehen, ohne eine größere Summe Geldes in Noten bei sich zu tragen, einer langjährigen Reisegewohnheit zufolge. Auch jetzt hielt er die Brieftasche in seinen Gewändern irgendwo versorgt, zog sie hervor und legte eine Note von hundert rheinischen [559] Gulden hin, dann, als er sie verlor, die zweite, dritte und so weiter bis zur zehnten, welches die letzte war. Der ganze Vorgang, Zug um Zug, dauerte nicht länger als zwei Minuten, so daß Rosalie mit einem einzigen strahlenden Blicke und einem einzigen Lächeln, das sie, fast ohne zu atmen, auf Lysen gerichtet hielt, ausreichte von der ersten bis zur letzten Note, welche sie ohne Abzug einer Hälfte vorweg in die Schale warf. Die blitzartige Schnelligkeit, mit welcher der Zufall spielte, verlieh der Szene eine eigentümliche Anmut und brachte den Eindruck hervor, wie wenn die rosige Bankhalterin mehr als Brot essen könnte, das heißt geheimnisvoller Künste mächtig wäre.
»Wir haben genug!« rief sie, »tausend Gulden ohne das Bare! Mehr als fünfhundert Gulden soll ein so junger Bursch im Jahr nicht vertun. Also können wir ihn zwei Jahre durchbringen und wollen das Geld beim Bankier hinterlegen! Morgen aber soll er vorerst nach Hause reisen!«
Dann malte sie sich und uns die Erkennungsszene aus, welche zwischen der abgebrannten Mutter und dem unverhofft mit Hilfe erscheinenden Sohne stattfinden werde; sie beschrieb nochmals, wie der blühende Junge, fern von der Heimat, mitten im Jubel eines Maskenfestes von der Schreckenskunde überfallen, verzweifelt dagestanden und mit den bitteren Tränen gekämpft habe. Sie war in ihrer Freude jetzt so schön, daß sie den Höhepunkt weiblichen Reizes erreichte und einen Abglanz ihrer Schönheit auf Lysens Gesicht warf, als sie ihm über den Tisch weg die Hand bot, die seinige drückte und herzlich schüttelte, indem sie sagte: »Freuen Sie sich nicht auch an dem bißchen Sonnenschein, das wir Ihnen danken? Ohne Ihren raschen Edelmut wäre ja nicht so bald geholfen! Sie sollen auch unser Vorsteher sein und mich heut abend zu Tisch führen!«
Bei diesen Worten schienen ihre Gedanken eine andere Richtung zu nehmen; sie erhob sich, bat um Entschuldigung und zog sich zurück. Gleich darauf eilte auch Lys durch die gleiche [560] Türe fort, als ob er etwas Vergessenes zu sagen hätte. Es dauerte eine halbe Stunde, bis Rosalie an Eriksons Arm wieder erschien, um an der Spitze ihrer lustigen Hausbesatzung zu Tisch zu gehen. Lys kam nicht wieder; man hörte, er sei in das Waldlager hinüber, das er auch noch habe in seiner Lustbarkeit sehen und studieren wollen.
Was inzwischen vorgefallen, wurde später ziemlich im Zusammenhange denjenigen bekannt, die von den Dingen in dieser oder jener Weise berührt waren. Lys hatte mit stürmischen Schritten, mit plötzlicher Entschlossenheit die Verschwundene verfolgt und in einem einsamen Zimmer erreicht, wo sie mit einem andern als ihm eine kurze Zwiesprache zu halten dachte. Ihre beiden Hände ergreifend, erklärte er seine ernste und heilige Liebe und forderte sein Lebensglück und seine Ruhe von ihr, die einzig sie ihm geben könne. Sie sei das Weib der Weiber, die göttliche Frau, die immer nur einmal in der Welt sei, schön und hell und heiter, wie der Stern der Venus, klug und gütig und nur sich selber gleich. Er wisse jetzt, warum er sich in Irrsal und Wankelmut umgetrieben, indem er das Beste geahnt und gesucht, aber nicht habe finden können; aber nun habe er auch die unerbittliche Pflicht und das unveräußerliche Recht, es zu erringen. Keine Rücksicht dürfe ihn hindern, in so entscheidender Stunde den Schritt über die schwanke, schmale Brücke zum Dasein zu tun und ihr das ungeteilte und ganze, von keinen Zufälligkeiten getrübte Leben anzubieten, ein Leben, das die Notwendigkeit, nicht die eiserne, sondern die goldene, selbst sein würde. Denn es sei nicht möglich, daß irgendein Lebendiger sie so zu kennen und zu würdigen vermöge wie er, das fühle er untrüglich und glühend, wie ein lohendes Feuer, eine Glut, die zugleich ein Licht, das Licht des Urteils sei, das gegenseitig sein müsse.
Und was solcher großen Worte mehr sein mochten, ihm selbst ungewohnt; denn er soll dabei so gut und begeistert, ja hinreißend ausgesehen haben, daß es Rosalien unmöglich war, [561] den Überfall mit einer schalkhaften oder verletzenden Wendung abzuweisen, obgleich sie sich schon durch den Anzug, in welchem er heute in ihrem Hause erschienen, unangenehm betroffen fand.
Sie entzog ihm erschreckt die Hände, trat zurück und rief: »Bester Herr Lys! ich verstehe von Ihren geheimnisvollen Reden nur so viel, daß das Licht, das gegenseitige Urteil, von dem Sie sprechen, uns gänzlich fehlt. Ich bin nicht das Weib der Weiber, behüte mich Gott davor, da müßte ich ja die Summe aller Schwachheit sein! Ich bin ein einfaches, beschränktes Wesen und kann zunächst keine Spur einer Neigung zu Ihnen entdecken, und Sie können mich ebensowenig kennen, da Sie mich vor noch nicht vierundzwanzig Stunden zum ersten Mal gesehen haben!«
Er unterbrach sie jedoch, suchte wieder ihre Hände zu fassen und fuhr fort er kenne sie wohl, samt ihrer Vergangenheit und Zukunft. Eben daß sie in Demut und Verkennung dahingelebt, sei das Wahrzeichen ihrer Bestimmung, siegreich zur Klarheit und zum Glanze ihres Rechtes zu kommen! Das sei ja das Tiefsinnige in so vielen Götter- und Menschensagen, daß die himmlische Güte und Schönheit in Dunkelheit und Dienstbarkeit niedergestiegen und aus der rührenden Unkenntnis ihrer selbst zum Bewußtsein gerufen worden seien, das Wesenhafte sich aus dem Staube des Unwesentlichen habe befreien müssen.
Plötzlich schlug sie die Hände zusammen und rief mit klagendem Tone: »Himmel, welch ein Unglück! Hätt ich das nur vor acht Tagen gewußt – jetzt ist es wieder einmal zu spät! Ich bin verlobt, raten Sie, mit wem?«
»Mit Erikson!« versetzte er mit einiger Heftigkeit. »Ich habe mir's halb gedacht! Aber das tut nichts! Die echten Schicksalswandlungen gehen über dergleichen hinweg wie ein Morgenwind über das Gras! Vor dem Entschlusse von heute muß der verjährte Willen von gestern verbleichen.«
[562] »Nein!« erwiderte sie mit Kopfschütteln und scheinbar trauriger Verlegenheit, »ich gehöre zu dem Geschlechte derer, die Wort halten; ich kann nicht anders, ich gehöre zum Grase!«
Sie schwieg einen Augenblick, wie um sich zu besinnen, während er mit dringlichen Reden wieder begann; doch sie unterbrach ihn abermals, als ob sie einen guten Gedanken gefunden hätte.
»Ich habe gehört oder gelesen von ausgezeichneten Frauen, welche mit unbedeutenden Männern friedlich gelebt, indessen sie aber mit höchst bedeutenden Geistern eine Seelenfreundschaft gepflegt haben, wozu jedoch für den Anfang eine beträchtliche Entfernung gehört, bis das beruhigende Alter die rechte Weihe bringt. Solche Frauen, wenn sie genugsam Kinder geboren und wohl erzogen haben, sollen alsdann nicht selten zum höchsten Verständnis jener Geister sich emporschwingen, da es ihnen nicht mehr an Zeit gebricht, den großen Dingen nachzuleben. Nun sehen Sie, wie schön wir es doch noch einrichten könnten, wenn wir nur wollten. Sollte wirklich etwas so Außerordentliches in mir sein, wie Sie mich bald glauben machen, so kann ich ja einstweilen meinen unbedeutenden Erikson heiraten, Sie entfernten sich für ein paar Jahrzehente –«
Sie schwieg nicht ohne Besorgnis, als Lys mit einem schmerzlichen Seufzer auf einen Stuhl sank und vor sich niedersah. Er merkte erst jetzt, daß die reizende Frau ihr Spiel trieb, und da er zugleich sein Kleid gewahrte, mochte er der bedenklichen Lage innewerden, in die seine Schwäche ihn geführt, vielleicht auch zum ersten Mal ihn die Empfindung von der dunklen leeren Stelle in seinem sonst so reichen Wesen überschatten.
Ungehört auf den weichen Teppichen des kleinen Zimmers war Erikson schon vor einigen Minuten eingetreten und hinter dem Freunde gestanden, und Rosalie hatte ihre schalkischen Reden in seiner Gegenwart gehalten, die sie mit keinem Zwinkern ihrer Augen verriet.
[563] »Aber, närrischer Kauz«, sagte er, indem er jenem die Hand auf die Schulter legte, »wer wird denn seinen Kameraden die Bräute wegschnappen?«
Lys schnellte sich herum und sprang auf. Zur Rechten sah er die Frau, zur Linken den Nordländer stehen, die sich zulächelten.
»Da!« sagte er mit Lippen, die nicht nur von Reue und Verlegenheit, sondern auch ein wenig von Herzenstrauer verbittert schienen, »da hab ich's nun! Das ist die Folge, sobald man sich einmal selbst hingibt. Nun erfahr ich, wie es tut, wenn einer in die Verbannung geht. Ich wünsch euch übrigens Glück!« Damit wandte er sich rasch und ging fort.
Als es später zur Tafel ging, welche zu einem mehr traulichen als prunkenden Mahle gerüstet war, und Lys nicht wieder erschien, fiel mir abermals die Sorge für die gute Agnes anheim. Sie hatte, lautlos neben mir stehend, dem Spiele zugeschaut, dann während der langen Pause meinen Arm ergriffen und war mit mir herumgegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ich hatte noch in keiner Weise mit ihr über ihre Sache und ihren Zustand zu reden gewagt und fühlte auch kein Bedürfnis oder Geschick dazu; aber ich spürte wohl, wie es in ihrem Busen fortwährend arbeitete, zornige und wehmütige Seufzer sich bekämpften und miteinander zerdrückt und hinuntergepreßt wurden.
Ich begleitete sie an den Tisch und kam an ihre Seite zu sitzen. Als jetzt Erikson eine kurze Rede hielt, das Ereignis der Verlobung verkündigte und die Bitte beifügte, die fröhliche Gesellschaft möchte sein Glück bei dieser guten Gelegenheit mitfeiern helfen, hörte ich, wie Agnes mitten im Geräusch der allgemeinen Überraschung, des Gläserklingens und Hochrufens tief aufatmete. Wie von einer Last befreit, saß sie einige Minuten in sich gekehrt; doch da Lys nicht wieder zum Vorschein kam, half ihr ja alles nichts; sein Abfall trat durch den Vorgang, den sie ahnte, nur um so heller ins Licht, und ihre einfache [564] Seele war nicht geartet, auf sein Mißgeschick neue Pläne zu gründen. Doch bezwang sie ihren Kummer und hielt tapfer aus, ohne nach Hause zu begehren. Sie folgte mir sogar, als ich sie zum Anschlusse einlud, da sich alle von ihren Plätzen erhoben, um an der bräutlichen Wirtin glückwünschend und grüßend vorüberzuziehen.
Rosalie war zunächst von ihren Verwandten umgeben, welche von der unerwarteten Verlobung nicht sonderlich erfreut schienen und ziemlich ernsthafte Gesichter machten; denn die kluge Frau hatte den Tag benutzt, sie in die Falle zu locken und sie zu zwingen, ihrem Verlobungsfeste in ehrbarer Weise beizuwohnen, ohne daß sie, schon der Menge der Gäste wegen, den geringsten Widerstand zu leisten vermochten mit unwillkommenen Warnungen oder Ratschlägen. Um so lieblich heiterer nahm sich die Zufriedene unter den verdrossenen Vettern und Basen aus.
Nun war es aber ein ergreifender Anblick, wie in der bunten Reihe der vielgestaltigen Gäste auch die Agnes herantrat und das verlassene Weib dem siegreichen seinen Gruß darbrachte. Sie beugte sich nieder und küßte der Braut die Hand wie das demütige Unglück dem Glücke. Rosalie sah sie betroffen an und drückte ihr dann teilnehmend die Hand. Sie hatte das Mädchen ganz vergessen, wie sie in diesem Augenblick auch den schlimmen Lys schon vergessen, und man konnte bemerken, daß sie sich irgend etwas vornahm; allein die nächste Sekunde entführte ihr das weitereilende Trauerwesen und gab sie selbst ihrer glückseligen Zerstreuung zurück.
Nachdem alle Gäste ihre Plätze wieder eingenommen und eine gleichmäßige, schließlich auch von den doch lebelustigen Vettern geteilte Heiterkeit sich eingestellt, gab es bald einen neuen Unterbruch. Die Kunde von dem Glückswechsel eines Genossen war rasch in das große Lustlager im Walde gedrungen, wo die unverwüstliche Jugend noch immer hauste. So marschierte denn jetzt mit Trommel und Pfeife und fliegender [565] Fahne ein Zug Landsknechte zur einen Türe herein, während in der anderen eine Schar lustiger Zunft- und Handwerksgesellen mit ihrer Musik erschien. Beide Parteien zogen um die Tafel herum, mit Hüteschwingen und lautem Zuruf, und führten sich auf biedere Art zu einem Ehrentrunk ein. Die bisherige Ordnung ward dadurch aufgehoben, und Erikson hatte samt den Hausbedienten genug zu tun, den Zuwachs unterzubringen, der so ziemlich alle Räume füllte. Doch ging alles mit froher und guter Laune vonstatten, die Denkwürdigkeit des Tages steigerte sich zusehends.
Ich fragte Agnes, was sie vornehmen wolle, ob sie nach Hause zu kehren oder noch zu bleiben wünsche? Mir wäre das erstere nicht unwillkommen gewesen; denn so lieblich und ehrenvoll mich die fortgesetzte Obhut eines so unschuldig reizenden Geschöpfes dünkte, empfand ich doch nach Art junger Deutschgesellen den Wunsch, das bisher Versäumte nachzuholen und die letzten Stunden doch noch unter meinesgleichen, ein Freier unter Freien, zu verbringen. Agnes zögerte mit ihrem Entschlusse; sie schauderte heimlich vor dem Alleinsein in ihrem Hause, wo sie keines rechten Trostes gewärtig war, und mochte sich auch sträuben, die Stelle zu verlassen, wo in jüngster Zeit noch der Geliebte geweilt und sie in neuer Hoffnung gelebt hatte. So führte ich sie einstweilen in den verschiedenen Gemächern, zwischen den malerischen Zechergruppen herum, überall wo es etwas Merkwürdiges zu sehen gab, wie der unermüdliche Einfall einzelner oder vieler es stets neu gebar.
Auf unserer Wanderung hörten wir einen wohltönenden vierstimmigen Gesang und gingen ihm nach. Am Ende eines schwach erleuchteten Flures fanden wir einen erkerartigen Ausbau, der wegen seiner Fenster zu einer kleinen Orangerie diente; denn er war mit etwa einem Dutzend Orangen-, Granat- und Myrtenbäumen besetzt, zwischen welche der Gottesmacher und seine Leute ein Tischchen gestellt und sich niedergelassen hatten. Über dem Eingange hing ein altes eisernes Schenkezeichen [566] in Gestalt eines Pentagramms oder Drudenfußes, das von ihnen in irgendeinem Winkel aufgefunden und herbeigebracht worden. Da saßen sie nun, der rheinische Winzer, der Bergkönig und die zwei glasmalenden Meistersinger, und zeigten, daß sie im vierstimmigen Zusammensingen nicht minder geübt waren als im Saitenspiel. Als wir vor ihrer Herberge standen und zuhörten, nötigten sie uns sofort, bei ihnen Platz zu nehmen, indem sie zusammenrückten und Stühle herbeiholten. Zu meiner Verwunderung ließ Agnes sich das gern gefallen; der Gesang schien ihr Herz anzulocken, zu beschäftigen und still zu machen. Um jene Zeit waren einige alte deutsche Volkslieder zuerst wieder hervorgezogen und von lebenden Komponisten sangbar gemacht worden. Ebenso wurde, was von Eichendorff, Uhland, Kerner, Heine, Wilhelm Müller im Tone jener Lieder vorhanden, von den Sangmeistern in mehr oder minder schwermütige Noten gesetzt und eben als das Neuste von der geschulten Männerjugend gesungen, eh es, teils zum zweiten Male, ins Volk überging. Noch nie hatte Agnes dergleichen gehört. Soeben war das Lied »Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum« zu Ende, und es kam »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht«. Alte Scheidelieder, Todeskundschaften, Klagen um entschwundenes Glück, Lenzverheißungen, die Lieder vom Mühlrad und vom Tannenbaum, Uhlands »Nun, armes Herz, vergiß der Qual, nun muß sich alles, alles wenden« eins nach dem andern kam zum reinen und ausdrucksvollen Vortrag, wobei der Gottesmacher mit seinem hellen Tenor die Oberstimme führte, der Bergkönig den Baß sang und die Glasmaler andächtig dazwischen mitliefen, zuverlässig auf Ton und Takt haltend.
Agnes lauschte unverwandt, und altes, was sie hörte, schien wie für sie gemacht und aus ihrer eigenen Brust zu kommen. Indem sie nach jedem Liede erleichternde Atemzüge tat, wurde sie zusehends ruhiger und freier. Ein sonniger Frohsinn ging um unsere kleine, halb verborgene Tafelrunde; es war, wie wenn [567] alle stillschweigend fühlten, daß ein bedrängtes Herz sich entlastete, obgleich eigentlich außer mir keiner etwas wußte. Jetzt trat noch der herumstreifende Erikson herzu, entdeckte unsere Niederlassung und eilte, als er die Art derselben erkannte, von dannen, um einige Flaschen französischen Schaumweines herbeizuschaffen, worauf er seinen vorsorglichen Rundgang im Dienste der Gebieterin des Hauses fortsetzte.
Agnes und die meisten von uns hatten noch niemals Champagner gesehen, noch weniger getrunken, und schon die nach damaliger Mode noch ganz hohen Gläser, in welchen die Perlen unaufhörlich stiegen, erhöhten unsere Stimmung bis zur Feierlichkeit. Nun kam Rosalie selbst und brachte der Agnes einen Teller süßes Backwerk und Früchte und empfahl uns, mit der feinen Diana ja recht fröhlich und galant zu sein.
Das waren wir denn auch in der besten und ziemlichsten Weise. Vor allen bezeigte sich der Gottesmacher aufmerksam und höflich gegen sie; aber auch die andern wurden ebenso aufgeräumt, als sie in heiterer Ehrerbietung verharrten, stolz darauf, daß eine so poetisch schöne Erscheinung, wie sie's nannten, ihre kleine Kompanie zierte. Als alle auf ihr Wohl mit ihr anstießen, trank sie den schlanken Kelch bis auf den Grund leer, oder vielmehr floß ihr die perlende Süße wie ein Schlänglein in den Mund, ohne daß sie es wußte; wenigstens behauptete der Gottesmacher nachher, er habe an ihrer weißen Kehle gesehen, wie es durchgeschlüpft sei. Nun fing sie an zu zwitschern und meinte, hier wäre es gut, es sei ihr zu Mut, wie wenn sie aus winterlichem Schlackerwetter in ein warmes Stübchen gekommen wäre; aber sie wisse schon, was das sei, immer machten einige gute Menschen zusammen ein warmes Stübchen aus, auch, ohne Ofen, Dach und Fenster!
»Alle guten Leute sollen leben!« rief sie und trank, als die Gläser zusammenklangen, das ihrige abermals auf einen Zug leer und setzte hinzu: »Ei, wie lieb ist dieser Wein! Der ist auch ein guter Geist!«
[568] Das gefiel uns ausnehmend wohl; die vier Sänger huben ohne Verabredung alsogleich mit voller Kraft an: »Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsre Reben«. Kaum war das ehrliche Trinklied verklungen, so sangen sie, auf eine ernst gehaltene Weise übergehend, obgleich nicht in schleppendem Tempo, das andere schöne Lied von Claudius:
»Der Mensch lebt und bestehet
Nur eine kleine Zeit,
Und alle Welt vergehet
Mit ihrer Herrlichkeit« usw.
Als dann die Motette mit dem schwungvollen Halleluja Amen schloß und bei uns eine plötzliche Stille eintrat, hörte man aus den übrigen Räumen her, wie aus der Ferne, das Geräusch der summenden Stimmen, durcheinandertönender Lieder und einer Tanzmusik, welche dunkel fortrollende Tonmasse übrigens in jeder Pause hörbar wurde, die wir machten. In diesem Augenblicke aber machte uns die Sache durch den Kontrast einen feierlichen Eindruck; es war, wie wenn wir den Lärmen der Welt rauschen hörten, während wir in traulicher Beschaulichkeit in unserm Myrten- und Orangenwäldchen saßen. Wir horchten eine Weile mit Behagen auf das wunderliche Tosen und gerieten dann in ein unterhaltliches Gespräch, in welchem wir die Köpfe über dem Tische zusammensteckten und jeder eine heitere oder traurige Geschichte oder Erinnerung zum Vorschein brachte, besonders aber der Gottesmacher eine Menge anmutiger Schwänke von der Mutter Gottes zu erzählen wußte, wie sie einmal einen Kongreß ihrer Vertreterinnen an den berühmtesten Wallfahrtsorten der Welt veranstaltet habe und wie es da zugegangen und ein großer Zwist entstanden sei, wie nicht anders möglich, wo so viele Frauenzimmer zusammenkämen; was sie alles auf der Hin- und Rückreise erlebt und verrichtet hätten; wie die eine als große Fürstin mit verschwenderischer Pracht, die andere aber wie ein schäbiger[569] Filz gereist sei und in den Herbergen, wo sie übernachtet, ihre Engel in den Hühnerstall gesperrt und am Morgen auch wie Hühner abgezählt habe, ob keiner fehle. So seien auch zwei andere große Frauen, die zum Kongreß reisten, die Mutter Gottes von Czenstochau in Polen und die Maria zu den Einsiedeln, mit ihrem Gefolge bei einem Wirtshause zusammengetroffen und hätten im Garten das Mittagessen eingenommen. Als nun eine Schüssel mit Leipziger Lerchen, worauf eine gebratene Schnepfe gelegen, aufgetragen worden, habe die Polackin die Schüssel sofort an sich genommen und gesprochen Soviel sie wisse, sei sie die vornehmste Person am Tische und gebühre ihr hiemit das Störchlein, das da obenauf liege! Denn wegen des langen Schnabels habe sie die Schnepfe für einen jungen Storch gehalten, dieselbe auch mit der Gabel angestochen und auf ihren Teller getan. Die Schweizerin hingegen, über solche Anmaßung entrüstet, habe nur »Swips!« gemacht, und die gebratene Schnepfe sei lebendig und gefiedert vom Teller auf und davon geflogen. Inzwischen habe die Maria von Einsiedeln die Schüssel an sich genommen und sämtliche Lerchen auf ihren und der Ihrigen Teller gestreift, die Frau von Czenstochbau aber »Tirili« gepfiffen, und die Lerchen seien ebenso wie vorhin die Schnepfe aufgeflattert und singend in der Höhe verschwunden, und somit hätten sich die Herrschaften gegenseitig aus Eifersucht das Mittagessen verdorben und sich nachher mit einer dicken Milch begnügen müssen, wozu die schwarzbraunen Gesichter beider Damen sich possierlich verzogen haben.
Agnes saß wie ein Kamerad zwischen uns, einen Arm auf den Tisch und die Wange auf die Hand gestützt. Sie konnte aber nicht recht klug daraus wer den, wie alle die heiligen Marienfrauen, die doch nur ein und dasselbe seien, als so viele unterschiedene Personen herumreisen, sich versammeln und sogar bekriegen können, und sie gab ihrem Zweifel unverhohlenen Ausdruck.
[570] Der Winzer legte den Finger an die Nase und sagte nachdenklich: »Das ist eben das Mysterium, das Geheimnis, das wir mit unserm Verstande nicht zu erklären vermögen.«
Allein der Bergkönig, der in fremdartigen Dingen um so beredter war, je weniger er mit seiner Kreuztragungsgruppe von Raffaels berühmtem Bilde wegkommen konnte, ergriff das Wort und sagte: »Die Sache bedeutet nach meiner Ansicht die ungeheure Allgemeinheit, Allgegenwart, Teilbarkeit und Wandlungsfähigkeit der Himmelskönigin; sie ist alles in allem, wie die Natur selbst, und steht dieser schon als Frau am nächsten auch in Hinsicht der unaufhörlichen Veränderlichkeit, wie sie denn auch außerdem in allen möglichen Gestalten aufzutreten liebt und sogar als streitbarer Soldat gesehen worden ist. Hierin gerade mag sie einen Zug ihres Geschlechtes bewähren, wenigstens der vorzüglicheren Mitglieder desselben, nämlich einen gewissen Hang, Mannskleider anzuziehen.«
Einer der Glasmaler lachte bei diesen Worten. »Mir fällt ein drolliges Beispiel solcher Verkleidungskunst ein«, sagte er und erzählte: »In meiner Vaterstadt, in welcher besonders im Herbst große Märkte stattfinden, waren wir Gassenbuben scharenweise dahinter her, auf diesen Märkten die häufig auf die Erde rollenden Apfel, Birnen, Pflaumen und andere Früchte, wenn sie umgeladen und ausgemessen wurden, zu haschen und solche auch vom Haufen wegzustibitzen. Da lief dann immer ein Junge zwischen uns mit, den keiner kannte, der aber immer zuvorderst und am behendesten von allen war, sich die Taschen füllte, verschwand und bald wieder erschien, um sie abermals zu füllen. Auch wenn der neue Wein von den Bauern in die Stadt geführt und vor den Bürgerhäusern abgezapft wurde und wir mit langen hohlen Schilfrohren unter die Wagen hockten, die Röhrchen heimlich in die untergestellten Bütten und Kübel steckten, um den von den Küfern beim Abmessen einstweilen dorthin gegossenen überschüssigen Most aufzusaugen, war der unbekannte Junge bei der Hand, schluckte den Wein [571] aber nicht hinunter, wie wir taten sondern ließ das vollgesogene Rohr weislich in eine Flasche ablaufen, die er in seiner Jacke verborgen trug. Der Kerl war nicht größer, aber etwas stärker als wir, hatte ein sonderbares ältliches Gesicht, aber eine helle Kinderstimme, und als wir ihn einmal drohend fragten, wie er eigentlich heiße, nannte er sich kurzweg Jochel Klein. Nun, dieser Jochel war ein künstlicher Gassenjunge, nämlich eine klein gewachsene arme Witwe aus der Vorstadt, die nichts zu beißen und zu brechen hatte und, von der Not und ihrem Genie gedrungen, die Kleider eines verstorbenen zwölfjährigen Sohnes anzog, den Zopf abschnitt und sich so zu gewissen Stunden auf die Straße wagte und sich unter die Buben mischte. Als sie ihre Kunst auf die Spitze trieb, wurde sie entdeckt. Auf dem Käsemarkt, wo die Käsehändler ihren Verkehr hielten, hatte sie beobachtet, wie diese Männer mit hohlen Kässtechern aus den großen Schweizerkäsen zum Behufe des Kostens ihrer Qualität runde Stäbchen oder Zäpfchen herausstachen, davon ein Endchen säuberlich vorn abbrachen, kosteten und das Zäpfchen im übrigen wieder in das Loch steckten, daß der Käse wieder ganz war. Also versah sie sich mit einem gewöhnlichen Nagel, strich um die Käse herum und erspähte die Stellen, wo eine zarte Kreislinie ein solches Stäbchen anzeigte. Dann steckte sie im geeigneten Momente den Nagel hinein und zog es heraus, und oftmals trug sie wohl ein halbes Pfund trefflichen Käses nach Haus. Endlich aber, da die Käsehändler überall auf ihren Vorteil erpichter und unduldsamer sind als andere Kaufherren, wurde sie erwischt und der Polizei übergeben und bei dieser Gelegenheit ihr wahrer Stand entdeckt. Man nannte sie aber den Jochel Klein, solang sie lebte.«
Agnes ergötzte sich an der einfachen und harmlosen List der armen Frau und bedauerte nur den schlechten Ausgang. Der andere Glasmaler hingegen meldete sich auch mit einer Verkleidungsgeschichte eines Weibes, die aber grauslicher sei als die von dem weiblichen Gassenjungen.
[572] »Es ist aber eine alte Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert«, sagte er; »im Jahr 1560 oder 62 laut der Chronik geschah es in der Stadt Nimwegen, im Geldernschen gelegen, daß der Scharfrichter nach dem Städtlein Grave an der Maas, auf der brabantischen Grenze, berufen wurde, um drei Missetäter zu richten. Der Nachrichter von Nimwegen lag aber krank und schwach im Bett, weil ihm sein eigener Knecht mit einem vergifteten Süppchen vergeben hatte, um seine Stelle zu bekommen. Denn, sagt der Chronist, es ist kein Amt so elend, daß nicht einer da wäre, der es auf Kosten seiner Seele erhaschen möchte. Der Meister berichtete also an den Rat zu Grave, er könne nicht kommen, werde aber seine Frau stracks an den Scharfrichter von Arnheim senden, mit dem er einen Vertrag zu gegenseitiger Aushilfe geschlossen habe, und es werde derselbe rechtzeitig sich stellen und zu Gebote sein. Der Frau befahl er, sich unverweilt nach Arnheim zu begeben und den dortigen Geschäftsfreund in Kenntnis zu setzen. Doch die Frau, ein wohlgewachsenes, schönes und freches Weib, war geizig und wollte den Lohn eines so einträglichen Geschäftes nicht fahrenlassen. Statt nach Arnheim zu gehen, zog sie heimlich die Kleider ihres Mannes an, nachdem sie Hemd und Wams der Brust wegen erweitert hatte, setzte seinen Federhut auf den schnell geschorenen Kopf, gürtete das breite Richtschwert um und machte sich bei Nacht und Nebel auf den Weg nach Grave, wo sie zur rechten Stunde eintraf und sich bei dem Burgermeister meldete. Ihm fiel zwar ihr glattes Gesicht und die junge helle Stimme auf, und er fragte, ob sie oder vielmehr er, der angebliche Scharfrichter, auch die hinreichende Kraft und Übung zu dem vorhabenden Werke besitze? Aber sie versicherte mit frechen Worten, daß sie das Spiel genugsam kenne und es schon manchmal getrieben habe. Sie griff auch gleich nach dem Stricke, an welchem der erste der armen Sünder hinausgeführt wurde, und setzte sich so in den Besitz desselben. Als es aber so weit gekommen, daß der Mann auf dem Stuhle saß [573] und sie ihm die Augen verband, ward er etwas unruhig; sie bückte sich tiefer über ihn her, um zu sehen, ob die Binde überall gut schließe, und so spürte er ihre weiche Brust an seinem Kopfe. Sogleich schrie er, es sei ein Weib da! er wolle aber nicht von einem solchen, sondern von einem ordentlichen Nachrichter getötet werden, das sei sein Recht! Der arme Mensch hoffte durch den Umstand einen Aufschub zu gewinnen. In der entstehenden Verwirrung schrie er immer lauter, man solle ihr die Kleider herunterreißen, so werde man sehen, daß es ein Weibsbild sei. Da die Sache endlich die Umstehenden nicht unwahrscheinlich dünkte, wurde einem Henkersknecht geboten, sich zu überzeugen, und mit der Schere, mit welcher er soeben dem Übeltäter das Haar abgenommen, schnitt er dem Weibe auf Brust und Rücken Wams und Hemd auf und streifte es ihr von den Schultern, so daß sie vor allem Volke mit entblößtem Oberkörper dastand und mit Schmach von der Richtstätte gejagt wurde. Die Verbrecher mußten wieder ins Gefängnis geführt werden; das aufgebrachte Volk aber wollte das Weib ins Wasser werfen und ließ sich nur mit Mühe daran verhindern. Dennoch stürzten die Frauen und Mägde aus den Häusern, verfolgten die fliehende Scharfrichterin mit Kunkeln und Besenstielen bis vor die Stadt und zerbleuten ihr den glänzendweißen Rücken. So nahm diese Verkleidung ein schlechtes Ende für die verwegene Amazone. Als ihr Mann bald darauf starb, wurde wirklich der falsche Knecht, der ihn vergiftete, an seiner Stelle Nachrichter zu Nimwegen, heiratete die Witwe, und hatte demnach der Henker eine Frau, die seiner wert war.«
Mit dieser derben Geschichte hatte unser Geplauder die Grenze fast überschritten, die wir dem anwesenden Mädchen schuldig waren. Sie schüttelte schauernd den Kopf und säumte nicht, ihr Glas auszutrinken, als wir zusammen anstießen. Während der ganzen Unterhaltung hatte jeder seinen langen Kelch fest in der Hand gehalten, damit er nicht umfalle und zu gelegentlichem Zuspruch dem Munde möglichst nah sei, und [574] Agnes hatte in ihrer Unerfahrenheit und im glücklichen Vergessen aller Not uns getreulich nachgeahmt. Als unwissenden Junggesellen war uns unbekannt, wie man sich in solchem Falle mit einem weiblichen Wesen zu benehmen hat, und füllten alle Gläser, sooft sie sich leerten, uns der wachsenden Aufregung und Fröhlichkeit des guten Kindes erfreuend.
Reinhold, der Gottesmacher, hatte während der langen Plauderei von einem hinter der Agnes stehenden Orangenbäumchen blühende Zweige gebrochen, sie zu einem Kränzlein verflochten und drückte ihr jetzt dasselbe auf den Kopf. Zugleich bat er sie, ihn mit einem Tänzchen zu beglücken, zu welchem einer oder zwei von den andern aufspielen sollten.
»Nein!« rief sie, »zuerst will ich euch einmal einen Ländlertanz allein vorführen, den ihr alle vier spielen sollt!« Die Gesellen gehorchten, nahmen die Instrumente aus den Futteralen und stimmten sie wieder. Ich rückte zur Seite, sie spielten einen damals sehr beliebten Volkstanz jener Gegend, und Agnes tanzte auf dem kleinen Raume, der zwischen den Bäumchen übrig war, mit aller Anmut die langsame und eine gewisse Sehnsucht ausdrückende Weise. Kaum war der letzte Takt verklungen, so verlangte sie, indem sie sich das schäumende Glas geben ließ und es mit dürstenden Lippen leerte, einen Walzer, den sie noch allein tanzen wolle. Die guten Junggesellen geigten, so kräftig sie vermochten, und Agnes drehte sich, die Hände in die schlanken Hüften stützend, mit glänzenden Augen um sich selber. Auf einmal griff sie mit den Armen in die Luft, als suche sie jemanden, stand still, nahm den Kranz vom Kopfe, besah ihn, setzte ihn wieder auf und fing darauf an zu schwanken. Ich sprang schnell hinzu und führte sie zu ihrem Stuhle; die Musiker hielten erschreckt inne, das arme Mädchen aber warf Kopf und Arme auf den Tisch, daß alle Gläser umstürzten, und begann überlaut mit herzzerreißendem Jammer zu weinen und nach ihrer Mutter zu rufen. Sie weinte und rief so durchdringend, daß andere Gäste herbeikamen und wir in der[575] größten Bestürzung und Ratlosigkeit herumstanden. Wir versuchten sie aufzurichten; allein sie sank uns aus den Händen und zu Boden, wo sie leichenblaß mit zitternden Lippen und Händen ausgestreckt lag und bald gänzlich leblos schien, so daß jetzt eine ängstliche Stille eintrat.
Endlich mußten wir uns entschließen, das arme reglose Wesen wegzutragen und im bewohnten oder zur Hilfe bereiten Teile des Hauses eine Stätte zu suchen. Der Bergkönig faßte sie unter den Armen, der Gottesmacher nahm die Füße, und so trugen sie die leichte silberschimmernde Last sorgsam davon. Ich ging voraus, und die zwei Glasmaler folgten, ihre Violinen unter dem Arm, die sie einzupacken keine Zeit fanden und doch nicht zurücklassen wollten, weil es gute Instrumente waren.
Frau Rosalie war leider in Eriksons Begleitung schon nach der Stadt gefahren, ohne von irgendwem Abschied zu nehmen, damit nicht gegen ihren Willen ein Aufbruch stattfände und die Lustbarkeit gestört würde. Um so willkommener war die Hausmeisterin oder Verwalterin, die herbeikam und unsern Trauerzug in ihre eigene Wohnstube leitete, wo die Regungslose auf ein bequemes Ruhbett und einige herbeigeholte Kissen gelegt wurde.
»Es ist nicht so schlimm«, sagte die beratene Frau, als sie unsern Schreck bemerkte; »das Fräulein wird einen Rausch haben, das wird bald vorübergehen!«
»Nein, sie hat einen Kummer!« flüsterte ich ihr zu.
»Dann hat sie eben in den Kummer hinein getrunken«, versetzte sie; »wer gibt einem jungen Mädchen denn so viel zu trinken?«
Erst jetzt erröteten wir und standen in Beschämung und Verlegenheit, bis uns die wackere Frau fortschickte, nachdem sie sich noch erkundigt hatte, wo die Erkrankte hingehöre. »Der Wagen der Herrschaft«, sagte sie, »wird noch einmal herauskommen, um etwa nötig werdende Dienste zu leisten; also werden wir für alles besorgt sein.« Reinhold anerbot sich und [576] ließ es sich nicht nehmen, im Hause zu bleiben; er drang in mich, ihm den fernern Schutz der Verlassenen anheimzustellen, und ich war es zufrieden, da er für einen wohlbeschaffenen braven Mann galt. Agnes ging also, um ihr Schicksal zu erfüllen, in ihrer Bewußtlosigkeit und überhaupt während des ganzen Festes von einer Hand in die andere wie ehmals eine in die Sklaverei geratene Königstochter.
Ich trennte mich von den Geigern, die für Unterbringung ihrer Instrumente zu sorgen hatten, und machte mich auf den Weg. Übrigens wurde sowohl hier als am Walde drüben allgemein aufgebrochen, und die Straße war von den Wagen der Heimkehrenden bedeckt. Da ich nicht gleich eine Unterkunft fand, zog ich vor, zu Fuß zu gehen, und um nicht von den Fuhrwerken, die im Trabe fuhren und sich jagten, gefährdet zu werden, betrat ich den Seitenpfad, der sich auf dem Waldboden längs der Straße hinzog. Der abnehmende Mond erhellte den Weg einigermaßen durch die Bäume; immerhin behinderte das Gestrüppe des Unterholzes da und dort die Schritte, und ich holte denn auch einen einsamen Wandler ein, der sich mit Weißdornruten und Brombeerstauden ärgerlich herumschlug. Es war Lys, unter dessen dunklem Mantel das feine Leinwandkleid hervorschimmerte und an den Dorngeflechten hängenblieb.
Nachdem wir uns erkannt, erzählte ich das Vorgefallene in einem Tone, der ihn erraten ließ, wo ich hinauswollte. Lys, der ein ausdauernder Trinker war, aber alle Betrunkenheit schon an Männern verabscheute, empfand einen tiefen Verdruß und benutzte denselben überdies, weitere Vorwürfe oder unliebe Bemerkungen abzuschneiden. »Das ist eine saubere Geschichte!« rief er, »sind das nun euere Heldentaten, ein unerfahrenes Mädchen berauscht zu machen? Wahrhaftig, ich habe das arme Kind guten Händen übergeben!«
»Übergeben!« erwiderte ich gereizt; »verlassen, verraten willst du sagen!« und ich übergoß ihn mit einer Flut von Vorwürfen, [577] die über meine Berechtigung weit hinausgingen. »Ist es denn so schwer«, schloß ich vorläufig, »seinen Neigungen einen festen Halt zu geben und sich mit einiger dankbaren Treue an einer so reichen Gabe Gottes genügen zu lassen? Muß denn die ganze Welt durcheinanderrennen und sich überall selbst im Lichte stehen und sich betrüben?«
Lys hatte sich indessen von den Dornen losgewickelt. Da er sah, daß er mich nicht einschüchtern konnte, ergab er sich und sagte ruhig, indem wir einer hinter dem andern weitergingen: »Laß mich zufrieden, du verstehst das nicht!«
Aufbrausend antwortete ich: »Lange genug habe ich mir eingebildet, daß in deiner Sinnesart etwas liege, was ich mit meiner Erfahrung nicht übersehen und beurteilen könne! Jetzt aber gewahre ich nur zu deutlich, daß es die trivialste Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit ist, welche dich beherrscht, so leicht erkennbar als verabscheuungswert. Oh, wenn du wüßtest, wie tief dich diese Art entstellt und deinen Freunden weh tut, du würdest schon aus der gleichen Eigenliebe dich ändern und den häßlichen Makel von dir tun!«
»Ich sage noch einmal«, erwiderte Lys, sich halb nach mir umwendend, »du verstehst das nicht! Und das ist in meinen Augen die beste Entschuldigung für deine unziemlichen Reden. Nun, du Tugendheld! hast du jemals etwas anderes getan, als was du nicht lassen konntest? Du tust es jetzt nicht und wirst es noch weniger tun, wenn du erst einmal etwas erlebst!«
»Ich hoffe wenigstens, daß ich zu jeder Zeit das lassen kann, was schlecht und verwerflich ist, sobald ich es nur als solches erkenne!«
»Du wirst jederzeit«, sagte Lys hierauf kaltblütig, indem er sich wieder vorwärts wandte, »du wirst jederzeit das lassen, was dir nicht angenehm ist!«
Ungeduldig wollte ich ihn nochmals unterbrechen; allein er übertönte mich und fuhr fort: »Gerätst du einst zwischen zwei Weiber, so wirst du wahrscheinlich beiden nachlaufen, wenn dir [578] beide angenehm sind, das ist einfacher, als sich für eine zu entschließen! Und vielleicht wirst du recht haben! Was mich betrifft, so wisse: Das Auge ist der Urheber und der Erhalter oder Vernichter der Liebe; ich kann mir vornehmen, treu zu sein, das Auge nimmt sich nichts vor, das gehorcht der Kette der ewigen Naturgesetze Luther hat nur als Normalmensch gesprochen, wenn er sagte, er könne kein Weib ansehen, ohne ihrer zu begehren! Erst durch ein Weib von solcher Reinheit von allem eigensinnigen, kränklichen und absonderlichen Beiwerke, durch ein Weib von so unverwüstlicher Gesundheit, Heiterkeit, Güte und Klugheit wie diese Rosalie könnte ich für immer gefesselt werden. Wie beschämt sehe ich nun ein, welch eine vergängliche Spezialität ich in jener Agnes mir zu verbinden im Begriffe war! Du aber schäme dich ebenfalls, als ein leeres Schema in der Welt herumzulaufen wie ein Schatten ohne Körper! Suche, daß du endlich einen Inhalt, eine ausfüllende Leidenschaft bekommst, anstatt andern mit deinem Wortgeklingel beschwerlich zu fallen!«
Mehrfach beleidigt schwieg ich einige Minuten. Ohne es zu wissen, hatte Lys mit den zwei Weibern, die er mir in Aussicht stellte, etwas Wahres getroffen, insofern ich ja noch als halbes Kind schon auf ähnlichen Wegen geirrt war. Und doch wollte ich mich nicht mit ihm vergleichen lassen; der genossene Wein, die mehr als vierundzwanzigstündige mannigfache Aufregung taten auch das Ihrige, meine Streitlust zu entflammen, und ich begann daher wieder mit entschiedener Stimme: »Nach deiner vorhinnigen Äußerung zu urteilen, bist du also nicht sehr willens, dem Mädchen die Hoffnungen, die du ihr leichtsinnigerweise erregt, zu erfüllen?«
»Ich habe keine Hoffnungen gemacht«, sagte Lys, »ich bin frei und Herr meines Willens, gegen jedes Frauenzimmer sowohl wie gegen alle Welt! Wenn ich übrigens für das gute Kind etwas tun kann, so werde ich ihr ein wahrer und uneigennütziger Freund sein, ohne Ziererei und ohne Phrasen! Und [579] zum letzten Mal gesagt Kümmere dich nicht um meine Liebschaften oder Nichtliebschaften, ich weise es durchaus ab!«
»Ich werde mich aber darum kümmern!« rief ich, »entweder sollst du einmal Treue und Ehre halten, oder ich will es dir in die Seele hinein beweisen, daß du unrecht tust! Das kommt aber nur von dem trostlosen Atheismus! Wo kein Gott ist, da ist kein Salz und kein Halt!«
Lys lachte laut auf, da er antwortete: »Nun, dein Gott sei gelobt! Dacht ich doch, daß du schließlich noch in diesen Hafen der Glückseligkeit einlaufen würdest! Ich bitte dich aber jetzt, grüner Heinrich, laß den lieben Gott aus dem Spiele, der hat hier ganz und gar nichts zu schaffen! Ich versichere dich, ich würde mit ihm wie ohne ihn ganz der gleiche sein! Das hängt nicht von meinem Glauben, sondern von meinen Augen, von meinem Hirn, von meinem ganzen körperlichen Wesen ab!«
»Jedenfalls von deinem Herzen!« rief ich zornig und außer mir; »ja, sagen wir es nur heraus, nicht dein Kopf, sondern dein Herz kennt keinen Gott! Dein Glauben oder vielmehr Nichtglauben ist dein Charakter!«
»Nun hab ich genug!« donnerte Lys mit starker Stimme und kehrte sich stehenbleibend gegen mich; »obgleich es ein Unsinn ist, den du sprichst, der an sich nicht beschimpfen kann, so weiß ich, wie du es meinst; denn ich kenne diese unverschämte Sprache der Hirnspinner und Fanatiker, die ich dir nie zugetraut hätte! Sogleich nimm zurück, was du gesagt hast! Ich lasse nicht ungestraft meinen Charakter antasten!«
»Nichts nehm ich zurück! Nun wollen wir sehen, wie weit deine gottlose Tollheit dich führt!« Dies sagte ich mit wilder Streitlust; Lys aber antwortete mit bitterer verdrußvoller Stimme: »Genug des Scheltens! Du bist von mir gefordert! Und zwar mit Tagesanbruch halte dich bereit, einmal mit der Waffe in der Hand für deinen Gott einzustehen, für den du so weidlich zu schimpfen weißt. Sorge für deinen Beistand, der meinige wird in zwei Stunden da und da zu finden sein, um [580] alles übrige zu besorgen.« Er bezeichnete einen Ort, wo voraussichtlich die ganze Nacht der Verkehr des Festes mit seinen Nachklängen fortdauerte. Dann wandte er sich und ging mit raschen Schritten vorwärts, da der Weg besser geworden. Ich selber sprang auf die Straße hinüber, die während unseres Streites längst leer und still geworden. Das war nun das Ende des schönen Festes! Der Mond warf meinen eigenen Schatten vor mir her, als ich mitten auf der Straße ging, und ich sah die Zipfel meiner Narrenkappe deutlich auf derselben abgezeichnet. Allein das half nichts das Licht der Vernunft war erloschen; ich eilte meines Weges, um für den Zweikampf meine Helfershelfer zu suchen.
Schon vor wenigstens sechs Jahren hatte ich von einem Polen, der in unserm Hause ein kleines Zimmer bewohnte, etwas fechten gelernt. Es war einer jener stattlichen, hochgewachsenen Militärs, wie sie aus der Revolution von 1831 als Flüchtlinge bekannt geworden und seither ziemlich aus der Welt oder wenigstens aus der Emigration verschwunden sind. Von vornehmer Geburt und ein gewesener Reiteroffizier, brachte er sich geschickt und redlich durch und fügte sich in die bescheidenste Lebensart, in jede Arbeit, war immer heiter und liebenswürdig, ausgenommen wenn er von den Schlachten und dem Unglücke seines Vaterlandes, von seinem Hasse gegen Rußland sprach. Obgleich gut katholisch erzogen, rief er dann jedesmal voll Bitterkeit, es sei kein Gott im Himmel, sonst hätte er die Polen nicht in die Hand des Russen gegeben. Der mochte mich wohl leiden, und um mir irgendeine Freundlichkeit oder Wohltat zu erweisen und weil er gerade nichts anderes hatte, ruhte er nicht, bis er mir einigen Unterricht in der Fechtkunst geben konnte. Aus eigener Tasche kaufte er zwei Stoßrapiere oder Fleurets, Drahtmasken und andern Zubehör und ging mit mir täglich eine Stunde auf den großen Estrich unter dem Dache, wo er mich dazu brachte, eine erste Schule notdürftig durchzumachen, und er tat es mit solcher Liebe und [581] Ausdauer, als ob es sich um das Goldmachen handelte, bis ihn eine Schicksalswendung aus unserer Gegend hinwegführte. In der Stadt, wo ich jetzt lebte, hatte ich bei studierenden Landsleuten, mit denen ich zuweilen verkehrte und die sich Fechtapparate auf dem Zimmer hielten, manchmal wieder den einen oder andern Gang versucht, ohne an etwas anderes als an einen vorübergehenden Zeitvertreib zu denken. Einen oder zwei der jungen Leute dachte ich jetzt sicher noch an ihrem gewohnten Versammlungsorte zu treffen, um ihren Beistand in Anspruch zu nehmen, und fand sie auch in der verwegenen Stimmung, welche der späten Stunde und meinen Wünschen entsprach. Sie begaben sich sofort dahin, wo die Vertrauten meines Gegners sie erwarteten.
Bald kamen sie mit der Verabredung zurück, daß der Duellhandel morgens um sechs Uhr in Lysens Wohnung vor sich gehen solle. Lys habe hervorgehoben, daß er ganz allein darin hause und also keine Zeugen zu befürchten seien; ferner könne er, wenn er verwundet werde, sich gleich in sein eigenes Bett legen und in der Stille geheilt werden oder sterben, der Gegner aber mit aller Sicherheit und Muße abreisen. Treffe es aber mich, so könne ich dort an seiner Stelle mich zunächst hinlegen, indessen er sich aus dem Staube mache.
Für einen Arzt, hieß es, sei auch schon gesorgt, ebenso für die Waffen, als welche ich Stoßdegen oder sogenannte Pariser, die einzigen, die ich etwas zu führen verstand, vorgeschlagen hatte, zumal ich wußte, daß auch Lys damit umgehen konnte.
Wie er den kurzen Rest der Nacht verbracht, habe ich nicht erfahren; was mich betrifft, so blieb ich mit meinen Ratgebern sitzen, da wir fanden, das gefährliche Abenteuer sei besser als Schluß der ganzen Feststrapaze zu bestehen, mit der es sozusagen in einem hinginge, als wenn ich nach unzureichender Ruhe, aus tiefem Schlafe geweckt und ohne Zusammenhang der Gedanken, fechten müßte. So kam ich nicht einmal dazu, den Anzug zu wechseln, und wenn mich das Geschick getroffen [582] hätte, so wäre ich in der Gestalt eines erstochenen Narren weggetragen worden.
Trotzdem überfiel mich die Müdigkeit; ich schlummerte ein und lag zuletzt mit dem Kopfe schlafend auf dem Tische, während die andern mit ab- und zugehenden Nachzüglern und Spätlingen eine Bowle heißen Punsch tranken. Auch ich stürzte noch ein Glas hinunter, als ich mit dem Morgengrauen aufgerüttelt wurde, mich aber durch den kurzen Schlaf keineswegs erquickt oder ernüchtert fand. Doch erinnere ich mich wie aus einem Traume, daß ich gleich den zweien, die mit mir kamen, mit tiefem Ernst durch die Straßen ging und in Lysens stille Wohnung trat, wo er mit zwei oder drei jungen Männern ebenso ernst und kalt uns erwartete.
Wir standen alle in dem geräumigsten seiner Zimmer, vor dem Bilde mit den Spöttern; die Morgendämmerung ließ die aus dem Dunkel hervorleuchtenden Figuren wie belebt erscheinen, als ob sie der Dinge gewärtig wären, die da kommen sollten.
Nun wurden aus einem langen Kistchen zwei glänzend polierte dreieckige und nadelspitze Klingen, zwei mit Silberdraht übersponnene Griffe und zwei vergoldete halbkugelförmige Glocken zum Schutze der Hand ausgepackt und ineinandergeschraubt. Nachdem gefragt worden, ob keine Versöhnung oder anderweitige Verständigung möglich sei, und keiner von uns beiden sich gerührt hatte, gab man uns die Waffen in die Hand und wies jedem seinen Platz an. Ich warf einen Blick auf Lys; er sah ebenso blaß und überwacht aus wie ich selbst. Jeder Zug von Wohlwollen oder freundschaftlicher Gesinnung war aus unsern Gesichtern verschwunden, während auch der ursprüngliche Zorn verraucht war und nur die erstarrte Menschentorheit auf den Lippen saß. Da stand ich nun mit dem Eisen in der Hand, bereit, das Blut eines Freundes zu vergießen, um ihm die Wahrheit meines Gottesglaubens zu beweisen, und der Freund bedurfte meines Blutes zur Verteidigung der moralischen Ehre seiner Weltanschauung, und jeder [583] hatte sich sonst für die Vernunft, Freiheit und Menschlichkeit selbst gehalten. Eine unglückliche Sekunde, und der gleißende Stahl war in ein warmes Herz geglitten!
Aber zu einer heilsamen Überlegung war keine Zeit mehr. Das Zeichen wurde gegeben, wir machten mit den Degen den üblichen Gruß und setzten uns in Positur, aber nicht wie geübte Duellanten, sondern mehr wie etwas unsichere Schüler. Unsere Hände zitterten fast gleichmäßig, als wir die Degenspitzen sich umeinander drehen ließen, um den Anfang zu finden, und der erste Stoß, den ich tat, war auch richtig der erste Schulstoß, wie er der Nummer nach auf dem Fechtsaale gezeigt wird. Lys parierte ihn ebenso schulmäßig, da er ihn von weitem kommen sah; er erwiderte den Ausfall, und ich wies ihn etwas schwerfälliger, aber noch gerade zeitig genug ab. Der liebe Gott, um den wir uns schlugen, mochte wissen, wie ein Paar so friedlicher Fechter in eine so gefährliche Lage geraten war. Allein gefährlich war sie nichtsdestoweniger; denn mit dem Geräusch der gleitenden Klingen wurde das Gefecht belebter und rascher, so daß schon wegen der Notwehr die Stöße zahlreicher und fester wurden. Da blitzten plötzlich Stahl und Glocken unserer Waffen mit einem rötlichen Schimmer auf, und gleichzeitig begann das Bild im Hintergrunde des Zimmers sachte zu leuchten, beides vom Glühen einer Wolke, die im Widerscheine der anbrechenden Morgenröte stand. Lys warf unwillkürlich einen Blick seitwärts auf sein Bild und sah die Blicke seiner Sachverständigen, wie er sie nannte, auf uns gerichtet. Er ließ seinen Degen sinken, und mir, der ich eben wieder auszufallen im Begriffe war, wurde ein »Halt!« zugerufen. Lys, der im übrigen vollkommen nüchtern geblieben, war der Nichtigkeit unseres Tuns durch den Anblick zuerst innegeworden.
»Ich nehme meine Herausforderung zurück«, er klärte er mit ernstem, aber ruhigem Tone, »und will das Vorgefallene vergessen, ohne daß Blut fließen soll!«
[584] Er trat mir einen Schritt entgegen und bot mir die Hand. »Laß uns schlafen gehen, Heinrich Lee!« sagte er, »und zugleich leb wohl! Da ich einmal zur Abreise gerüstet bin, so will ich heute für einige Zeit fort.«
Damit ging er, nachdem er die Anwesenden gegrüßt, nach seinem Schlafzimmer, und wir verließen uns trotz der unerwarteten Aussöhnung ohne Freundlichkeit, weil wir uns eigentlich selbst beleidigt hatten und zur Stunde keiner mit sich im reinen war. Die Zeugen und der Arzt, welche in den Verlauf der Streitigkeit überhaupt keinen klaren Einblick hatten, verabschiedeten sich vor dem Hause stillschweigend, und jeder ging seines Weges, ich überdies mit einem Gefühle, wie wenn ich von der moralischen Überlegenheit eines Gegners, den ich hatte schulmeistern wollen, heimgeschickt worden wäre.
Als ich meine Wohnung betrat, wurde ich von den Wirtsleuten, die an ihrem Frühstücke saßen, als ein ausdauernder Lustigmacher begrüßt. Obschon ich erschöpft und müde war, konnte ich beinahe nicht einschlafen, und als es geschah, träumte mir, ich hätte den Freund totgestochen, blutete aber statt seiner selbst und werde von meiner weinenden Mutter verbunden. Indessen würgte ich an einem geträumten Schluchzen herum, über welchem ich erwachte. Ich fand die Augen und das Kissen zwar trocken, dachte aber über die möglich gewesenen Folgen nach, bis ich endlich fester einschlief.