Herbst

Die vierzehn Tage, daß ich nicht draußen war, ist es Herbst geworden.

Knallgelbe Bäume stehen an den Wegen. Und andere ockerhell, wie Indianer. Sträucher blühen über und über violett oder brombeerblau oder ziegelrot.

Die waldigen Berge liegen braun wie verrostete Ritterhelme im Lande.

Die Zugspitze und der Wetterstein haben weiße Schneekappen auf.

Winde spielen, und man ist so müde wie jene Wolke, die wie das Haupt eines schlaftrunkenen Kindes am Karwendel hingesunken ist und nicht weiter kann.

Vor drei Wochen stand man auf der kleinen Isarbrücke, sah stromaufwärts, nach Tirol hinein, und dachte: Woher kommt das Wasser?

Jetzt zögert man den Schritt auf derselben Brücke, blickt stromabwärts, dem Tal nach und fragt: Wohin fließt das Wasser?

Und wenn man tausendmal weiß: die Isar fließt nach [109] München. München ist nicht weit. München ist eine schöne Stadt. Man hat Freunde in München. Eine nette Wohnung. Bald wird man wieder in München sein ...

Ist München unsere Heimat? Hast du überhaupt eine Heimat: trauriger Reiter zu Fuß?

Wo fließt die Isar dann hin? Von München ...?


*


Im Warenhaus in der Hauptstraße von Mittenwald liegt ein Karton mit Franzosen aus. Ganz richtige Franzosen: mit roten Hosen, blauen Fräcken, Käppis und echt französischen Visagen.

Sie stammen aus einer Nürnberger Spielwarenfabrik, sind sehr dauerhaft genäht und kosten Stück für Stück fünfzig Pfennig.

Sie sind beinah echter als die wirklichen Franzosen und sind gar nicht entsetzlich anzusehen: ein wenig melancholisch, ein wenig grotesk, aber voll Charme.

Die Ladeninhaberin sagte: sie habe schon ein paar Schachteln verkauft.

Die Kinder gehen sehr zart mit ihren kleinen Gefangenen um. Sie lassen ihnen viel Freiheit. Sie werden sogar in einem Wagen mit ihren feldgrauen Brüdern spazieren gefahren und ganz wie Brüder, zum mindesten wie Vettern behandelt.

[110] Es ist gut, daß die Kinder wieder anfangen, mit Franzosen zu spielen ....


*


Auf einem Starnbergerseedampfer traf ich vorgestern als einzigen Passagier außer mir eine junge Dame, die ich Winter 1913 in Arosa kennen gelernt hatte.

Wir gaben uns die Hand und sahen uns ein wenig verwundert an.

»Wir sind uns doch nicht fremd,« sagte die junge Dame gequält, »wir haben uns doch einmal gut gekannt. Wann war das? Bitte helfen Sie mir ...«

»Das war vor dem Kriege ... 1913 ...«

»1913 ... vor dem Kriege ... ich habe im Kriege mein Gedächtnis verloren ... aber soviel weiß ich noch, daß wir bei dem Faschingsfest in der Aroser Pension die beiden Siouxindianer waren ... wir erklärten damals der ganzen Welt den Krieg. Jetzt hat die Welt uns den Krieg erklärt ... ich werde nie mehr lachen können ... ich bin wie jener Baum am Ufer dort ... sehen Sie ... ganz mit braunen Laub bedeckt ... es gibt nur noch Herbst auf der Welt ...«

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TextGrid Repository (2012). Klabund. Herbst. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-AC29-4