Widmung
Dem uneigennützigen, Dank verdienenden Menschenfreunde, Herrn Doctor Reimarus, in Hamburg, widmet dieses Buch über Eigennutz und Undank der Verfasser.
Dem uneigennützigen, Dank verdienenden Menschenfreunde, Herrn Doctor Reimarus, in Hamburg, widmet dieses Buch über Eigennutz und Undank der Verfasser.
Nicht ohne Mistrauen wage ich die öffentliche Bekanntmachung dieser Schrift, welche die Untersuchung einiger Gegenstände der Sittenlehre zum Zwecke hat. Der größte Theil des heutigen Publicums pflegt keinen Geschmack an ernsthaften Abhandlungen von der Art zu finden, sondern wenigstens zu verlangen, daß die moralischen Lehren in das gefällige Gewand eines Romans gehüllt, oder sonst hinter irgend einer reizenden Bekleidung versteckt, erscheinen sollen. Mehr als Eine Ursache aber hat mich diesmal abgehalten, eine andre Form, als die der ungeschmückten Darstellung, zu wählen. Es ist unmöglich, Leser, die ohne Unterlaß Neuheit in Materie und Einkleidung fordern, zu allen Zeiten zu befriedigen. Nicht jeder Stoff verträgt eine solche Bearbeitung, ohne an seiner Würde zu verliehren und in einem gewissen Alter fehlt auch oft dem Schriftsteller diejenige Geschmeidigkeit und Lebhaftigkeit, die erfordert wird, um sich nach allen Umwandlungen der Mode zu richten und von der Phantasie eine günstige Aufnahme für das, was die Vernunft hergiebt, zu gewinnen. Neue Entdeckungen in dem Gebiethe der Sittenlehre zu machen, ist wohl unsern Zeiten nicht mehr vorbehalten; daß aber manche moralische Vorschriften noch nicht zu oft sind in Erinnerung gebracht worden, beweiset leider! die schlechte Befolgung dieser Vorschriften. Eigennutz und Undank sind Laster, über die man, bey dem mit dem Luxus zugleich einreißenden Sittenverderbnisse, häufig klagen hört. Habe ich diese Gegenstände nicht so behandeln können, daß ich auf den Beyfall aller Leser rechnen darf; so läßt mich doch die gute Aufnahme meines Buchs über den Umgang mit Menschen, das in derselben Manier geschrieben ist, hoffen, nicht allgemein zumisfallen.
Bremen,
Knigge. [7]
Ist es wahr, daß die Haupt-Triebfeder aller menschlichen Handlungen der Eigennutz, und daß auch da, wo großmüthige Aufopferungen jenen Vorwurf zu widerlegen scheinen, dennoch die Beförderung des eignen Vergnügens des eignen Genusses, des eignen, [9] wahren oder eingebildeten Glücks, heimlich im Spiele sey? Oder vermag der Mensch in seinem irdischen, sinnlichen Zustande, nach höhern Bewegungsgründen, nach angebohrnen, unwandelbaren Gesetzen zu handeln, die, fern von aller Rücksicht auf seinen individuellen Zustand, nur die Ausübung des reinen Guten, nur die Erfüllung der Pflicht, ohne Absehn auf Erfolg und Nützlichkeit, zum Gegenstande haben? Ist dies allein Tugend zu nennen und darf nur der auf moralische Vollkommenheit Anspruch machen, der nach solchen Motiven handelt, die in allen Lagen, in allen Verhält nissen, was für Folgen auch daraus entspringen mögten, wie allgemeine Gesetze betrachtet werden müssen? Giebt es endlich solche Bewegungsgründe? – das sind Fragen, die seit einiger Zeit wieder so oft unter den Philosophen zur Sprache kommen, daß es wohl der Mühe werth scheint, ohne Systemgeist und ohne Vorurtheil, mit [10] der Fackel der Vernunft, noch einmal diesen Gegenstand zu beleuchten, der vielleicht längst nicht mehr im Dunkeln liegen würde, wenn nicht unglückseliger Weise, durch die mystische Kunstsprache gewisser Gelehrten, die einfachsten, klarsten Wahrheiten, zu deren Ergründung nichts als ein gesunder Hausverstand erfordert wird, so entstellt würden, daß sie einen Anstrich von neuer Weisheit erhalten. Hierdurch gewinnen freylich die Nachahmer dieser Lehrart den Vortheil über ihre Gegner, daß, wenn man die unter einer so barbarischen Firma zugleich mit durchschleichenden Irthümer widerlegt, sie vorgeben und auch würklich glauben können, man habe sie nicht verstanden. Fragt man aber, woher es komme, daß ein so dunkles System so viel Anhänger findet; so ist nicht schwer darauf zu antworten. Alles Neue reizt die Wißbegierde; dem großen Haufen scheint nichts erhabner, als was dunkel ist; eine Menge sonst [11] vernünftiger Menschen schämt sich, zu bekennen, daß sie nicht verstanden habe, was sie mit Aufmerksamkeit gelesen hat; wem es aber gelungen ist, nach fleißigem Studio, den Sinn jener abstracten Abhandlungen in verlohrnen Stunden zu entziffern, der wird nicht das Verdienst dieser Bemühung verliehren und gestehn wollen, daß er nichts Neues daraus gelernt habe. Allein wir, die wir immer der Meinung bleiben werden, daß solche Wahrheiten, die allen und jeden vernünftigen Menschen nöthig und wichtig zu wissen sind, auch so vorgetragen werden können und müssen, daß sie allen und jeden vernünftigen Menschen verständlich werden, wir wollen ihnen in jener Kunst nicht nachahmen, sondern uns bestreben, die Frage: in wie fern die Beförderung eigner Glückseligkeit als ein erlaubter und edler Bewegungsgrund zu moralischen Handlungen angesehn werden [12] könne, so deutlich wie möglich aus einander zu setzen und zu beantworten.
Um zu entwickeln, wie etwa der Mensch, ohne Betrachtung der Würkung seiner Handlungen auf die Verhältnisse, darinn er sich befindet, handeln würde, wird es nicht unnütz seyn, ihn uns ganz ohne jene Verhältnisse, isolirt, zu denken; also nicht den Menschen, der schon mit den Rechten, Vortheilen und Verbindlichkeiten, welche ihm die bürgerliche Gesellschaft gewährt und auflegt, gebohren wird, sondern den einzeln stehenden Natur-Menschen. Und da fragt sich's dann: wie kann und wird dieser die Tugend kennen, lieben und ausüben?
Der Natur-Mensch hat mit den übrigen Thieren das gemein, daß er durch körperliche [13] Anreizung, durch Gefühl, durch Instinct, zu gewissen Handlungen hingezogen wird. Er hat aber das vor andern lebendigen Geschöpfen voraus, daß die Vernunft ihn die Anwendung jenes Gefühls und Instincts zu bestimmten sichern Zwecken lehrt und ihn determinirt, gewisse Handlungen aus gewissen Ursachen zu unternehmen, andre hingegen zu unterlassen.
Sein Gefühl treibt ihn ohne Ordnung und Gesetz, zu Allem, was ihm einen angenehmen Genuß der ihm bekannten Gegenstände in der Welt gewähren und zusichern kann. Höchstens lehrt ihn sein Instinct durch Erfahrung, sich das Uebermaß des Genusses zu versagen, überhaupt dasjenige nicht zu begehren, was ihm einmal unangenehme Empfindungen erweckt hat, und also wieder erwecken kann. Auch zieht ihn sein Instinct unwillkührlich [14] hin, zu andern lebenden und todten Gegenständen um ihn her, jedoch ohne deutliche Unterscheidung der Ursachen dieser Triebe. Seine Vernunft hingegen nützt diese Erfahrungen, ordnet sie und zieht daraus Vorschriften ab, die seinen Willen bestimmen und gewisse Entschlüsse für die Folge in ihm erzeugen.
Diese Entschlüsse nun können sich nicht weiter erstrecken, als auf solche Fälle, über welche er würklich Erfahrungen gemacht hat, und er kann nur Vorsätze fassen, die auf diejenigen Verhältnisse anwendbar sind, welche er kennt. Da ihn nun seine eigne Existenz jeden Augenblick seines Lebens am mehrsten beschäftigt und ihm das Gefühl derselben am lebhaftesten und beständigsten gegenwärtig ist; so wird die erste Sorgfalt seiner Vernunft auf Erhaltung und Vervollkommung seines [15] Daseyns gerichtet seyn und wenn er sich Gesetze und Pflichten vorschreibt; werden diese gewiß das Wohlbehagen seines eignen Ichs zum vornehmsten Augenmerke haben. In dem Maße aber, in dem seine Bedürfnisse, Erfahrungen und Verhältnisse sich vervielfältigen, entstehen bey ihm auch neue Ueberlegungen und Vorsätze, die ihn dann zum Handeln bestimmen, also neue Pflichten, die er sich auflegt. Je näher ihm dann das Interesse an irgend einem Gegenstande liegt, desto wichtiger werden ihm die Motive seyn, die ihn determiniren, in Rücksicht auf diesen Gegenstand so und nicht anders zu handeln. Je weiter entfernt hingegen, desto unwichtiger; Thorheit würde es ihm seyn, sich Pflichten in Verbindung mit Gegenständen aufzulegen, mit welchen er in gar keinen Verhältnissen steht.
Es giebt also nur Ein von der Natur uns eingepflanztes allgemeines Gesetz, nämlich das: der Vernunft zu folgen. Die Anwendung hängt von den Erfahrungen und Verhältnissen ab. Wo diese gänzlich fehlen, da kann keine Idee von Entschlüssen, die darauf Bezug haben, Statt finden. Und so wie andre, neue Erfahrungen und Verhältnisse eintreten, müssen auch die Motive zu den Handlungen sich verändern.
Ohne Zweck handelt die Vernunft nicht, denn dadurch unterscheiden sich ja ihre Antriebe von denen, die der Instinct und das dunkle Gefühl bewürken. Wo also keine Zwecke sich darstellen, da wird die Vernunft nicht zum Handeln bestimmt. Deswegen ist alles, was wir Tugend, Pflicht und Gesetz nennen, nur Resultat der Vernunft, gezogen [17] aus der Ueberlegung des Zwecks und der dadurch herbeyzuführenden Folgen, die diese oder jene Handlung, wie die Erfahrung lehrt, hat und haben wird. Das heißt mit andern Worten: ein vernünftiges Wesen wird nur solche Handlungen mit Ueberlegung begehn, die zu etwas nützen, irgend eine Art von Vortheil bringen. Je näher ihm, seiner Person, seinem eignen Ich, dieser Vortheil, dieser Nutzen liegt, desto einfacher und dringender sind die Bewegungsgründe, denselben zu befördern.
Hieraus folgt also, daß unsre jetzigen Begriffe von Tugend und Pflicht gar keine allgemeine, ewige, unwandelbare Wahrheiten, sondern nach den verschiedenen Erfahrungen und Verhältnissen auch verschieden sind und seyn müssen, ja! daß dieselbe Handlung, unter andern Umständen, gut, gleichgültig [18] oder sträflich seyn, und daß Ein verständiges Wesen von gewissen Pflichten die erhabensten Begriffe haben, indeß das andre sich gar keine Vorstellung davon machen kann und noch ein andres dasselbe, was jenem Pflicht scheint, für ein Verbrechen hält. Um davon ein Paar Beyspiele zu geben; so frage ich: ob wohl ein vernünftiges Geschöpf einen Begriff von der Tugend der Mäßigkeit haben würde, wenn ihn nicht die Erfahrung schon gelehrt hätte, welche nachtheilige Folgen der unmäßige Genuß hat, wie doppelt schmackhaft uns das vorkommt, was wir eine Zeit lang entbehrt haben, und welche Freuden man fühlen kann, wenn man einen Theil seines Genusses aufgiebt, um die Wünsche und Triebe Andrer zu befriedigen? Es würde, behaupte ich, ohne diese Erfahrung gar keinen Begriff von der Tugend der Mäßigkeit haben; ja; die Mäßigkeit würde für ein solches Geschöpf keine Tugend seyn; vielmehr [19] müßte das erste Gesetz in dem Codex seiner Pflichten also lauten: »Es ist der Vernunft und dem Gefühle gemäß, von allem, was man erlangen kann, so viel zu nehmen und zu geniessen, als Appetit und Vermögen verstatten.« Man frage ferner: was für reine Begriffe von der Heiligkeit eines rechtmäßigen Besitzes derjenige Mensch würde haben können, der nichts von Eigenthum wüßte? – Gewiß gar keine! Und so ist es mit allen übrigen Tugenden beschaffen. Und wie viel Fälle giebt es nicht in der bürgerlichen Zusammenlebung, wo das, was unter andern Umständen für die erhabenste Tugend gelten würde, wegen der zu erwartenden schädlichen Folgen würklich unverantwortliches Verbrechen wird!
Um nun noch einmal das Ganze zusammen zu fassen; so giebt es keine reine, angebohrne, allgemeine Begriffe von Tugend und [20] Pflicht; der Mensch, wenn man ihn von allen äußern Verhältnissen frey betrachtet, kennt nur Ein Gesetz, und das ist: die Gefühle und Triebe, welche ihn zum Handeln bewegen, durch die Vernunft zu gewissen Zwecken leiten zu lassen; bey diesen Zwecken nimmt die Vernunft auf die zu erwartenden Folgen Rücksicht, wobey ihm die Erfahrung zur Lehrmeisterinn dient; und da diese Folgen nach der Verschiedenheit der Verhältnisse, darinn er sich befindet, verschieden sind; so können auch seine Bewegungsgründe zum Handeln und die Gesetze, welche er sich dabey vorschreibt, nur nach diesen Verhältnissen beurtheilt werden. Endlich, er handelt also der Vernunft gemäß, zweckmäßig, richtig, gut, tugendhaft und pflichtmäßig, wenn seine Handlungen die Harmonie in diesen Verhältnissen, das heißt, wenn sie seine Glückseligkeit als isolirtes Wesen und als Theil des Ganzen befördern.
Kindisch und von eingeschränkten Begriffen zeugend, ist es daher, wenn man höhern Wesen, und sogar der Gottheit, Tugenden beymißt. Da wir die Verhältnisse der höhern Wesen nicht kennen; so können wir nicht nur nicht wissen, welche Zwecke ihre Vernunft zum Augenmerke haben muß, sondern es ist uns auch gänzlich unbekannt, ob nicht andre Kräfte als die, welche wir Kräfte der Vernunft nennen, die höhern Wesen leiten.
Um nun moralisch gut, tugendhaft und pflichtmäßig, das heißt, um so zu handeln, daß der Mensch seine Glückseligkeit, als isolirtes Wesen und als Theil des Ganzen, befördert, würken folglich drey Triebfedern: erstlich sein Gefühl oder Instinct, wodurch er unwillkührlich zu gewissen Handlungen hingezogen wird; zweytens seine Vernunft, die [22] dies Gefühl auf bestimmte Zwecke leitet und seinen Verhältnissen anpaßt, und drittens die Uebereinkunft mit andern Menschen, die sich gegenseitig Vorschriften und Gesetze auferlegt haben, wozu endlich bey den mehrsten Völkern noch viertens religiöse Motive und Pflichten kommen, die aber so unendlich verschieden sind, wie die Vorstellungen, welche man sich unter den verschiedenen Völkern von der Gottheit und den Verhältnissen der Menschen zu derselben macht. Jede dieser Triebfedern einzeln würde uns oft misleiten, und nur eine wohl geordnete Zusammenwürkung derselben kann die höchste Moralität bewürken. Daß der, welcher bloß seinen Gefühlen folgt, keinen Anspruch auf moralische Vollkommenheit machen könne, bedarf keines Beweises. Wer bloß die Vernunft zu Rathe zieht, wird aber nicht weniger oft unmoralisch und egoistisch handeln; will er dann auch jedesmal die zu erwartenden nahen und [23] fernen Folgen genau calculiren; so wird er oft den günstigen Augenblik zu guten Thaten darüber verstreichen lassen. Sollen dagegen die so genannten reinen Vernunft-Begriffe von dem, was Pflicht und Tugend ist, uns bestimmen; so werden wir nie feste moralische Grundsätze haben, indem die Vorstellungsarten der Menschen sehr verschieden sind und auch die richtigsten Vorstellungsarten nicht auf jede Verhältnisse passen. Wer ferner bloß den Gesetzen der Uebereinkunft folgt, wird in unzählichen Fällen, wo die Ahndung der Gesellschaft ihn nicht erreichen kann, oder nichts darüber vorgeschrieben ist, wie ein Bösewicht oder wie ein Pinsel handeln, oder ganz unthätig bleiben. Endlich wer immer nur auf religiöse Hinsichten fortwürkt, verfällt leicht in Schwärmerey, in speculativen Müßiggang und gar in Fanatismus und Intoleranz.
Wem ist es je mehr darum zu thun gewesen, reine, erhabene Moral zu lehren, als dem großen, göttlichen Stifter unsrer Religion, Jesu von Nazareth? Und welche Bewegungsgründe zur Tugend, welche Stufen in der Pflicht-Erfüllung schreibt er den Menschen vor? Zuerst, weil er überzeugt ist, daß, um den schwachen, sinnlichen Sterblichen zu höherer Würksamkeit und zu Aufopferungen nahe liegender Privat-Vortheile zu bewegen, er eines stärkern Antriebes bedürfe, als den, welcher bloß die Rücksicht auf Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung erzeugen kann, empfiehlt er Liebe Gottes über alles. Wir sollen vor allen andern die Gefühle der Liebe und Dankbarkeit gegen das höchste Wesen, gegen unsern ersten und vornehmsten Wohlthäter, in unsern Herzen herrschen lassen, um ermuntert zu werden zur Nachstrebung höherer Vollkommenheit [25] und um nicht zu vergessen, daß wir Theile des großen Ganzen sind, dessen Harmonie auch durch unsre tugendhaften Handlungen befördert wird. Dann folgt Liebe des Nächsten, Eifer für das Wohl der geselligen Bande. Und wie sollen wir unsern Nächsten, unsern Mitmenschen lieben? Wie uns selbst! das heißt: unser Betragen in Rücksicht Andrer wird gewiß tadellos seyn, wenn wir ihr Interesse uns so theuer seyn lassen, wie unser eignes. Denn was kann dem Menschen näher liegen, als sein eignes Wohlseyn, seine Erhaltung, sein eignes Ich, an das ihn jeder Othemzug erinnert? Die Beförderung dieser eignen Glückseligkeit schreibt Jesus dann auch als das kräftigste Motiv zu Erfüllung der Pflichten gegen Andre vor: »Handelt« sagt er »so gegen sie, wie Ihr wünscht, daß sie gegen Euch handeln sollen!«
Der Bewegungsgrund gut zu handeln, um dadurch unsre eigne Glückseligkeit zu befördern, ist also so einfach, so natürlich, so dringend jedem Menschen eingepflanzt, daß es der gesunden, reinen Vernunft angemessen ist, ihn zur Richtschnur aller Handlungen zu machen. Man sieht aber bey genauerer Beleuchtung bald ein, daß diese eigne Glückseligkeit des fühlenden, denkenden und in Verbindung lebenden Wesens nur allein durch die genaueste Beobachtung aller moralischen Pflichten erlangt werden könne, und daß, wenn Jeder an der Hand der Vernunft, nach diesem Bewegungsgrunde handelt, es um die Ordnung und Harmonie des Ganzen sehr gut stehn werde.
Zuerst ist es gleich einleuchtend, daß wenn jeder Mensch egoistisch nur die Pflichten gegen [27] sich selbst ausüben, nur an seinen augenblicklichen Genuß, ohne Rücksicht auf die entfernten Folgen denken, nur den Antrieben seines Gefühls Raum geben wollte, und dann jeder Andre nach eben diesem Systeme handelte, das Leben der Menschen neben einander ein immerwährender Streit ihrer sich durchkreuzenden Wünsche und Begierden seyn würde, und daß man also eigne Ruhe und Glückseligkeit nur durch gegenseitige, gleichmäßige Schonung, Nachgiebigkeit und Aufopferung erkaufen könne.
Es ist aber auch sehr natürlich, daß, je näher uns das eigne Interesse bey einer Handlung liegt, je leichter zu übersehn die Reihe der für uns zu erwartenden Folgen ist; auch der Antrieb zu dieser Handlung dringender seyn werde. Deswegen ist nichts gewisser, als daß die Sorgfalt für unser [28] Leben, für unsre Gesundheit und unsern äußern Wohlstand, in Collisions-Fällen, wenn wir bloß der Vernunft folgen, allen andern Rücksichten wird vorgehn müssen. Nächstdem wird uns die Sorgfalt für die Personen unsrer Familie; dann das Band, das uns an das Vaterland fesselt; hierauf das Wohl aller lebendigen Wesen, endlich der Zusammenhang des ganzen Weltgebäudes am Herzen liegen, und es würde thöricht seyn, von einem irdischen Wesen zu verlangen, daß ihm zum Beyspiel die Wohlfarth der Mond-Bürger eben so wichtig seyn sollte, wie die Gesundheit seiner Kinder, und doch müßte, wenn wir alle Rücksicht auf individuelle Vortheile und Nützlichkeit aus unsern Bewegungsgründen verbannen wollten, uns die Harmonie der Sphären mehr interessiren, als die Einigkeit in unsrer Familie, welches in der Theorie ganz erhaben klingen mag, in der Ausübung [29] aber die Kräfte des sinnlichen Menschen überschreitet. Wir ziehen hieraus nun folgende Schlüsse: Erstlich: Je entfernter dem Menschen das Interesse an einem Gegenstande von dem Einflusse auf seine eigne Glückseligkeit vorkömmt, desto weniger wird ihn seine Vernunft zu moralischen Handlungen bestimmen, die auf diesen Gegenstand abzielen, und umgekehrt, je näher, desto lebhafter wird sie ihn dazu treiben. Zweytens: je einleuchtender ihm die Folgen, der Zweck und die Nützlichkeit einer Handlung scheinen, desto dringender werden die Bewegungsgründe seiner Vernunft seyn, diese Handlung zu unternehmen. Je dunkler und ungewisser hingegen, desto weniger dringend. Drittens: je nützlicher eine Handlung in ihren Folgen für das Ganze würklich ist, desto verdienstlicher ist sie in sich selbst, desto edler ihr Zweck. Viertens: eine Handlung, wobey gar keine Folge, [30] gar kein Nutzen vorauszusehn ist, hat gar keinen moralischen Werth, die Vernunft kann kein denkendes Wesen dazu bestimmen, und es wäre Unsinn, Pflichten von der Art anzunehmen.
Bis hierher haben wir es nur mit den Bewegungsgründen der Vernunft zu thun gehabt; indessen ist schon vorhin gesagt worden, daß diese allein leicht zu einem, der Gesellschaft schädlichen Egoismus verleiten könnte, und daß der, welcher bey jedem Schritte nur allein ihre Gründe zu Rathe ziehn und die sichern Folgen calculieren wollte, vielleicht manche sehr edle, große und nützliche Handlung unterlassen würde. Dafür nun aber, daß das nicht geschehe, hat die schaffende Natur gesorgt, indem sie dem Menschen die Anlage zu Gefühlen gegeben hat, die ihn unwillkührlich zum Wohlwollen [31] gegen andre Wesen, zu rastloser Thätigkeit und zu solchen Handlungen treiben, wovon er seiner Vernunft keine Rechenschaft geben kann, die seinem eignen Interesse ganz entgegen zu seyn scheinen, die ihm gar keinen sinnlichen Genuß gewähren, und bey welchen er doch eine Freude, ein Behagen empfindet, das er sich nicht erklären kann. Allein weil doch auch selbst in diesen Fällen die Hofnung eines höhern Genusses ihn treibt, dem gröbern sinnlichen zu entsagen; so scheint auch diese Art von moralischen Handlungen die Beförderung der eignen Glückseligkeit zum versteckten Motive zu haben. Um also den Menschen auch zu solchen Thaten zu bewegen, bey welchen gänzliche Aufopferung des eignen Nutzens und Vergnügens zum Besten des Ganzen Statt findet, wird eine Ueberspannung, ein Enthusiasmus erfordert, zu welchem gleichfalls der Keim in der menschlichen Seele liegt, die große Thaten [32] gebiehrt, welche man aber nicht eigentlich in die Reihe moralischer Handlungen setzen darf, das heißt, in die Reihe solcher Handlungen, wozu uns die nüchterne, reine Vernunft die Motive eingiebt. Endlich kommen dann noch zu diesem Allen die religiösen Bewegungsgründe hinzu, nämlich die Aussicht in ein künftiges Leben, der Drang sich das Wohlgefallen des vollkommensten Wesens zu erwerben, und die Hofnung, in einem seligen Zustande nach dem Tode, die Folgen und die Belohnung solcher Thaten einzuerndten, die in dieser Welt für uns keine wohlthätige Folgen haben können. Daß abermals auch hierbey die Beförderung der eignen Glückseligkeit, obgleich von höherer und reinerer Art, das Haupt-Motiv sey, fällt in die Augen.
Ich habe vorhin gesagt und zu beweisen gesucht, daß bey allen Antrieben zu unsern [33] Handlungen, auch zu solchen, wozu uns Sinnlichkeit, Instinct und religiöses Gefühl hinziehen, die Vernunft unsre Leiterinn und Regiererinn seyn müsse, wenn diese Handlungen moralisch gut ausfallen sollen, das heißt, daß die Rücksicht auf Zweck, Folge und Nützlichkeit zum Besten des Ganzen, in so fern dies unser eigenes Wohl mit befördert, in Betracht kommen müsse. Nun aber könnte man einwenden: es gäbe Fälle, wo das eigne specielle Interesse und Vergnügen dem Handelnden so nahe liegen, der entferntere, damit streitende Vortheil des Ganzen hingegen ihm unmöglich so dringend vorkommen könnte, wo er auch unbemerkt und ungeahndet von Seiten der bürgerlichen Gesellschaft, eine That verüben könne, die seinen Wohlstand befördern, hingegen freylich der geselligen Zusammenlebung nachtheilig seyn müßte; und endlich, wenn er nun gar auf die Vortheile Verzicht [34] thun wollte, die durch Unterlassung einer solchen Handlung zum Besten des Ganzen auf ihn zurückfiele; so würde ihn, in diesen Fällen, seine überlegende Vernunft bewegen, das entferntere Wohl des Ganzen dem nähern Privat-Vortheile aufzuopfern. Allein hierauf antworte ich erstlich: es liegt ein philosophischer Widerspruch darinn, behaupten zu wollen, ein einzelner Theil könne Vortheil davon haben, wenn das Ganze leidet, zu dem er gehört und zweytens: es steht gar nicht in der Willkühr des, in gesellschaftlicher Verbindung lebenden Menschen, vie Vortheile abzuleugnen, oder ihnen zu entsagen, die durch die Ordnung im Ganzen auf ihn zurückfallen; denn er hat ja diese Vortheile von Jugend auf schon voraus genossen. Die Erziehung, die Pflege, die Sicherheit seiner Person und seines Eigenthums, die ihm zu Theil geworden sind, bevor er selbst das Geringste dazu mitgewürkt [35] hatte, haben ihn längst in Rückstand gesetzt und eine Schuld auf ihn geladen, die er nur dadurch abtragen kann, daß er wiederum so viel für Andre thut, als Andre schon für ihn gethan haben.
Es ist jedoch freylich gewiß, daß der, welcher für diese Verpflichtungen keinen Sinn hat, den auch die Furcht vor der Strafe, welche die conventionellen Gesetze auf gewisse, der Gesellschaft schädliche Handlungen gelegt haben, nicht abhält und endlich der, in dessen Herzen religiöse Gefühle unwürksam sind, daß ein Solcher, Trotz seiner Vernunft, unmoralisch handeln wird. Es ist eben so gewiß, daß wer unfähig ist, von einem gewissen Enthusiasmus für große, uneigennützige Thaten beseelt zu werden, zu höhern Aufopferungen nicht fähig seyn wird. Auch ist es nicht weniger ausgemacht, daß [36] Fälle eintreten, zum Beyspiel bey der Nothwehr, bey Diebstahl aus drückendem Hunger, bey Noth-Lügen u.d. gl. wo das Gefühl der Selbst-Erhaltung auch den vernünftigsten, von der Heiligkeit seiner Pflichten überzeugten Menschen, bewegen kann, eine That zu begehn, welche gegen die Regeln der Ordnung des Ganzen ist; allein was folgt hieraus? Was anders, als daß wir unvollkommne, sinnliche Geschöpfe sind?
Es ist aber leicht einzusehn, daß diese Unvollkommenheit der menschlichen Natur sich bey den Motiven zu moralischen Handlungen, die aus der Nützlichkeit derselben hergenommen sind, nicht mehr offenbahren werde, als bey denen, die aus so genannten reinen Begriffen von Tugend und Pflicht sind abgezogen worden. Im Gegentheil! [37] wen weder Gewissenhaftigkeit, noch Achtung für die bürgerlichen Gesetze, noch religiöse Empfindungen bemeistern, der wird mir gradezu die Aechtheit solcher reinen Begriffe abstreiten, und ich werde kein Mittel haben, ihn zu überzeugen; da hingegen aus der Nützlichkeit jeder Handlung Argumenta ad hominem hergenommen werden können, die sich demonstriren lassen und nicht abzuleugnen sind. Man sieht also, daß dies ein weit sichrers, allgemeiner würksames Principium, ein festeres System liefert, als jenes speculative, von der Verschiedenheit der Vorstellungsarten eines Jeden abhängige und veränderliche Grundgebäude.
Man hat hie und da behauptet, der Grundsatz: daß man seine moralischen Handlungen nur nach solchen Motiven bestimmen müsse, die in allen Fällen als allgemeine [38] Gesetze gelten könnten, könne wenigstenstheoretisch zum Probiersteine jeder Handlung und jedes Bestrebens dienen, wenn er auch nicht immer practisch auszuüben wäre. Allein das heißt nichts gesagt; denn wenn es solche Motive giebt; so müssen sie immer zur Richtschnur dienen und immer practisch angewendet werden können. Allein noch einmal! es giebt dergleichen allgemeine Gesetze nicht und von den Bewegungsgründen eines vernünftigen Wesens, dies oder jenes zu thun oder zu unterlassen, läßt sich die Rücksicht auf den Zweck, das heißt, auf das, was durch dies Thun oder Lassen bewürkt werden soll, mit Einem Worte! was es nütze oder schade, gar nicht trennen.
Daß aber die ausschließliche Befolgung allgemeiner Gesetze im practischen Leben [39] unendlichen Schaden stiften würde, ist leicht zu beweisen. Was würde aus der würklichen Welt werden, wenn wir bey unsern Handlungen nie den Umständen nachgeben, jene nicht diesen anpassen wollten? Kann nicht in Einer Staats-Verfassung, in Einem Himmelsstriche, in einem Zeitalter, etwas zu sagen, oder zu thun, Verbrechen oder Thorheit seyn, was in einem andern Clima, unter andern Regierungen, zu andern Zeiten, für Tugend und Weisheit nicht nur gilt, sondern auch dadurch würklich Tugend und Weisheit wird, daß es am würksamsten die Harmonie des Ganzen befördert? Ist es nicht der Klugheit gemäß, und, um eine größere Summe des Guten zu bewürken, des tugendhaften Mannes würdig, gewisser Vorurtheile zu schonen, gewisse kleine Uebel zu dulden, denen man mit aller Kraft widerstehn müßte, wenn man nur nach allgemein gültigen Gesetzen handeln dürfte? Wie [40] würde es um den Krieg, wie um die Politik – zwey unvermeidliche menschliche Uebel – aussehn? Kurz! jenes so genannte reine Moral-Princip ist durchaus nicht für diese Erde gemacht. Wenn wir hingegen den Zweck jeder Handlung, den Grad des Nutzens vor Augen haben, den sie bey Beförderung unsrer Glückseligkeit gewährt, welche zu suchen und zu finden, wir von dem Schöpfer auf die Welt gesetzt sind und zu welcher die Mitwürkung zum Wohl unsrer Nebenmenschen und zur Harmonie des Ganzen nothwendig mit erfordert wird; so handeln wir gewiß nach den reinsten moralischen Grundsätzen, für welche die menschliche Natur empfänglich ist. Das Andre ist Ueberspannung, so wie die reine, uneigennützige Liebe zu Gott, welche einige Theologen dem Christen haben zur Pflicht machen wollen, da doch selbst der erhabene Stifter unsrer Religion die Bewegungsgründe zur Gottesliebe [41] aus den Verhältnissen herleitet, in welchen wir zu dem höchsten Wesen als dem Vater, Wohlthäter, Regierer, Richter und Vergelter stehen. Man nehme diese Verhältnisse weg; und der sinnliche Mensch wird nichts für das höchste Wesen empfinden können, als kalte Bewunderung, Gefühl von weitem Abstande und von der Unmöglichkeit einer Annäherung. Man nehme von den Bewegungsgründen zur Tugend den Zweck, dadurch unsern Zustand vollkommner zu machen, hinweg; und wir werden gar keinen bestimmten Begriff damit verbinden; ja! selbst die innere Stimme unsers Gewissens muß, wenn sie uns richtig über das, was recht und unrecht ist, belehren soll, von der Vernunft geleitet werden, indem diese die Regelmäßigkeit einer Handlung nach dem Zwecke beurtheilt, welcher, je nachdem er nützlich oder nicht nützlich ist, wohlthätige oder schädliche Folgen vorausahnen läßt. [42] Ließe sich's denken, daß eine Handlung gar keine Folgen haben könnte; so würde diese weder recht, noch unrecht, also gleichgültig für die Moralität seyn. Allein solche Handlungen giebt es, genau betrachtet, wohl gar nicht. Und das ist denn endlich der letzte Vorzug unsers Systems, daß es den Werth aller Handlungen, nach den Graden ihrer Nützlichkeit bestimmen kann, da hingegen die so gepriesenen reinen Begriffe von Recht und Unrecht sich auf eine große Anzahl von Handlungen gar nicht anwenden, folglich den Werth derselben unbestimmt lassen.
Wie wenig fest und haltbar überhaupt die von den Philosophen der neuern Schule aufgestellten Grundsätze seyen, davon hat mich noch kürzlich, so wie manche andre Stelle in ihres, übrigens sehr achtungswerthen [43] Lehrers Schriften, vorzüglich eine Anmerkung, die ich in einem seiner Werke finde, das den Titel führt: Die Religion, innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft, überzeugt. Hier, wo er sich bemüht, sein System so zu zerren, daß es auch über den Leisten der theologischen Orthodoxen passen, folglich auch der Lehre von der Erbsünde keinen Abbruch thun soll, sagt er: »Es sey eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines practischen Vernunftvermögens, sich bey allen Handlungen nach dem Erfolge davon umzusehn.« Nun dann! wenn dies eine für ihn unvermeidliche Einschränkung ist; so scheint es doch wohl der Vernunft nicht gemäß, von ihm zu fordern, daß er nach Bewegungsgründen handeln solle, die gar keinen Bezug auf den Erfolg haben, und die also für seinen eingeschränkten Geist zu hoch sind.
Und nun zum Schlusse dieses, vielleicht manchem Leser zu trocken scheinenden Abschnittes, noch einige Bemerkungen! Ich habe oben die Würklichkeit angebohrner, allen Menschen eingepflanzter bestimmter Begriffe von Tugend und Pflicht geleugnet. Es ist hingegen unwiderlegbar gewiß, daß in unsrer Natur ein lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht, das heißt: von dem, was der Vernunft gemäß und nicht gemäß ist, herrscht, welches jedoch erst durch die Verhältnisse und Lagen, in welche wir versetzt werden, eine deutliche und bestimmte Richtung bekömmt. Es geschieht aber, durch eine sehr gewöhnliche Verwechselung von Ideen, daß wir diejenigen Eindrücke, welche wir durch Erziehung und nachherige Bildung erhalten haben, nachdem sie uns zur andern Natur geworden sind, für angebohrne Begriffe halten. Daher der Irrthum [45] derjenigen, welche, mit Verwerfung aller Rücksichten auf Erfolg und Nutzen, in dem Geiste und Herzen der Menschen die vollkommensten und würksamsten reinen Motive zur moralischen Pflicht-Erfüllung zu finden glauben. Diese Verwechselung findet nicht weniger bey andern Begriffen und Empfindungen Statt. So hat, zum Beyspiel, jeder Mensch ein angebohrnes Gefühl von Schönheit, oder vielmehr einen natürlichen Sinn für den Unterschied zwischen schön und häßlich; allein giebt es darum eine, von allen Menschen unter allen Himmelsstrichen anerkannte allgemeine Regel der Schönheit? Ist deswegen derselbe Gegenstand unter allen Umständen immer gleich schön oder häßlich? Gewiß nicht! Man rede aber von einer schönen menschlichen Gesichts-Form; so wird dem an antike Profile gewöhnten Kunstkenner die Gestalt der griechischen Stirnen und Nasen, dem Neger aber wird ein ganz [46] andres Ideal vor Augen schweben und doch wird bey Beyden der Grund-Begriff rein seyn, nämlich abstrahirt von dem Wohlgefallen, das in ihm der Anblick des vollkommensten menschlichen Antlitzes, (so wie er sich die Idee davon durch Gewohnheit von Jugend auf eingeprägt hat) erweckt. Eben so ist es mit den Begriffen von Ordnung. Diese sind sehr relativ, obgleich das Gefühl für Ordnung und Symmetrie in jedem Menschen von Natur wohnt. Der Platz, den in Einem Hause, in einem Zimmer, eine Sache vernünftiger Weise einnehmen muß, würde in einem andern für dieselbe Sache äußerst unschicklich seyn. Allein man rede von einem ordentlichen Manne; so werden sich an diese Haupt-Idee alle, durch Gewohnheit hinzugekommene Neben-Begriffe anschließen, und jeder Anwesende wird sich, ohne es zu wollen, den ordentlichen Mann als einen Solchen denken, der seine Geschäfte [47] in eben der Reihe, wie er, verrichtet, seine Sachen nach eben der Weise, wie er, verwahrt. Wäre es nun aber vernünftig zu behaupten: Man müsse sein Hauswesen, seine Geschäfte, ohne Rücksicht auf Umstände und Folgen, immer nach solchen Regeln ordnen, die zu jeder Zeit als allgemeine Gesetze für alle Haushaltungen gelten könnten?
Die Herrn Kunstrichter und diejenigen unter meinen übrigen Lesern, denen die hier angeführten Gründe (für den Satz: daß die Beförderung unsrer eignen Glückseligkeit das erste, sicherste und reinste Motiv zu moralischen Handlungen sey) nicht überzeugend vorkommen, bitte ich, ihr Urtheil noch zurückzuhalten und erst vorher den [48] Anhang zu diesem Abschnitte zu lesen, den ich, um den Vortrag nicht zu unterbrechen, am Ende der ganzen ersten Haupt-Abtheilung folgen lasse.
Es ist in dem vorigen Abschnitte bewiesen worden, daß von den Bewegungsgründen, nach welchen vernünftige Wesen sich zu moralischen Handlungen bestimmen und diese ordnen, sich die Rücksicht auf ihren Nutzen, auf die Beförderung ihrer eigenen Glückseligkeit nicht trennen läßt. Man soll, sagen die neuern Philosophen, die Tugend nur ihres innern Werths wegen lieben, suchen und ausüben. Wohl! was giebt denn aber der Tugend diesen Werth? der Nutzen, den sie stiftet. Und worinn besteht denn dieser Nutzen? In der Beförderung des allgemeinen Wohls, des Wohls der Welt. Und was geht denn mich das Wohl der Welt [50] an? Warum soll ich dazu mitwürken? Weil ich ein Theil dieser Welt bin. Das ist der Cirkel, durch welchen wir immer zu unserm eignen Ich wieder zurückkehren. – Die Beförderung unsrer eignen Glückseligkeit ist also der vernünftige Bewegungsgrund aller unsrer moralischen Handlungen.
Der Mensch kann aber nur ein scheinbares, unsichres, nicht dauerhaftes Glück genießen, wenn durch diesen Genuß die Harmonie des Ganzen leidet und gestöhrt wird. Derjenige Mensch nun, welcher diese Rücksicht bey seinen Handlungen aus den Augen verliehrt und seinem scheinbaren Nutzen das Wohl des Ganzen aufopfert, handelt nach unmoralischen Grundsätzen, sträflich eigennützig und von den verschiedenen Arten eines solchen Eigennutzes soll in diesem Abschnitte geredet werden.
Wollen nun diejenigen neuern Philosophen, mit deren Widerlegung wir uns vorhin beschäftigt haben, in ihrer mystischen Sprache, nichts weiter sagen, als daß ein solcher Eigennutz nicht die Triebfeder tugendhafter Handlungen seyn solle; so bedarf es wahrlich eines so großen Aufwandes von unverständlichen, dunkeln Worten nicht, um eine Wahrheit zu lehren, die von den Moralisten aller Zeitalter als unwiderleglich wahr ist anerkannt worden.
Der Sprachgebrauch berechtigt uns, dem unedlen Bewegungsgrunde, welcher so viel Menschen bewegt, das Wohl der gesellschaftlichen Verbindung ihrem sinnlichen Genusse, der Befriedigung ihrer unregelmäßigen Begierden aufzuopfern, den Namen Eigennutz zu geben. Wir haben aber [52] schon bemerkt, daß der wahre, dauerhafte, eigene Nutzen eines einzelnen Mitglieds der Gesellschaft durch keine Handlung bewürkt werden könne, die schädliche Folgen für die Gesellschaft im Ganzen hat.
Man kann also mit Recht sagen, daß nur Mangel an Einsicht daran Schuld sey, wenn die Menschen unmoralisch sind. Berechneten sie besser ihren eigenen Nutzen und die früh oder spät zu erwartenden nachtheiligen Folgen, die für sie oder die Ihrigen jede Handlung nach sich zieht, welche die Harmonie im Ganzen, auch nur auf die am unbedeutendsten scheinende Art, stöhrt; so würden sie Alle gut und folgerecht handeln. Dies ist ein sehr tröstender Gedanke. Jeder unmoralisch handelnde Mensch übertrit also aus eben dem Mangel an gehöriger Ueberlegung der Folgen das moralische Gesetz, aus [53] welchem ein Verschwender sein Vermögen verpraßt, ohne zu bedenken, daß er sich an den Bettelstab bringen wird.
Lasset uns also es für Lästerung der menschlichen Natur halten, wenn manche Philosophen behaupten: es herrsche in uns von Natur ein böses Princip und, um mit ihren eignen Worten zu reden, »der Mensch habe, ungeachtet er sich des moralischen Gesetzes, als eines für ihn verbindlichen Gesetzes, bewußt sey, durch den Gebrauch seiner Freyheit den Entschluß gefaßt, von diesem Gesetze zu Gunsten der Selbstliebe abzuweichen.« Nein! dieser niederschlagenden Ueberzeugung von der natürlichen Verderbtheit der Menschen, die nothwendig jede Entwicklung des Keims zum Guten hindern muß, wollen und können wir nicht Raum geben. Das, was die Theologen [54] die Erbsünde nennen, ist nichts anders, als die Reizbarkeit, die Verführbarkeit des sinnlichen Menschen, gegen die aber seine Vernunft, obgleich oft vergebens, ankämpft. Sein besserer Genius zieht ihn gewiß öfter zu uneigennützigen guten Handlungen hin. Von Natur ist er wohlwollend und theilnehmend. Wen rühren nicht, wen erfüllen nicht mit Liebe zum Menschengeschlechte die Berichte einiger neuern Reisebeschreiber von den uncultivirten Völkern auf den Freundschafts-, den Societäts- und vorzüglich auf den Pelew-Inseln? Hier sieht man rohe Menschen, die wir Wilde nennen, ohne göttliche und menschliche Gesetze und ohne die Bildung, welche Erziehung, Wissenschaften und Künste geben; aus Instinct nach den zartesten moralischen Grundsätzen handeln, die feinsten geselligen Tugenden ausüben und der Liebe, Freundschaft, Gastfreiheit und dem gemeinen Wohl Opfer aller Art bringen. [55] Ein einziges solches Beyspiel von uneigennützigem natürlichem Tugend-Gefühle bey einem völlig uncultivirten Volke, widerlegt alle Beweise, die man aus der Beschreibung einer Menge andrer, vielleicht durch spätere Einwürkungen verderbter Nationen hernehmen könnte.
Wie geht es denn aber zu, daß mit dem, allen Menschen angebohrnem Gefühle des Wohlwollens und der Theilnahme an dem Schicksale seiner Mitgeschöpfe und mit den Gründen der Vernunft, die uns lehren, was wir als Theile des Ganzen der Gesellschaft schuldig sind und ihr leisten müssen, wenn wir von Andern gleiche Schonung und Hülfe erwarten wollen – wie geht es zu, daß wir mit dem Allen dennoch grade bey denen Völkern, welche sich der höchsten intellectuellen und moralischen Cultur rühmen,[56] den Eigennutz und Egoismus am würksamsten sehen? Was ist daran Schuld? Nichts anders, als eben diese Cultur, diese Verfeinerung, und überhaupt liegt der Grund in den unvermeidlichen Gebrechen unsrer bürgerlichen Verfassungen. Das ist das traurige Loos der Menschen, daß, über die Mittel, welche sie wählen, sich ihren Zustand auf Erden angenehmer zu machen, sie ihre ursprüngliche Bestimmung aus den Augen verliehren, daß über das Bestreben, die Vortheile der gesellschaftlichen Zusammenlebung in vollem Maße zu geniessen, sie nach und nach sich von der Natur weit entfernen, und daß durch zu viel Raffinement und Erkünsteln das reine, ächte Gefühl verlohren geht. Indessen sollte es doch der höchste Triumph der Ausbildung des Verstandes seyn, daß, wenn wir den Cirkel aller Erfahrungen durchgelaufen wären, wir auf veredelte und dauerhafte Art zu der Einfalt [57] des natürlichen Zustandes zurückgeführt würden. Allein wird das nicht immer ein frommer Wunsch menschenfreundlicher Philosophen bleiben? In welchem Lande des Erdbodens hat noch je ein Volk diese Stufe der Ausbildung erreicht? Eine genaue Beobachtung lehrt uns leider! daß die bürgerlichen Verhältnisse, Statt daß sie neue Bande seyn sollten, um die Menschen mit Liebe und Eintracht zu gemeinschaftlichen Zwecken an einander zu knüpfen, uns vielmehr isolireren, uns in einen Zustand von gegenseitiger Vertheidigung versetzen, den aufgereizten Leidenschaften neuen Spielraum und den erweckten Kräften Nahrung und Gelegenheit zum Kampfe gegen einander geben. Mit der Cultur vervielfältigen sich die Mittel, Bedürfnisse zu befriedigen, aber auch die Bedürfnisse selbst; der Luxus mit dem fürchterlichen Gefolge der verderbten Sitten nimmt die Oberhand; in diesem Strudel [58] von Verwirrung hat dann jeder Einzelne genug zu thun, wenn er von alle dem, wonach Alle greifen, für sich und höchstens noch für die, welche seinem Herzen am nächsten sind, so viel erhaschen kann, als er braucht. Und Jeder braucht viel, glaubt wenigstens viel zu bedürfen, wird fast unvermeidlich abhängig von der öffentlichen Meinung, von der Mode, muß viel thun des Scheins wegen und um nicht für einen Sonderling zu gelten. So widmet er dann dem Eigennutze seine ganze Anstrengung und seine Aufmerksamkeit, wird abgelenkt von der großen Hinsicht auf das allgemeine Wohl, das ihn nur beschäftigt, wenn es mit seinem Privat-Vortheile bestehn kann, oder dieser dadurch befördert wird, wenn er dabey für sich äussere Ehre, Ruhm oder Gewinn von andrer Art in der Entfernung erblickt. Dies sey aus Menschenliebe, nicht zu Vertheidigung jenes Lasters, aber zu Milderung dessen[59] angeführt, was ich über den täglich mehr einreissenden Eigennutz und über Schwindung des Gemeingeistes gesagt habe und noch werde sagen müssen.
Doch noch ist das Gefühl der Theilnahme an fremder Glückseligkeit, an dem Wohl der bürgerlichen Gesellschaft und an allem, was die Menschheit im Allgemeinen betrift, nicht aus den Herzen der Bewohner cultivirter Länder verschwunden. Wir finden die Spuren dieser edeln Empfindungen in kleinen Staaten, wo noch Einfalt und Reinigkeit der Sitten herrschen; in Ländern, wo Reichthum und Luxus die Menschen noch nicht verderbt haben; wo sie in beständiger Arbeitsamkeit und Anstrengung fortlebend, sich gegenseitig beystehn müssen, um gegen rauhe Elemente und die Unfruchtbarkeit des Bodens anzukämpfen, wo sie daher fühlen lernen, [60] wie nöthig Ein Mensch des Andern Hülfe bedarf, wo, durch Gebürg-Ketten, unbequeme Straßen, oder Meere von andern Ländern abgesondert, kein großes Verkehr mit Ausländern die Einwohner mit fremden Lastern, mit dem Wucher des Handels, mit den Betrügereyen reisender Abentheuer bekannt, sie nicht mistrauisch und für die Gastfreundschaft nicht unempfindlich macht. Wir finden noch ächten Gemeingeist in kleinern Republiken, wo jeder Bürger Antheil an der Regierung hat, sich unmittelbar mit dem Interesse des Staats beschäftigen und alles, was zum gemeinen Wohl gewürkt wird, mit als sein Werk ansehn darf. Da sehen wir ihn dann willig die größten Opfer bringen und seinen Eigennutz vergessen. Auch da, wo, bey einer monarchischen Verfassung, eine wahrhaftig väterliche, milde Regierung die Völker beglückt und die Nation in ihrem Fürsten nur den Wohlthäter und Versorger [61] sieht, thut Jeder gern auf sein kleineres Interesse Verzicht, um das größere allgemeine Wohl zu befördern. Endlich pflegen öffentliche Calamitäten, Gefahr, die von Aussen her droht, auch die verderbtesten Völker, wenigstens auf eine Zeitlang, zu bewegen, allen Eigennutz bey Seite zu setzen und zu gemeinschaftlicher Rettung und Hülfe beyzutragen, so viel Jeder vermag. Ja! wo alle diese Fälle nicht eintreten und die Menschen nur ihrem eignen Vortheile nachzujagen scheinen, erblickt dennoch der feinere Beobachter Spuren des angebohrnen Gefühls für Recht und Unrecht, des Wohlwollens und der Theilnahme an fremden Leiden und Freuden. Wer hat nicht schon bemerkt, wie geneigt selbst der weniger ausgebildete große Haufen ist, die Parthey jedes Schwächern gegen den Stärkern, jedes von Glück und Schutz ganz Verlassenen, Unterdrückten, Verfolgten zu nehmen? Ein Mann, der lange [62] Zeit hindurch der Gegenstand des Neides, der Misgunst und des allgemeinen Hasses gewesen ist, braucht nur von seiner Höhe herabzustürzen und grenzenlos elend zu werden, um nun selbst unter seinen ehemaligen Fein den und Verfolgern Vertheidiger zu finden und Theilnahme zu erregen. Und darinn besteht die höllische Kunst schlauer Bösewichter, daß sie ihre Feinde nie gänzlich zu Boden stürzen, weil sie bey ihrer studierten Rache wohl wissen, daß der Unglückliche dann ein Gegenstand des allgemeinen Mitleidens wird. Allein freylich, wenn sich auch noch einige Hofnung zeigt, daß der beneidete, jetzt gestürzte Große wieder emporkommen und über andre sich wird erheben können; scheitert die Gerechtigkeit an dem Eigennutze und Jeder trägt das Seinige dazu bey, den Unglücklichen auf einer gewissen Stufe, wo er ihm nicht im Wege steht, niederzuhalten.
Es ist dem, welcher auf die feinern Charakterzüge aufmerksam ist, die geheimen Schliche der Herzen belauert, da, wo die Menschen am wenigsten beobachtet zu werden glauben, seine Bemerkungen anstellt und aus kleinen Zügen oft große Erfahrungen abzieht, einem Solchen, sage ich, ist es ein wohlthätiges Gefühl, wenn er noch Leute antrift, in denen der Trieb, ohne specielle Rücksicht auf eignen Nutzen und Genuß, für Andre zu würken, zur Natur geworden ist und sich bey den unbedeutendsten Vorfällen offenbart. Ich wandle auf einem Spaziergange hinter einem Manne her und bemerke, daß er sorgfältig, wenn er im Fortschreiten irgend eine Glas-Scherbe, einen Stein, einen Dorn-Zweig, oder irgend einen andern Gegenstand bemerkt, der dem nach ihm Kommenden hinderlich oder gefährlich werden könnte, es mit seinem Stocke wegräumt. Ich erkundige [64] mich genauer nach dem Manne und erfahre, daß er ein wohlthätiger Menschenfreund ist, der auf seine Kosten arme Kinder erziehn, Wege ausbessern, Bäume pflanzen läßt, unter deren Schatten die Nachkommen ruhn können. So findet man Personen, die fremdes Eigenthum, wie ihr eignes bewachen, wo sie etwas der Gefahr, verlohren zu werden, ausgesetzt sehen, es in Sicherheit bringen, das Zerbrochene ungebeten und unbemerkt herstellen. Und mich dünkt, das Gefühl, welches uns treibt, auch da Sorgfalt zu verwenden, wo wir für uns keinen weitern Nutzen davon haben, als daß dadurch gegenseitige Gefälligkeit und Dienstleistung unterhalten wird, sey ganz natürlich und jedem gutgearteten Menschen mechanisch. Ich stehe früh des Morgens vor dem ofnen Fenster; die Nachbarinn mir gegenüber tritt aus ihrer Thür und hat ein kupfernes Milch-Gefäß in der Hand. Im [65] Begriff damit auszugehn, fällt ihr ein, daß sie noch etwas vergessen hat; sie stellt also das Gefäß auf die Bank vor die Thür und geht in das Haus zurück. Sie scheint einen Augenblick zu wanken, ob sie es wagen dürfe, es da stehn zu lassen. Noch ist eben niemand auf der Gasse zu sehn; auch erblickt sie mich am Fenster, nickt mir einen guten Morgen zu, wirft noch einen Blick auf die Bank hin, einen andern die Gasse hinauf und geht dann zuversichtlich fort. Ich übersetze diese Blicke in Gedanken. Sie bedeuten: »der ehrliche Nachbar da gegenüber wird schon einen Augenblick auf den Topf Achtung geben;« und nun fühle ich in mir eine Verpflichtung, nicht eher das Fenster zu verlassen, als bis sie wieder aus dem Hause kömmt. Sie erscheint endlich, dankt mir durch eine freundliche Verneigung und ich trete zurück. Wir haben uns nie gesprochen, aber der Beruf zu gegenseitiger Hülfsleistung, [66] den jeder gutgeartete Mensch in sich fühlt, bringt diesen und ähnliche Verträge, ohne Wortwechsel und persönliche Bekanntschaft, in einem Augenblick zu Stande. Wer bey dieser Gelegenheit über die Schilderung eines so unbedeutenden Vorfalls die Achseln zucken könnte; der würde beweisen, wie unbekannt ihm die sehr wichtige Wahrheit ist, daß die menschliche Natur sich in solchen kleinen Zügen deutlicher und sichrer offenbart und verräth, als in großen Haupt- und Staats-Actionen, wo jedermann mit Rücksicht auf den äußern Ruf und auf die, ihn beobachtende Menge handelt.
Leider! aber ist bey den mehrsten Menschen dies Gefühl von wahrer Theilnahme an dem Schicksale Andrer und an dem allgemeinen Wohl durch Eigennutz und Egoismus erstickt. Sie leben nur für sich, denken[67] nur an ihr eignes, höchstens an ihrer Weiber und Kinder, Wohlbehagen. Zwar kramen sie häufig Versicherungen des Mitleidens, Versprechungen von Dienstleistungen zum Prunk aus, prahlen mit ihrem Eifer für das Glück des Vaterlandes und der Menschheit; wo es aber auch nur auf geringe Verleugnungen, auf kleine Aufopferungen ankömmt; wo an keine Art von Wucher mit dem, was sie hingeben sollen, in der Entfernung zu denken ist und nun vollends in Collisions-Fällen, ja! da finden sich unzählige Bedenklichkeiten, Gewissenszweifel, Einwendungen. Wie oft wird der getäuscht, der auf die Versprechungen solcher Menschen bauet! Sie sind zu faul, um nur einmal einen Brief zu schreiben, der eines ehrlichen Mannes Glück befördern könnte. Sie hören die Erzählungen fremder Schmerzen und Leiden mit allen Zeichen einer solchen Theilnahme, wie sie die feine Lebensart erfordert [68] an; aber, man rechne nur nicht auf diese höflichen Herren! Kaum wendet man den Rücken; so haben sie unser Schicksal rein vergessen.
Nichts aber bieten die Leute lieber an und geben es lieber, als was sie entweder nicht haben, oder nicht achten; der Verschwender Geld, der Schwachkopf guten Rath.
Wie wenig Wohlthäter findet man, die nicht auf irgend einen Ersatz rechneten, wäre es auch nur auf Dank, auf die Ehre, der guten That wegen, gerühmt, dadurch für einen großmüthigen Mann bekannt zu werden, und wenn es auch nicht gerade auf eitel Lob und Ruhm angesehn ist, wenigstens darauf, ein Herz mehr zu gewinnen, welches [69] dann noch wohl der verzeihlichste Eigennutz ist! Aber solcher Männer, die aus wahrem innern Berufe Gutes zu würken, um die höhere Bestimmung der Menschheit zu erfüllen, auch da wohlthätig und theilnehmend handeln, wo sie von niemand beobachtet werden, wo keine Hofnung einer äußern Belohnung und Erwiederung Statt findet, wo sie, bey den größten Aufopferungen, dennoch gewiß seyn können, verkannt, gehaßt, verlästert, mit Undank belohnt zu werden, wo also nur die Ueberzeugung von der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit der Handlung der Preis ist – Solcher Männer giebt es wenige.
Und deswegen haben denn auch so wenig Menschen Sinn für den Werth eines großen, edlen, uneigennützigen, für Menschenwohl warmen Herzens; deswegen trauen [70] sie ihren Mitbrüdern so gern versteckte Neben-Absichten zu. Du nimmst dich eines armen jungen Mädchens an. – Man flüstert sich in das Ohr: »ey nun! er wird sich schon bezahlt zu machen wissen; das Mädchen ist hübsch; der Mann hat Geschmack.« Du sorgst für die Erziehung eines verwaiseten Knaben – »Sieh einmal!« heißt es, »der Junge ist ihm wie aus den Augen geschnitten. Er sollte nur kein Geheimniß daraus machen, daß es sein Sohn ist.« Und wo sich gar kein Mittel findet, Verdacht gegen die Bewegungsgründe zu einer Handlung zu erregen, da setzt man den Werth der That selbst herab, sucht zu verhindern, oder wenigstens nicht so eifrig zu befördern, daß sie bekannt werde, als man geneigt ist, ein böses Gerücht auszubreiten. Das ist freylich eine schon oft gemachte Bemerkung; aber sie gehört hierher, denn ihre Quelle ist der Eigennutz; [71] man glaubt sich zu erheben, in dem Verhältnisse, in dem man Andre erniedrigt und glaubt zu verlieren durch das, was Andre an öffentlicher Achtung gewinnen.
Auf die unverantwortlichste Weise wird aber auch von nicht fein denkenden und von schlecht gesinnten Leuten das Zutrauen, die Gutmüthigkeit und die Dienstfertigkeit uneigennütziger und solcher Menschen, die weniger achtsam auf ihren Vortheil sind, gemisbraucht. Wie oft man, besonders in den Jahren, wo man den Werth des Geldes nicht zu schätzen weiß, betrogen wird, davon werden wohl die mehrsten meiner Leser in ihrem Leben selbst Erfahrungen gemacht haben; allein auch nachher, bey reiferer Vernunft, wird man nur gar zu oft mit einem theilnehmenden Herzen das Opfer der Zudringlichkeit und der unersättlichen Forderungen [72] solcher selbstsüchtigen Leute. Da wälzt gern Jeder Arbeit, Sorgen, Unannehmlichkeiten und Verantwortung auf den, der freundlichen Bitten nicht widerstehn kann. Da wird das Haus dessen, dem man Wohlthätigkeit zutrauet, nicht leer von nichtswürdigen Bettlern und Abentheurern. Da wird der Mann, der sich gern zum Besten Andrer verwendet und gern Gefälligkeiten erweißt, mit Aufträgen, Bitten um Empfehlungen und Anliegen aller Art bestürmt. Da machen Faullenzer, Tagediebe, Schmarotzer und Leute, die von Langerweile geplagt werden, das Haus des geselligen, gastfreyen und duldenden Mannes zu ihrem Sammelplatze. Mit Einem Worte! Es braucht nur bekannt zu seyn, daß du ein menschenfreundlicher, ohne Eigennutz zu Rath und That bereitwilliger Mann bist; so macht Alles Jagd auf dich und legt Beschlag auf dein Vermögen, auf deine körperlichen und geistigen [73] Kräfte und auf deine edle Zeit. Und wenn man nun also unzähligemal ist angeführt und gemißbraucht worden, ist es dann dem verständigen Manne zu verargen, wenn er kälter, zurückhaltender wird, wenn er erst Ueberlegungen und Untersuchungen anstellt, bevor er sich hingiebt, aufopfert, und wenn er endlich auch einmal verlangt, daß Andre etwas für ihn thun sollen, nachdem er lange genug nur für Andre gelebt hat?
Allein die mehrsten Menschen handeln, oft ohne es sich selbst bewußt zu seyn, so, als dürften sie sich für den Mittelpunkt der ganzen Schöpfung ansehn, als sey alles außer ihnen nur ihrentwegen da. Dies offenbart sich in ihren unbedeutendsten Reden und Handlungen. Sie sprechen nur von sich, von ihren Schicksalen, Geschäften und Vorsätzen. Was aber andre Leute angeht, das [74] hören sie bey weiten nicht mit der Theilnahme und Gefälligkeit an, die sie für ihr Interesse fordern. Im Umgange wollen sie immer nur genießen, stets nehmen, nie geben. Man hört sie leicht über Langeweile klagen, indeß sie selten darauf Rücksicht nehmen, ob sie auch wohl uns Langeweile machen. Wo sie nicht Unterhaltung genug finden, da gehen sie fort, oder werden böser Laune; aber wo es ihnen gefällt, da bleiben sie, unbekümmert, ob sie auch etwas zur Unterhaltung und Belehrung Andrer beytragen. Wo es ihren Nutzen oder ihr Vergnügen gilt, da sollen wir ihnen unsre Grundsätze und unsre Ruhe aufopfern. Fällt es ihnen ein, bey nächtlicher Zeit zu tanzen, zu singen, zu toben; so ist es ihre geringste Sorge, ob irgend ein schwächlicher, nach Ruhe sich sehnender Mann darüber im Schlafe gestört wird oder nicht. Fehlt ihnen die vierte Person zum Spiele; so fordern sie dich [75] mit Ungestüm dazu auf, wenn gleich sie wissen, daß du höchst ungern und unglücklich spielst. Haben sie Lust, eine Thorheit zu begehn, die ihnen von ihren Mitbürgern verdacht werden könnte, wenn sie allein sie trieben; so wollen sie irgend ein andres männliches oder weibliches Geschöpf, das bey dem Publiko in Achtung steht, zwingen, auf Unkosten seines Vergnügens, seines Rufs und seines sittlichen Gefühls, an dieser Ausschweifung Theil zu nehmen, oder gar die Verantwortung davon zu tragen. Und weigert man sich, aus Rücksicht höherer Pflichten; so verschreyen sie uns als einen eigensinnigen, wunderlichen, harten Mann, der andern Leuten kein Vergnügen gönne. Auch die Gerechtigkeit kann man von manchen Personen nicht erhalten, daß sie uns erlauben, unsern Weg ruhig neben ihnen hinzugehn, ohne uns um den ihrigen zu bekümmern; nein! wenn es in ihrem Kram paßt, [76] sollen wir durchaus mit ihnen durch dick und dünn wandeln. Wenn man ihnen nichts Böses, vielmehr, wo es die Gelegenheit fügt, alles Gute erweist, übrigens aber in keinen genauen Verhältnissen mit ihnen stehn mag; ist ihnen doch das nicht genug. Sie wollen uns ausschließlich alles seyn; wir sollen an allen ihren Narrheiten und Ungehörigkeiten Theil nehmen, für sie und mit ihnen leben und weben. Wir sollen sie liebenswürdig, angenehm, schön, unterhaltend finden, wenn sie auf alle Weise zurückstoßend sind. Sie würden es uns eher verzeihen, daß wir sie haßten, verfolgten und Böses von ihnen redeten, als wenn sie uns gleichgültig, wenn sie uns nichts sind, wenn wir ihnen ausweichen.
Leider! verwebt sich auch nur gar zu oft ein grober oder feinerer Eigennutz in das [77] heilige Band der Freundschaft. Wie selten findest Du einen Freund, der Dich bloß Deines innern Werths wegen liebte, der ohne alle andre Rücksichten, unter allen Umständen, bey allen vortheilhaften oder widrigen Schicksalen und Verhältnissen, in welche Du ohne Deine Schuld gerathen könntest, Dir gleich warm, treu und eifrig zugethan bliebe; der nicht wenigstens eine Art von Ansehn oder Uebergewicht über Dich nähme, wenn er Dich durch äussere Umstände niedergedrückt sieht; der Dir öffentlich, wie in geheim, Gerechtigkeit wiederfahren ließe, und Deinen Werth nicht miskennte, wenn Vorfälle, die Du nicht voraussehn konntest, Dich in Verlegenheiten stürzen, oder der nicht dann irgend eine sehr verzeihliche von Dir begangene kleine Unvorsichtigkeit, Dir, wie ein würkliches Verbrechen anrechnete, um Gelegenheit zu haben, die Schuld auf Dich zu schieben und von Dir zurückzutreten! [78] Wo findest Du einen Freund, der immer unbestechbar bereit wäre, Dir die Wahrheit zu sagen, Dir treuen Rath zu geben, Dich zu tadeln, wo Du Tadel verdienst, nicht um sich über Dich zu erheben, Dich zu demüthigen, sondern aus ächtem Pflichtgefühle und aus Hochschätzung, und das ohne Bitterkeit, nicht mehr und nicht weniger, nicht freymüthiger, nicht feiner und nicht schonender, ob Du eine große Rolle im Publico spielst, oder verkannt und gedrückt wirst? Wo findest Du einen Freund, der fähig wäre, auch solche Eigenschaften an Dir zu loben, zu würdigen und hervorzuziehn, worinn Du ihn vielleicht übertriffst, verdunkelst; einen Freund, der gegenseitig auch solche Wahrheiten, die seine Eitelkeit kränken, willig und dankbar und mit dem Vorsatze, sich zu bessern, von Dir annähme; dessen Herz sich Dir nicht von Dem entführen ließe, der williger als Du seinen[79] Leidenschaften huldigt und seine Ohren durch Schmeicheleyen kitzelt; endlich einen Freund, der nicht aus eigennütziger Eifersucht von Dir forderte, daß Du ihn allen Andern vorziehn, ausschließlich ihm anhängen und ihm diesen Vorzug öffentlich vor der Welt bezeugen solltest? Wohl Dir, wenn Du einen solchen Freund gefunden hast! Du kannst ihn nie genug in Ehren halten. Aber rechne auch nicht zu fest darauf, mache es nicht zu einem unentbehrlichen Bedürfnisse Deines Herzens, den Mann zu finden und keinen andern für Deinen Freund zu halten, als den, der alle diese Proben besteht! Du möchtest sonst aus der Welt gehn, ohne das Glück der Freundschaft geschmeckt zu haben. Vergiß nicht, daß wir Alle schwache Menschen, mehr oder weniger abhängig von unsern Leidenschaften, Bedürfnissen, Vorurtheilen und von der Meinung des großen Haufens sind! Es ist schon oft gesagt worden, [80] daß diejenigen Freundschaften die wärmsten, uneigennützigsten und nicht selten die dauerhaftesten zu seyn pflegen, die in den sorgenfreyen Jahren der Jugend geschlossen werden. Das ist ganz wahr; in diesem glücklichen Alter fällt eine Menge von Rücksichten weg, welche unsre nachherige Verknüpfung mit der bürgerlichen Gesellschaft uns ohne Unterlaß vor Augen stellt. Die Leidenschaften des Jünglings und der Hang zu sinnlichen Freuden aller Art, kommen durch ihr Interesse seltener mit der Freundschaft in Zusammenstoß, (Collision) als die des männlichen Alters, Ehrgeiz und Erwerbsucht – die Eitelkeit liegt wohl in beyden Wagschalen gleich schwer – Aber der Jüngling ist auch ofner, unbefangner, zuversichtlicher zu sich selber und zu Andern, wärmer, mittheilender und nachsichtiger; der Mann verschlossener, mistrauischer, ungläubiger, strenger in seinen Forderungen, [81] sich selbst mehr genug. So knüpft dann mehrentheils nur das, was man Sympathie nennt, unter jungen Leuten das Band der Freundschaft. Was ist aber, genau betrachtet, diese Sympathie anders, als ein egoistisches, mithin eigennütziges Gefühl? Wir werden wohlwollend hingezogen zu einem Geschöpfe, das uns an Eigenschaften ähnlich ist, nicht selten nur einerley Fehler mit uns gemein hat und lieben also eigentlich uns selbst in Andern – Doch so genau darf man das feine Gewebe der menschlichen Neigungen und Triebe nicht aus einander wickeln, wenn man nicht allen Werth, auch der edelsten Gefühle des Herzens, wegraisonniren will.
So viel ist indessen gewiß, daß die Menschen selten diejenigen unter ihren Brüdern eigentlich lieben, von denen ihnen ihr Herz [82] sagt, daß sie in sittlichem und geistigem Werthe, oder in äußern vortheilhaften Verhältnissen ihnen sehr überlegen sind, weit über ihnen stehen. Können sie dem größern Manne die Bewunderung nicht versagen; so verträgt sich doch nicht so leicht reines Wohlwollen, wahre Zuneigung mit der Anerkennung einer, mehrentheils drückenden, die Eitelkeit kränkenden Erhabenheit. Was ist es also anders, als versteckter Eigennutz, was den Haufen der Alltagsmenschen bewegt, sich zu Männern von hervorstechenden Talenten, von ausgebreitetem Rufe, oder von großem Gewichte in der bürgerlichen Welt herzudrängen? Sie glauben sich selber ein Gewicht zu geben, wenn sie sich der Bekanntschaft, des Umgangs, oder gar der Freundschaft solcher Personen rühmen dürfen, oder wenn sie es bemerklich machen können, daß sie freyen Zutritt zu ihnen haben. Dieselben Menschen aber werden einem andern [83] wahrhaftig großen Manne, von dessen hohem Werthe sie eben so überzeugt sind, dennoch nicht so viel Anhänglichkeit beweisen, wenigstens nicht öffentlich vor der Welt, sobald dieser Mann den allgemeinen Ruf noch nicht gewonnen hat, oder etwa gar von seinen Mitbürgern, vielleicht von seinem ganzen Zeitalter, verkannt wird. Vielmehr werden sie sich dann bemühn, ihn nicht aufkommen zu lassen, damit er sich nicht einst über sie erhebe, sie verdunkle. Es ist den mehrsten Leuten unerträglich, Andre wegen Eigenschaften rühmen zu hören, die sie selbst nicht zu besitzen, sich bewußt sind. Es giebt ganze Länder, wo jeder Schriftsteller ausgezeichnet zurückgedrängt wird, weil der Neid der am Ruder sitzenden Geschäftsmänner es nicht vertragen kann, daß ein Solcher ohne ihre Hülfe emporkömmt und sich etwa gar auswärts größere Achtung, als sie, erwirbt. Sie suchen dann das Vorurtheil [84] zu unterhalten, daß ein eigentlicher Gelehrter fast immer ungeschickt zu praktischen Arbeiten sey, damit sie mit ihrem auswendig gelernten Krame und ein bischen Geschäfts-Routine, sich für die einzigen nützlichen und brauchbaren Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft mögen geltend machen. Wenn doch die Menschen endlich einmal diese egoistische Verblendung ablegen und einsehn lernen wollten, daß Jeder, der in seinem Fache etwas Vorzügliches leistet, achtungswerth ist, gleichviel auf welche Weise er der Welt nützlich wird, wenn er ihr nur nützlich wird! Das Verdienst des redlichen Geschäftsmannes ist gewiß sehr groß, obgleich nicht immer eben so glänzend, wie das des Schriftstellers, und zu einem geschickten praktischen Staatsdiener werden unstreitig manche wichtige, nur mit der größten Anstrengung, Uebung und mit vielfacher Aufopferung zu erlangende Kenntnisse erfordert. [85] Unwahr ist aber es von der andern Seite, (obgleich dies zuweilen, und selbst oft der Fall seyn mag) daß ein jeder so genanter Literator unfähig seyn sollte, sich diese, einem Geschäftsmanne nöthigen Fertigkeiten zu erwerben. Es hat vielmehr von je her in allen Ländern Männer gegeben, die zugleich auf beyden Wegen sich ein großes Verdienst erworben haben. Und was den Nutzen betrifft, den Beyde stiften; so läßt sich derselbe, so wenig wie die Folgen irgend einer Art von Anwendung seiner Kräfte, berechnen. Lasset uns daher doch Eigennutz und Eitelkeit bey Seite setzen, kein Talent, keinen sonst edlen Gebrauch der Zeit geringschätzen! Lasset uns das oft sehr zweydeutige Glück eines großen Namens niemanden beneiden! Das innere Bewußtseyn, in der Stille, vom Volke ungelobt und unbemerkt, Gutes zu würken, ist wohl eben so viel werth. Lasset uns endlich das [86] wahre Verdienst, wo und wie wir es auch antreffen, würdigen und hervorziehn, um, wo möglich, dadurch die Schwächern zur Nacheiferung zu erwecken, nicht aber für uns Vortheil, noch Erhebung darinn suchen, daß wir Andre unterdrücken!
Die mehrsten Menschen, welche verkannte, unterdrückte Talente an das Licht zu bringen, junge Genien mit Geld-Summen und Empfehlungen zu unterstützen und den Gelehrten vorzügliche Achtung zu beweisen, sich angelegen seyn lassen, möchten uns gern glauben machen, dies alles geschähe aus uneigennützigem Eifer für Wissenschaften und Künste; allein nicht immer ist das der Fall. Man will selbst für einen Mann von Kenntnissen, Talenten und feiner Beurtheilung gelten; man möchte gern als ein Solcher und als ein großmüthiger Beförderer der [87] Gelehrsamkeit und Aufklärung ausposaunt werden; man erwartet vielleicht von demjenigen, den man, wie es gewöhnlich heißt, aus dem Staube hervorgezogen hat, gewisse unentgeltliche und verschwiegene Dienste; er soll etwas durchsehn, verbessern, oder selbst ausarbeiten, das man nachher für eignes Machwerk ausgeben will. Nun! laß immerhin kleine Nebenabsichten bey solchen Mäcenatenschaften mit unterlaufen – Wenn nur das Gute geschieht, Fleiß und Talente ermuntert werden!
Auf die häufigen Besuche, welche reisende Liebhaber der Wissenschaften bey bekannten, durch ihre Schriften berühmt gewordenen Männern ablegen, haben Diese auch eben nicht Ursache, stolz zu werden. Die Mehrsten solcher Leute kommen bloß als neugierige Gaffer und um hernach sagen zu [88] dürfen, sie kennten diesen und jenen großen Gelehrten recht gut. Oft erkundigen sie sich erst in der Stunde vor dem Besuche, was der Mann eigentlich geschrieben habe, um doch nöthigen Falls von seinen Werken mit ihm reden zu können. Andre kommen mit einer Sammlung von Schmeicheleyen und Lobpreisungen, die sie für ähnliche Waare bey ihm mit Wucher umzusetzen hoffen, welche Bewandtniß es auch mehrentheils mit den zahllosen Briefen hat, womit man Leute von einigem Rufe in der gelehrten Welt bestürmt und die selten etwas anders, als einen Tausch-Handel von Complimenten zum Gegenstande haben. Endlich aber giebt es auch Menschen, welche bey solchen Besuchen nur die Bereicherung ihrer Tagebücher, Reisebeschreibungen und Anecdoten-Sammlungen zum Augenmerke nehmen, das Zutrauen argloser Männer misbrauchen, um Gespräche und Eröfnungen [89] unter vier Augen nachher auf unbescheidene Weise drucken zu lassen; sich auch wohl über die kleinen würklichen oder anscheinenden Schwachheiten des Mannes, der sie gastfrey und höflich aufgenommen hat, öffentlich lustig zu machen.
Nicht weniger Eigennutz, als mehrentheils bey der äussern Achtung im Spiele ist, welche die Menschen gelehrten und berühmten Leuten zu beweisen pflegen, ist auch in dem Eifer würksam, mit dem sie sich zu solchen Personen hindrängen, die durch Reichthum, Geburt oder Rang sich über Andre erhoben haben. Wenn auch nicht immer von Planen auf Schutz und Beförderung, auf den Geldbeutel und auf die Mahlzeiten die Rede ist; so sucht doch die liebe Eitelkeit ihren Vortheil bey solchen Verbindungen. Es giebt solche Menschen, die sich gern in [90] die Cirkel Reicherer und Vornehmerer einschieben, die Sitten der so genannten höhern Stände auf eine, zuweilen in das Komische fallende Weise copieren, ausländische Sprachen reden wollen, deren sie nicht mächtig sind und sich auf phantastische Weise kleiden, um ihrer Meinung nach, auch für reich und vornehm angesehn zu werden; ja! die deswegen und um sich bey den Großen einzuschmeicheln, sich eine Ehre daraus machen, ihren Thorheiten und Lastern nachzuahmen. Es giebt Leute, die keinen Aufwand, keine Aufopferung scheuen, sobald es darauf ankömmt, ihre thörichte Eitelkeit zu befriedigen; die sparsam und kärglich leben und zu leben Ursache haben, wenn sie mit den Ihrigen oder einem vertrauten Freunde allein sind, aber dagegen gern Geld zu zehn vom Hundert aufnähmen, um sich die Ehre verschaffen zu können, einen durchreisenden Prinzen bey sich zu bewirthen. Diese Leute[91] kennen in der That ihren Vortheil schlecht; von ihren verständigen Mitbürgern verhöhnt, haben sie nicht einmal die Freude, für ihren lächerlichen, oft sehr geschmacklosen Aufwand, wahre Dankbarkeit einzuerndten. Kaum hat der Magnate ihr Haus wieder verlassen; so vergißt er vielleicht schon den Namen des Mannes, bey dem er so viel Gutes genossen hat; oder wenn er in der Folge einmal wieder Seiner Erwähnung thut; so geschieht es, um über die bürgerliche Bewirthung zu spötteln, über die Langeweile zu klagen, die er aus Höflichkeit hat aushalten müssen und die Albernheiten und Fehler gegen ächten Weltton herzuzählen, die ihm dort aufgestoßen sind.
Besser berechnet auf der andern Seite der sich herablassende Große seinen Vortheil bey solchen Verbindungen mit Leuten, die er [92] weit unter sich glaubt und wirft sich gewiß nicht umsonst weg. Wenn er nicht etwa gar in solchen Vermögens-Umständen ist, daß das Gesuch einer Geld-Anleihe, oder ein andrer öconomischer Plan ihn bewegt, den Umgang mit dem reichern Bürger zu suchen; so verlangt er doch gewiß auf andre Art für die Langeweile, welche er in dergleichen Gesellschaften empfindet, entschädigt zu werden. Zum wenigsten will er reichlich mit Schmeicheley und Huldigung für die Opfer bezahlt seyn, die er, seiner Meinung nach, bringt. Oder deswegen behagt ihm ein Cirkel von Personen geringern Standes weit mehr als der Verkehr mit seines Gleichen, weil Jene vielleicht niederträchtig genug sind, einen vornehmen Herrn zu vergöttern. Er will dann, wie Cäsar, lieber in einem Dorfe der Erste, als in einem Königreiche der Zweyte seyn. Am häufigsten aber legt es diese Art Menschen darauf an, sich [93] in den Ruf einer gewissen Popularität zu setzen und dadurch eine mächtige Parthey im Volke für sich zu gewinnen.
Ueberhaupt haben wir Ursache, ohne eigentlich argwöhnisch zu seyn, doch nicht zu fest auf die Zuneigung der Menschen zu rechnen, die wir nie in solchen Fällen beobachtet haben, wo unsre Verhältnisse gegen sie mit ihren Vortheilen in Collision kommen, oder wo es kleine oder große Aufopferungen und Verleugnungen gilt. Man beurtheile also die Menschen nicht nach dem, wie sie handeln, wenn sie Unsrer auf irgend eine Weise bedürfen, oder uns fürchten! Wenn wir uns der allgemeinen Achtung erfreuen; wenn unser Wort von Gewicht, unser guter Ruf ausgebreitet und nicht zweydeutig ist; wenn man es für eine Art von Ehre halten darf, mit uns vertraulich umzugehn;[94] ja! dann werden wir freylich nie Ursache finden, über Vernachläßigung zu klagen. Aber lasset uns in Lagen kommen, wo das Glück uns den Rücken kehrt, wo unverschuldet widrige Vorfälle uns treffen, wo böse, verleumderische Gerüchte zu unserm Nachtheile herumlaufen; wo wir von rachsüchtigen Obern gedrückt, von Feinden und Neidern verfolgt werden, bey Fürsten in Ungnade gefallen sind – und lasset uns dann sehn, wie viel von denen noch über unsre Schwelle kommen, die vorher sich zu uns drängten und uns die wärmsten Versicherungen ihrer Hochachtung gaben! Wer diese Probe aushält und nicht etwa selbst im Gedränge ist, den darf man für uneigennütziger halten, als mehrentheils der Haufen gewöhnlicher Menschen ist. Ich habe bey verschiedenen Abwechselungen meines unruhigen Lebens, angenehme und unangenehme Erfahrungen von der Art gemacht. Unter Fremden,[95] Bekannten, sogenannten Freunden und Blutsverwandten, haben dieselben Personen mir mehrmals den Rücken gewendet und sich mir wieder aufgedrungen, mir Wärme und Kälte, Uebermuth und kriechende Huldigung bewiesen, mich verleumdet und sich ihrer Verbindung mit mir gerühmt, mich mit ihren unbedeutenden Briefen bestürmt und mir auf die meinigen nicht geantwortet, je nachdem meine äußern Verhältnisse von der Art waren, daß sie dabey zu gewinnen oder zu verlieren glaubten. Indeß ich unter Leuten, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte, edle, eifrige Vertheidiger fand, ließen Menschen, die mir sehr wesentliche Verbindlichkeiten schuldig waren, alles Böse über mich ergehn, oder schlugen sich gar zu der Parthey derer, die mich verfolgten. Wer, so wie ich, über die Verkehrtheit der Menschen lieber lacht, als seufzt und eifert, eigentlich niemandes Gnade und Schutzes [96] bedarf, von keinem Menschen in der Welt etwas anders als Gerechtigkeit fordert und, die Wahrheit zu gestehn, von den mehrsten Erdensöhnen herzlich wenig ausdauernde Festigkeit und Consequenz in Handlungen erwartet; den können dergleichen Erfahrungen eben nicht überraschen und niederschlagen. Er nimmt das, was ihm die Menschen für Treue und Anhänglichkeit verkaufen, vorerst an, als sey es gute, ächte Münze, hütet sich übrigens nur, wie ein kluger Kaufmann, in diese unsichern Papiere keine so große Summen von seinem Herzensvermögen anzulegen, daß er durch fremde Fallimente zu Grunde gehn könnte, schreibt jedoch die Namen der guten und bösen Kundmänner, die er bey diesem Seelenverkehr kennen gelernt hat, in sein Gedächtniß-Büchelchen auf, um den Erstern die, jedem gutgearteten Herzen so heilige Pflicht der Dankbarkeit thätig zu beweisen, den Andern aber gelegentlich [97] zu zeigen, daß er sie für das hält, was sie sind.
Es ist sehr unterhaltend für den feinen Beobachter, zu sehn, welchen Tauschhandel von Schmeicheley die Menschen unaufhörlich unter einander treiben und wie fast alle ihre Verbindungen auf diese Waaren-Speculation berechnet sind. Solche Verbindungen erweitern und verengen sich, werden gestiftet und getrennt, je nachdem die Theilnehmer ihr Conto dabey finden, das heißt: je nachdem sie sich dabey eine beträchtliche oder zu geringe Einnahme von äußerer Ehre, Schmeicheley und Blindheit gegen ihre Fehler und Untugenden, versprechen dürfen. Fast die ganze Kunst der feinen Lebensart beruht weniger auf zweckmäßigen, wahren, gegenseitigen Gefälligkeiten, als auf einem stillschweigenden Vertrage, sich einander Gesinnungen [98] und Empfindungen zu heucheln, wovon nicht eine Spur im Herzen und Kopfe ist. Die mehrsten Menschen schätzen und achten uns nach Verhältniß der Huldigung und feinen Schmeicheley, die wir ihnen darbringen. Der verächtlichste Kerl erscheint ihnen in vortheilhaftem Lichte, wenn er ihre Thorheiten billigt, ihr Steckenpferd mit besteigt, oder wenn sie erfahren, daß er sie gegen Andre gelobt hat. Eine einzige gutgemeinte, vielleicht bittre Wahrheit hingegen, die wir aus guter Meinung sagen, kann uns auf immer um die Gunst, besonders der eiteln Schooßkinder des Glücks bringen. Auf diese Erfahrungen stüzt dann auch der eigennützige, schlaue Schmeichler die Plane, wodurch er sich emporschwingt, und wir sehen unzählige sehr unwürdige Menschen mit Reichthum, äußerer Ehre und andern Vorzügen dieser Art überhäuft, die ihre Erhebung nur allein der Schmeicheley verdanken. Es [99] giebt Leute, die diese Kunst so überaus fein studiert haben, daß selbst kluge Männer (die denn doch auch nicht immer ganz von Eitelkeit und Eigenliebe frey sind) in ihre Schlingen fallen. Vorzüglich geschickt aber pflegt das weibliche Geschlecht zu seyn, auf diesem Wege seine Zwecke zu erlangen und unmöglich scheinende Dinge durchzusetzen.
So bereitwillig aber auch die Menschen seyn mögen, da, wo es ihnen Vortheil bringen kann, auch wider ihre Ueberzeugung, für die Unvollkommenheiten ihrer Mitbürger blind zu seyn und sich gegenseitig mit Beyfall und Lob zu hintergehn; so wenig Gerechtigkeit lassen sie, wie dies schon an einem andern Orte ist bemerkt worden, dem wahren Verdienste wiederfahren, wenn dadurch das ihrige verdunkelt werden kann. Sie werden sehr geneigt seyn, alle gute Eigenschaften an [100] einem Manne zu loben; nur über die werden sie leise hinausgehn, auf welche sie selbst große Ansprüche machen. Noch hat man Ursache, ihnen zu danken, wenn sie es dann dabey bewenden lassen, zu schweigen; allein wie oft verleitet sie nicht der Brodneid, den Mann zu verkleinern, zu verleumden, von dem sie sich übertroffen glauben.
Ein Theil von dem, was ich über den Eigennutz in der Freundschaft gesagt habe, ist auch auf die Liebe unter Personen von verschiedenem Geschlechte anwendbar. Wir wollen nicht untersuchen, ob überhaupt Geselligkeit und Liebe ursprünglich aus einem Gefühle von Schwäche, aus dem Verlangen nach Hülfe, Beystand und Mittheilung entstehen! – Ein Satz, den man als wahr anzunehmen versucht werden möchte, wenn man bemerkt, daß je selbstständiger, [101] stärker, kraftvoller, klüger, reifer an Jahren und Vernunft, ein Mann ist, er um desto weniger leicht einzunehmen, um desto schwerer durch Liebe zu fesseln und um so viel geneigter scheint, jene innige Herzens-Vereinigung, welche die höchste Wonne des weichen Jünglings ausmacht, für Schwachheit, Thorheit und Schwärmerey zu erklären. Auch wollen wir uns nicht bey der Bemerkung aufhalten, wie oft physischer Trieb, körperliches Bedürfniß, Verlangen nach sinnlichem Genusse, sich heimlich hinter jener geistigen Verbindung versteckt. Lasset uns vielmehr zur Ehre der menschlichen Natur und ihres Schöpfers annehmen, daß in sie der Keim eines höhern Wohlwollens einer reinen, uneigennützigen Liebe, eingepflanzt sey, einer Liebe, die gleich organisirte, harmonisch gestimmte Wesen unwiderstehlich zu einander hinzieht und fest aneinander kettet, einer Liebe, die nicht nur empfangen, sondern [102] auch gern und willig, und mehr als sie empfängt, alles was sie hat und vermag, ihr ganzes Selbst hingeben möchte und zu den größten Aufopferungen fähig ist. Freylich liebt man, um geliebt zu werden, und auch die feurigste Leidenschaft wird erkalten, oder in Haß übergehn, wenn alle Hofnung der Erwiederung schwindet, wenn sogar Verachtung der treuesten Zärtlichkeit zum Lohne wird. Allein das Verlangen, Herz gegen Herz zu vertauschen, das größte Geschenk, das man bringen kann, nicht verworfen, die Kränkung nicht zu erleben, seinen Werth also verkannt, für nichts geachtet zu sehn; dies Verlangen, sage ich, darf man nicht auf die Rechnung eines verwerflichen Eigennutzes schreiben. Selbst die Eifersucht, welche die uneigennützige Freundschaft nie entweihn sollte, scheint der Liebe wesentlich und in der Natur dieser Leidenschaft gegründet zu seyn. Aber davon lasset uns reden, daß [103] so oft in der Welt Habsucht, Ehrsucht und Eitelkeit hinter der Larve der Liebe Befriedigung suchen! Es werden wenig Heiraths-Anträge gemacht, ohne daß dabey der Name der Liebe gemisbraucht würde, indeß eigennützige Absichten auf Reichthum, wenigstens auf Versorgung, auf Beförderung im bürgerlichen Leben, oder auf vortheilhafte Familien-Verhältnisse, einen von beiden Theilen, oder den einen und den andern zugleich zu den mehrsten Ehebündnissen hinleiten. Und nun vollends bey den losen Banden einer ungesetzmäßigen Liebe; wie selten bleibt da der Eigennutz aus dem Spiele! Mit welcher Schlauigkeit weiß nicht die ungetreue Buhlerin ihren Sclaven glauben zu machen, daß ihr Herz nur für ihn schlage, daß sie ohne ihn nicht leben könne, lieber an seiner Seite betteln, als auf dem glänzendsten Thron sitzen wolle, indeß sie seine Goldsäcke ausleert, ihm mit List den letzten Heller[104] entlockt, und, wenn er nichts mehr zu geben hat, einem andern freygebigen Thoren in die Arme eilt! An unzähligen andern so genannten Herzens-Verbindungen haben dann auch Eitelkeit, Langeweile und Avanturengeist Theil, wobey nicht selten beide Partheyen, sowohl einander, als auch sich selbst hintergehen.
Unter Blutsfreunden stiftet der Eigennutz oft unversöhnliche Feindschaft, so wie er auch verstellte, falsche Freundschaft, Aufmerksamkeit und Pflege heuchelt, wenn er seine Rechnung dabey findet. Wenn eine Erbschaft zu erschleichen, einer alten Muhme oder einem kränkelnden Oheime ein Legat abzulocken, wenn eine Verlassenschaft unter lachende Erben zu theilen, wenn ein gutmüthiger Vetter zu einem für ihn nachtheiligen Vergleiche zu bereden ist; dann zeigt sich der Eigennutz, mit den glatten Waffen der[105] Schmeicheley, Gutmüthigkeit und zärtlichen Sorgfalt, oder, nach den Umständen, mit der Wuth der Habsucht, der Arglist und der Chikane ausgerüstet, in seiner ganzen Stärke.
So traurig den Menschenfreund die Bemerkung macht, daß in die natürlichsten, einfachsten Verhältnisse, in die Bündnisse, welche Freundschaft, Liebe und Blutsverwandtschaft stiften, sich so vielfältig ein niedriger Eigennutz einmischt; so kränkend ist für ihn auch die Erfahrung, daß diese unedle Leidenschaft sich zuweilen in das Gewand eines wohlthätigen Eifers für die Bildung, den Unterricht und die Erziehung der Jugend hüllt. Ich rede hier nicht von den edeln Männern, die, indem sie ihre Kräfte und die schönsten Jahre ihres Lebens, dem mühseligen, oft so undankbaren Geschäfte [106] der Erziehung widmen, doch auf eine verhältnißmäßige Entschädigung für die Opfer, welche sie dem gemeinen Wesen bringen, Anspruch zu machen und etwas zurückzulegen suchen, damit nicht einst nach ihrem Tode Weib und Kinder von Almosen leben müssen. Auch rede ich nicht von den armen, in der That bedauernswerthen Schullehrern, besonders auf dem Lande, welche, wenn sie für die nützlichsten Dienste, die irgend ein Bürger dem Staate leisten kann, kümmerlich besoldet werden, um nicht gänzlich zu verarmen, zu allerley Neben-Erwerbmitteln ihre Zuflucht nehmen, sich von Abschreiben nähren, oder ein Handwerk treiben und darüber ihren eigentlichen Beruf versäumen, die endlich, um dem Geize der Eltern, denen es oft mehr um wohlfeilen, als treuen Unterricht für ihre Söhne und Töchter zu thun ist, zuweilen ein Geschenk zu entlocken und wenigstens ihre einträglichsten Kunden nicht zu verliehren, [107] den Kindern der Reichern und Vornehmern durch die Finger sehen und schmeicheln – Von diesen, welche die Noth treibt, den Geldgewinn zu ihrem Hauptaugenmerke zu machen, rede ich nicht; sondern von solchen Menschen, die, ohne innern und äußern Beruf zu dem wichtigen Erziehungsgeschäfte, wenn sie sich zu allen übrigen Verrichtungen des bürgerlichen Lebens ungeschickt fühlen, oder den damit unvermeidlich verbundenen Zwang der Abhängigkeit von Vorgesezten und Obern nicht ertragen können, sich eine Republik von fremden Kindern stiften, zu deren Vorsteher sie sich aufwerfen, und dafür reichliche Abgaben entrichten lassen, die sie leichtgläubigen Leuten, unter Vorspielung der menschenfreundlichsten Absichten, durch pomphafte Ankündigungen aus dem Beutel schwatzen, dies Geschäfte als Finanzsache betreiben, und, wenn sie einige Jahre hindurch reicher Leute [108] Kinder in ihren Menschenfabriken bearbeitet haben, diese, eben so unwissend und nicht selten an Leib und Seele schlechter und zu allen ernsthaften Geschäften unfähig, wieder nach Hause schicken. Am gewissenlosesten und nur auf Geldgewinn bedacht, pflegen aber leider! die mehrsten Lehrmeister in schönen Künsten, Musik, Tanz, Zeichenkunst und die Sprachmeister zu verfahren. Da wird nur daran gedacht, wie die bestimmte Stunde, für welche die Herrn eine Karte erhalten, in jedem Hause ausgefüllt werden könne. Ob der Schüler etwas lernt, oder nicht, das ist dann des Meisters geringste Sorge; im Gegentheil, je langsamer die Fortschritte sind, welche er macht, um desto sichrer ist er, die Kundschaft lange zu behalten, wenn nur von Zeit zu Zeit den leichtgläubigen, von Affenliebe für ihre Kinder eingenommenen Eltern Ueberzeugung von den großen, herrlichen Anlagen der Püppchen, durch vorgelegte [109] Proben und angestellte Prüfungen, wobey der Lehrmeister gewöhnlich das Beste thut, verschafft werden kann. Ist nun gar von dem Unterrichte erwachsener junger Frauenzimmer die Rede; so spielt nicht selten der Herr Lehrer nebenher die Rolle des Liebhabers, oder wenigstens des Brief- und Zeitungsträgers.
Das Band, welches die Hausherrschaft und das Gesinde an einander knüpft, ist nicht weniger oft aus bloßem Eigennutz zusammengewebt. Man hört aller Orten über die Faulheit und Untreue der Dienstboten klagen. Es ist wahr, die Wenigsten von ihnen verrichten ihre Geschäfte eigentlich mit Lust und Eifer. Wenn nur die Zeit hingeht und sie keiner offenbaren Nachlässigkeit beschuldigt werden können; so glauben sie genug gethan zu haben. Der Nutzen ihrer Herrschaften [110] liegt ihnen nicht am Herzen; sie richten muthwillig den Hausrath zu Grunde, schweigen zu den Betrügereyen der Handwerker und Verkäufer, mit welchen jene Geschäfte treiben, wenn sie nicht gar mit ihnen einverstanden sind. Halten sie auch den eigentlichen Diebstahl für verdammliche Sünde; so rechnen sie doch die Entwendung und Verschleuderung von Kleinigkeiten, besonders von Eßwaaren und Getränken, zu ihrem und ihres Anhangs Genusse, für kein Verbrechen. Wenn Hausvater und Hausmutter den Blick wegwenden, wird die Arbeit für sie zurückgelegt und ihre eigne vorgenommen. Endlich in Häusern, wo etwas dabey zu gewinnen ist, werden Uneinigkeiten zwischen Mann und Weib, Eltern und Kinder, oder Klatschereyen, oder heimliche Liebes-Ver ständnisse durch sie unterhalten und den Eltern die Ausschweifungen und Unarten ihrer Kinder verschwiegen, und dies alles so lange [111] fortgetrieben, bis sich Gelegenheit zeigt, in einem andern Hause für höhern Lohn anzukommen, da dann das Gesinde auch der besten, nachsichtigsten Herrschaft den Stuhl vor die Thür sezt und seine untreuen Dienste dort verkauft. Das alles trifft man leider! nur zu häufig an; allein von der andern Seite sind auch die Hausväter oder sogenannten Brodherrn nur zu oft selbst durch ihr hartes und eigennütziges Verfahren Schuld daran, daß ihre Dienstboten ihnen keine wahre Anhänglichkeit zeigen. Wenn sie das Gesinde sclavisch behandeln und schlecht bezahlen; wenn sie verlangen, daß die armen, von ihnen abhängig gewordenen Geschöpfe ihnen ihre ganze Existenz, alle Stunden des Tages und der Nacht, verkauft haben sollen; wenn sie ihnen nicht die geringste Erholung, keine unschuldige Freude, keinen Augenblick Muße, um für ihre eignen Bedürfnisse zu arbeiten, gönnen; wenn sie ihnen[112] schlechte Kost und so wenig reichen lassen, daß sie kaum, vielleicht auch gar nicht, satt davon werden können; wenn der Bediente, sobald er anfängt alt oder schwächlich zu werden, den Ueberdruß gewahr wird, den seine Gegenwart im Hause verursacht; wenn er dann in solchen Umständen jeden Augenblick erwarten muß, verstoßen, der Armuth preisgegeben zu wer den; wenn er bey Krankheiten ohne Pflege und Wartung da liegen, die theure Arzeney selbst von seinem geringen Lohne bezahlen muß, oder in ein schmutziges Hospital geschleppt wird; wenn er jedesmal aus seinem Beutel den Schaden vergüten muß, den die Herrschaft an zerbrechlichem Hausrathe, durch ein Ungefähr oder durch eine kleine Unvorsichtigkeit leidet; endlich wenn er den Laufpaß erhält, sobald sein Gesicht nicht mehr gefällt, oder ein andrer jüngerer, hübscherer, für geringern Lohn zu habender Bedienter sich meldet; dann ist [113] es wohl kein Wunder, daß das Gesinde von einer so schimpflichen, so unsichern und so lästigen Existenz so viel Gewinn zu ziehn sucht, als sich thun läßt und sich um den Vortheil seiner Herrschaften wenig bekümmert.
Ich habe, nicht um dem Laster das Wort zu reden, sondern zu Milderung der widrigen Eindrücke, welche die Schilderungen, die ich hier von der ungeselligen Handlungsart so vieler Menschen aufstellen muß, auf jeden Tugendfreund machen werden, im Anfange dieses Abschnittes (5 und 6) zu beweisen gesucht, daß der Grund dieses verwerflichen Eigennutzes nicht in einer ursprünglichen Verderbtheit der menschlichen Natur, nicht in einem angebohrnen Mangel an Wohlwollen und Theilnahme, sondern in den, durch unsre bürgerlichen Einrichtungen, [114] vervielfältigten Verhältnissen und in dem, mit der feineren Cultur zugleich allgemeiner sich ausbreitenden Luxus zu suchen sey, der eine Menge neuer Bedürfnisse erzeuge, deren Befriedigung man dann auf Kosten Andrer suche. Hier muß ich nur noch bemerklich machen, daß unsre pädagogischen und religiosen Systeme nicht weniger dazu beytragen, in uns den Keim des Eigennutzes emporsprossen zu lassen. Statt den Kindern früh die heilige Wahrheit anschaulich zu machen, daß die Erfüllung jeder Pflicht, die Erwerbung der Fertigkeit in jeder Art Tugend, ihren eignen Lohn mit sich führen, und daß es niedrig, eines verständigen und edlen Menschen unwürdig sey, einen andern Preis von Aussen her zu erwarten, werden sie vielmehr gewöhnt, für solche Handlungen, die ihr eignes wahres Wohl befördern, von ihren Erziehern gleichsam Bezahlung zu fordern. Statt vorauszusetzen, [115] daß es jedem vernünftigen Wesen ein Bedürfniß seyn müsse, folgerecht, das heist gut zu handeln, daß sich das von selber verstehe und noch gar keines Lobes werth sey; veranlaßt man, daß sie immer glauben, nur ihren Erziehern und Andern sich durch gute Aufführung gefällig beweisen zu müssen, um dafür die Gebühren einzustreichen. Belohnungen und Strafen werden selten aus der Natur der Handlung selbst hergenommen und durch diese herbeygeführt, sondern willkührlich verhängt. Für das, was das Herz verbricht, wird der Magen gezüchtigt, und wenn der Kopf nicht aufmerksam gewesen ist, rächt man sich an der Winterseite des Körpers. Daher kömmt es dann, daß die Jugend erstlich nur für solche Pflichten geneigt gemacht wird, deren Ausübung ihr etwas einbringt; zweytens, daß sie hingegen da, wo keine äussere Vergeltung zu erwarten ist, und sie im Verborgnen handeln [116] kann, ohne Strafe fürchten zu müssen, nicht den Vorschriften der Vernunft, sondern ihren unregelmäßigen Trieben folgt; endlich drittens, daß sie für gute Handlungen Belohnungen erwartet, die mit denselben in gar keiner Verbindung stehen. Diese Beschaffenheit hat es dann leider! auch mit den Religions-Begriffen der mehrsten, weniger aufgeklärten Menschen. Selbst die, welche die Lehre der römischen Kirche von der Verdienstlichkeit des Betens, Fastens, Almosen-Gebens, von der Kraft äusserer Förmlichkeiten und mechanischer Gebräuche, um damit die Seligkeit zu erkaufen, verwerfen, bauen dennoch nicht weniger das System ihrer Religion auf bloßen Eigennutz. Die Aussicht auf den Himmel und die Hölle sind oft bey ihnen der einzige Antrieb zur Tugend, Furcht vor dem liebreichen Vater aller Creaturen hält sie allein vom Laster zurück und sie sehen Gott für einen willkührlich [117] strafenden und belohnenden Oberherrn an, den man für eine lange Reihe lasterhaft verlebter Jahre durch ein Paar reuige Augenblicke auf dem Todtenbette versöhnen könne. Daher kömmt es dann, daß, wenn bey solchen Leuten der Glaube an die Lehre vom Himmel und der Hölle zu wanken anfängt, mit diesem Glauben zugleich alles Interesse tugendhaft zu handeln, zum Schaden der Moralität, verschwindet. Wie viel würksamer würden hingegen die Motive zum Guten seyn, wenn den Christen von Jugend auf eingeprägt würde, daß der göttliche Stifter unsrer Religion uns nur deswegen die strengste Ausübung aller Art Tugend zur Pflicht gemacht habe, weil wir dadurch unsre Vollkommenheit und eigne wahre innere Glückseligkeit befördern, die in der höhern Ausbildung und Anwendung unsrer Vernunft, zur richtigen Lenkung unsrer Gefühle und Triebe und zu Gründung [118] der Harmonie des Ganzen besteht, und daß dies der einzige erlaubte, ja lobenswerthe Eigennutz sey, welcher Einfluß auf unsre sittlichen Bewegungsgründe haben dürfe!
Wenn aber auf jene Weise die Menschen von Kindheit an gewöhnt werden, einen niedrigen Eigennutz zur Triebfeder aller ihrer Handlungen zu machen; ist es dann zu verwundern, wenn man im bürgerlichen Leben allgemein die schädliche Würkung dieser Verkehrtheit gewahr wird? Die mehrsten, von den Regierungen ausgesetzten Preise, um Ordnung, Fleiß und Thätigkeit zu befördern, die sich doch selbst so reichlich belohnen, liefern einen traurigen Beweis davon, daß man den Menschen das Interesse sehr nahe legen müsse, um sie zu Ausübung ihrer Pflicht zu ermuntern. Ja die ganze geheime Kunst, Menschen zu regieren, besteht [119] fast allein in der Gewandtheit, mit der man ihre Leidenschaften zu guten Zwecken zu nützen und ihnen, bey Verwendung ihrer Kräfte, nicht zu entfernte, aber in die Sinne fallende Vortheile zu zeigen versteht.
Die mehrsten Menschen sind äußerlich tugendhaft, rechtschaffen, großmüthig, gefällig, dienstfertig, gesellig, nicht aus innerm Triebe zum Guten, nicht aus richtiger Berechnung des Nutzens, den sie dadurch, wie ihnen die Vernunft diese Pflicht vorschreibt, der menschlichen Gesellschaft stiften; nein! nur um damit gewisse Vortheile zu erkaufen, sey es nun Beförderung im bürgerlichen Leben, sey es irgend ein andrer eigennütziger Plan, oder sey es endlich auch nur des Rufs und Beyfalls wegen. Man lobt, um wieder gelobt zu werden, oder um gelegentlich desto sichrer Verleumdung für Wahrheit [120] verkaufen zu können, wenn man sich Zutraun erworben hat. Man giebt sich und das Seinige hin, um mit Zinsen wieder fordern zu dürfen. Man ist herablassend, freundlich, populär, um Andre zu hintergehn, irgend etwas durchzusetzen, oder um seine Feinde, die es weniger sind, zu beschämen und ihnen ihren Anhang zu entziehn. Oft findet man aber, daß wenn Personen lange Zeit hindurch diese heuchlerische Larve getragen haben und es ihnen nicht gelungen ist, dasjenige zu erlangen, worauf sie hinzielten sie auf einmal die Verstellung aufgeben, ihre unedle, ungesellige Gemüthsart öffentlich und sich in ihrer natürlichen Gestalt zeigen. Man lasse sich daher ja nicht zu leicht in seinem Urtheile über Leute täuschen, deren glatte Worte, deren glänzende Wohlthätigkeit und Freundlichkeit für sie den allgemeinen Ruf bestochen haben! Man beobachte sie eine Zeit lang – Es kömmt der Augenblick [121] der Prüfung, wo es Aufopferung gilt, wo es auf unverdächtige Anwendung der so herrlich ausgekramten Scheintugenden angesehn ist; und nun steht der eigennützige, egoistische Prahler in ganzer Blöße da. Oft nach einer langen Reihe von Jahren erst geräth man auf die Spur der wahren Bewegungsgründe, die einen Mann zu Handlungen bewogen haben, die man auf die Rechnung einer großmüthigen Denkungsart geschrieben hatte. Lasset uns aber auch nicht zu bereitwillig seyn, in die lieblosen Urtheile derjenigen mit einzustimmen, die ich im dreyzehnten Absatze dieses Abschnitts geschildert habe, und die aus Neid, folglich aus einem nicht weniger eigennützigen Gefühle, jede gute Handlung ihres Nebenmenschen verdächtig zu machen suchen! Man sey doch ja froh, wenn nur eine größere Summe des Guten ausgeübt wird, und suche die schwächern Brüder, wo es irgend [122] ohne Beleidigung des Wahrheitsgefühls geschehn kann, durch Lob, Beyfall und Zutraun zu ermuntern, ohne sich zu vermessen, ihre geheimsten Absichten zu richten!
Genau betrachtet hat aber jede Bestrebung, seine Handlungen so einzurichten, daß man dadurch äußern Ruf, Lob und Beyfall gewinne, ihren Grund in einem, obgleich zuweilen versteckten Eigennutze. Zwar bin ich weit entfernt, zu glauben, man dürfe die allgemeine Schätzung, und besonders das Urtheil verständiger und edler Männer über unsern wahren Werth, für nichts achten; vielmehr halte ich diese Rücksichten für sehr vorzügliche Triebfedern, die uns aufmuntern können, die Achtsamkeit auf uns selbst nie aufzugeben und, um guter Menschen Liebe und Beyfalls werth zu seyn, immer eifriger an unsrer Vervollkommung zu arbeiten; allein [123] die Haupt-Motive zu moralischen Handlungen müssen aus einer reinern Quelle geschöpft werden. Der Gedanke, mit aller Anstrengung seiner Kräfte der menschlichen Gesellschaft nützlich zu werden; im Stillen, da, wo man von niemand beobachtet wird, Hülfe, Lehre, Rath, Trost, Beruhigung, Aufklärung, Glück und Wohlstand zu verbreiten und seine schönsten Stunden mit Freuden aufzuopfern, um Andre froh zu machen – dieser Gedanke ist so seelenerhebend und erquickend, daß diejenigen in der That unser Mitleiden verdienen, die für die Wonne, welche ein so nützlich verwendetes Leben gewährt, keinen Sinn haben. Wie aber Tugend und Laster durch Uebung, wenn nicht erlangt, doch gewiß befestigt werden; so wird uns auch der Trieb, für das Wohl der Menschheit zu arbeiten, endlich zu dem dringendsten Bedürfnisse, zu einem Theile unsrer Existenz. Da fühlt man denn gar [124] keinen Widerwillen mehr, die langweiligsten, mühseligsten Arbeiten zu treiben, in so fern man nur Nutzen dadurch stiftet. Ja! es liegt eine geheime, innige, vielleicht ein wenig eitle Freude darinn, sich bewußt seyn zu dürfen, daß, je unangenehmer das Geschäfte ist, das man in dieser Rücksicht übernimmt, desto weniger der eigene Genuß uns zu diesem Opfer angetrieben habe. Der, welcher, wenn er ein Amt mit Lust verwaltet, oder ein Geschäft unter Händen hat, das mit Annehmlichkeiten verknüpft ist, nicht fühlt, daß er bereit seyn würde, mit demselben Eifer Besen zu binden, oder Schwefelhölzer zu schnitzeln, wenn er gewiß durch diese Arbeit dem Staate, oder seiner Familie, mit Einem Worte! der gesellschaftlichen Verbindung, nützlicher werden könnte, als wenn er philosophische Abhandlungen schriebe, oder das Ruder der Regierung führte; ein Solcher sage nicht, daß er Gemeingeist [125] habe, daß er für Andre lebe! Es ist keine Kunst, sich anzustrengen, wenn diese Anstrengung Freude, Reichthum und Ruhm einbringt. Nicht Jeder steht auf einem Standpuncte, wo er der Menschheit auf glänzende Weise im Großen nützen kann, auch kömmt oft weniger darauf an, was man thut, als wie und warum man es thut. Ein redlicher, treuer Hausvater, der sparsam lebt, unermüdet im Schweisse seines Angesichts arbeitet und sich so manches Vergnügen versagt, um ein kleines Vermögen zu sammeln, damit einst seine Kinder sich unabhängige, sorgenfreye Tage erkaufen können; ein fertiger Geschäftsmann, der mit ununterbrochenem Fleiße sein Leben lang, für mäßige Besoldung, in staubigen Acten wühlt, dabey mit Verdruß aller Art kämpft, manche undankbare Behandlung und Zurücksetzung geduldig erträgt und, obgleich er Vermögen genug besitzt, um sich in Ruhe [126] setzen zu können, dennoch nicht von seinem Platze weicht, weil er überzeugt ist, daß ein Andrer an seiner Stelle weniger Nutzen stiften würde; diese haben gewiß ein eben so großes Verdienst, um die Welt, als Mancher, der sich durch glänzende Thaten hervorthut, aber auch dabey seine Eitelkeit, sein Vergnügen und seinen Geldbeutel befriedigt. Jede nützliche Verwendung der Kräfte, aus reinen Absichten, hat wahren Werth, hat nahe und ferne wohlthätige Folgen.
Doch nicht nur in den Geschäften des bürgerlichen Lebens, sondern sogar in ihren Studien und in Ausfüllung ihrer Nebenstunden verrathen die Menschen eigennützige Absichten. Seltener haben sie, wenn sie eine Wissenschaft treiben, den Zweck vor Augen, dadurch der Welt nützlich zu werden, [127] öfter nur den Plan, durch dies Mittel auf eine einträgliche Bedienung Anspruch machen zu dürfen. Man strebt nach Erwerbung neuer Kenntnisse, nicht sowohl um Geist und Herz zu veredeln und dadurch ein würdiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden, als vielmehr des eignen Genusses wegen und um damit prahlen zu können. Man legt sich auf schöne Künste und Sprachen, um in Gesellschaften zu glänzen und Lob einzuerndten. Ja! bis in die geselligen Vergnügungen hat sich der Eigennutz hineingedrängt, da die schändlichste, jedes verständigen und redlichen Mannes höchst unwürdige Beschäftigung, das vermaledeiete Spiel um hohes Geld, zu einem ganz unentbehrlichen Bedürfnisse aller großen Ferkel geworden ist – Ein Sitten-Verfall, der nur von solchen Personen in Schutz genommen und mit elenden Gründen unterstützt werden kann, die ihre eigne Spiel-Begierde[128] rechtfertigen müssen. Mögen immerhin leere Köpfe auf diese Weise die Zeit tödten! Mögen immerhin Leute, die kein Gespräch zu führen wissen, ohne Verleumdungen einzumischen, durch die Achtsamkeit auf ihre Karten zum Schweigen gezwungen werden! Aber gebildete, denkende Menschen müssen einen bessern Stoff zur Unterhaltung zu finden verstehn. Je größer dann die Gesellschaft ist, um desto lebhafter wird der Ideen-Tausch-Handel fortgehn, und wenn nur eine Anzahl solcher Männer, denen es damit ein Ernst wäre, in ihren Cirkeln den Anfang dazu machen wollten; so würde bald, nachdem sie vielleicht zuerst einige Mühe hätten anwenden müssen, die Uebrigen in den Gang zu bringen und den Ton anzugeben, niemand mehr um Stoff zu interessanten Gesprächen verlegen seyn, besonders wenn man die Musik zu Hülfe nähme. Dankbar erinnere ich mich der glücklichen[129] und belehrenden Stunden, die ich als Knabe, Jüngling und Mann in Braunschweig, in einigen sächsischen Städten, in den Rheingegenden und in Hamburg, mitten unter den edelsten und gebildetesten Personen beyderley Geschlechts, auf diese Weise verlebt habe.
Wenden wir nun unsern Blick auf die Geschäfte im bürgerlichen Leben; so sehen wir nicht weniger oft den Eigennutz unter allen Bewegungsgründen, die den Menschen bestimmen, seine Kräfte dem Dienste des Staates zu widmen, obenan stehn. Wer schlägt wohl ein einträgliches Amt aus, das er zu erlangen Gelegenheit hat, er mag nun in seinem Gewissen überzeugt seyn, daß er die dazu nöthigen Kenntnisse habe, oder nicht? Wie selten läßt man seinem geschicktern und fleißigern Mitwerber Gerechtigkeit[130] wiederfahren, und ist bereit, Verzicht auf eine Bedienung zu thun, damit sie dem, welcher ihr besser vorstehn würde, zu Theil werde? Auf Kosten des gemeinen Wesens seine Tage in Ruhe, Wohlstande und im Genusse äußerer Ehre verleben zu können, das pflegt der Hauptzweck zu seyn, weswegen man sich zu öffentlichen Geschäften drängt. Genau betrachtet haben die Fürsten und Regierungen gegen die Staatsdiener keine andre Verbindlichkeit, als die, einen Jeden von ihnen im Besitze der ihm angewiesenen Stelle zu lassen, so lange er die dabey übernommenen Pflichten erfüllt und ihn dafür, daß er sich durch keine andre Art des Erwerbes Unterhalt verschaffen kann, durch verhältnißmäßige Besoldung zu entschädigen. Allein kaum sieht sich ein Mann im Besitze der Bedienung, um welche er angehalten hat; so denkt er schon daran, weiter hinaufzurücken und glaubt ein Recht auf [131] jede höhere und einträglichere Stelle zu haben, die erledigt wird – Gleich als wenn die Landesregierung nicht befugt wäre, zu einem Amte, ohne Rücksicht auf die schon angesetzten Staats-Diener, den Würdigsten zu wählen! Schlägt nun ein solcher Wunsch fehl; so pflegt der Mann, welcher sich zurückgesetzt glaubt, weil er nicht vorgesetzt wird, lau in seinem Dienst-Eifer und nachläßig zu werden. Ich hatte das Glück, in meinen ersten Dienstjahren unter den Augen eines großen, würdigen Ministers zu arbeiten. Dieser sagte mir einst: er sähe es ganz gern und veranlasse es zuweilen, daß der Fürst solchen Leuten, die ohne Unterlaß um Beförderungen und Zulagen anhielten, selbst wenn sie dieser Vortheile nicht unwürdig wären, ihre Bitten abschlüge. Man lerne bey solchen Gelegenheiten den Mann kennen. Führe er dennoch fort, seine Pflicht treu und fleißig zu erfüllen; [132] so verdiene er dann, daß ihm, zu einer Zeit, wo er es am wenigsten erwarte, sein Wunsch gewährt werde. Wolle er aber etwas ertrotzen, so müsse man ihm durchaus nicht nachgeben.
Wie wenig Menschen verwalten wohl so gewissenhaft fremdes, ihnen anvertrautes Gut, wie ihr eignes? Man werfe doch einen Blick in die mehrsten Vormundschafts- und Curatel-Acten, in die herrschaftlichen Bau-Register und in die Rechnungen öffentlicher Anstalten, Hospitäler, Armen-, Waisenhäuser, Magazine und dergleichen! Sobald die Bezahlung aus einer öffentlichen Casse kömmt; glaubt Jeder ein Recht zu haben, seinen Eigennutz dabey befriedigen zu können und man schämt sich nicht solcher Handlungen, und wenn man die Einnehmer gewisser Abgaben, als Licent, Accise u.s.f. [133] betrogen hat, sich laut zu rühmen. Ueberhaupt aber behandelt ein großer Theil der Staats-Diener seine Berufs-Arbeiten nur wie Nebenwerk und um davon seinen Unterhalt zu haben, seine Lieblings-Beschäftigungen und Vergnügungen hingegen wie die Hauptsache, der jene weichen müssen. Deswegen wird es in so vielen Ländern als etwas Unerhörtes angesehn, wenn ein Mann, der reichlich besoldet wird, zuweilen des Nachmittags eine Feder ansetzen muß; denn es wird vorausgesetzt, daß doch wenigstens die Hälfte des Lebens dem Vergnügen gewidmet seyn müsse, indeß von der übrigbleibenden Zeit zwey Drittheil dem Schlafe gehören.
Kömmt nun gar der Vortheil des Staats mit dem persönlichen Eigennutze seiner Diener und mit dem ihrer Herrn Vettern und [134] Creaturen in Collision; dann pflegt jener diesem weichen zu müssen. Man weiß, wie weit in manchen, besonders von geistlichen Fürsten regierten Ländern der Nepotismus, das Verwandtschafts-Regiment und das Protectionswesen getrieben werden. Da kann der verdienstvollste Mann zu keinen Ehrenstellen, nicht einmal zu einer anständigen Versorgung gelangen, muß mit Noth und Druck kämpfen, wird aller Gelegenheit beraubt, seine Kräfte und Talente zum Besten der bürgerlichen Gesellschaft zu verwenden, wenn es ihm an Familien-Verbindungen fehlt, und er, im Gefühle seiner Würde, die Schleichwege verachtet, welche allein zum Glücke und zur Beförderung führen. Da schreyet der Bedrängte vergebens um Gerechtigkeit, wenn das Interesse irgend eines Großen, oder eines von ihm beschützten Unter-Tyrannen, im Spiele ist; da hemmt das Handbillet einer vornehmen Dame den [135] Lauf der Justiz. Da sind hingegen die unwissenden, nichtswürdigen Söhne, Neffen und Schwäger der herrschenden Magnaten mit ihrem ganzen Anhange in erblichem Besitze aller Vorzüge, Aemter und Güter, welche die Regierung zu ertheilen hat. Ist noch ein Vetter zu versorgen und gerade keine bedeutende Stelle erledigt; so werden ganz neue Bedienungen erschaffen, neue Corps errichtet, um dem Lieblinge zu helfen. In solchen Ländern kann der Staats- und Addreß-Calender zugleich zum genealogischen Handbuche einiger wenigen Familien dienen.
Von einem solchen Unfuge hat man Gottlob! in unsern Gegenden keinen Begriff; es wird aber das System des Eigennutzes in manchen Ländern so weit getrieben, daß ohne Scheu, öffentliche Bedienungen, Würden, Ehrenzeichen, ja! Recht und Gerechtigkeit[136] den Meistbietenden feilgeboten und verkauft werden. Ich habe einst eine solche Verfassung in der Nähe gesehn. Ein Jude war da der allgemein bekannte Mäckler des dirigirenden Ministers. Jedermann, der etwas suchte, schloß, nicht etwa unter der Hand, sondern zuweilen selbst in dem Vorzimmer des Ministers, mit dem Israeliten seinen Handel ab. Ob das, was er verlangte, recht oder unrecht war, das machte keinen andern Unterschied, als im Preise. Die wichtigsten Bedienungen konnte man, wenn man reichlich bezahlte, für seine unmündigen Kinder erkaufen, denen dann so lange ein Gehülfe gehalten wurde, bis sie erwachsen waren. Der Beamte, den der Ankauf seiner Stelle schweres Geld gekostet hatte, erpreßte in seinen ersten Dienst-Jahren die Summe wieder von den Unterthanen, und wenn diese höhern Orts klagten, wurden sie in die Gefängnisse geworfen. Dort bat mich einst[137] ein Clavier-Meister, ihn in einigen angesehenen Häusern zu empfehlen. Ich that dies und nun kam er nach einiger Zeit zu mir, um zu fragen: »wie viel er mir dafür zu bezahlen hätte?« – So ausgemacht gewiß schien es ihm, daß man hier gar keine Gefälligkeiten unentgeltlich fordern dürfte.
Ist es zu verwundern, daß kluge Fürsten endlich so mistrauisch gegen alle Personen werden, von denen sie umgeben sind, daß ihnen jede Empfehlung, jedes Vorwort, jeder Rath, jeder ihnen vorgelegte Plan verdächtig scheint, wenn die Erfahrung sie gelehrt hat, wie oft man ihr Ansehn misbraucht, um Privatabsichten zu begünstigen, den Eigennutz und andre Leidenschaften zu befriedigen? In der That ist fast immer nur die Habsucht und der Ehrgeiz derer, die nahe am Throne stehen, Schuld an dem mannigfaltigen Elende der [138] Völker, das man dann auf die Rechnung der guten Fürsten schreibt, die doch auch Menschen sind, und denen es so schwer gemacht wird, durch den Schleyer hindurch zu blicken, den Eigennutz und Bosheit aus der Hand der Schmeicheley, vor ihre Augen fallen lassen. Wie viel Mühe hat nicht schon ein sorgsamer Hausvater, wenn er seine Wirthschaft gehörig übersehn und nicht betrogen werden will! Und ein einziger Mann sollte die Haushaltung eines ganzen Landes allein so regieren können, daß er nie in Irrthum verfiele, indeß fast alle Menschen um ihn her sich verschworen zu haben scheinen, ihn auf falsche Wege zu locken, die zu ihren eigennützigen Zwecken führen? Leider! geht diese Verschwörung so weit, daß untreue, für das Wohl des Landes wenig besorgte Räthe, um dabey im Trüben fischen zu können, die Regenten selbst verleiten, ihren Nutzen von dem der Unterthanen zu trennen [139] und diese mit Habe und Gute als ihr Eigenthum anzusehn. Wie selten wagt man es einmal, einem Fürsten Plane zu öffentlichen Anlagen, zu wohlthätigen Anstalten vorzulegen, wenn man darauf nicht zugleich einen neuen Finanzzweig pfropfen, kein Interesse damit verbinden, nicht darthun kann, daß die Chatoulle dabey gewinnen oder irgend eine Lieblings-Leidenschaft dadurch befriedigt werden kann!
In manchen Ländern giebt es Volksrepräsentanten, die, wie die Landstände in einigen teutschen Staaten, berufen, und bey wichtigen Schritten der Regierung um ihre Einwilligung ersucht werden müssen; allein wo der Eigennutz derer, die am Ruder sitzen, die Oberhand hat, da sind solche Einrichtungen nur schwache Brustwehren gegen die Bedrückungen böser Minister. Man [140] weiß, wie leicht es diesen wird, auf die Berathschlagungen solcher Versammlungen Einfluß zu erhalten, um ihre Entwürfe durchzusetzen. Auch bestehen dergleichen Collegia mehrentheils aus Leuten, die, was entweder ihre Person, oder ihr Vermögen, oder ihre Familie betrifft, von den Regierungen durch Furcht und Hofnung abhängig sind, welches freylich wohl nicht also seyn sollte. Der Eine will die ihm gezeigte Aussicht zu weiterer Beförderung im Dienste, durch seine Widersetzlichkeit gegen die Forderungen des Fürsten, nicht verscherzen. Der Andre wird durch Drohung mit zu erwartender Ungnade des Hofes zahm gemacht. Bey Aermern und Geizigen wird auch wohl offenbare Bestechung angewendet. Alle diese Mittel werden dann hauptsächlich auch bey den Wahlen der Bevollmächtigten in Würksamkeit gesetzt.
Und weil ich eben von Bestechungen rede; so erlaube man mir eine Bemerkung! Wer von uns Sterblichen ist unbestechbar? Wer von uns ist immer fest genug, sey er Richter, oder Wahlmann, oder Minister, oder Repräsentant, oder welche Stelle im Staate er auch bekleide, der Ueberredung, der Sophisterey, der augenblicklichen Rührung, der feinen Schmeicheley, der Macht eigner und fremder Vorurtheile zu widerstehn? Wenn auch alle baaren Schätze des Erdbodens sein Herz und seinen Kopf nicht vom geraden Wege abzuleiten vermöchten; wird er immer stark und wachsam genug seyn, einer von jenen versteckten Klippen auszuweichen?
Oft ist das Wohl ganzer Völker, Länder und Generationen das Opfer eigennütziger [142] Menschen. Die Geschichte liefert uns die traurigsten Beyspiele von verderblichen und ungerechten Kriegen, die, nur um die Ehrsucht oder den Geldgeiz der Minister, Heerführer und anderer dabey interessirter Personen, auf Unkosten der armen Völker, zu befriedigen, ohne dringende Ursache angefangen oder in die Länge gezogen wurden. Sie schildert uns Generale, die, bestochen von dem Feinde, den sie bekämpfen sollen, oder aus Neid gegen einander und gegen den Oberbefehlshaber, dem sie die Ehre des Sieges misgönnen, sich vorsetzlich schlagen lassen und das Leben vieler Tausende aufopfern. Sie beschreibt uns ganze Reihen von unglücklichen Feldzügen und Länder-Verwüstungen, in welchen das mannichfaltige Elend blos durch die Uneinigkeit eifersüchtiger und eigennütziger Anführer über unschuldige Generationen aufgehäuft wurde. Wenn sie uns die Triebwerke zeigt, durch welche [143] die wichtigsten Staats-Umwälzungen in der Welt sind hervorgebracht worden; so sehen wir, zur Demüthigung der Menschheit, daß selten ächter, uneigennütziger Eifer für das allgemeine Wohl die Häupter der Revolution beseelte, sondern daß mehrentheils die getäuschte und gemisbrauchte Nation das Opfer der Leidenschaften einiger, nach Macht, Ehre und Reichthum strebender, ränkesüchtiger Bösewichte war.
Traurig ist es nun überhaupt, daß die Regierungs-Verfassungen der mehrsten Länder nicht sowohl auf bestimmten, unwandelbaren Gesetzen beruhen, als vielmehr nach den Privat-Leidenschaften, dem Eigennutze und den Vorurtheilen derer, die am Ruder sitzen, umgemodelt werden dürfen, so daß kein Bürger im Staate sicher seyn kann, ob er mit den Seinigen im folgenden Jahre [144] noch in demselben Grade des Wohlstandes, der Ruhe, bürgerlicher Freyheit und Glückseligkeit sich wird erfreuen können, die ihm jezt zu Theil werden. Ich rede hier nicht von den nothwendigen Abänderungen, die in den politischen Systemen, nach der Stimmung und den Bedürfnissen des Zeitalters, vorgehn müssen, sondern von einer willkührlichen Annahme neuer Grundsätze, die keine weitere Veranlassung hat, als die Launen, Leidenschaften, Phantasien der Regenten, oder den Eigennutz, die Herrschsucht und Eitelkeit der Minister. Es sey mir erlaubt, zur Erläuterung dieser Bemerkung, die Geschichte eines Mannes zu erzählen, den wir Max nennen wollen, weil sein Name eben so wenig zur Sache thut, als die Zeit und der Ort, wo die Scenen, die ich schildern will, vorgegangen sind. Max hatte sich als Jüngling schon durch literarische Produkte, voll üppiger, glühender Phantasie, Natur, [145] Wahrheit und Feinheit in der Darstellung, als ein seltenes Genie bekannt gemacht. Er lebte in seiner Vaterstadt ohne öffentliche Geschäfte, als der junge, eben zur Regierung gekommene Fürst von ***, bey seiner Durchreise, das Verlangen befriedigte, seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Max gefiel ihm so, daß er ihm den Antrag that, mit ihm an seinen Hof zu gehn und als Freund bey ihm zu leben. Der junge Mann war reich, bedurfte also eigentlich des Fürsten nicht, liebte aber rauschende Freuden, fand sich durch den Antrag geschmeichelt, dachte: »ey nun! wenn Dir's dort nicht mehr ansteht; so gehst Du wieder heim;« nahm also das Erbieten an und reisete mit dem Fürsten ab. Dieser war empfänglich für alles Gute, aber lebhaft, sinnlich, und also auch leicht zu Schritten zu verleiten, welche Klugheit und Vorsicht nicht immer gut heissen konnten. Max gewann bald ganz sein [146] Herz und nun drang der Fürst in ihn, sich eine Stelle im Lande zu wählen, die nach seinem Geschmacke wäre; allein Max setzte seinen Stolz darein, ohne allen Eigennutz (die befriedigte Eitelkeit abgerechnet) blos der Freund und Rathgeber des Fürsten zu seyn und am Hofe ein freyer Mann zu bleiben. In die einzelnen Regierungs-Geschäfte mischte er sich gar nicht; diese blieben den Händen alter, treuer Räthe anvertrauet, indeß er mit dem Fürsten den Becher der Freude ausleerte. Sie schienen nur daran zu denken, die schönen Jahre der Jugend nicht ohne Genuß vorbeystreichen zu lassen. Der Fürst streifte auf Maxens Rath, allen Zwang, allen falschen Glanz des Hofes ab; sie lebten wie jovialische Jünglinge, ohne Sorge und ohne Rücksicht auf das, was das Volk davon dächte, ein lustiges, freyes Leben. Doch muß man es Maxen zum Ruhme nachsagen, daß er damals den guten Fürsten [147] nie zu groben Ausschweifungen, noch zu verderblichem Aufwande verleitete, sondern vielmehr sein Herz in der Stimmung erhielt, alles dazu beyzutragen, was er konnte, um in seinem Lande jedermann so froh und heiter zu machen, wie er und sein Freund waren. Wenn daher ernsthafte Leute zuweilen den Kopf über einen Verstoß gegen Anstand und Würde schüttelten; so war doch wohl nicht Einer da, der über Druck, Ungerechtigkeit oder Erpressung geseufzt hätte.
Nach und nach rückte nun aber das männliche Alter heran; Max wurde des müßigen, blos der Freude gewidmeten Lebens müde, beschloß seine bisherige Rolle gegen die des Geschäftsmannes zu vertauschen, um, wie man denken kann, auch in dieser zu glänzen, hervorzustechen, und auch seinen Fürsten zu bereden, sich der Regierungs-Geschäfte selbst thätig anzunehmen. Max [148] war aber nicht gemacht, um irgendwo eine untergeordnete Person vorzustellen, nicht gemacht, der Zweyte, sondern der Erste zu seyn. Er ließ sich also, obgleich mit sehr mäßiger Besoldung, an die Spitze stellen, ergriff gleich die Zügel allein, schob die alten Räthe leise auf die Seite und – regierte. Hier nun zeigten sich sein lebhaftes, außerordentliches Genie und sein Scharfsinn in ihrer ganzen Stärke. Es war zu erwarten, daß Neid und Kabale gegen ihn würksam werden würden, daß er, der bis dahin sich um die Landes-Verfassung wenig bekümmert, keine Erfahrung und keine Gewandheit in dieser Art von Geschäften hatte, manche Blöße geben würde. Um dies zu vermeiden, spannte er die Kräfte seines Geistes aufs Aeußerste an, studierte alle Zweige der Regierungskunst, die ältern Gesetze, Verordnungen und Gewohnheiten des Landes, drang in die kleinsten Details aller Departements ein, und das [149] alles mit einem eisernen Fleiße, der seinen Ruhm unvergeßlich gemacht haben würde, wenn er hätte dauern können. Binnen kurzer Zeit beschämte er in Kenntniß des Landes und der einzelnen Fächer, so wie in Fertigkeit im Arbeiten, die ältesten und erfahrensten Geschäftsmänner, und erwarb sich große Achtung. Von der andern Seite wurden seine Feinde und Neider an ihm zu Wohlthätern, denn sie nöthigten ihn, unaufhörlich auf sich selbst Achtung zu geben, damit er sie beschämen und alles Unrecht auf sie wälzen möchte. Dabey ermunterte er seinen Fürsten zu gleicher Thätigkeit und Treue in Erfüllung seines Berufs. Jetzt fieng ein goldenes Zeitalter für das Land an; unpartheyische Gerechtigkeit; Beförderung des Wohlstands, der Cultur, der Sittlichkeit, vernünftige Sparsamkeit am Hofe, Fleiß, Ordnung, väterliche Sorgfalt, Theilnahme – kurz! was nur von einer weisen und redlichen [150] Verwaltung gefordert werden kann, war der Gegenstand der eifrigsten Bemühungen des Fürsten und seines Ministers. Und weil sie nun das innere Zeugniß ihres Gewissens vor sich, dabey den besten Willen hatten und von der Zweckmäßigkeit ihrer Maaßregeln überzeugt waren; so scheueten sie auch nicht das öffentliche Urtheil; jedermann durfte über alle Gegenstände denken, reden und schreiben, was ihm beliebte. Ehemals also waren die Unterthanen frey und glücklich gewesen, weil der Liebling ihres Regenten dem Vergnügen nach jagte, in seiner jovialen Laune auch andern Leuten frohe Tage gönnte, und die, denen die Arbeit übertragen wurde, redliche Männer waren. Jetzt herrschten Zufriedenheit und Wohlstand im Lande, weil denselben Liebling die Regierungslust [151] angewandelt war und er das Ding gern so treiben wollte, daß er Ehre davon hätte.
Allein bald nahmen die Sachen eine andre Wendung. Der Ruf von des Fürsten und seines Ministers Weisheit, Gerechtigkeit und Güte breitete sich aus und entflammte in ihnen Ehrgeiz und Ruhmsucht. Je länger sie sich mit den Regierungssorgen beschäftigten, um desto mehr sehnten sie sich nach einem größern Würkungskreise. Ihr Ländchen schien ihnen ein gar zu kleiner Schauplatz für ihre Talente; sie begannen daher, sich in die größern europäischen Händel zu mischen und trieben auch dies mit Erfolge und Ehre. Hierdurch wurde aber leider! die Begierde in ihnen rege, größer zu scheinen, als sie waren, auch durch äußern Glanz die Augen auf sich zu ziehn und neue Gegenstände für ihre Thätigkeit aufzufinden. Dies verleitete dann [152] dann zu manchen kostbaren Spielereyen, zu theuern Speculationen, zu weit aussehenden Unternehmungen und zu einem Aufwande, der nicht immer den Einkünften angemessen war. Zwar blieb man im Ganzen seinen Systemen noch so ziemlich treu; doch wurde die Sorgfalt für den Flor des Landes lauer und die Unterthanen hatten hie und da Ursache zu klagen – warum? weil der Herr Minister anfing, äussern Glanz und Prunk zu lieben.
So verstrichen einige Jahre und nun wurde auf einmal dies Genie des ganzen Regierungswesens und der trocknen Arbeit müde. Seinem fürstlichen Freunde gieng es eben so. Beyde überließen jetzt die Geschäfte wieder andern Leuten, befriedigten ihren Geschmack an allerley Liebhabereyen; der Minister widmete seine Stunden den schönen Künsten und Wissenschaften und gieng auf Reisen; der Fürst verzehrte große Summen [153] ausser Landes; die Unterthanen fingen an in der Stille zu seufzen und hatten Recht unzufrieden zu seyn – weil der Herr Minister der Geschäfte müde war und nur für seinen sinnlichen Genuß lebte.
Endlich kamen Beyde, Herr und Diener, wieder in die Residenz zurück; allein nun wollte die Arbeit gar nicht mehr schmecken. Besonders ergab sich der Liebling gänzlich der Ueppigkeit und dem Wohlleben; man opferte den sinnlichen Freuden alles auf und wollte doch nicht vom großen Schauplatze abtreten. Man hatte im Auslande harte, despotische Grundsätze angenommen, die nun in Ausübung gebracht wurden und weil das Gewissen immer Vorwürfe über Vernachlässigung der heiligsten Obliegenheiten machte und man doch nicht guten Willen und Kraft genug hatte, wieder zu seiner Pflicht zurückzukehren; so wollte [154] man sich und Andre übertäuben, wollte den Tadlern den Mund stopfen, verlohr Seelen-Ruhe und Zutraun zu Andern, an deren Stelle Furcht vor Empörungen und Mistraun traten, und schränkte desfalls Denk-Rede- und Preß-Freyheit auf alle mögliche Weise ein. Jetzt war endlich das Land, unter der Regierung eines in der That edeln und guten Fürsten, dennoch sehr unglücklich, und das darum, weil der Herr Minister keine Tugend und kein reines Gewissen hatte.
Meine Leser werden es mir, wie ich hoffe, verzeihn, daß ich mich ein wenig lange bey dieser Schilderung aufgehalten habe. Sollte auch die ganze Geschichte erdichtet seyn; (und sie ist es wenigstens zum Theil) so kann doch dies Beispiel zeigen, wie abhängig das Wohl ganzer Völker von den Leidenschaften und Privat-Absichten derer, die am Ruder sitzen, werden kann. Ich kehre [155] itzt zu meinem Haupt-Gegenstande zurück.
Man würde gar nicht endigen können, wenn man alle Fälle namhaft machen wollte, bey denen sich der Einfluß eigennütziger Rücksichten in die Einrichtungen und Geschäfte des bürgerlichen Lebens offenbart. Nur noch etwas über diesen Gegenstand! Wie wenig Länder findet man, in welchen dasselbe erwiesene Verbrechen eben so strenge untersucht und bestraft wird, wenn der Schuldige ein angesehener, gefürchteter, reicher, mächtiger Mann, als wenn er ein armer, unbedeutender, unwichtiger Mensch ist? Wie hat man nicht gegen den guten, edeln Kaiser Joseph geschrien, weil er diesen Unterschied, bey welchem die höhern Stände ihren Vortheil haben, aufheben wollte? Wie wenig Länder findet man, in welchen man [156] nicht mit großen Geld-Summen sich der öffentlichen Ahndung der Gesetze entziehn, Dispensationen erhandeln, und nicht, auf grobe oder feinere Weise, sich Impunität erkaufen könnte? Herrscht nicht fast allgemein ein stillschweigender Vertrag unter den vornehmern Classen, sich einander das Privilegium zuzusichern, gewisse Laster öffentlich, mit Anstande, begehn zu dürfen, wegen welcher den gemeinen Mann die Gesetze verdammen? Wo in der Welt gelten nicht die alten Sprüchwörter: »Eine Hand wäscht die andre; eine Krähe kratzt der andern die Augen nicht aus« und: »kleine Diebe hängt man; große läßt man laufen?« Wo findet nicht der Reiche Mittel, den Gang der Justiz zu hemmen, oder seinen Gegner zu ermüden, zu erschöpfen und abzuschrecken? Wo findet der, von einem mächtigen, furchtbaren Großen gedrückte Arme sichern Schutz, würksame Vertheidigung? [157] Welcher Sachwalter sucht sich nicht behutsam von Processen loszumachen, die wenig Bezahlung versprechen, oder wobey es darauf ankömmt, einen Bösewicht von Wichtigkeit anzugreifen? Wo wagt es die allgemeine Stimme, den Ruf eines unschuldigen Mannes zu retten, wenn dieser von Leuten verfolgt wird, deren Hände Aemter und Würden, Schätze, Recht und Gerechtigkeit austheilen können? In welchem Lande trägt verhältnißmäßig der reiche, in Ueppigkeit lebende Müßiggänger so viel zu den Staats-Bedürfnissen und öffentlichen Abgaben bey, wie der, welcher im Schweisse seines Angesichts sein Brod verdienen muß? – Kurz! wo sichert sich nicht der Eigennutz der Stärkern, mit Gewalt oder List, auf Unkosten der Schwächern, gewisse Vortheile, Vorrechte und Exemtionen zu? Und gehen wir genauer die Reihen der einzelnen Stände durch; so [158] sehen wir aller Orten den Eigennutz seine Thätigkeit ausüben.
Man pflegt vor allen den Dienern der verschiedenen Kirchen die Habsucht Schuld zu geben. Dieser Vorwurf wird oft von Verächtern des geistlichen Standes auf übertriebene Art ausgedehnt. Mit Grunde kann man ihn jedoch wohl freylich, so wenig wie andre Stände, ganz davon freysprechen. Und doch ist sein Loos nicht das schlechteste im Staate. Ein Candidat, der die gewöhnliche Zeit auf Universitäten und dann einige Jahre als Hauslehrer zugebracht hat, gelangt oft, bey sehr geringen Gaben und Kenntnissen, viel früher zu einer sichern Versorgung, als der Rechtsgelehrte, Arzt und Kriegsmann. Da trägt ihm dann wohl auch die mittelmäßigste Pfarre, für eine ziemlich bequeme Arbeit, so viel ein, [159] daß, wenn man freye Wohnung, Garten, Feld, Wiese, Zehnten u.d. gl. und den geringen Aufwand, den ein ländlicher Aufenthalt erfordert, mit in Anschlag bringt, mancher lange Jahre durch in Diensten gestandene Rath eines hohen Collegiums, der in der theuren Stadt nur mit Mühe, von seiner kleinen Besoldung, sich und die Seinigen standesmäßig ernähren kann, gern mit ihm tauschen würde. Und doch klagt Jener fast immer und pflegt nicht sehr bereitwillig zu seyn, die geringste ausserordentliche Arbeit unentgeltlich zu übernehmen. Uebrigens aber wäre es dann auch sehr zu wünschen, daß man die Herrn Prediger aller Orten auf feste, sichre, billige Besoldungen setzte, und ihnen die, einem Gelehrten und Geistlichen würklich übel anpassenden Landbau-Geschäfte abnähme, damit sie nicht gezwungen würden, beständig den Geldgewinn vor Augen zu haben, die unwürdige Accidenzien-Jagd [160] zu treiben, den reichern Mitgliedern ihrer Gemeine zu schmeicheln, zu Manchem stillzuschweigen, was sie, vermöge ihrer Amtspflicht, rügen sollten und zuweilen in den Familien Rollen zu übernehmen, die sich nicht für sie schicken.
Wenden wir unsern Blick auf die Aerzte; so finden wir unter ihnen leider! auch Männer, die den ärmern Kranken vergebens auf sich warten und nach Hülfe seufzen lassen, indeß sie in die Palläste der Großen die Stadt-Neuigkeiten umhertragen und den reichen Schlemmern Digestiv-Pulver verschreiben; Männer, die bey kleinen Uebeln bedenklich den Kopf schütteln und die Curen vorsätzlich in die Länge ziehen, um desto größern Gewinn und mehr Ruhm davon zu haben; Männer, deren Recepte so eingerichtet sind, daß ihr Freund, der, um Neujahr [161] sich dankbar bezeugende Apotheker, wenigstens größern Nutzen davon hat, als der Leidende, der das Verschriebene verschlucken muß; Männer endlich, die ihre redlichen Amtsbrüder auf alle Weise verläumden und verdächtig machen, um ihnen ihre Kunden abzujagen – Wie Wenige giebt es dagegen, die dem edeln Greise gleichen, dem dies Buch gewidmet ist, oder dem wohlthätigen Menschenfreunde, dem ich seit vier Jahren Linderung meiner peinlichen Schmerzen und so manchen sanften, tröstenden Zuspruch zu verdanken habe, oder dem guten, hellsehenden, liebenswürdigen Manne, der im Frühlinge dieses (1795sten) Jahrs, als ich an einem fremden Orte, aller Pflege und Gemächlichkeit beraubt, fern von den Meinigen, mit Krankheit und Sorgen kämpfte, an Leib und Seele mich stärkte, ermunterte, für mich, ihm gänzlich Unbekannten, wie für einen alten Freund sorgte und mir mit [162] Rath und That auf vielfache Weise beystand! – Leser, deren Herzen das Gefühl der Dankbarkeit nicht fremd ist, werden mich darum nicht tadeln, weil ich ihr hier im Vorbeygehn ein kleines, gut gemeintes Opfer gebracht habe. – Jetzt aber lenke ich wieder ein.
Unter allen Ständen sollte man vielleicht den Kaufleuten am wenigsten Vorwürfe über den Eigennutz machen. Ihre ganze bürgerliche Existenz beruht auf Geldgewinn und von Jugend auf werden sie daran gewöhnt, die Dinge in dieser Welt mehr nach ihrem baaren currenten, als nach ihrem wahren innern Werthe zu schätzen. Im Grunde, und da doch Jeder, der nicht durch Erbschaft reich ist, auf irgend eine Weise, wenn er leben will, nach Erwerb trachten muß, liegt kein großer Unterschied darinn, ob man [163] Geld gegen Arbeit und gegen Dienste irgend einer Art eintauscht, wie der Geschäftsmann und andre Stände im Staate dies thun, oder gegen Waaren, wie der Kaufmann. Und was den Nutzen betrifft, den dieser Stand dem gemeinen Wesen stiftet; so läßt sich dieser nicht ableugnen. So lange die Menschen physische und öconomische Bedürfnisse haben, muß es Leute geben, die ihnen die Mittel zu Befriedigung dieser Bedürfnisse in die Hände liefern. Daß diese Leute für die Sorgfalt, welche sie darauf verwenden, solche Mittel herbeyzuschaffen, wieder so viel einnehmen wollen, daß sie nun auch ihre und der Ihrigen Bedürfnisse befriedigen können, das ist sehr billig. Eben so billig ist es, daß sie sich bestreben, auf die leichteste Weise, dieses Vortheils theilhaftig zu werden, und daß sie für ihre Bemühungen so viel zu erhalten suchen, als ihnen die Personen, mit denen sie Handel treiben, zu geben [164] bereit sind. Bey jedem Handel liegt ein freywilliger Vertrag zum Grunde, und es wird vorausgesetzt, daß beyde Theile den Werth der Sache kennen müssen, über deren Auslieferung sie den Vertrag schließen. Auch kann man es den Kaufleuten nicht zum Verbrechen anrechnen, wenn sie sich die Zeit-Umstände, die Conjuncturen, zu Nutze machen und ihr Augenmerk auf solche Artikel richten, die grade jetzt auf der Tages-Ordnung der Bedürfnisse stehen. Sieht man ferner auf den entferntern Nutzen, den die Kaufmannschaft im Großen stiftet, indem sie die gesellige Verbindung unter fern von einander wohnenden Völkern, die Länderkunde, die Bekanntschaft mit fremden Producten und der Natur überhaupt, den Umlauf mancher nützlichen Kenntnisse, die Ausbreitung der Cultur, der Industrie, des Fleisses, der Thätigkeit und die Vervollkommung der Künste befördert; so erscheint dieser Stand [165] in der That in einem ehrwürdigen Lichte. Mit dem Bestreben, durch Handel und Umsatz so viel zu erwerben, als sich nach den Umständen thun läßt, kann übrigens die Ausübung jeder andern Menschenpflicht, können Weisheit und Tugend sehr wohl bestehn. Ich kenne Männer unter den Kaufleuten, welche die Stunden, die ihnen ihre Berufs-Geschäfte übrig lassen, verwenden, ihren Geist auszubilden, und ihren Nebenmenschen und dem Vaterlande, auf die uneigennützigste Weise, mit Rath, Hülfe und Trost beyzustehn; Männer, die, wo ein Schilling durch Handel zu gewinnen ist, und wäre es von ihrem eignen Vater oder Bruder, die Gelegenheit dazu nicht entwischen lassen, dagegen aber großmüthig, und oft ohne daß jemand es erfährt, wer der unbekannte Wohlthäter ist, Taufende hingeben, um nützliche Anstalten zu befördern, Talente zu ermuntern und die Noth armer Brüder [166] zu erleichtern. Ich kenne deren vorzüglich hier und in Hamburg, die deswegen jedes rechtschaffenen Mannes Verehrung verdienen. Allein sehr verschieden von diesen Freunden des Menschengeschlechts ist der gemeine Troß habsüchtiger Wucherer, die durch die Noth ihrer Mitbürger zu Reichthum und Wohlleben gelangen, die durch Aufkauf und andre lose Künste erst die Bedürfnisse erregen, welche zu befriedigen, sie sich dann ausschließlich die Mittel in die Hände zu spielen wissen, um nach Willkühr einen Preis setzen, und, zum Drucke der Armuth, künstliche Theuerung erregen zu können, so oft es ihnen gefällt. Solche Menschen haben jedes bessere Gefühl abgeschworen, haben für nichts Sinn, wissen von nichts zu reden, an nichts zu denken, als an den elenden Mammon. Ihr Hochmuth kennt keine Grenzen; ihr geschmackloser Aufwand, ihre langweiligen Schmausereyen, bey welchen nicht [167] ächte Jovialität und Gastfreundschaft, sondern Prahlerey und Unmäßigkeit herrschen, hinter denen zuweilen noch wohl obendrein Geiz und Knauferey hervorschimmern, das alles ist empörend, drückend, zurückstoßend. Sie schätzen den Mann nicht nach seinen ächten Verdiensten, sondern nach dem Gewichte seiner Geld-Säcke. An seiner Ehre leiden, heißt bey ihnen, wenig Credit haben; der Mann ist gut, das bedeutet so viel als: er hat Geld; ein Freund, das will in ihrem Munde so viel sagen, als: ein Mensch, mit dem man Handel treibt, solide, das drückt so viel aus, als: in guten Vermögens-Umständen. Endlich, wenn sie Wohlthaten ausspenden; so geschieht es entweder mit solchem Geräusche, daß es Aufsehn erregen muß und ihr Credit, der Ruf ihres Reichthums dadurch ausgebreitet wird, oder in der abergläubischen Speculation, daß ihnen der Himmel [168] dies Almosen mit tausendfältigen Zinsen ersetzen solle. Und so ist überhaupt ihre ganze Frömmigkeit und anscheinende Bonhomie, Speculation, um Vertraun einzuflößen und Himmel und Erde zu bestechen.
Von noch niedrigerer und verächtlicherer Art, als der Wuchergeist dieser Leute, ist der Eigennutz der mehrsten Juden – Ich sage: der mehrsten, denn daß man auch sehr edle, große Menschen unter dieser Nation finden könne, wird gewiß nicht geleugnet werden dürfen. Ein Schriftsteller, welcher über die moralischen Gebrechen der verschiedenen Stände und Classen schreibt, sollte zwar eigentlich dergleichen Verwahrungen gegen ungerechte Deutungen und gegen zu allgemeine Ausdehnung seiner Sätze gar nicht bedürfen. Billigdenkende und verständige Leser werden ja ohne seine Erinnerung [169] einsehn, daß bey allen Bemerkungen über herrschende Tugenden und Laster Ausnahmen Statt finden; aber freylich, da nicht alle Leser billigdenkend und verständig sind; so kann es nicht unnütz seyn, diese Erklärung hinzuzufügen, die dann auf den ganzen Inhalt dieses Buchs angewendet werden mag.
Daß die drückende Behandlung, welche die Juden in so vielen Ländern leiden müssen und die Härte, mit welcher man ihnen alle Mittel raubt, anders als durch kleinen, niedrigen Wucher ihren Unterhalt zu finden, mit Schuld an der Herabwürdigung ihres National-Characters sey, das ist schon oft gesagt worden. Es ist aber auch gewiß, daß sie sich, durch ihre Anhänglichkeit an ein, zu den jetzigen Zeiten und Umständen gar nicht passendes Ceremonial-Gesetz, selbst die Wege abschneiden, zu bürgerlichen Geschäften besserer Art zu gelangen. Die [170] Folge davon ist, daß Eigennutz und Habsucht bey ihnen jedes andre Gefühl ersticken. Sie haben für sonst nichts Sinn; Tag und Nacht werden sie von der Begierde beherrscht, auf Kosten Andrer etwas zu gewinnen und da scheuen sie dann keine Mühe, keine Wege, keine Demüthigung, keine Gefahr, um durch Mittel, sie mögen seyn, von welcher Art sie wollen, ihren Zweck zu erreichen, möchte auch der Vortheil noch so geringe ausfallen. Bey dem bloßen Anblicke klingender Münze funkeln ihre Augen, ziehen sich ihre Finger krampfhaft zusammen. Es ist Wonne für sie, Geld zu zählen und zu handhaben, selbst wenn es nicht ihr Eigenthum ist. Man kann auch durch Juden, wenn man ihre Dienste bezahlt, Dinge, selbst in den entferntesten Gegenden, durchsetzen, wozu der Christ keinen Rath zu schaffen weiß. Bey solchen Gelegenheiten unterstützen sie sich einander, machen, wenn sie auch übrigens [171] Tod-Feinde sind, gemeinschaftliche Sache, mit einem Eifer, mit einer Verleugnung, die edlerer Zwecke würdig wäre. Diese, der jüdischen Nation eigene Richtung auf den einzigen Punct des Gewinns und die Lebhaftigkeit, Thätigkeit und Wachsamkeit, welche sie dabey zeigen, offenbart sich nun auch in ihrem ganzen äußern Betragen, in dem Tone ihrer Unterhaltung, in ihren Manieren, in den Wendungen, die ihr Witz nimmt, und vorzüglich bey dem Spiele, wobey niemand so merklich die Abwechselungen der Leidenschaften zeigt, wie der Jude. Auch können sie sich gar nicht einbilden, daß ein Mann aus ihrer Nation irgend ein Geschäfte übernehmen könne, ohne die Absicht zu haben, baaren Gewinn daraus zu ziehn. Im siebenjährigen Kriege vertrauete ein gut denkender Kaufmann in Berlin einem Juden eine Summe Geldes in schlechter Silber-Münze, ohne Zinsen, an, in der Absicht,[172] daß dieser dadurch in den Stand gesetzt würde, etwas im Handel zu unternehmen. Die Bedingung war, daß er ihm das Geld, vor Ablauf eines Jahrs, in Golde, nach dem damaligen Curs, erstatten sollte. Der Jude behielt aber die Summe länger als zwey Jahre und bezahlte dann nach dem, unterdessen sehr gefallenen Werthe der Münze. Als nun der Kaufmann sich darüber beklagte, antwortete sein Schuldner: »Ey mein Gott! soll ich denn an Ihnen nichts verdienen?« Er wollte also sogar für die Gefälligkeit bezahlt seyn, die ihm war erwiesen worden.
Meine Herrn Mitbrüder in der Schriftstellerey mögen es mir verzeihn, daß ich unmittelbar nach den Betrachtungen über den Wucher der Juden, meine Bemerkungen über den Eigennutz der Büchermacher folgen [173] lasse. Es geschieht lediglich deswegen, weil ich zum Schlusse dieser Haupt-Abtheilung eile und die noch übrigen Gegenstände nicht wohl in eine andre Verbindung gebracht werden können, als worinn sie durch die allgemeine Hinsicht auf den Eigennutz stehen, der in allen Ständen seine Wirkungen äussert.
Billig sollte der Beruf, durch Schriftstellerey nützliche Kenntnisse über sein Zeitalter und über die Nachwelt zu verbreiten, für zu heilig gehalten werden, als daß man dabey auf Geldgewinn Anspruch machte. Man sollte Weisheit und Witz, Wahrheit und Lehre nicht wie eine feile Waare betrachten, die man ausbiethen, vertrödeln und gegen Baarschaft und Brod umsetzen kann. Auch habe ich schon oft den Wunsch geäussert, es möchte jeder Schriftsteller zugleich ein bürgerliches Amt im Staate bekleiden und das Bücherschreiben nicht wie seinen [174] einzigen Nahrungszweig betrachten müssen. Wissenschaften und Literatur würden, wie ich glaube, dabey gewinnen und der Gelehrte würde mit mehr Lust arbeiten, wenn er diese Arbeit, zur Erholung von weniger angenehmen Geschäften, in freyen Stunden, bey der besten Laune, vornehmen könnte. Doch da der Erfüllung dieses Wunsches manches im Wege steht und es dann dem schreibenden Gelehrten, so wenig wie irgend einem andern Manne, der seine Kräfte dem gemeinen Besten widmet, zugemuthet werden kann, daß er dabey Mangel leide; so sehe ich nichts Entehrendes und Unwürdiges darinn, wenn ein Solcher, nicht als Kaufpreis für seine Geistesproducte, sondern zur Entschädigung für den Aufwand der Zeit, die er ausserdem anwenden müßte, um sich auf andre Weise Unterhalt zu verschaffen, von dem lesenden Publico, oder mittelbar durch einen Buchhändler, sich eine [175] billige Vergütung bezahlen läßt. Er soll aber den Gewinn nicht zur Hauptsache, das Gute hingegen, welches er durch Verbreitung nützlicher Wahrheiten stiften kann, zum Nebenzwecke machen. Er soll nicht, wenn er schon eine ansehnliche Summe mit einem Buche erworben hat, und nun vielleicht ein hungriger Nachdrucker (eine freylich nicht sehr ehrliche Handthierung!) auf sein Werk Jagd macht und ihm dadurch die Aussicht raubt, durch eine zweyte Auflage, ohne große Mühe, abermals Geld zu ziehn, so fürchterlich toben, wie manche Herrn thun, die in der That mit dem ersten Ehrensolde recht wohl vorliebnehmen könnten. Er soll nicht, wenn er sich durch ein Werk von Bedeutung Verdienst und einen Namen erworben hat, mit diesem berühmten Namen wuchern und ihn dadurch herabwürdigen, daß er unter einer Firma, die nun einmal des Credits sicher ist, der Lesewelt lose, schlechte [176] Waare aufhängt, von deren Nichtswürdigkeit er selbst überzeugt seyn muß.
Eine noch verächtlichere Art von schriftstellerischem Wucher äußert sich bey solchen Leuten, die mit allen Talenten zu einer edlern Beschäftigung ausgerüstet, aus dem verderbten Geschmacke des Publikums Vortheil ziehen und literarische Mode-Artikel liefern, die jeden Mann von reinerm Gefühl anekeln; Leute, die dann, wenig bekümmert um ächten Geschmack und Sittlichkeit, die Messen bald mit Ritter-, Geister- und Ordens-Mährchen, bald mit Romanen voll matter Empfindeley, bald mit mystischem Unsinne, je nachdem grade die eine oder die andre dieser Thorheiten im Schwange geht, überschwemmen.
Am schändlichsten aber offenbaren diejenigen Schriftsteller ihren Eigennutz, die, wider bessere Ueberzeugung, an der Wahrheit zu Verräthern werden, sich zu niederträchtigen [177] Schmeichlern irgend einer herrschenden Parthey herabwürdigen, die böse Sache verfechten, Irrthümern oder Vorurtheilen das Wort reden, um sich dadurch bey denen beliebt zu machen, von denen sie Vortheile im bürgerlichen Leben erwarten; feile Scribler, die offenbare Thatsachen entstellen, die, um ihr eignes oder ihrer Beschützer Privat-Interesse zu befördern, nicht nur das, was nützt und frommt und zu sagen Bedürfniß und Pflicht wäre, verschweigen, sondern, unbekümmert um das Wohl der Menschheit, dem Rechte, der Vernunft und der Aufklärung Hohn sprechen und freymüthige Männer, denen es am Herzen liegt, Ruhe, Frieden und Glück zu verbreiten und betrogenen Großen die Augen zu öfnen, wüthend verfolgen – Doch lasset uns lieber von diesen verächtlichen Gegenständen schweigen, von denen es schwer ist, ohne einige Bitterkeit zu reden, die doch [178] dem sittlichen, gesitteten Schriftsteller nicht ziemt!
Von dem Eigennutze der Künstler, Schauspieler, Tonsetzer und Virtuosen ist wenig zu sagen. Da diese Männer, wenn sie es nicht schon zu einem gewissen Grade von Wohlstand, Ansehn und Gewicht gebracht haben, in der That in Teutschland nicht wohl fortkommen können, ohne sich nach dem herrschenden Geschmacke zu richten, der selten der reinste ist; so darf man schwerlich für sie einen andern Vorwurf daraus hernehmen, als höchstens den, warum sie ausschließlich eine Lebensart wählen, die sie abhängig von dem vornehmen und geringen Pöbel macht und wobey sie sich zu Schritten herablassen müssen, wodurch sie fremde und eigne Achtung verscherzen. Um desto tadelnswürdiger aber sind diejenigen unter den [179] Künstlern, welche durch ihre äußern Umstände zu einer solchen niedrigen Gefälligkeit nicht gezwungen sind und die dennoch die entehrenden Rollen von Spaßmachern, Beförderern der Barbarey, oder Schmeichlern der Großen, freywillig übernehmen.
Von der Gewinnsucht der Buchhändler gilt ein Theil dessen, was über den Eigennutz der Kaufleute, und etwas von dem, was über das Schriftsteller-Unwesen ist gesagt worden. Indessen ließe sich noch manches hinzufügen, was allein auf diesen Stand paßt, z.B. von der Art, wie man nichtsbedeutende Werke durch bizarre Titel, durch hochtönende Ankündigungen, Lobpreisungen und selbst gemachte Recensionen, oder durch bunte Bilderchen, durch untergeschobene Namen berühmter Männer, die man als Verfasser angiebt, durch Verschweigung des [180] Umstandes, daß ein Buch nur eine Uebersetzung ist, durch Vorreden, welche man von beliebten Schriftstellern fabriciren läßt, durch falsches Vorgeben, als wenn diese Ausgabe schon eine neue und vermehrte Auflage wäre und durch andere dergleichen Künste, verkäuflich zu machen sucht – Allein ich gehe über diese Dinge hinaus, um nicht zu weitläuftig zu werden.
Wie wenig der größere Haufen der Menschen geneigt ist, seinen niedrigen Eigennutz der Wohlfahrt des Staats und der gesammten Menschheit zum Opfer zu bringen, das offenbart sich am deutlichsten dann, wenn von Abschaffung verjährter, drückender Misbräuche, von Bekämpfung gewisser Vorurtheile, bey welchen aber einzelne Classen bis dahin ihre Rechnung gefunden haben, die Rede ist. Wie wäre es auch sonst möglich, [181] daß Leibeigenschaft, Sclavenhandel und manche andre unnatürliche Einrichtungen dieser Art in unserm erleuchteten Jahrhunderte noch Vertheidiger finden können? Nicht immer liegt das Interesse, weswegen zuweilen selbst für einsichtsvoll geltende Menschen die Parthey einer bösen Sache ergreifen, so nahe vor Augen, daß man es deutlich gewahr wird. Man kann es sich, bis man reiflicher über diese Erscheinung nachgesonnen hat, gar nicht vorstellen, was für andre Bewegungsgründe, als ihre innere Ueberzeugung, sie haben könnten, dergleichen Unfug in Schutz zu nehmen; ja! oft mögen sie selbst sich der heimlichen unedlen Triebfedern nicht bewußt seyn, die auf ihr Urtheil würken. Allein man denke genauer darüber nach, und es wird alles klar werden. Manche Leute fürchten nicht so sehr diese oder jene Reform, als vielmehr die entferntern Folgen derselben. Andre besorgen, wenn gewisse Misbräuche [182] und Vorurtheile, bey denen sie weder gewinnen noch verliehren, ausgerottet würden; so möchte auch die Reihe an solche kommen, die sie näher angehen. Noch Andre hängen aus Gewohnheit, Gemächlichkeit, Trägheit alten Einrichtungen und Gebräuchen an und scheuen die Mühe, sich in die neue Ordnung der Dinge schicken zu müssen, fühlen es auch vielleicht, daß sie hier weniger glänzen werden. Dies ist besonders oft bey kirchlichen, Polizey-, Schul- und Justiz-Verbesserungen der Fall, wenn die Regierungen dergleichen verfügen.
Den größten Schauplatz aber hat der Eigennutz in unsern Tagen sich bey Gelegenheit der französischen Revolution eröfnet. Da hat man seinen Einfluß nicht nur auf die Hauptpersonen, sondern auch auf die nahen und entfernten Zuschauer und Beobachter, auf die schriftlichen und mündlichen Beurtheiler, deutlich wahrgenommen. Man [183] darf wohl behaupten, daß diese merkwürdige Begebenheit ein allgemeiner Probierstein gewesen ist, indem wenig Menschen, in den cultivirten und uncultivirten Ständen, unterlassen haben, bey dieser Veranlassung irgend eine verborgene Falte ihres Charakters zu entwickeln und zu zeigen, wie sie es mit der Menschheit meinen. Wir haben gesehn, wie Habsucht, Herrschsucht und Rachsucht sich hinter der Maske des Patriotismus und des Eifers für das Wohl der Völker versteckten; wie da Ströhme unschuldigen Bluts vergossen, ungeheure Schätze geraubt und verschleudert, ganze Generationen zu Grunde gerichtet, die blühendsten Provinzen verheert, mit Religion, Gesetzgebung und Sittlichkeit freches Spielwerk getrieben wurde. Von einer andern Seite haben wir verschworene Rotten gesehn, die sichs zum Geschäfte machten, diesen gräßlichen Zustand noch zu verschlimmern und die Verwirrung fortdauern [184] zu lassen, weil sie für ihre Parthey dabey zu gewinnen und im Trüben fischen zu können glaubten. Andre Bösewichte haben diese Unruhen genützt, um sich wichtig und nothwendig zu machen, haben unaufhörlich Lerm geblasen, haben ähnliche Greuelscenen in ruhigen Ländern vorherverkündigt, allgemeines Mistrauen, Spaltungen, Zwist erregt und vor heimlichen Verschwörungen gewarnt, um anders Gesinnten, gegen die ihre Rachsucht entflammt war, die ihren geheimen Absichten im Wege standen, ihre Bosheiten entdeckt hatten, Verfolgungen, Schmach und Unglück zu bereiten. Wir haben aber auch unruhige Köpfe, Abentheurer, ränkesüchtige, wegen ihrer geistigen oder sittlichen Unwürdigkeit nach Verdienst von den Regierungen zurückgesetzte Menschen, diesen Zeitpunkt nützen gesehn, um in Staaten, in welchen Frieden, Wohlstand und Zufriedenheit herrschten, den Saamen der Empörung [185] auszustreuen, das Volk gegen gute und gerechte Regenten aufzuhetzen, in der Hofnung dann an die Spitze der Geschäfte treten und eine Rolle spielen zu können. Von einer andern Seite haben wir gesehn, wie der Haufen an Wohlleben und Müßiggang gewöhnter Menschen, deren ganze bürgerliche und öconomische Existenz von der Verewigung gewisser Misbräuche und Privilegien der Unthätigkeit und Ungeschicklichkeit abhängt, und die nichts mehr seyn würden, wenn der Mensch nicht mehr gölte, als was er werth ist, wenn er nichts mehr erlangen und besitzen könnte, als was er verdiente und erwürbe, wie diese gezittert und durch Declamationen gegen alle vernünftige und nicht vernünftige Reformen das Selbstgefühl ihrer Unbedeutsamkeit verrathen haben. Endlich ist es dem feinern Beobachter gewiß nicht entwischt, wie wenig Menschen überhaupt in ihren Urtheilen über jene ungeheure [186] Umwälzung ganz frey von Partheylichkeit, von Heucheley, von Furcht, von Rücksichten auf ihren Eigennutz, von leidenschaftlicher Uebertreibung, oder frey von andern offenbaren oder versteckten Nebenabsichten, geblieben sind – Trauriges Loos der Menschheit, daß solche niedrige Beziehungen, so oft, selbst in den Seelen der Bessern, den Eifer für das Wohl und für die Harmonie des Ganzen ersticken, daß zuweilen der bloße Gedanke der Möglichkeit, man könne dadurch etwas an seinen nichtigen Vorzügen verliehren oder gewinnen, uns ab hält, sogar der Wahrheit, die man selbst anerkennt, zu huldigen, daß der Streit über Meinungen, die darauf auch nur entfernt hinweisen, die sanftmüthigsten Herzen gegen einander zum Hasse und zur Verfolgung anreizt!
Diesen allgemeinen Hang aller Sterblichen nun, dem Eigennutze, auf offenbare [187] oder versteckte, grobe oder feine Art, auf Unkosten der höhern Pflichten, welche uns die reine Vernunft vorschreibt, Opfer zu bringen, haben schlaue Leute von je her, zu Erreichung ihrer versteckten Absichten, zu nützen verstanden, und besonders hat ihnen in unserm Jahrhunderte der herrschend gewordene Geschmack an geheimen Bündnissen dazu vielfältig Gelegenheit gegeben. Die, den Verführten vorgespiegelte Hofnung des zu erwartenden Gewinns wurde hier das Mittel, den sichern Vortheil der Verführer zu befördern. Die Lockspeisen wurden nach den Umständen sehr verschieden zugerichtet. Hier trat eine Gesellschaft von Männern auf, die in einer barbarisch-mystischen Sprache, welche den Profanen unsinnig vorkam, der die Geweiheten aber, wie sie versicherten, die erhabenste Deutung zu geben verstanden, ihren Schülern nichts Geringers versprachen, als den Unterricht in der Kunst alle Metalle [188] in Gold zu verwandeln, dem menschlichen Körper ewige Dauer und Jugendkraft zu verschaffen, mit höhern Geistern in vertrauten Umgang zu treten und durch sie die dunkle Zukunft zu enthüllen. In der Erwartung, bald in den Besitz dieser überirdi schen Schätze zu kommen, ließen sich dann die Betrogenen leicht bewegen, einen Theil ihrer irdischen Güter den uneigennützigen Händen ihrer hochwürdigen Lehrer anzuvertrauen. Dort wurden vorwitzige Menschen und die zu träge waren, sich den Studien zu widmen, welche den Geist und das Herz würklich veredeln, durch die Hofnung getäuscht, in dem Schooße eines, aus dem Oriente herrührenden alten Ordens, gewisser Ueberlieferungen aus der Vorwelt theilhaftig zu werden, die ihnen Aufschlüsse über das Universum geben und sie mit einer Weisheit erfüllen sollten, die alle übrigen Wissenschaften entbehrlich machte. Allein sie mußten [189] vorerst Lehrgeld geben, welches jedoch, wie ihnen zugesagt wurde, nur zu wohlthätigen Zwecken verwendet werden würde. Hier wurden ehrsüchtige Personen geringern Standes durch die Annehmlichkeit, mit Fürsten und andern Großen in geselliger, brüderlicher Verbindung zu stehn und durch diese Beförderung im bürgerlichen Leben zu erhalten, herbeygelockt und verleitet, ihre Geldbörsen in die Bruder-Casse auszuleeren. Dort wurden Leute aus allerley Ständen, durch Tonsuren und Weihungen, einem Priesterstande einverleibt, wobey man jeden Aufzunehmenden irgend einen verborgenen Zweck, der seinen Phantasien, Neigungen und Wünschen schmeichelte, ahnen ließ, indeß die Herrn Oberpriester wohl wußten, wozu sie einst dies Häuflein in Thätigkeit setzen wollten. Hier wurden Garköche, Gastwirthe, Canzellisten und Krämer zu Rittern geschlagen und schossen, durch den Glanz dieser [190] neuen Würde angelockt, die Summen her, woraus für die hohen Obern Commenthureyen errichtet werden sollten. Dort versprach ein gutmüthiger, politischer Schwärmer aus seinem Studierstübchen herab, eine allgemeine Weltreform, oder eine Universalmonarchie, zu welcher dann der enge Bund die Haupt-Rollen austheilen würde – Durch diese und vielfache andre Mittel wurden ehrgeizige, habsüchtige, eitle, herrschsüchtige und neugierige Menschen angekörnt, die egoistischen Plane einer kleinern Anzahl zu befördern, indem sie für sich selbst zu arbeiten glaubten. Es ist nicht schwer, alle solche Verirrungen des menschlichen Geistes in einem komischen Lichte anzufehn und vielleicht ist diese Art sie darzustellen würksamer zu Hemmung ihres Fortganges, als die ernsthaften Maßregeln, welche man hie und dort dagegen genommen hat. Die Widersprüche und Inconsequenzen in dergleichen [191] Systemen zerstöhren das Machwerk bald ohne äußere Mitwürkung, da hingegen würkliche Verfolgungen selbst das loseste Band fester zuknüpfen und einen Gemeingeist zu erwecken pflegen, der zum Widerstande reizt. Doch haben diese Thorheiten auch ihre sehr ernsthaften Seiten. Ich müßte mir selbst das Urtheil sprechen, (und wie Viele unter meinen Lesern werden nicht, wenn sie eben so aufrichtig seyn wollen, bekennen müssen, daß auch sie etwas von der Art auf ihrem Gewissen haben!) Ich würde, sage ich, mir selbst und manchem redlichen Manne das Urtheil sprechen müssen, wenn ich behaupten wollte, alle Personen, welche sich mit solchen Bündnissen, sey es nun als Obere, oder als Untergebene, befaßt haben, hätten niedrige, thörichte, verwerfliche Absichten dabey im Hinterhalte gehabt – nein! Wißbegierde, erhitzte Einbildungskraft, nicht gehörig geordneter Thätigkeitstrieb, phantastische,[192] nicht reiflich durchgedachte Plane für das Wohl der Welt, Hang zur Geselligkeit und manche andre nicht tadelnswerthe Rücksichten können auch sehr gut geartete Menschen auf solche Irrwege geleitet haben; nur muß man nicht widerstreiten, daß jedes geheime Bündniß gemißbraucht und ein Werkzeug zu Beförderung unedler Leidenschaften werden könne; nur muß der, welcher nicht mit Recht Verdacht auf sich laden will, bey Zeiten zurückkehren, wenn er seinen Irrthum einsieht und sich nicht schämen, sondern es sich zur Pflicht machen, dies laut zu bekennen. Indessen hat die Vervielfältigung solcher geheimen Verbindungen viel Unheil gestiftet. Da eine jede von ihnen gern das Monopolium für ihre Zwecke erringen wollte; suchte Eine mystische Gesellschaft die andre bey dem Publiko verdächtig zu machen. Dies artete bald in Privat-Haß gegen einzelne Personen aus, gab zu höchst ärgerlichen [193] Auftritten Anlaß, bewürkte wüthende Verfolgungen, vernichtete die Ruhe, den Ruf, die bürgerliche Glückseligkeit manches Unschuldigen, erregte allgemeines Mistraun, wurde von übelgesinnten Leuten genützt, um rachgierige Absichten zu befördern und politische Erscheinungen damit in Verbindung zu bringen. Dies Unwesen dauert dann auch noch fort und macht Männern böse Stunden, die längst jene Ordens-Thorheiten aufgegeben haben.
So sind aber die Menschen; so waren sie immer; so werden sie stets seyn, so lange in ihnen die Sinnlichkeit mit der Vernunft kämpft, das heißt: so lange sie Menschen sind. Der Anblick des nahe vor Augen liegenden Vortheils; die Hofnung des augenblicklichen eiteln Genusses, der ihnen so reizend scheint, beschränkt ihren Gesichtskreis, [194] hindert die gefesselte Vernunft, reifere Ueberlegungen über die entferntern, aber sicherern, wohlthätigen oder schädlichen Folgen jeder Handlung für den Zusammenhang des Ganzen, wovon doch ihre eigne wahre Glückseligkeit unzertrennlich ist, anzustellen; und so opfern sie dann ihrem vermeintlichen Privat-Interesse, opfern ihren nie zu befriedigenden, durch jeden Genuß stärker entflammten Leidenschaften und Begierden, die sich so reichlich belohnende Mitwürkung zum allgemeinen Wohl, besonders in Collisions-Fällen, nur gar zu leicht auf. Es ist Schwärmerey, von dem Menschengeschlechte im Allgemeinen mehr fordern zu wollen, von einer stufenweise zu erwartenden Vervollkommung unsrer Natur, so lange wir hier auf Erden leben, und von einer über alle Stände sich verbreitenden höchsten Aufklärung der Vernunft zu träumen – Es ist Schwärmerey; obgleich von sehr edler Art. Je höher in [195] diesem oder jenem Zeitpunkte, in einzelnen Weltgegenden, die Cultur steigt; um desto gewisser vermehrt sich dann auch dort der Luxus; dieser erzeugt und nährt vervielfältigte Bedürfnisse; diese reizen die Leidenschaften und Begierden, die befriedigt seyn wollen, welches nicht anders, als auf Kosten Andrer, geschehn kann. Das ist die Kettenreihe, die zum Egoismus und zum Eigennutze führt.
Allein die weise Vorsehung, die jeden Mislaut in der Natur zur Auflösung in den allgemeinen Einklang vorzubereiten versteht und dafür gesorgt hat, daß selbst die anscheinenden einzelnen Unvollkommenheiten zur Vollkommenheit des Ganzen beytragen müssen, weiß auch selbst den Eigennutz der Menschen als Mittel anzuwenden, um unendlich viel Gutes auf Erden zu verbreiten. Die mehrsten großen Thaten werden durch ihn hervorgebracht. Menschen, die keine [196] bessere Antriebe zur Tugend kennen, üben wenigstens darum Handlungen der Großmuth und Menschenliebe aus, damit sie für sich Ehre, Ruhm, Ansehn, Vertraun gewinnen und ihre Mitwerber ausstechen, verdunkeln mögen; und so geschieht dann doch das Gute. Sehr viel nützliche Erfindungen in Künsten und Fortschritte in Wissenschaften, verdanken wir dem Eigennutze. Er hat die erste Veranlassung zu der Entdeckung unbekannter Welttheile gegeben, und indem er also die einzelnen Menschen trennt, vereinigt er ganze Völker, die sich vorher einander fremd waren, durch den Handel.
Als ich den ersten Abschnitt dieser ersten Haupt-Abtheilung vollendet hatte; beschloß [197] ich, denselben handschriftlich einem sehr verständigen, redlichen und in der gelehrten Welt rühmlich bekannten Freunde zur Prüfung vorzulegen. Ich wußte, daß wir über das Grund-Princip der Sittlichkeit sehr verschiedener Meinung waren und kannte ihn als einen eifrigen Vertheidiger des Moral-Systems einiger neuern Philosophen. Wir hatten oft darüber mit einander gestritten und o! möchten die Menschen, so lange die Erde sich um ihre Axe dreht, sich nie über etwas anders streiten, als darüber: wer von ihnen die würksamsten und edelsten Bewegungsgründe zur Tugend angeben könnte!
Da man seine Systeme über so wichtige Gegenstände, als die Pflichten der Sittenlehre sind, wenn man in dem männlichen Alter reiflich darüber nachgedacht zu haben glaubt, nicht so leicht gegen andre verwechselt; [198] so gestehe ich, daß ich schon zum Voraus nicht erwartete, durch die Gründe dieses einsichtsvollen Mannes von der Ueberzeugung zurückgebracht zu werden, »daß die Beförderung unsrer eignen wahren Glückseligkeit der Haupt-Bewegungsgrund unsrer moralischen Handlungen seyn müsse.« Eben so wenig aber hegte ich den eiteln Gedanken, mit meinen Geistes-Waffen sein Lehrgebäude erschüttern zu wollen. Die Absicht, warum ich ihn bat, meinem Aufsatze einige Augenblicke von der Zeit zu schenken, die er der Belehrung und Wohlthätigkeit widmet, war die, durch die Einwürfe eines so scharfsinnigen Denkers, auf die schwächern Stellen meiner Schlußkette aufmerksam gemacht zu werden, um dann in einem Anhange manches noch ergänzen, erläutern, mit neuen Gründen befestigen zu können, was unbestimmt und schwankend scheinen möchte, und dadurch im Voraus dem [199] Tadel einiger Kunstrichter und andrer Leser zu begegnen.
Herr *** war so gütig, mir seine Bemerkungen über das Gelesene schriftlich mitzutheilen und mir nachher zu erlauben, dieselben, begleitet von meinen Gegengründen und Einwendungen, mit abdrucken zu lassen. Hier folgt nun Beydes; das mit Häckgen (") Bezeichnete ist meines, mir sehr werthen Gegners Text; das Uebrige sind meine Antworten und Noten. Ich übergehe einige freundschaftliche, von seiner gütigen, bescheidenen und duldsamen Denkungsart zeugende Aeußerungen, die als Einleitung dienen, und komme gleich zu seinen Einwürfen.
»Die §. 1. aufgeworfenen drey ersten Fragen glaube ich, mit gutem Gewissen bejahen zu können und zur Antwort auf die vierte würde ich das von der Vernunft aufgestellte Moralgesetz als die einzige rechte [200] Trieb feder unsrer Handlungen angeben, wenn hier sogleich alles zu entscheiden wäre.«
Ich bin weit entfernt, aus dieser Bejahung meiner ersten Fragen, das heißt aus der Einräumung des Satzes: daß die mehrsten Menschen aus eigennützigen Absichten handeln, Vortheil für mein System ziehn zu wollen; allein so viel scheint doch daraus zu folgen, daß es im Allgemeinen der Natur des Menschen am angemessensten sey, aus der Beförderung des eignen Vortheils Bewegungsgründe zu seinen Handlungen herzunehmen, und daß also solche Motive, wobey hierauf gar nicht Rücksicht genommen wird, (wenn es auch dergleichen geben kann) wenigstens auf den größten Theil der Menschen wenig Kraft äußern.
»Wenn am Ende dieses §. die Beförderung eigner Glückseligkeit ein erlaubter [201] und edler Bewegungsgrund genannt wird; so zweifle ich, ob es Sprachgebrauch sey, die Selbstliebe und alles, was von ihr herrührt, edel zu nennen, da meinem Bedünken nach nur das, durch sein Bemühen für das Wohl Anderer für schön und vorzüglich Gehaltene, edel genannt wird.«
Ich nehme hier das Wort edel im Gegensatze von unedel, und nenne alle diejenigen Empfindungen und Gesinnungen edel, die nicht aus unreinen Quellen herrühren, und keine niedrige, verwerfliche Absichten zu unmittelbaren Zwecken haben. So nenne ich zum Beyspiel den Stolz edel, in so fern er auf dem gerechten Gefühle unsrer wahren Menschenwürde beruht, den Hochmuth hingegen unedel, weil dieser in der Einbildung eines Uebergewichts über Andre, wegen solcher Eigenschaften besteht, die keinen wahren[202] Werth haben. Da nun die Selbstliebe wohl nicht aus einer unreinen Quelle entspringen kann, weil sie von der Natur selbst allen vernünftigen Wesen zu ihrer Erhaltung eingepflanzt ist und unmittelbar zu dem Zwecke leitet, für die Fortdauer und Annehmlichkeit unsers Daseyns zu sorgen, welches keineswegs strafbar ist; so glaube ich, man könne die Selbstliebe wohl edel nennen, obgleich es freilich viel edlere und vorzüglichere Gefühle giebt.
»Die nach §. 2. über den Menschen ausser seinen Verhältnissen in der bürgerlichen oder menschlichen Gesellschaft angestellte Betrachtung kann wohl zur Aufsuchung der Gründe aller Sittlichkeit kein sicheres und bequemes Mittel seyn, da wir uns nie ausser diesen Verhältnissen befinden, sondern von Menschen gebohren werden, um für Menschen zu leben. Der Naturmensch steht nirgends einzeln und isolirt[203] da, sondern wir empfangen aus der Verbindung mit Andern, worinn wir sogleich treten, Rechte, Vortheile und Verbindlichkeit gegen Andre, und werden, wenn wir uns denselben gemäß verhalten, als gut, und wenn wir sie vernachlässigen, als böse angesehn. Dies macht die Frage überflüssig: wie kann der Naturmensch Tugend kennen, lieben und ausüben? Denn Tugend enthält unsre Brauchbarkeit für Andre, wozu wir seit unserm Entstehen, oder seit der ersten Entwicklung unsrer Vernunft überall Gelegenheit finden.«
Ich erkenne sehr wohl, daß dem Menschen gleich bey seiner Geburt Rechte, Vortheile und Verbindlichkeiten zu Theil werden, und daß man den im gesellschaftlichen Zustande lebenden Menschen gar nicht anders, daß man ihn nicht isolirt betrachten könne. Ich erkenne dies nicht nur, sondern habe es auch §. 17. desselben Abschnitts [204] ausführlich entwickelt. Allein wenn einige neuere Philosophen behaupten: man müsse bey Gründung des Moralgesetzes gar nicht an die Folgen, oder an die Wirkungen denken, welche unsre sittliche Handlungen auf die Verhältnisse, in denen wir stehen, haben können, sondern dies Moralgesetz würde auch dann unwandelbar bestehn müssen, wenn diese Verhältnisse anders, oder wenn sie gar nicht da wären; so habe ich gesagt: wer untersuchen will, wie der Mensch ohne Rücksicht auf die Folgen seiner Handlungen, das heißt: auf das, was er dadurch in seinen Verhältnissen würkt, handeln wird, der muß den Fall annehmen, daß diese Verhältnisse gar nicht existirten; er muß sich einen ersten Adam, allein auf der Welt denken. Was von diesem Menschen ohne Verhältnisse wahr ist, muß auch von dem gelten, der auf diese Verhältnisse keine Rücksicht nimmt. Und da fragt sich's denn: [205] Wird ein solcher Adam von Natur Begriffe von Tugend, von Pflichten gegen Andre haben? Müßte man hierauf verneinend antworten; (und das sollte ich doch meynen) so folgt daraus, daß unsre Pflichten von unsern Verhältnissen abhängig sind, durch sie bestimmt und modificirt werden, daß da, wo der Zweck, auf diese Verhältnisse, auf Verbesserung derselben, also auf den Nutzen zu würken, wegfällt, auch keine Pflichten Statt finden, und daß es folglich kein unwandelbares, von der Rücksicht auf Zweck und Nützlichkeit zu trennendes Moralgesetz giebt.
»Die, §. 3. dem Menschen beygelegten Instincte werden, da sie determinirte Triebe sind, fast von allen Philosophen uns abgesprochen. Dagegen ist der Character unsers Geschlechts Vernunft, deren Gerichtsbarkeit sich über die Bearbeitung unsrer Empfindungen und über unsre Neigungen [206] ausbreitet, und deren Gewalt für uns allein in der menschlichen Gesellschaft vornemlich durch den Gebrauch der Sprache sich äußern kann. Ohne beyde Hülfsmittel würde der Naturmensch, bey aller Vernunft, die er, so wie jeder Mensch, hat, aber nicht anzuwenden weiß, nur dem unvernünftigen Thiere gleichen.«
Ich könnte diesen Stein des Anstoßes, das Wort Instinct, unbeschadet des Zusammenhangs, wohl weggelassen und überhaupt nur Gefühle und Triebe gesetzt haben; allein so ganz bestimmt möchte ich doch dem Menschen die Instincte nicht absprechen. Wir wissen eigentlich noch so wenig von der Natur unserer geistigen Kräfte und ihrer Verbindung und Analogie mit unsern Trieben und mit den materiellen und sinnlichen Operationen in uns, daß noch täglich von den Philosophen nur Theorien darüber aufgestellt werden, die den alten widersprechen. [207] Warum sollten wir, was die Instincte betrifft, etwas weniger als die unvernünftigen Thiere haben? Kann es nicht mit dem, was wir Instinct nennen, eben so beschaffen seyn, wie mit gewissen Sinnen, welche bey den Thieren nur darum stärker und feiner zu seyn scheinen, als bey uns, weil wir diese Sinne von Jugend auf weniger schärfen, indem uns die Vernunft dieselben in manchen Fällen entbehrlich macht? Warum sollten ferner diese Instincte, die bey den Thieren determinirte Triebe sind, bey unserm Geschlechte nicht unter der Vormundschaft der Vernunft stehn und von ihr Berichtigung empfangen? Entbehrlich könnten sie ja auch die Vernunft nicht machen, weil sie bey unzählichen Fällen nicht hinreichen würden, uns zu Wegweisern zu dienen.
»Wenn §. 4. der Mensch vermöge seiner Thierheit zu lebenden und todten Gegenständen hingezogen wird; so geht doch [208] sein Trieb besonders zur Gesellschaft, zur Gemeinschaft mit andern Menschen.«
Ich denke, es liegen in unsrer thierischen Natur gleich starke Triebe von der einen und andern Art, die sich nach Maßgabe des Bedürfnisses äußern und befriedigt seyn wollen. Wenn wir Hunger haben, überwiegt der Trieb zu eßbaren Dingen wohl den der Geselligkeit, und so in allen Fällen.
»Zieht aber die Vernunft aus unsern Trieben und Neigungen Vorschriften; so ist der Sinn doch wohl nicht der, daß sie das vorschreiben muß, was die Neigungen wollen; sondern sie muß als eine besondre Kraft angesehn werden, die ihre gesetzgebende Gewalt für sich besitzt, und dieselbe am wenigsten von den Neigungen, denen sie gebiethen soll, entlehnen kann.«
Freilich soll die Vernunft keineswegs die Sclavinn der Neigungen seyn, sondern ihre Führerinn. Nimmermehr aber werde [209] ich mir einbilden, daß der liebreiche Schöpfer zwey ewig nur zum Widerspruche und Streite mit einander angeordnete Mächte in unsre Natur gelegt habe – Neigungen und Vernunft – Nein! unsre Neigungen und Leidenschaften sind gewiß ursprünglich eben so bestimmt, zu unsrer Glückseligkeit mitzuwürken, wie die Vernunft. Nur ihr Misbrauch zerstöhrt diese Glückseligkeit; und um diesen Misbrauch zu hindern, sie zu guten Zwecken zu leiten, nicht aber um sie zu vernichten, ist ihnen die Vernunft zugesellt. Ich glaube dies zur Ehre des Allmächtigen, dessen Werke durchaus die Spuren der Harmonie, nicht aber des Widerspruchs, offenbaren, und meiner Meinung nach würde ein bloß vernünftelnder Mensch, ohne Neigungen und Leidenschaften, ein eben so unvollkommnes Werk der Schöpfung seyn und eben so wenig menschlich handeln, wie der, aus bloßen Neigungen und Trieben [210] zusammengesetzte, ohne Vernunft. Darum denke ich dann auch, es können keine Kräfte in uns abgesondert für sich bestehn und einzeln würken; sondern alle Triebfedern müssen in einander greifen und alle Vorschriften, die nur Einer dieser Triebfedern zum Gesetze dienen sollen, ohne alle Rücksicht auf die einwürkenden übrigen Kräfte, taugen nicht für den irdischen Menschen und sind leere Speculationen.
»Nach §. 5. erstrecken sich die Entschließungen der Vernunft nur auf die Erfahrungen; aber die Vernunft hängt doch deswegen, weil sie nur auf Fälle, die im menschlichen Leben vorkommen, angewandt wird, nicht von der Erfahrung ab; sie darf sich nicht nach dem richten, was gewöhnlich geschieht, sondern muß das, was sie für recht erkennt, uns zu thun gebiethen.«
[211] Nicht nach dem, was gewöhnlich geschieht, soll sie, ohne zu untersuchen, wie und warum es so geschieht, meiner Meinung nach, sich richten, wohl aber nach dem, was möglicher und wahrscheinlicher Weise, bey gehörig angewandten Mitteln, geschehen wird und also zu erwarten steht; und das lehrt die Erfahrung. Die Vernunft halte ich für das Vermögen, den Zusammenhang der Dinge wahrzunehmen, also, auch den Zusammenhang zwischen Ursache und Würkung, zwischen Bestreben, Mittel und Zweck. Hierüber wird sie durch die Erfahrung belehrt, aus welcher die Urtheilskraft Resultate zieht. Soll uns also die praktische Vernunft Vorschriften über die Leitung unsrer Handlungen geben; so muß sie diese, vermöge der Urtheilskraft, aus der Erfahrung abziehn. Sie muß nämlich auf den Zusammenhang des Antriebs zum Handeln mit dem zu erreichenden Zwecke und den dazu anzuwendenden Mitteln Rücksicht [212] nehmen. Wenn also die Erfahrung sie belehrte, daß jener Antrieb gar nicht zu dem beabsichteten Zwecke leitete, oder daß der Zweck nicht zu erreichen wäre, oder daß die Mittel nicht den Erfolg haben könnten, diesen Zweck zu befördern; so würde sie die Handlung nicht begünstigen. Hier ist nur noch von der Ausführbarkeit der Handlung, nicht von der Rechtmäßigkeit derselben die Rede. Diese hängt dann von der Eigenschaft, von der Beschaffenheit des Zwecks ab, wovon nachher gehandelt werden wird.
»Soll aber ihre erste Sorge auf die Erhaltung und Vervollkommung unsers Daseyns gerichtet seyn; so glaube ich bisher, dies den Trieben des Menschen eingeräumt zu sehn, nicht aber der Vernunft, die wohl über die Rechtmäßigkeit der, zu unsrer Erhaltung angewendeten Mittel entscheidet, von Wünschen und Neigungen aber an sich weit entfernt ist.«
[213] Dem stimme ich gern bey, daß die Vernunft von Wünschen und Neigungen weit entfernt ist. Sie, für sich allein, würde uns also auch nie zum Handeln, sondern nur zum Raisonniren bestimmen. Zum Handeln aber führt uns unser Thätigkeitstrieb, reizen uns unsre Neigungen, und das Geschäfte der Vernunft ist, diese zu ordnen und zu sichern Zwecken zu leiten. Nur sichre Zwecke kann die Vernunft als gute Zwecke anerkennen, und es kömmt also darauf an, ob die Erhaltung und Vervollkommung unsers Daseyns, zu welcher uns unsre Neigungen hinlenken, ein guter und sichrer Zweck, und nachher ob es wahr sey, was ich behauptet habe, daß die Mittel, diesen Zweck zu befördern, zugleich die Motive zu allen moralischen Handlungen in sich fassen? Hierauf werde ich in der Folge noch zurückkommen müssen.
»Bald darauf werden Vorsätze mit Pflichten verbunden, da doch die ersten auch [214] böse seyn können, welches bey den leztern nicht Statt findet.«
Böse Vorsätze sind die Resultate einer irrigen, gute Vorsätze die einer richtigen Vernunft. Wer seine Pflicht erfüllt, handelt nach guten Vorsätzen, das heißt: er befolgt die Vorschriften einer richtigen Vernunft, oder einer solchen Vernunft, die den richtigen Zusammenhang der Dinge wahrnimmt. Solche Vorsätze habe ich dann bey jener Stelle in Gedanken gehabt.
»Ueberhaupt wünschte ich hier eine Erklärung von dem Worte Pflicht zu finden, weil dadurch alles Misverständniß hätte gehoben werden müssen. Eben dies wäre auch bey dem Worte Vernunft nöthig. Zwar wird von ihr hie und da gesagt, daß sie den Zweck und Nutzen der Handlungen beurtheilt, von der Erfahrung und von den Verhältnissen abhängt u.d. gl. m. allein eine einzige Erklärung, was man [215] unter ihr versteht, würde doch dienlicher seyn, um sich fest daran zu halten, wenn man untersuchen soll, ob die darüber vorgebrachte Meinung gerechtfertigt werden könne, oder nicht. So lange dies nicht geschehn ist, verstehe ich unter Vernunft: das Vermögen, uns allgemeine Gesetze vorzuschreiben, denn darein setze ich ihren praktischen Gebrauch.«
Diese Definition darf ich nicht gelten lassen, wie man hören wird, denn ich leugne die Gültigkeit allgemeiner, von allen Rücksichten auf Verhältnisse, Zwecke und Folgen unabhängiger Gesetze.
»Eben so halte ich Pflicht für die Nothwendigkeit, aus Achtung für's Gesetz zu handeln. Mit diesen beyden Begriffen stoße ich nun überall gegen diese Abhandlung. Sind sie unrecht; so wünsche ich bessere, aber nun finde ich an deren Stelle [216] gar keine gesetzt, welches die Untersuchung nothwendig ins Weite spielt.«
Freylich hätte ich wohl diese Begriffe deutlicher und bestimmter entwickeln, oder vielmehr in Definitionen zusammenfassen sollen; denn offenbar beruht darinn die Verschiedenheit unsrer Meinungen. Ich will dies also hier nachholen, bitte aber hierbey und in andern Fällen, zu bedenken, daß wenn ich mir erlaube, zu sagen: das ist also! dies nicht wie eine mir angemaßte Entscheidung anzusehn sey, sondern daß ich mich nur, der Kürze wegen, enthalte, jedesmal die Worte: meiner Meinung nach, hinzuzufügen.
Die Vernunft ist das Vermögen, den Zusammenhang der Dinge wahrzunehmen, also auch den Zusammenhang zwischen Ursache und Würkung, zwischen Bestreben, Mittel und Zweck. Die praktische Vernunft nun, welche uns Vorschriften zur Direction [217] unsrer Handlungen giebt, zieht diese Vorschriften aus der Wahrnehmung des Zusammenhangs zwischen unserm Bestreben, unsrer Neigung, unserm Triebe zu handeln und dem Zwecke, den wir dadurch erreichen können, mit Rücksicht auf die Mittel, welche dahin führen. Die richtige, wohl geordnete, reife Vernunft aber schreibt nur gute und würksame Mittel zur Erreichung guter, bestimmter, sichrer Zwecke vor. Die praktische Vernunft, in so fern wir sie als Leiterinn unsrer moralischen Handlungen betrachten, ist daher: das Vermögen, unsre Neigungen (Triebe, Wünsche, Bestrebungen) zu bestimmten, richtigen Zwecken zu lenken.
Um nun hier keine Zweydeutigkeit übrig zu lassen und meine Begriffe gehörig zu entwickeln, muß ich die Reihe der Erklärungen von einem andern Ende anfangen.
[218] Recht handelt der, welcher seine Pflichten erfüllt.
Pflicht ist die Nothwendigkeit, einer reifen Vernunft zu folgen.
Diese Vernunft lehrt uns, die Triebe zum Handeln und überhaupt unsre Neigungen auf bestimmte, sichre Zwecke zu leiten.
Es fragt sich also: welche Zwecke von dieser Art seyen? Bestimmt und sicher ist, dünkt mich, ein Zweck, wenn er auf keine Weise zweydeutig ist, wenn er in sich selbst keinen Widerspruch enthält, sondern möglich zu erreichen und nicht etwa von der Art ist, daß man ihn für keinen lezten Zweck ansehn kann, sondern bey ihm noch einen entfernten, höhern Zweck, wohin er führt, nothwendig annehmen muß. Nun können aber von allen denkbaren menschlichen Zwecken keinem so sehr alle diese Eigenschaften zugeschrieben werden, wie dem: die Harmonie der ganzen [219] Welt mit befördern zu helfen, welches von uns nicht kräftiger geschehn kann, als durch die Ausübung der Moral. Folglich ist die Beförderung derMoralität ein bestimmter, sichrer Zweck, zu welchem eine reife Vernunft den menschlichenThätigkeitstrieb hinleiten muß; und werrecht handeln und seine Pflicht erfüllen will, muß die Nothwendigkeit einsehn, dem Moralgesetze zu folgen. Freylich ist jedem lebendigen Wesen der Trieb eingepflanzt, vor allen Dingen, an Beförderung seiner eignen Glückseligkeit zu arbeiten. Obgleich nun dieser Trieb so allgemein und dringend ist; so würden wir, mit Vernunft begabte Wesen, ihn doch zu unterdrücken suchen müssen, wenn er sich nicht von der Vernunft auf jenen Hauptzweck, (auf die Beförderung des allgemeinen Wohls, durch die Beobachtung der sittlichen Vorschriften) hinleiten ließe. Dies kann aber nicht nur geschehn; [220] sondern es ist vielmehr leicht zu beweisen, daß unsre wahre, dauerhafte, sichre Glückseligkeit auf gar keine andre Art befördert werden könne. Es ist daher vollkommen einerley, ob ich die Beförderung des allgemeinen Wohls, oder die meiner eignen Glückseligkeit mir zum Grundgesetze mache, weil bey beyden die Moral die nothwendige Bedingung, das einzige sichre Mittel zum Zwecke, ist. Natürlicher aber scheint es, von der Beförderung meiner eignen Glückseligkeit auszugehn, weil das Interesse dazu jedem Menschen am nächsten liegt, folglich der Antrieb größer ist, diesen Zweck zu erreichen, wobey dann die Erfüllung der Pflichten gegen Andre zur nothwendigen Bedingung wird. Da nun auf diese Weise das Moralprincip aus einem Grunde hergeleitet wird, den jedermann nicht nur anerkennen muß, sondern wozu ihn sogar die stärkste aller seiner natürlichen Neigungen ohne Unterlaß hintreibt; [221] so ist es schwer einzusehn, warum wir nach andern Bewegungsgründen forschen sollten, als nach diesen, die die kräftigsten sind und zugleich in der sinnlichen und geistigen Natur des Menschen beruhen. Auch ist nicht einzusehn, wie man den Trieb, seine eigne Glückseligkeit zu befördern, einen unreinen Bewegungsgrund zur Tugend nennen könne. Unlauter in seiner Entstehung kann er nicht seyn, weil er vom Schöpfer selbst allen lebendigen Creaturen eingepflanzt ist; unlauter können die Mittel nicht seyn, durch welche er erreicht wird, da die einzigen würksamsten Mittel gerade die sittlichsten sind; unlauter endlich ist dieser Trieb in seinen Würkungen nicht, weil er uns dahin leitet, zur Harmonie des Ganzen thätig mitzuwürken.
»Bey §. 6. wäre diese Erklärung, was Vernunft sey, besonders nothwendig, da ihr zu folgen für das, von der Natur uns [222] eingepflanzte Gesetz gehalten wird. Würde nun dies Folgen der Vernunft in dem von mir angeführten Sinne gebraucht; so wüßte ich nicht, wer gegen Satz und die darauf beruhende Abhandlung mit Grunde etwas einwenden könnte.«
Hierüber habe ich mich so eben erklärt.
»Allein bald darauf wird von Veränderung der Motive bey neuen Erfahrungen und Verhältnissen geredet, und alsdann kann ich mit meiner Definition nicht auskommen, denn die fordert die beständige Ausübung eben desselben Gesetzes, die Anerkennung seiner Würde und die Anwendung ihrer Vorschrift auf jeden vorkommenden Fall. Sie weiß von keinem neuen, bey neuen Erfahrungen und Verhältnissen entstandenen Gesetze, sondern glaubt, daß man dem alten noch nicht Genüge geleistet habe.«
Da dieser Gegenstand in den Anmerkungen zu dem §. 8. ausführlicher entwickelt [223] werden wird; so verspare ich, was ich darüber hier sagen könnte, bis dahin.
»Im §. 7. wird der Unterschied der Vernunft von den Trieben darein gesetzt, daß die erstere nicht ohne Zweck handele. Dies kömmt mir nicht so vor, weil ich mir keinen Trieb ohne irgend einen Zweck gedenken kann. Tiefer muß daher dieser Unterschied liegen und da weiß ich von keinem andern, als dem, daß der Trieb eine Sache will, ohne nach dem Rechte oder Unrechte derselben zu fragen, daß die Vernunft aber beständig auf die Untersuchung und Ausübung des Rechts dringt.«
Als ich jene Stelle hinschrieb, war ich zweifelhaft, welches Beywort ich dem Worte Zweck hinzufügen sollte, um meine Gedanken genau auszudrücken –bestimmter – letzter – entfernter – sichrer Zweck? – Vielleicht würde das einzige Wort End zweck alles erschöpfen. Bey den [224] Trieben nämlich liegt freylich mehrentheils ein naher Zweck zum Grunde; aber dieser Zweck kann nicht als der letzte angesehn werden; es bleibt noch immer einwarum dabey zu fragen übrig; seine Erreichung kann Folgen haben, die auf einen, nicht wünschenswerthen, fernern Zweck leiten. Das Werk der Vernunft hingegen ist es, vermöge der Urtheilskraft, Ueberlegungen anzustellen, zu welchem letzten Zwecke die Befriedigung eines Triebes, durch Erreichung der Mittel-Zwecke, (wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf,) hinführen werde, und ob dieser dadurch würklich erreicht werden könne, ob er folglich durch die Vernunft gerechtfertigt, das heißt mit andern Worten, gut und recht sey? Der Trieb z.B. dies oder jenes zu genießen, hat freylich den Genuß zum Zwecke; allein nun fragt sich's: warum will ich dies genießen? Da untersucht dann die Vernunft: ob dies geschehe, [225] um mein Leben zu fristen, oder um mir ein augenblickliches Vergnügen zu verschaffen? ob ich diesen Zweck auch würklich dadurch erlangen werde? ob dieser Zweck einen höhern, letztern Endzweck (die Beförderung der Harmonie des Ganzen, des allgemeinen Wohls, ohne welche mein Glück nur scheinbar ist) nicht etwa zerstöhre? und darnach bestimmt sie die Rechtmäßigkeit, oder Verwerflichkeit des Genusses.
»Eben so wird der Vorzug der Vernunft darinn gesetzt, daß sie auf die Folgen achtet, weil kein vernünftiges Wesen nichts unternehmen kann, das nicht zu etwas nützt. Dies kann man nun freylich den Trieben nicht beilegen; allein wenn man Vernunft und Urtheilskraft unterscheidet; so kömmt das Achten auf die Folgen nicht der erstern, sondern der letztern zu. Die Vernunft hat den Vorzug, daß sie uns nicht nur urtheilen lehrt, sondern [226] durch Vorhalten ihres Gesetzes unsere Bildung zu guten Menschen befördert.«
Ich habe es erklärt, warum ich glaube, daß die Vernunft uns nicht eher Gesetze für unsre Handlungen vorschreibe, als bis sie, vermöge der Urtheilskraft, untersucht hat, zu welchen Final-Zwecken diese Handlungen führen werden.
»Nun wird §. 8. den Begriffen von Tugend und Pflicht es abgesprochen, daß sie ewige unwandelbare Wahrheiten sind.«
Nein, nimmermehr! Die Begriffe von Tugend und Pflicht, in abstracto sind gewiß ewig und unwandelbar; das heißt: es ist eine ewige und unwandelbare Wahrheit, daß vernünftige Wesen nach bestimmten Gesetzen handeln müssen, und für uns Menschen heissen diese Gesetze Tugend-Gebothe. Allein die Gesetze selbst können nicht unwandelbar seyn, weil die vernünftigen Wesen nicht [227] Alle in einerley Verhältnissen stehen, und daher nicht jede Vorschrift auf jede Lage passen kann. Hier muß ich also einen Vereinigungspunct suchen, eine Form, in welche alle Vorschriften passen müssen, und diese finde ich in dem Nutzen, den die Befolgung einer Vorschrift in den Verhältnissen stiftet, in welchen ich lebe.
»So urtheilte doch Haller in der Strophe nicht:
Obgleich ich in andern Fällen wohl eine kleine Einwendung dagegen zu machen wagen würde, daß man einen Dichter als Gewährsmann [228] für philosophische Sätze anführte; so kann doch dies bey dem philosophischen Dichter Haller keineswegs der Fall seyn. Allein was enthält denn nun diese Strophe, das gegen meine Grundsätze zeugen könnte? Ein leerer Name ist gewiß Dem die Tugend nicht, der sie für das höchste Resultat der Vernunft, für das einzige sichre Mittel zu Beförderung seiner wahren Glückseligkeit hält. In dem Herzen liegt der Keim des Wohlwollens, das uns zu der Erfüllung geselliger Pflichten, zum Guten treibt; und wenn dieser Trieb von der Vernunft geordnet und gelenkt wird; so ist alles, wie es seyn soll. Ja! dieser Keim zum Guten liegt eben so gewiß im Herzen, als diesem Herzen die Ahnung von dem Daseyn Gottes, der der Berge Spitzen röthet, eingeprägt ist. Beyde Gefühle aber, die moralischen und die religiösen, bedürfen der Leitung [229] der Vernunft, um uns auf den rechten Weg der Glückseligkeit zu führen.
»Auch mein Gewissen sträubt sich dagegen, weil der Unterschied der That mir gar zu sehr einleuchtet, wenn ich weiß, daß ich darum sie gethan habe, weil es recht ist, und wenn ich nur meinen Vortheil dabey suchte.«
Freylich, wenn dabey auf den letzten Zweck, auf die Harmonie und Wohlfahrt des Ganzen, keine Rücksicht genommen wird.
»Nichts ist mir mehr zuwider und entehrt mich in den Augen Andrer mehr, als wenn Andre mich bloß als Werkzeug zur Erreichung ihrer Absichten gebrauchen, sich aber nicht darum bekümmern, was ich dabey empfinde oder leide. Eben so sehr schäme ich mich auch, wenn ich irgend Jemand bloß als Mittel und nicht zugleich als Zweck behandelt habe.«
[230] Richtig! ich meine auch nichts gesagt zu haben, das einen solchen Egoismus begünstigen könnte. Wenn wir bey Beförderung fremder Glückseligkeit auf unsre eigene Rücksicht nehmen; so geschieht das, indem diese einen Theil der allgemeinen Glückseligkeit ausmacht, die der Final-Zweck seyn muß. Denn wenn es sich denken ließe, daß Jeder sich selbst unglücklich machte, indem er die Wohlfahrt des Ganzen zu befördern suchte; so würden sie ja Alle, die das Ganze ausmachen, unglücklich seyn, und folglich das Gegentheil von dem bewürken, was Jeder zu erreichen trachtete. Wir sind sämmtlich Theile des Ganzen; die Summe des individuellen Wohlseyns aller dieser Theile macht die Glückseligkeit des Ganzen aus. Soll nun jedes Individuum gar nicht für sein Wohl, sondern nur für Andre sorgen; so heißt das mit andern Worten, daß wir gar keine Pflichten gegen uns selbst zu beobachten [231] haben. Also hätte der Schöpfer jedes Wesen nur dazu geschaffen, um für andre Wesen zu sorgen? Mit dem lebhaftesten Gefühle unsrer Identität und Personalität begabt, dürften wir uns doch nur als Werkzeug für Andre ansehn? Das scheint doch wohl um so mehr gegen die Ordnung der Natur zu streiten, da derselbe Zweck, die Bewürkung der Vollkommenheit des Ganzen, eben so vollständig erreicht werden kann, wenn der, jeder lebendigen Creatur eingepflanzte Trieb zur Selbsterhaltung, auf die gehörige Art zur gemeinschaftlichen Harmonie angewendet wird.
»Eine und dieselbe Handlung soll unter andern Umständen gut, gleichgültig, oder strafbar seyn? Nimmermehr! so lange es dabey auf eine und dieselbe Regel unsers Verhaltens ankömmt. Diese muß immer entweder gut oder böse seyn, und ist nie gleichgültig. Hat man aber den Handlungen [232] andre Motive untergeschoben; so muß sich auch die Natur der erstern verändern.«
Nichts kömmt mir einleuchtender vor, als daß der Werth und die Rechtmäßigkeit einer Handlung durch die Umstände, unter denen sie vollführt wird, durch die Verhältnisse des Handelnden, durch die davon zu erwartenden Folgen, durch die darauf verwendete Anstrengung und durch unzähliche andre Umstände bestimmt werden und wer das nicht eingestehn will, der muß zugleich leugnen, daß es Stuffen in der Tugend gebe. Er muß behaupten, daß es gleichgültig sey, ob ich eine Pflicht ausübe, wodurch Tausende glücklich und froh werden, oder eine solche, wovon die Folgen ganz unbedeutend sind; ob die Handlung Kampf und Ueberwindung kostet, oder ohne große Mühe ausgeführt wird; ob ich, indem ich etwas Gutes thue, etwasNützlichers, [233] das ich unterdessen würken könnte, versäume (denn der Nutzen, den ich durch die Handlung stifte, soll ihr ja keinen Werth geben.) Einige Beyspiele werden, denke ich, zeigen, wohin das führen müßte. Wahrheit zu lehren, Wahrheit zu sagen, ist ein positives moralisches Gesetz. Ist es aber auch Pflicht, Wahrheiten unvorsichtig zu verbreiten, wovon ich weiß, daß sie grade unter gewissen Umständen, in diesem Zeitalter, in diesem Lande, mehr Verwirrung als Nutzen stiften würden? Schwerlich! Und warum nicht? weil ich bey allen meinen Handlungen auf die sicher zu erwartenden Folgen Betracht nehmen soll. Unwahrheit sagen ist immer unrecht. Allein ist dies Unrecht gleich groß, ob ich damit die zeitliche Glückseligkeit eines Menschen zerstöhre, oder einen Mann vom Tode errette, oder aus Bescheidenheit und um dem Danke auszuweichen, eine edle That, die ich vollbracht [234] habe, ableugne, oder ein unbedeutendes Märchen von meiner Erfindung erzähle? Ich soll anvertraute Geheimnisse verschweigen; muß diese Verschwiegenheit sich auch auf mitgetheilte gefährliche Plane erstrecken? Es ist Pflicht, Wohlthätigkeit auszuüben; ist es nun einerley, ob ich durch meine Wohlthaten das unterdrückte, wahre Verdienst ermuntre, oder den Müßiggang und die Verschwendung begünstige? Hier erwarte ich, daß man antworten wird: »Ja! das heißt auch nicht wohlthätig seyn.« Was bestimmt denn also den Begriff der Wohlthätigkeit? Was anders, als die würklich nützlichen Folgen, welche sich davon erwarten lassen? Es ist Pflicht, meinem Mitmenschen, den ich in Gefahr sehe, das Leben zu retten, wenn ich die Mittel dazu in Händen habe; darf ich also auch einen, seiner Verbrechen wegen, zum Tode Verurtheilten, aus dem Gefängnisse erlösen? Ist die Handlung [235] von gleich großem Werthe, ob ich ein nützliches Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Wasser ziehe, oder einen Taugenichts? Ist die Pflicht, mein Leben zur Rettung Andrer in Gefahr zu setzen, eben so groß, ob ich ein einzelner Mann bin, oder ob ich durch meinen Tod, dem ich entgegengehe, einer zahlreichen Familie, deren Versorger ich bin, ihre Stütze raube? Hat der von Natur Unerschrockne, der Starke, der an Gefahr Gewöhnte, eben so viel Verdienst von einer tapfern Vertheidigung seines Vaterlandes, als der, welcher bey solcher Gelegenheit seine natürliche Furchtsamkeit überwindet und eine ausserordentliche Anstrengung zeigt? Nüchternheit ist eine Tugend; wenn mir nun aber mein Arzt etwa, um eine wohlthätige Revolution in meinem Körper zu bewürken, verordnete, mich einmal zu berauschen; wäre dann die Befolgung dieser Vorschrift auch unerlaubt? [236] Mord ist ein großes Verbrechen; ist Mord aus Nothwehr, unvorsetzlicher Mord, Mord in einem Kriege, zu welchem mich mein Landes-Fürst hinschickt, Mord in Aufwallung des Zorns, Mord den der Scharfrichter verüben muß, Mord aus überlegter Rache – Sind alle diese von gleicher Art?
Was bestimmt denn nun aber in allen diesen gegebenen Fällen den Unterschied im moralischen Werthe und Unwerthe der Handlungen? Freylich bey manchen offenbar die Absicht des Handelnden? Allein in wie viel unzählichen Fällen bleibt nicht diese dem, der nicht in das Herz sehn kann, verborgen? Bey wie viel andern Fällen treten noch andre Rücksichten, als diese ein! Wo finde ich also einen allgemeinern Maßstab für die Moralität einer Handlung, als in dem Einflusse derselben auf das Wohl der menschlichen Gesellschaft? Und woher entsteht der von jedermann anerkannte Unterschied unter [237] höhern und weniger wichtigen Pflichten? Der, welcher alle Pflichten aus unwandelbaren Gesetzen herleitet, hat in Collisionsfällen keinen sichern Grund, der einen vor der andern den Vorzug zu geben. Wer hingegen bey seinen Handlungen den auf das Ganze bezweckten Nutzen vor Augen hat, wird nur da über die Wahl zweifelhaft bleiben, wo die menschliche Kurzsichtigkeit der Vernunft Grenzen setzt. Noch einmal also! Man muß entweder für jeden einzelnen Fall ein allgemeines Gesetz annehmen und das ist ja ein Widerspruch, oder man bedarf eines Haupt-Grundsatzes, nach welchem sich alle Handlungen prüfen lassen und da finde ich keinen bessern, richtigern und allgemeinern, als den: Habe immer den lezten Zweck vor Augen, den du durch deine Handlungen erreichen kannst und willst; prüfe wohl, in wie fern dieser Zweck mit dem allgemeinen Wohl in Harmonie zu bringen [238] sey und bediene dich nur solcher Mittel, durch welche andre, eben so gute Zwecke nicht gestöhrt werden!
»Was sollen das aber für erhabene Begriffe von gewissen Pflichten seyn, die das eine verständige Wesen hat, das andre aber nicht?«
Ich denke, das ist leicht zu beantworten. Es giebt Völker auf der Erde, bey denen gewisse Vorschriften, Gesetze, Gebräuche, Einrichtungen u.d. gl., welche zum Theil in dem Clima, in der Regierungsform, in den verschiedenen Religions-Begriffen und in andern Umständen ihren Grund haben, für heilig und unverletzlich gehalten werden. Diese Einrichtungen gehören dann bey solchen Völkern zu derjenigen geselligen Ordnung, welche zu befördern und zu erhalten moralische Pflicht wird, indeß ein anderes Volk von diesen Pflichten gar nichts weiß. Wo zum Beyspiel die Vielweiberey eingeführt ist, [239] und das weibliche Geschlecht in einer Art von Sclaverey lebt, da sind alle sittliche Vorschriften, welche in Europa das Ehebündniß und überhaupt das Verhalten gegen das andre Geschlecht zum Gegenstande haben, nicht anwendbar. Wo man nichts von Fürsten weiß, da fallen alle Pflichten gegen diesen abgesonderten Stand weg.
»Es ist ja nach dem Vorhergehenden keine Tugend und keine Pflicht.«
Da sich in meiner ganzen Abhandlung, wenn man meinen Worten nicht eine unrichtige Deutung giebt, auch nicht ein Schatten von einer solchen Behauptung findet; so enthalte ich mich, hierauf zu antworten. Denn das heißt doch wohl nicht das Daseyn eines Dinges leugnen, wenn man den Grund dieses Daseyns nicht gerade da zu entdecken glaubt, wo ein Andrer denselben sucht.
[240] »Für die, welche sie als ewige unwandelbare Wahrheit annehmen, beruht ihre Erhabenheit bloß auf den reinen und von allem Eigennutz entfernten Grundsätzen.«
Daß das Bestreben seine wahre Glückseligkeit zu befördern, die mit dem allgemeinen Wohl verkettet ist, nicht mit dem verwerflichen Eigennutze in dieselbe Classe zu setzen sey, das glaube ich deutlich genug entwickelt zu haben.
»Was dem Einen Pflicht scheint, soll der Andre für ein Verbrechen halten. Wäre doch hier die Pflicht erklärt; so würde alles deutlich seyn. Nur das weiß ich, daß die Achtung für das allgemeine Gesetz kein Verbrechen ist.«
Mit Beziehung auf das hierüber schon vorhin Gesagte, führe ich hier nur die Verschiedenheit der bürgerlichen Verfassungen zum Beyspiele an. Was in einem republikanischen Staate für hohe Tugend gelten muß, [241] kann vielleicht unter einer monarchischen Regierung für sehr frevelhaft angesehn werden und eine, durch Schiffbruch auf eine wüste Insel verschlagene Gesellschaft würde doch wohl nach andern Grundsätzen handeln müssen, als die Gemeinen der Bürger in einer Residenz. Man glaube nicht, diesen Satz dadurch widerlegen zu können, daß man behauptet: es gäbe denn doch gewisse allgemeine Gesetze, die auf alle diese verschiedenen Fälle anwendbar seyn müßten. Das ist es eben, was ich leugne. Sollen diese für allgemein ausgegebnen Gesetze sich nach den speciellen bürgerlichen Einrichtungen richten und wenn sie, wie es oft geschehn kann, diesen widersprechen, ihnen weichen; so sind sie nicht allgemein, oder es ist wenigstens sehr zwecklos, ein Moral-Gesetz anzunehmen, wovon man immer Ausnahmen machen muß, und der, welcher sich gern um die Tugend wegschleichen will, wird Vorwand [242] genug zu solchen Ausnahmen finden. Soll aber der Mensch, welcher sittlich gut handeln will, verbunden seyn, sich allein an die reinen moralischen Vorschriften zu halten; so muß man jedem Einzelnen das Recht geben, die Befehle der Obrigkeit nicht nur zu prüfen, (denn das müßte ihm wohl freylich erlaubt seyn) sondern sie auch zu übertreten, wenn sie nicht mit seinen allgemeinen Gesetzen übereinstimmen. Zu welchen Misbräuchen und Verwirrungen alsdann dies hinleiten würde, das erfordert wohl keine weitere Ausführung. Mich dünkt also, man bedürfte eines Haupt-Grundsatzes, der auf alle Fälle anwendbar, theoretisch und practisch untadelhaft, zugleich der Natur des Menschen angemessen und endlich von keiner Seite dem Misbrauche unterworfen wäre, und diesen finde ich in der Vorschrift: alles nach bester Einsicht beyzutragen, was zu dem Zwecke führt, die Harmonie des [243] Ganzen, die allgemeine Glückseligkeit, zu befördern, die in der Summe der möglichst zu bewürkenden Wohlfahrt aller Einzelnen besteht, und dazu die sichersten Mittel zu wählen.
»Das von der Mäßigkeit entlehnte Exempel beweiset nichts, weil die Verschiedenheit des Maßes bey an sich erlaubten und zu unserm Unterhalte nothwendigen Dingen, nicht auf das Unerlaubte und Verbothene paßt.«
Ich halte doch das Beyspiel für passend. Wenn es keine gleichgültige Handlungen giebt; so muß auch der sinnliche Genuß gewissen Gesetzen unterworfen seyn. Diese nennt man Gesetze der Mäßigkeit. Woher sollen nun diese Gesetze genommen werden? Darf ich nicht mehr geniessen, als grade zu Erhaltung meiner Existenz nothwendig ist, oder ist auch einiges Vergnügen im Genusse zu suchen erlaubt, in so fern das[244] Maaß nicht überschritten wird? Kann dies Maaß bey allen Menschen und unter allen Umständen, in Zeiten der Theurung und Noth, so wie in den Tagen des Ueberflusses, dasselbe seyn? Alle diese und viel andre Fragen können nur mit Rücksicht auf die Würkungen und auf die zu erwartenden Folgen des Genusses beantwortet werden und darnach allein bestimmt sich der Begriff des Erlaubten und Verbothenen in demselben. Ließe sich der Fall denken, daß man durch Uebermaaß des Genusses gesunder an Leibe, stärker an Geiste, wohlwollender, geneigter und fähiger seinen Nebenmenschen und dem gemeinen Wesen zu dienen, reicher, heiterer, kurz! glücklicher würde, Statt daß das Gegentheil wahr ist; so würde Uebermaaß des Genusses Pflicht werden, wie er jetzt Verbrechen ist. Dieselbe Bewandniß hat es mit allen sittlichen Vorschriften. Sie sind nur dann und nur [245] darum Gesetze, wenn und weil sie die allgemeine Glückseligkeit befördern.
»Der Canon, so viel zu nehmen und zu genießen, als Appetit und Vermögen verstatten, hat doch viel Aehnlichkeit mit dem: Ede, bibe, lude! Post mortem nulla voluptas. Dieser aber ist doch himmelweit von der Vorschrift entfernt: naturae, seu rationi conuenienter viuere.«
Sollte man aus diesem Einwurfe nicht schließen, ich hätte jenen abscheulichen Canon empfohlen, da ich doch nur behaupte, der, welcher gar nichts von den schädlichen Wirkungen der Unmäßigkeit wüßte, würde auch keine Veranlassung haben, sich Gesetze der Mäßigkeit vorzuschreiben? und das scheint mir so wahr, daß ich gern zugeben kann, ein Solcher würde nach dem Spruche Ede bibe etc. handeln. Rohe, wilde, nicht in wohl geordneten Gesellschaften lebende Menschen sieht man auch diesen Grundsatz oft[246] genug practisch ausüben. Und was macht diesen Spruch so verwerflich? Was anders, als seine letzte Hälfte, weil darinn ein Genuß empfohlen wird, bey welchem man nicht auf die entferntern Folgen Rücksicht nimmt?
»Darauf wird die Heiligkeit des Eigenthums geleugnet.«
Wo? wer hat das gethan? Ich gewiß nicht; ich habe nur behauptet, daß Menschen, die keinen Begriff von Eigenthum hätten, (unter denen z.B. eine Gemeinschaft der Güter Statt fände) auch von gar keinen Gesetzen und Pflichten, welche die Heiligkeit des Eigenthums zum Gegenstande hätten, etwas wissen würden. Dies lehrt uns ja die Erfahrung. Wir haben in den europäischen Ländern das Eigenthumsrecht auf Gegenstände ausgedehnt, die von weniger cultivirten Völkern wie res nullius, oder wie gemeine Güter betrachtet werden. Bey unsern vervielfältigten Verhältnissen ist eine [247] solche Einrichtung, zu Erhaltung der Ordnung (des einzigen Zwecks und Gegenstandes aller Gesetze und Pflichten) nothwendig. Der Wilde fühlt diese Nothwendigkeit nicht; und dennoch kann er eben so strenge Begriffe von moralischen Gesetzen (nämlich von solchen, die er dafür erkennt) haben, wie wir. Daher kömmt es denn, daß wir auf den Inseln der Südsee Menschen, die übrigens wahrlich Sinn für die feinsten geselligen Pflichten zeigten, dennoch ohne Scheu allerley entwenden sahen, wovon sie vielleicht gar nicht ahneten, daß es für Europäer Werth haben, oder einen Gegenstand des Eigenthums ausmachen könnte. Man denke ferner an die Verträge der Völker über das Recht der Schiffahrt! – Beruht etwa das Eigenthumsrecht über den Ocean auch auf unwandelbaren Gesetzen?
»Es wird ferner die Verbindlichkeit einer jeden Pflicht aufgehoben, dem gemäß, [248] daß Tugend und Pflicht keine ewige, unwandelbare Wahrheiten seyen. Von den Folgen, die aus dieser Lehre fliessen, darf ich wohl schweigen.«
Ich meine, doch nun wohl deutlich genug gezeigt zu haben, daß ich diesen verwerflichen Satz weder behaupten wollen, noch behaupten können, noch behauptet habe.
»Nun wird §. 9. gerühmt, daß die angebohrnen und reinen Begriffe der Tugend widerlegt sind. Widerlegt? Ich dächte: befestigt; denn zum Leugnen derselben nichts vorzubringen, das heißt, sie bestättigen und gestehn, daß gegen sie nichts einzuwenden sey. Ich will also davon abstehn, und nur bemerken, daß die allgemeinen Vernunftgesetze nicht angebohren im eigentlichen Sinne des Worts zu nennen sind, nachdem Locke bewiesen hat, daß uns keine Begriffe angebohren werden.«
[249] Zu Widerlegung der Behauptung: daß die unwandelbaren moralischen Gesetze dem Menschen von der Natur eingepflanzt und aus ihr allein abzuleiten seyen und daß Verhältnisse, Umstände und die zu erwartende Würkung auf den Zweck, eigne und fremde Glückseligkeit zu befördern, gar nicht bey Bestimmung der sittlichen Pflichten in Betracht kommen dürfen, glaube ich doch Gründe angeführt zu haben. Die Beurtheilung des Gewichts dieser Gründe, muß ich einsichtsvollen, unbefangenen Lesern überlassen. Ob man die von der Natur uns eingepflanzten Begriffe angebohrne nennen will, oder nicht; das ist zu meinem jetzigen Zwecke gleichgültig.
»In dem §. 10. wird die Behauptung, daß höhern Wesen Tugend zukomme, für kindisch erklärt, weil wir ihre Verhältnisse nicht kennen. Aber ist es auch kindisch, wenn man die Tugend nicht auf Verhältnisse, [250] sondern auf Verbindlichkeit zum allgemeinen Gesetze gründet und sie in ein Bestreben, demselben nachzukommen, setzt? Da dies Bestreben bey dem Begriffe der Heiligkeit wegfällt; so wird freylich das Wort Tugend der Gottheit nicht beygefügt.«
Ich muß oft wiederholen, was ich schon gesagt habe, um nicht in den Verdacht zu kommen, als weiche ich der Beantwortung manches Einwurfs geflissentlich aus; dies ist auch hier der Fall. Alles in der Natur ist zweckmäßig zur Ordnung und Harmonie geschaffen. Dies setzt bestimmte Gesetze voraus; die ganze geschaffene Natur ist also bestimmten Gesetzen unterworfen. Wir sehen, wie leblos scheinende Gegenstände nach mechanischen Regeln in Bewegung gesetzt werden; durch welche Kraft? das ist uns verborgen. Die thierische lebendige Natur wird durch körperliche Reize, Triebe, Instinkte [251] in Bewegung gesetzt. Wie? das verstehen wir nur zum Theil. Unter diesen lebendigen Wesen aber ist das edelste, erhabenste, welches wir kennen, der Mensch, mit der Vernunft begabt, welche ihm die Gesetze vorschreibt, nach denen er handeln, das heißt: seine ihn zur Thätigkeit lenkenden Triebe richten soll, um zur allgemeinen Ordnung und Harmonie mitzuwürken. Höher hinauf kennen wir die Wesen nicht, welche das Ganze der unermeßlichen Schöpfung mit ausmachen, kennen ihren Würkungskreis nicht, wissen nicht, ob wir das, wovon sie regiert werden, nach menschlicher Weise, Vernunft nennen sollen, und können daher auch nichts von den Gesetzen sagen, nach denen sie handeln müssen. Uns ist die Vernunft als Leiterinn unsrer Triebe gegeben. Der stärkste unter allen Trieben und den jedes lebendige Wesen dringend empfindet, ist der, seine Existenz zu erhalten und sich angenehm [252] zu machen. Stände dieser allgemeine Trieb mit dem Hauptplane, mit der Beförderung der Harmonie des Ganzen, im Widerspruche; so wäre das ein Schöpfungswerk ohne Ordnung. Es lehrt uns aber unsre Vernunft die Mittel, durch welche unser Trieb, wahrhaftig glücklich zu seyn, sich nicht nur mit der Befriedigung desselben Triebes in Andern sehr wohl vereinigen läßt, sondern zeigt uns auch, daß das Eine ohne das Andre, und daß die Harmonie des Ganzen ohne Beydes gar nicht bestehn kann. Die Regeln unsers Verhaltens nun zur Direction dieses natürlichen und reinen Triebes, nennen wir moralische Vorschriften, deren besondre Bestimmung von den verschiedenen Verhältnissen, in welchen wir leben, abhängig ist. Behaupten zu wollen, daß alle diese einzelnen Vorschriften für einzelne Fälle, zugleich auf alle Verhältnisse passen, daß sie auch da ewige Wahrheiten seyn sollen, wo [253] diese Verhältnisse gar nicht existiren, ja! daß sie auch solchen Wesen zu Gesetzen dienen müssen, deren Würkungskreis wir gar nicht kennen – das ist es, was mir als kindisch und von eingeschränkten Begriffen zeugend vorgekommen ist und was ich also genannt habe.
»Nach §. 11. soll es ausgemacht seyn, daß moralisch gut handeln seine Glückseligkeit befördern heisse. Diese Deduction ist mir noch nicht vorgekommen.«
Wie? lese ich recht? der Satz: daß man durch Ausübung der Moral seine Wohlfahrt befördre, und daß folglich moralische Vollkommenheit den höchsten Grad von Glückseligkeit gewähre – dieser Satz ist meinem Herrn Gegner noch nicht vorgekommen? Wahrlich! wenn der Satz falsch ist; so dürfen wir es dem Menschen, dessen ganzes Wesen nach Glückseligkeit strebt, wohl nicht übelnehmen, wenn die Tugend, [254] die ihn elend macht, wenig Reiz für ihn hat, und die reine Vernunft, welche ihm dazu die Gesetze vorschreibt, ist kein beneidenswerthes Geschenk.
»Vielleicht aber sollen die angeführten drey oder vier Triebfedern unsrer moralisch guten Handlungen dies erst erweisen.«
Ich habe, um zu zeigen, wie man seine Handlungen auf den Zweck tugendhaft und glücklich zu seyn, hinleiten könne, zuerst bemerklich machen wollen, welche Bewegungsgründe überhaupt uns zum Handeln, zur Würksamkeit, antreiben. Hierinn finde ich in der That nichts, was so ganz wie leeres Geschwätz zu behandeln wäre.
»Diese Triebfedern sind: 1) Das Gefühl, das uns unwillkührlich zu gewissen Handlungen hinführt. Allem gewisse Handlungen sind noch nicht moralisch gute.«
Und wer behauptet denn das? Es ist hier nur theils überhaupt von dem Thätigkeitstriebe [255] die Rede, ohne welchen wir gar nicht handeln würden, theils von Gefühlen des Wohlwollens und der Theilnahme, die auch moralisch gute Handlungen erzeugen können; allein gleich nachher ist ja deutlich gesagt, daß diese Triebe und Gefühle, wenn sie Werth haben sollen, erst von der Vernunft geleitet und berichtigt werden müssen.
»2) Die Vernunft, die dies Gefühl auf bestimmte Zwecke leitet und seinen Verhältnissen (was denn?) anpaßt. Sind die Zwecke nicht an sich gut und recht; so hilft es nicht, daß sie bestimmt genannt werden; und läge in den Verhältnissen irgend ein Unrecht; so dürfte man sich denselben nicht anpassen.« (sich anpassen? das habe ich ja nicht gesagt, sondern seinen Trieb zur Thätigkeit auf die Verhältnisse passend anwenden.) »Eine Vernunft, die nichts anders als dieses beydes versteht, führt [256] noch nicht zu moralisch guten Handlungen.«
Wie die reife Vernunft hierbey verfahren müsse, habe ich oben gezeigt.
»3) Die Uebereinkunft oder Convenienz. Da es offenbar ist, daß Menschen oft zu Lastern sich vereinbaren; so ist die Verabredung, die sie unter einander treffen, nicht für sich eine Triebfeder moralisch guter Handlungen.«
Wer sieht nicht, daß meine Absicht ist, hier bemerklich zu machen, daß es auch Bewegungsgründe zu Handlungen gebe, die bloß auf der Uebereinkunft der Menschen beruhen, und die dann nur deswegen zu moralischen Gesetzen werden, weil dadurch die bürgerliche Ordnung befördert wird. Ein Mann, der diese Gesetze deswegen überträte, weil seine reine, auf keine Verhältnisse achtende Vernunft, ihm dieselben nicht vorschriebe, würde ein schlechter Bürger [257] seyn, und zu einem moralisch guten Menschen gehört, so viel ich es einsehe, auch, daß er ein guter Bürger sey.
»4) Der Wille der Gottheit wird es nur dann, wenn das Vernunftgeboth für den Willen Gottes erklärt und kein willkührliches, unerforschliches Gesetz dafür ausgegeben wird.«
Es ist hier von der Verschiedenheit solcher sittlichen Vorschriften die Rede, die bloß auf Religions- Meinungen, auf Glauben an Offenbarungen beruhen, der nicht bey allen Völkern derselbe ist. Meine Ueberzeugung davon ist nicht die Ueberzeugung eines Andern. Ein Jude, zum Beyspiel, den ich für einen moralisch guten Menschen halten soll, muß sein Cäremonial-Gesetz beobachten, dessen Vorschriften mich nichts angehn.
»Das Geständniß, daß die drey ersten Triebfedern (denn auf die letztere wird hier [258] nicht viel gerechnet) uns einzeln oft misleiten und nur vereint richtig führen, zeigt doch gewiß ihre Untauglichkeit an; denn bey Gründen sieht man nicht auf die Menge, sondern auf ihre Richtigkeit, und was einzeln zur Moralität unbrauchbar ist (unbrauchbar?) kann es nicht durch die Vereinigung mit einem andern eben so fehlerhaften (fehlerhaften?) werden.«
Nach dieser Logik ist jedes einzelne Bein zum Stehen unnütz, weil man zweyer Beine bedarf, um fest zu stehn.
»Wo bleibt aber dann der Ruhm, daß man Gründe der Sittlichkeit aufstellen wolle, die viel einfacher und bündiger sind, als unsre Achtung für das moralische Gesetz? Alle andre Gründe taugen ja nichts. Dies wird hier selbst zugegeben?«
Wenn man behauptet, daß die natürlichen Gefühle, die uns zu guten Handlungen bewegen, durch die Vernunft ihre Berichtigung [259] erhalten, durch die bürgerlichen Einrichtungen modificirt, und durch die Religion sanctionirt werden, heißt das behaupten, daß Gefühle des Wohlwollens, daß Vernunft, Convenienzen und Religion nichts werth seyen?
»Was mag das für eine Vernunft seyn, die uns egoistisch und unmoralisch handeln lehrt? Die praktische, die uns Achtung gegen das Gesetz gebiethet und uns also vor dem Egoism, der Frucht unsrer auf Glückseligkeit losarbeitenden Triebe, allein schützt, kann sich doch solche Schande und Laster nicht nachsagen lassen. Welche Vernunft befiehlt uns zu calculiren? Gewiß auch nicht die praktische, die, ohne irgend einen Calcul vorzunehmen, das Gesetz in aller seiner Reinigkeit aufstellt.«
Die Vernunft, welche gar nicht calculirt, gar nicht berechnet, und bey Bestimmung ihrer Gesetze den Antrieb zum Handeln [260] gegen den zu erreichenden Zweck mit Hinsicht auf die anzuwendenden Mittel und auf die Umstände, nicht abwiegt – ist keine Vernunft. Sie würde aber in unzähligen Fällen unentschlossen bleiben, wenn nicht der weise Schöpfer zugleich in die Natur des Menschen den Trieb zur Thätigkeit und das Gefühl des Wohlwollens gelegt hätte, wodurch manche Handlung zum Besten des Ganzen zur Ausführung kömmt, die zwar der Vernunft nicht widersprechen darf, wenn sie moralisch gut seyn soll, aber doch nicht bestimmt von ihr vorgeschrieben wird.
»Wird hingegen alles Vernünfteln mit Recht als ungeschickt angesehn, eine gute Gesinnung in uns hervorzubringen; so ist doch billig zu fragen, ob es nicht auf gleiche Art Vernünfteley sey, wenn man dem Moralgesetze seine Festigkeit und Gewißheit darum absprechen will, weil Menschen verschieden denken und das Gesetz nicht auf [261] jedes Verhältniß anpassen. Das Gesetz redet vom Sollen und wer es wegklügeln will, spricht von dem, was geschieht. Ich halte es doch lieber mit dem Gehorsam, als mit dem Raisonniren.«
Eine Vernunft, die nicht raisonnirt, ist ein Unding. Die Vorschriften, die sie giebt, können nur Resultate ihres Raisonnements seyn. Sie weiß von keinen Gesetzen, als von solchen, die auf richtiges Raisonnement beruhen und verlangt keinenGehorsam, als gegen Gesetze von dieser Art.
»Wozu der §. 12. hier dienen soll, sehe ich nicht ein. Das Christenthum beweiset nicht, daß man, um moralisch gut zu handeln, seine eigne Glückseligkeit suchen müsse,« (wohl aber umgekehrt, daß man, um glücklich zu werden, moralisch gut handeln müsse und das ist per inversionem logicam einerley, da eines die Bedingung des andern [262] ausmacht,) »sondern empfiehlt das allgemeine Gesetz als uns nahe, in unserm Herzen und in unserm Munde. Wollte Christus von der Religion zur Moral übergehn; so mußte er Liebe zu Gott zum höchsten Gebote machen, und ihm war dies hinlänglich, wenn er diese Liebe in die Verehrung Gottes mit unserm Geiste, oder in Nachahmung des höchsten Wesens und in Befolgung seiner Gebote sezte. Für ihn ist Menschenliebe eben so verbindlich, als Gottesliebe, und der Maaßstab für unser moralisch gutes Verhalten gegen Andre ist die Selbstliebe, nicht daß die Sorge für uns empfohlen werden könnte und sollte, sondern daß wir immer fragen sollen, ob wir so viel für Andre, als für uns selbst thun.«
Empfohlen braucht wohl ein Gefühl nicht zu werden, das der Schöpfer aller Creatur als das erste und dringendste in die [263] Natur gelegt hat; es aber zum Maaßstabe unsrer moralischen Pflichten gegen Andre machen, das heißt doch wohl nicht, es aus der Zahl der Bewegungsgründe zu sittlichen Handlungen wegweisen.
»Wird §. 13. die Selbstliebe als natürlich und dringend vorgestellt; (einfach kann ein so zusammengesetzter Trieb nicht heissen) so kann und muß sie doch einem höhern Gesetze unterworfen seyn, ohne es sich anzumaßen, daß sie die Regeln unsers Verhaltens uns vorschreiben dürfe. Dies und nicht das Gegentheil findet eine gesunde, reine Vernunft angemessen. Wenn hernach von der Glückseligkeit behauptet wird, daß sie erst durch die genaueste Beobachtung aller moralischen Pflichten erlangt wird; so wird dadurch die Selbstliebe von der Hervorbringung der Glückseligkeit ausgeschlossen, es wäre denn, daß Selbstliebe einerley mit der genauesten Beobachtung aller [264] seiner Pflichten seyn könnte. Macht aber Selbstliebe an sich schon glücklich; was braucht es dann der Vernunft, um erst an ihrer Hand nach guten Bewegungsgründen zu handeln, und die Ordnung und Harmonie des Ganzen zu befördern? Ich kann hier nichts als Dunkelheiten, wo nicht Widersprüche, entdecken.«
Ich gestehe, daß ich vielmehr in diesen Einwürfen Dunkelheit finde. Einfach ist nun wohl gewiß der Trieb der Selbstliebe, der uns bewegt, für die Fortdauer und Annehmlichkeit unsers Daseyns zu sorgen. Er ist vielleicht der einfachste von allen Trieben, da er sich schon in dem Kinde offenbart, das zum erstenmal die Brust der Mutter sucht und sich gegen den Zwang der Windeln sträubt. Einem höhern Gesetze ist die Selbstliebe unterworfen, nämlich dem Gesetze der Vernunft, die uns lehrt, in wie fern sich die Selbstliebe mit dem Eifer für das Wohl des [265] Ganzen in Harmonie bringen läßt. Selbstliebe treibt uns an, unsre eigne Glückseligkeit zu befördern; dies kann am sichersten und dauerhaftesten durch Ausübung dermoralischen Pflichten geschehn. Die Vernunft giebt, nach den Umständen, die Vorschriften dazu – So hängt alles sehr ordentlich zusammen.
»Im §. 14. wird der Schade, den die Selbstliebe anrichtet, eingeräumt, und, als Mittel zur Verhütung desselben, Schonung, Nachgiebigkeit und Aufopferung angegeben. Die Befolgung selbstsüchtiger Neigungen wird also bloß durch Anwendung des allgemeinen Gesetzes der Schonung etc. abgewandt – die beste Ehrenrettung, welche das Moralgesetz erhalten kann!«
Ich fürchte, einige Worte zur Erläuterung werden einen Theil dieses Triumphs wegnehmen. Wohlgeordnete Selbstliebe [266] richtet nie Schaden an. Sie sucht wahre, dauerhafte Glückseligkeit, die nie ohne Erfüllung der Pflichten gegen Andre, ohne Schonung und Aufopferung, erlangt werden kann. Dies ist deutlich und bestimmt im angeführten §. 14. gesagt.
»Nach §. 15. soll die Sorgfalt oder Sorge für unser Leben u.s.f. in Collisionsfälen allen andern vorgehn.«
Daß dies geschehn solle, ist gar nicht gesagt. Es steht nur da, daß, wenn wir immer bloß die calculirende Vernunft zu Rathe zögen, wir in den mehresten Fällen das uns näher liegende eigne Interesse dem zu bewürkenden entferntern Wohl des Ganzen vorziehnwürden.
»Nein! dafür ehre ich Juvenals Worte:
[267] Abermals eine Stelle aus einem Dichter – Doch, es sey! Diese Stelle enthält eine große Wahrheit. Sie sagt: es sey schändlich, über die Sorgfalt für das Leben, den Zweck des Lebens aus den Augen zu setzen. (Und dieser ist kein andrer als der: zum Wohl des Ganzen mitzuwürken) Sehr wahr! das Leben selbst ist nichts werth, wenn es thatenlos und unnütz verträumt wird.
»Der Mann schätzte die Bildung des Herzens zur Tugend und den Beruf zur Pflicht, so wie es sich gebührte« – Gewiß!
»Für Scherz sehe ich die Sorge für die Wohlfarth der Mondbürger an und für die Harmonie der Sphären. Die gesunde Vernunft läßt uns nicht so überschwenglich denken, und bindet uns für's Erste an die Erde, wo wir Pflichten genug ausüben können.«
[268] Deswegen ist es denn auch sehr vernünftig, die Nothwendigkeit der Bewegungsgründe zur Pflicht-Erfüllung aus den irdischen Verhältnissen selbst und aus der Natur des sinnlichen Menschen herzuleiten. Nicht viel weiser als die Sorgfalt für die Harmonie der Sphären, scheint mir indessen die Anstrengung einiger neuern Philosophen, die der ganzen Welt eine andre Richtung zu geben hoffen, indeß sie oft ihr eignes Hauswesen nicht zu regieren verstehen; die alle engere Bande, welche uns an unser eignes Wohl, an Familie und Vaterland fesseln, für klein und verächtlich erklären, immer nur für das Ganze würken wollen, und nicht bedenken, daß das Universum nur darum Interesse für uns hat, weil wir durch diese engeren Bande daran gefesselt sind. Auch lehrt uns die Erfahrung (besonders bey Revolutionen) daß diejenigen sehr schlechte Cosmopoliten zu seyn pflegen, die[269] weder Weib, noch Kind, noch Obdach haben, und daß die sich wenig um die Ordnung bekümmern, die bey der Unordnung nichts verliehren können.
»Eben so wenig kann ich den vier folgenden Schlüssen beypflichten:«
»Erster Schluß: wenn nach dem nähern oder entferntern Einflusse ein Gegenstand uns mehr oder weniger interessirt; so wird in gleichen Verhältnissen unsre Vernunft dadurch mehr oder weniger zu moralischen Handlungen bestimmt. Allein das Interesse an irgend einer Sache wird durch unsre Empfindungen und die dadurch hervorgebrachten Triebe bewirkt, ist aber nicht ein Werk der practischen Vernunft, die nur das Recht gebeut und die moralische Handlung darnach bestimmt. Es kann daher die größere und geschwindere Thätigkeit unserer Vernunft sich nicht nach dem stärkern oder schwächern Eindrucke [270] richten, den die äußern Dinge auf unsre Sinne machen, sondern sie läßt sich bloß durch Einsicht in das, was wahr und recht ist, bewegen.«
Ihr, die Ihr das menschliche Herz kennt, saget, ob sich natürliche Empfindungen wegphilosophiren lassen und ob die Vernunft ein Mehreres vermag, als diese Empfindungen zu guten, nützlichen Zwecken zu lenken!
»Zweiter Schluß: Je einleuchtender die Folgen, der Zweck und die Nützlichkeit einer Handlung, desto dringender die Bewegungsgründe der Vernunft, sie zu unternehmen. Dies alles vermehrt bloß den Trieb oder die Neigung, etwas zu thun, oder zu unterlassen. Die Vernunft richtet sich hingegen nur nach Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit in allen ihren Forderungen oder Verbothen.«
[271] Ich habe es erklärt, welche Begriffe ich mit den Wörtern: Vernunft, Pflicht, recht, nützlich und Zweck verbinde und dadurch diesen Einwurf beantwortet.
»Dritter Schluß: Eine Handlung ist desto verdienstlicher, je nützlicher sie in ihren Folgen für das Ganze ist. Zum Theil wahr; aber doch nicht ganz« (also wird es hier doch endlich eingeräumt, daß die Hinsicht auf die Folgen nicht gänzlich zu vernachlässigen sey) »weil wir beym Verdienstlichen nicht bloß auf das Gemeinnüzige, sondern auch auf die Reinigkeit der Triebfeder, auf die Entfernung des eignen Vortheils bey unsrer Bestimmung zu der That achten.«
Ich erkenne keine Triebfeder für vernünftig, ächt und rein, als die: Gutes zu thun, um so viel möglich der menschlichen Gesellschaft, deren Mitglied ich bin, nützlich zu werden.
[272] »Vierter Schluß: Eine Handlung, wobey gar keine Folge, gar kein Nutzen vorauszusehn ist, hat gar keinen moralischen Werth. Gern kann man zugeben, daß kein vernünftiges Wesen ohne Ursache und Absicht handelt. Aber der moralische Werth der That beruht doch allein auf der Lauterkeit und Vortreflichkeit des dabey gebrauchten Princips.«
Sollte es nicht ein Widerspruch seyn, zu behaupten, daß ein vernünftiges Wesen nie ohne Absicht handle, doch aber durch ein Princip bestimmt werden müsse, wobey es auf keine Absicht, sondern bloß auf das Princip selbst Rücksicht nehmen dürfe? In der Absicht muß, denke ich, das Princip liegen.
»Nach §. 16. sind es bloß unsre Gefühle, die uns unwillkührlich zum Wohlwollen gegen andre Wesen treiben und die edlen, großen und nützlichen Handlungen hervorbringen, [273] an deren Bewürkung die Vernunft keinen Antheil hat. Hierinn finde ich beinahe einen wüthenden Haß« (????) »gegen die Vernunft, die uns doch nicht Leides, sondern lauter Gutes thut. Dafür aber kenne ich auch keine egoistische, unmoralisch handelnde und calculirende Vernunft, sondern bloß die practische, die höchste Gotteskraft in uns, das edelste und erhabenste Vermögen, das uns immerdar das Gesetz in seiner Heiligkeit und Vollkommenheit vorhält. Gern schätze ich die menschlichen Gefühle und die Triebe des Wohlwollens, die uns aber doch als Gefühle und Triebe nur blindlings leiten und daher nothwendig irreführen müssen, wenn sie uns dem practischen Gesetze entziehn wollen. Ich werde den Trieb nie rühmen, wenn er uns zu solchen Handlungen treibt, wovon wir unsrer Vernunft keine Rechenschaft geben können. Diese Handlungen [274] müssen entweder gesetzwidrig oder nicht aus Pflicht entsprungen seyn, ohne das würden wir gern das Vernunftgesetz damit vergleichen.«
»Den so hochgepriesenen Gefühlen geschieht meiner Meinung nach Recht, wenn hernach den, durch sie verrichteten Handlungen (moralisch kann ich sie nicht nennen) die Beförderung der eignen Glückseligkeit zum versteckten Motive gegeben wird. Das heißt, diese Gefühle und Triebe sind an sich blind, und lassen sich daher desto leichter durch Klügeley und falsche Vorspieglung täuschen. Sie möchten so gerne gemeinnützig scheinen, aber im Grunde sind sie das, was die Würkung der Selbstliebe seyn muß, eigennützig und selbstsüchtig.«
»Wenn nun ferner Aufopferung des eigenen Nutzens und Vergnügens bloß für Enthusiasmus erklärt wird, der nie (????) [275] von einer nüchternen, reinen Vernunft hergeleitet werden kann« (Wo steht das geschrieben? es ist ja nur von einzelnen Fällen die Rede.) »und dessen Thaten in die Reihe moralischer Handlungen nicht gesetzt werden dürfen; so glaube ich hier eine Satyre auf die zu lesen, welche das einzige Moralprincip nebst den großen und herrlichen Thaten und Lehren der Griechen und Römer, so wie auch das Leben und den Unterricht des Heilandes« (????) »angreifen wollen, und dabey ganz übersehen, daß Tugend nicht ohne Aufopferung des eigenen Nutzens und Vergnügens gedacht werden kann.«
»Ich übergehe das, was von religiösen Bewegungsgründen gesagt ist, weil davon schon vorher und hernach in der Folge mehreres vorkömmt.«
Es sey mir erlaubt, zu bemerken, daß ich in diesen Einwürfen wohl ein wenig [276] mehr lebhafte Declamation, als ruhige Aufstellung von Gründen finde. Was von diesen darinn liegt, wird sich, denke ich, kurz beantworten lassen. Es ist die Eigenschaft der Vernunft, zu raisonniren und zu rathen, nicht zu handeln. Zur Würksamkeit werden wir durch Triebe und Neigungen geführt. Daß diese von der Vernunft regiert und auf den rechten Weg geleitet werden müssen, das ist ja meinen eignen Grundsätzen und Aeusserungen gemäß, und kann mir daher nicht entgegengestellt werden. Zugleich habe ich nicht nur gezeigt, daß Aufopferungen Pflicht sind, sondern auch, daß wir, ohne sie, uns keine dauerhafte Glückseligkeit zusichern können. Daß aber manche sehr edle, große Handlungen (nirgends habe ich dies von allen behauptet) und Aufopferungen bloß unsern guten Trieben und Neigungen beyzumessen und nicht aus dem Gesetze, das die Vernunft vorschreibt, herzuleiten sind, das [277] läßt sich wohl behaupten, ohne dadurch einen wüthenden Haß gegen die Vernunft zu verrathen. Ich sehe ein flüchtiges Pferd, im Begriffe mit seinem Reuter in einen Abgrund zu stürzen. Ich selbst stehe an diesem Abgrunde, und es ist höchst wahrscheinlich, daß, wenn ich es versuchen will, das flüchtige Roß mitten im Laufe aufzuhalten, es mich zugleich mit hinabziehn wird. Allein der Trieb einer theilnehmenden Menschenliebe setzt mich in den Enthusiasmus, das unmöglich Scheinende zu wagen und die drohende Gefahr zu vergessen. Ich greife zu, und glücklicherweise gelingt es mir, das Pferd beym Zügel aufzuhalten. Nun habe ich eine edle That vollbracht; ich habe einem Menschen das Leben gerettet; aber meine Vernunft würde mich zu einer so kühnen, verwegenen Handlung nie bestimmen. Ob die reine, practische Vernunft der neuern Philosophen ein unbedingtes Gesetz anerkenne, [278] das uns gebiethet, ein Leben, von dessen Verwendung wir Gott und der Welt Rechenschaft schuldig sind, auf ein so ungleiches, unsichres Spiel zu setzen, das muß ich unentschieden lassen. Indessen sind sehr viel große Thaten der griechischen und römischen Helden von dieser Art gewesen. Allein wie könnte wohl die Lehre des Heylandes hierher gehören? Für die heiligsten practischen, von der reinsten Vernunft anerkannten Wahrheiten, zu leben und zu sterben; das ist nicht das Werk eines Enthusiasmus, den Neigungen und Triebe erzeugen.
»Im §. 17. wird die überlegende Vernunft beschuldigt, daß sie uns bewegt, das entferntere Wohl des Ganzen dem nähern Privat-Vortheile aufzuopfern, besonders wenn man die That unbemerkt und ungestraft vollbringen könnte. Die Spitzbübinn, die Vernunft! die falsche Lehrerinn, Räthinn, Gesetzgeberinn! Wer mag mit [279] der listigen Feindinn unsrer Tugend etwas zu schaffen haben? Kann sie nichts anders, als zu Gunst unsrer Neigungen und zur Befriedigung unsrer Selbstliebe vernünfteln; so mag der raffinirende Bösewicht sich unter ihre Fahne begeben. Er ist glücklich, eine Anführerinn nach Wunsch zu erhalten.«
Wer sich die Mühe geben will, den §. 17. noch einmal aufmerksam zu lesen, wird nicht verlangen, daß ich hier noch etwas zur Erläuterung beyfüge.
»So ungerecht die Anklage der Vernunft war, so unzulänglich scheint mir die Ablehnung derselben. Zuerst soll ein einziger Theil keinen Vortheil haben können, wenn das Ganze darunter leidet. Wäre hier vom Sollen und Dürfen die Rede; so verstünde ich dies; aber widersprechend finde ich es nicht, daß Einer von dem Raube der durch ihn zu Grunde gerichteten lebe.«
[280] Von einzelnen Vortheilen ist nicht die Rede. Bisher haben alle Moralisten geglaubt, daß man ohne Tugend nicht dauerhaft glücklich seyn könne. Daß man durch Verbrechen sich vorübergehenden Genuß zu verschaffen vermöge, daran zweifelt niemand.
»Zweytens soll die Dankbarkeit ihn zur Wahrnehmung des gemeinen Vortheils bewegen. Allein wenn er nichts von Pflicht überhaupt weiß, und aus Achtung gegen dieselbe zu handeln sich nicht entschließen kann; so läßt sich die Erkenntlichkeit gegen empfangene Wohlthaten, eben so gut wie Tugend und Pflicht, wegvernünfteln.«
Was mir Tugend und Pflicht ist, das läßt sich nicht wegvernünfteln, denn es beruht nicht auf einem willkührlich angenommenen Gesetze, das nicht Jeder anerkennt, nicht auf Vorstellungen und Empfindungen, die nicht bey allen Menschen dieselben sind und die man verleugnen kann, sondern auf [281] unleugbarer Darstellung der erweislichen, auf die Glückseligkeit der Individuen zurückwürkenden Folgen, jeder guten und schlechten Handlung.
»Nach §. 18. werden wir Trotz unserer Vernunft unmoralisch handeln, wenn wir für Dankbarkeit, Furcht vor bürgerlichen Strafen und für religiöse Gefühle keinen Sinn haben. Was heißt hier: Trotz der Vernunft? Will es sagen, ihre Macht reiche nicht zu, wenn die angeführten Triebe und Gefühle es nicht ausrichten; so erbarme sich der Himmel unsrer Tugend! Denn von den Empfindungen und Neigungen ist es hinlänglich erwiesen, daß sie zum öftern unmoralische Handlungen hervorbringen. Der Mensch darf also nie hoffen, sich zu bessern, richtige Grundsätze bey sich aufzunehmen und nie gut zu werden, sich bestreben.«
[282] Welch' eine Art zu schliessen! Der verständliche Sinn meiner Worte ist der: Wenn die, von dem liebreichen Schöpfer zu wohlthätigen Zwecken in unsre Natur gelegten Triebe von der Vernunft gehörig geleitet werden; so bewürken sie die edelsten moralischen Handlungen; allein und ohne diese Hülfe hingegen, führen sie leicht auf Irrwege, und es gelingt ihnen oft auch, selbst die Vernunft zu verblenden, wenn Furcht vor bürgerlicher Strafe und religiöse Gefühle nicht noch hinzukommen. Dies beweiset die Nothwendigkeit, keinen von den Bewegungsgründen, die zum Guten führen können, zu vernachlässigen, nicht mit philosophischem Stolze allein auf unsre Vernunft zu pochen, die nicht selten selbst eines sinnlichen Antriebes bedarf, um zur Würksamkeit gebracht zu wer den, noch mit Sicherheit auf die Zulänglichkeit unsrer Temperaments-Tugenden zu rechnen. Zugleich beweiset es [283] die Unvollkommenheit unsrer Ausbildung in dieser Welt – ein Satz, worüber bis jetzt alle Theologen und Moralisten einig gewesen sind.
»Eine Kleinigkeit dagegen ist es zwar, wenn Nothwehr, eine erlaubte Sache, mit den strafbaren Verbrechen der Nothlüge und des Diebstahls aus drückendem Hunger in Eine Classe gesetzt wird; aber ich mag sie doch nicht unbemerkt lassen.«
Nothwehr, (Nothmord) Nothlüge und Nothdiebstahl, sind Abweichungen von moralischen Gesetzen, zu welchen uns die Sorgfalt für uns selbst und für Personen, die uns werth sind, verleiten kann. In wie fern die eine oder die andre dieser Abweichungen sträflicher oder verzeihlicher seyn kann, das hängt von den Umständen ab und läßt sich nicht sogleich durch einen allgemeinen Machtspruch abthun.
[284] »Im §. 19. wird der Vorzug der von der Nützlichkeit hergenommenen Motive vor dem reinen Moralprincip durch folgende Sätze angegeben:«
»1) Menschen, die das reine Moralprincip annehmen, können eben so unvollkommen und unmoralisch handeln, als die, welche der Glückseligkeitslehre folgen. Die Erstern handeln also oft inconsequent und bleiben ihren Grundsätzen nicht immer treu, wie das leider! häufig der Fall im gemeinen Leben ist. Die aber, welche bloß der Nützlichkeit Gehör geben, handeln consequent, wenn sie unsittliche Handlungen begehen; (???) weil für sie Tugend und Pflicht bloße Namen, (???) wenigstens nicht auf die Achtung für's Gesetz gegründet sind.«
Ey! unsittliche Handlungen können nie wahrhaftig nützliche Handlungen seyn und wer Tugend und Pflicht für die einzigen [285] Mittel ansieht, um seine und andrer Menschen Glückseligkeit zu befördern, dem sind Tugend und Pflicht gewiß keine leere Ramen, sondern auf ein sehr bestimmtes Gesetz gegründet.
»2) Die Aechtheit der reinen moralischen Begriffe wird uns von demjenigen gradezu abgestritten werden, dessen sich weder Gewissenhaftigkeit, noch Achtung für die bürgerlichen Gesetze, noch religiöse Empfindungen bemeistern. Dies ist sehr recht geurtheilt, weil das reine Moralprincip mit dem Gewissen des Menschen steht und fällt. Auch wird der Verächter aller bürgerlichen Ordnung, ehe es mit ihm dahin kam, alle Achtung für das Vernunftgesetz aufgegeben haben. Und in Ansehung der religiösen Empfindungen denke ich mit Lichtwehr:
Der scheuet keine Götter, der keines Menschen schont.«
[286] »3) Man hat kein Mittel, einen solchen Skeptiker zu überzeugen. Nun! wenn das Moralprincip so lange Gültigkeit hat, als Menschen noch Gewissen und Religion besitzen; so hat es mit demselben wahrlich keine Noth.«
»Ob ein solcher Zweifler weniger Einwendungen gegen die Glückseligkeitsmotive machen werde, rührt mich nicht. Auch freue ich mich nicht über seinen Triumpf, wenn er sie alle wie Seifenblasen wegscheucht, denn wer die ersten Gründe der Sittlichkeit leugnet, muß das Recht haben, uns alles abzustreiten.«
»Zuletzt wird das System, das Achtung für die Pflicht empfiehlt« (Als wenn mein System, oder vielmehr das System so vieler klügerer und besserer Menschen, als ich bin, in allen Jahrhunderten, keine Achtung für Pflichten empföhle!) »ein speculatives Grundgebäude genannt, und von [287] demselben die alte Klage wiederholt, daß es von der Verschiedenheit der Vorstellungen eines Jeden abhängt und daher veränderlich ist. Von dem Letztern ist vorhin gesagt. Aber speculativ, wo nicht gar ein leeres Luftgebäude, kann ich das Gesetz nicht nennen hören, welches aus dem guten Herzen« (man möchte hier eine bestimmtere Erklärung des Wortes Herz vermissen; Neigungen und Triebe dürfen doch wohl hier nicht verstanden werden, da alles aus der reinen Vernunft geschöpft werden soll.) »des Menschen hergenommen ist und so lange sein Bestehn hat, als Vernunft, Gewissen und Freyheit uns einen Vorzug vor dem Thiere gewähren.«
Ich wollte mich hier wohl kurz fassen, wenn ich könnte, denn ich eile zum Schlusse und mir scheinen diese Einwürfe nicht schwer zu beantworten. Wenn ich ein festes, allgemeines Grundgesetz der Moral aufzustellen [288] mich rühmen will; so denke ich, dies Gesetz muß von der Art seyn, daß es nicht nur auf meiner besondern Ueberzeugung und meinen innern Empfindungen beruhe, die nicht immer die richtigsten sind, sondern daß ich auch im Stande sey, mein System jedem Zweifler durch solche Gründe zu beweisen, die er nur dann ableugnen kann, wenn er geradezu aller Vernunft Hohn biethet, mit welchem Menschen wohl überhaupt nichts anzufangen ist. Kann ich mein System noch außerdem an das Interesse eines Jeden knüpfen, und Bewegungsgründe aus seiner Natur selbst entlehnen; so ist es gewiß überzeugend, kräftig und gut. Nun kömmt es darauf an, ob das hochgepriesene Moral-System der neuern Philosophen von der Art sey. Ich will nichts von dem Wunder sagen, das es erst vollbringen müßte, von dem Wunder, die Menschen zu überzeugen, daß dasjenige in der Welt einen Jeden am wenigsten angienge, [289] was ihn selbst beträfe; es ist nur die Frage, wie man die Unumstößlichkeit dieses Systems beweisen soll? Die Herrn sagen: dies ist unwandelbar recht, dies unrecht; man fragt: warum? woher wißt Ihr das? Darauf haben sie nur zweyerley Antwort; entweder: es muß darum so seyn, weil wir moralische Wesen sind; oder: mein Gewissen, meine innere Ueberzeugung lehrt mich diese Wahrheiten. Im ersten Falle ist der Cirkel sehr sichtbar; man beweiset nämlich die Nothwendigkeit dessen, wodurch wir moralische Wesen werden, daraus, daß wir moralische Wesen sind. Im andern Falle fällt die Gültigkeit des Beweises weg, sobald der Gegner erklärt, daß seine Ueberzeugung, (die ihm eben so viel geltend scheint) nicht die Ueberzeugung des Systemaufstellers sey. Dies nun tritt bey meinem Systeme nicht ein. Niemand soll da etwas anders glauben und annehmen, als die unleugbare, [290] leicht zu beweisende Wahrheit, daß nur die strengste Beobachtung der moralischen, geselligen Pflichten, modificirt nach den verschiednen menschlichen Verhältnissen, Ordnung und Harmonie in der Welt zu erhalten vermag, von welchen doch die sichre, dauerhafte Glückseligkeit jedes Individuums abhängt. Und so muß es dann Jedem klar werden, daß er allein in der Moral das finden kann, was, von der Wiege an, der Weise wie der Thor, der Enthaltsame wie der Wollüstling, der Demüthige wie der Hochmüthige, der Faule wie der Thätige, gesucht und, wenn er es nicht gefunden, nur seinen bisherigen Mangel an Einsicht in sein wahres Interesse anzuklagen hat. Es wird da nichts willkührlich angenommen. Hier ist die Vernunft keine despotische Gesetzgeberinn, die, ohne Gründe anzugeben, immer vom Sollen und Müssen redet, sondern eine wohlthätige Freundinn [291] die mich zu meiner eignen Glückseligkeit leitet.
»Was §. 20. von dem theoretischen Nutzen des Moralprincips gesagt wird, gewährt ihm, meiner Empfindung nach, einen herrlichen Vorzug; denn was ist schöner und brauchbarer, als ein sichrer Probierstein für alle unsre Handlungen und Bestrebungen? Wird es öfters dazu gebraucht; so wird sich auch sein praktischer Nutzen, trotz alles Leichtsinns, aller Schwachheit, Unlauterkeit und Verkehrtheit der Menschen, immer mehr offenbaren.«
Ich glaubte aber bewiesen zu haben, daß dieser Probierstein der unsicherste von allen, daß er gar kein Probierstein ist. Man lese den §. 20. selbst!
»Nach §. 21. soll es leicht zu beweisen seyn, daß die ausschließliche Befolgung allgemeiner Gesetze im praktischen Leben [292] unendlichen Schaden stiften würde. Schaden soll das stiften, daß man gut zu seyn sich bestrebte?« (Ja! wenn man keinen richtigen Begriff von dem, was würklich gut ist, hat.) »Unendlichen Schaden, daß man rechtschaffen und gemeinnützig lebt,« (Welch' ein Widerspruch! Gemeinnützig soll man leben und doch nicht an den zu stiftenden Nutzen denken?) »und nur aus Achtung für seine Pflicht zu handeln sich bemüht?« (ohne bestimmt angeben zu können, warum man etwas für Pflicht hält.) »Wer hat das je gedacht? Aus wessen Sterblichen Munde ist das je ausgegangen? Und das soll noch dazu leicht zu beweisen seyn? Man höre!« (Hier ist künstlich alles so gestellt, daß es scheinen muß, als hätte ich noch gar nichts bewiesen und als sollte das, was ich nur noch beyläufig anführe, den vollständigen Beweis enthalten, da doch die ganze Abhandlung diesen Zweck erfüllt.)
[293] »1) Was würde aus der würklichen Welt werden, wenn wir bey unsern Handlungen nie den Umständen nachgeben, jene nicht diesen anpassen wollten? Es ist wahr, die Pflicht hat eine Festigkeit, Unbiegsamkeit und Beharrlichkeit, daß die Achtung fürs Gesetz ihr für keinen Preis zu verkaufen ist. Aber diese ihre größte Ehre sollte ihr doch nicht zur Schande zugerechnet werden.« (Diese hochgepriesene Eigenschaften sollen wohl weg, wenn der Grund des Gesetzes worauf die Pflicht beruht, nicht bestimmt angegeben werden kann.) »Sie will ja dabey die Ordnung der Dinge nicht umkehren, die äußern Umstände nicht verändern, sondern nur in der Lage, worinn sie sich befindet, sich unverlezt erhalten,« (ohne auf diese Lage Rücksicht zu nehmen.) »Wenn sie nun fest an den Grundsätzen hält,« (sie mögen zu der Ordnung der Dinge passen, oder nicht,) »die [294] sie für sich hat, und Keinem mit stürmender Gewalt aufdringt; so wird, wie ich denke, die Welt dadurch nicht unter gehn.«
Das verstehe ich nicht. Man soll die Ordnung der Dinge, die Umstände und seine Lage nicht umschaffen wollen und dennoch bey seinen Handlungen auf alle diese Dinge keine Rücksicht nehmen? Das heißt: immer auf der Ebne gehn, da, wo nichts als Berge sind, und dennoch diese Berge weder wegräumen, noch Andre dazu zwingen wollen.
»2) Es soll Tugend und Laster, Weisheit und Thorheit, nicht zu aller Zeit und unter allen Völkern für das, was sie sind, erkannt und oft mit einander verwechselt seyn. Es war von dem unendlichen Schaden die Rede, den das reine Moralprincip anrichtet. Folglich müßte der Schade darein zu setzen seyn, wenn die falschen Vorstellungen, welche die Menschen von [295] Tugend und Laster, von Weisheit und Thorheit, bisher oft gehegt haben, nun durch Aufstellung fester und unleugbarer« (???) »moralischer Grundsätze völlig für Zeit und Ewigkeit vernichtet und zerstöhrt werden.« (O du glückliches achtzehntes Jahrhundert, in welchem dies Wunder verrichtet werden soll!) »Heißt das ein Schade, ein unendlicher Schade; so mag man Gott bitten, daß er ihn bald anrichte, auf der ganzen Erde ausbreite und ihn nie vergehn lasse.«
Nein! man mag Gott bitten, daß er uns bey nüchterner Vernunft erhalte und vor unduldsamem Systemgeiste und dem Egoismus bewahre, der aller Men schen Vorstellungsarten nach dem Maßstabe seiner Eingebungen abmessen will! Er lasse uns immer die Ueberzeugung behalten, daß nichts gut ist, als das Nützliche, und nichts nützlich, als das Gute, und daß bey Beyden [296] auf Zeit und Umstände Rücksicht genommen werden muß! Dann wird sich's auch schon zeigen, daß gewisse Dinge unter allen Umständen gut bleiben, und daß alle Welt sie dafür erkennen muß, weil sie unter allen Umständen nützlich sind.
»3) Der Klugheit wäre es gemäß, und, um eine größere Summe des Guten zu bewürken, des tugendhaften Mannes würdig, gewisse Vorurtheile zu schonen, gewisse kleine Uebel zu dulden, denen man mit aller Kraft widerstehn müßte, wenn man nur nach allgemeinen Grundsätzen handeln dürfte. Die Beobachtung der Pflicht macht also unverträglich.« (Nein! die Beobachtung dessen, was würklich Pflicht ist, macht gewiß nicht unverträglich.) »Und ich muß gestehn, daß man, wenn es sich also mit der Pflicht verhielte, von einem unendlichen Schaden, den das Handeln nach allgemeinen Grundsätzen anrichtet, [297] reden könnte. Allein es ist ja das Gesetz der Liebe, der Schonung und Duldung,« (???) »wofür die Pflicht Achtung bezeugt. Wie kann sie uns denn unverträglich machen? Es sind nicht kleine Uebel, die sie zu ertragen befiehlt, sondern auch große. Sie verlangt von uns, alle unsre Kräfte anzustrengen, unsre Güter und alles, was uns angenehm seyn kann, ja das Leben selbst aufzuopfern, wenn wir den mit uns Verbundenen in Krankheiten beystehn, sie aus einer Gefahr herausreißen und ihnen in der Noth Hülfe leisten können. Welche größere Summe des Guten soll bewürkt werden, die nicht die Pflicht« (als wenn ich keine Pflichten anerkennte!) »bewürkte? Oder wer will es sich anmaßen, Gutes zu stiften, wenn er die Pflicht nicht zu Rathe gezogen, oder aus Pflicht gehandelt hätte? Sonderbar wäre es, demjenigen das Gute abzuleugnen, der [298] es allein thun kann, und es dem beyzumessen, der nicht einen einzigen Funken von guten Gesinnungen« (????) »jemals gezeigt hat. Ich meine den Klugen, der die Pflicht nicht anerkennt« (???) »und blos aus Eigennutz« (??) »und Gewinnsucht« (??) »handelt. Kann der nicht eine einzige gute That verrichten; so wird er es sich noch weniger herausnehmen, eine größere Summe des Guten, als der Pflichtliebende, zu stiften. Wer ist der tugendhafte Mann ohne Pflicht?«
Da diese Apostrophe vermuthlich gegen einen Bösewicht gerichtet ist, der aller Pflicht Hohn spricht, und dem Eigennutze und der Gewinnsucht das Wort redet; so braucht derjenige nicht darauf zu antworten, der die strengste Pflicht-Erfüllung als das einzige Mittel, um glücklich zu seyn und Andre glücklich zu machen, empfiehlt, die Nothwendigkeit der Pflichterfüllung aber aus [299] Grundsätzen herleitet, die selbst jener Bösewicht nicht umwerfen kann.
»Die Tugend, die das allgemeine Gesetz nicht anerkennt, ist doch wohl nur eine elende Grimasse« (Geist der Liebe, der Schonung und Duldung! bitte für uns und alle die, welche, so lange die Welt steht, Moral gelehrt und das Glückseligkeitssystem zum Grunde gelegt haben, bevor der Morgenstern der neuern Philosophie aufgieng!) »Und doch soll sie geschickter als die, das Moralgesetz verehrende Pflicht seyn, nicht nur kleine Uebel zu tragen,« (kleine und große Uebel trägt gewiß derjenige geduldiger, welcher überzeugt ist, daß sie zur Harmonie des Ganzen gehören, als der, welcher keinen andern Grund kennt, als die Machtsprüche: Du sollst; Du mußt.) »sondern auch gewisse Vorurtheile zu schonen, denen man mit aller Kraft widerstehn müßte, wenn man nur nach allgemein gültigen [300] Gesetzen handeln müßte. Das werden wohl allgemein schädliche Vorurtheile seyn, Meinungen die das Sittenverderbniß überall verbreiten, z.B. Wollust ist kein Verbrechen« (???) »und dergleichen schöne Lehren mehr. Soll man denn sich darüber nicht, wenn es gefordert wird, mit Freymüthigkeit erklären?«
Kaum kann ich mich entschließen, nur einmal hierauf zu antworten. Man giebt sich hier die unnütze Mühe, einen Mann zu widerlegen, der keine Pflicht, kein Gesetz anerkennt und dem folglich alle Laster erlaubt scheinen, wenn sie ihm einen angenehmen Genuß, oder Befriedigung seines Eigennutzes verschaffen. Was geht uns dieser an? Ich traue es der Einsicht und dem Herzen meines Herrn Gegners zu, daß er nicht die Absicht haben kann, einen solchen Taugenichts mit dem warmen Tugendfreunde zu verwechseln, der seine Pflichten und seine [301] Gesetze zwar nicht aus derselben Quelle, wie einige neuere Philosophen herleitet, dem aber deswegen Tugend und Wahrheit nicht weniger heilig sind. Was soll also diese Stelle hier? Doch nicht etwa den Gesichtspunkt verrücken? Das würde nicht das günstigste Vorurtheil für ein System erwecken, wenn man, Statt es mit Gründen zu unterstützen, zu solchen Mitteln seine Zuflucht nehmen müßte.
»Der tugendhafte Mann, der kein Gesetz anerkennt,« (contradictio in adiecto) »wird vielleicht auch da, wo es Noth thut, seine Meinung zurückhalten, oder gar den, mit solchen Vorurtheilen Behafteten beypflichten, und ihnen seinen Beyfall zu erkennen geben.« (Nein! das wird nur ein Schurke thun, nicht aber der, welcher Tugend für das einzige Mittel zur Glückseligkeit hält.) »Allein was der Pflichtvergessene« (der so eben, doch vermuthlich nur aus [302] Spott, ein tugendhafter Mann genannt wurde) »thut, kann doch nicht Regel für den seyn, der Achtung für das Gesetz hat.« (und gehört also gar nicht hieher.) »Ihm liegt alles daran, daß er sich bessere, und daß er seine Gesinnungen mit dem Gesetze übereinstimmig mache. So freymüthig er sich auch über allgemeine Verpflichtung zu dem, was recht ist, erklärt; so kennt er doch keine Gewalt, womit er Andern widersteht.« (Hier wird nun auf einmal ein Gegenstand behandelt, von dem gar nicht die Rede war, nämlich die Freymüthigkeit und die Duldung fremder Meinungen.) »Lehren, überzeugen ist seine Sache, aber nicht ungebeten, nicht unberufen. Er weiß Schädliches und Unschädliches zu unterscheiden, kennt die Schwachheiten der Menschen und weiß sie zu ertragen; und wo es Pflicht für ihn ist, der Verkehrtheit Einhalt zu thun, sinnt er darauf, wie er [303] bessern könne, nicht wie er strafen und durch Gewalt Andre zurechtweisen möge. Wie kann denn der Bescheidene,« (??) »der Demüthige,« (??) »der Nachgebende, derjenige, der das ist, was die Pflicht aus ihm machen kann, in irgend einem Stücke schädlich seyn? Wer das ist, was er seyn soll, und das ist der Verehrer des moralischen Gesetzes,« (sind die, welche die Heiligkeit der Tugend aus andern Grundsätzen herleiten, etwa keine Verehrer des moralischen Gesetzes?) »ist der Brauchbarste unter allen Menschenkindern.«
Nur wenig Worte hierüber! Es ist in dem §. 21., wie Jeder einsehn kann, die Frage beantwortet, wie der redliche Mann, mitten in den Verkehrtheiten der menschlichen Einrichtungen und Gesinnungen, dennoch seine Handlungen so einrichten könne, daß das Gute, so viel möglich, befördert und [304] die Harmonie und Wohlfahrt des Ganzen erhalten werde. Dabey ist der Zweifel angebracht, ob der, welcher gar keine Rücksicht auf Verhältnisse und Umstände nehmen darf, diesen Zweck werde erreichen können. Statt diesen bescheidenen Zweifel zu heben, wird hier geradezu entschieden, daß nur der, welcher das neuere Moralprincip annimmt, ein tugendhafter und brauchbarer Mann seyn könne, diejenigen aber, welche von andern Grundsätzen ausgehen, Beförderer aller Laster und Bosheiten seyen – Darauf nun läßt sich nichts erwiedern. Was die Freymüthigkeit betrifft; so wird ein verständiger und redlicher Mann die Grade derselben, nach dem Nutzen abmessen, den er sich davon versprechen darf, und da zu schweigen wissen, wo sicher vorauszusehn ist, daß er nicht gehört, nicht verstanden werden, nichts ausrichten, vielleicht das Uebel ärger machen und die Leute von sich stoßen würde,[305] auf die er vielleicht noch manches andre Gute würken könnte.
»4) Wie würde es um den Krieg, wie um die Politik – zwey unvermeidliche menschliche Uebel – aussehn? Nun das, muß ich sagen, ist ein unverzeihlicher Unfug, den das Moralgesetz anzurichten sich erdreistet, wenn es die unvermeidlichen menschlichen Uebel vermeidlich zu machen sich erkühnt. Es ist ein unendlicher Schaden, wenn die drey-Groten-Männer nicht mehr bey Tausenden erschossen oder niedergesäbelt, und der ruhige Landmann nicht mehr gemishandelt und der Frucht seiner Arbeit beraubt werden; wenn die schönsten Städter und Dörfer nicht mehr in Dampf und Feuer aufgehn, nicht mehr Requisitionen und Plünderungen aller Art Statt finden sollen. Es ist ein unendlicher Schaden, wenn man keine Intriganten, keine Projektmacher, keine Cabalenschmiede, [306] keine Plusmacher, keine Aussauger des Bluts der Unterthanen mehr antrifft; und das alles durch das leidige Moralgesetz.«
Diese Deklamation würde an ihrem rechten Platze stehn, wenn das neuere Moralsystem alle diese Uebel zu heben im Stande wäre und ich dagegen behauptet hätte, daß dieser Unfug fortdauern müsse und es ein unendlicher Schaden sey, ihn abzuschaffen. Da dies nun beydes nicht der Fall ist; so scheint hier wohl manches unnöthig gesagt zu seyn.
»Ich gebe mich gefangen und rufe mit aus: jenes sogenannte reine Moralprincip ist durchaus für diese Erde nicht gemacht. Wenn wir den Zweck des Krieges und der Politik und den Grad des Nutzens vor Augen haben, den sie den Urhebern bey Beförderung ihrer Glückseligkeit« (???) »gewährt, welche zu suchen und zu finden [307] sie von dem Schöpfer auf die Welt gesetzt sind« (Ich hafte den Lesern dafür, daß mein Herr Gegner hier nicht vorsätzlich meine Gedanken und Ausdrücke hat verdrehn wollen) »und zu welchem die Mitwürkung der Soldaten und Hofleute zur Harmonie des Ganzen nothwendig mit erfordert wird; so handeln die Urheber unnützer Kriege und die Politiker gewiß nach den reinsten moralischen Grundsätzen, für welche die menschliche Natur empfänglich ist. Sie sorgen für ihr Glück an der Hand der sie leitenden Vernunft.«
Ich muß darüber lächeln, daß man grade mich zum Vertheidiger des Krieg-Unfugs und der Hofränke machen will, da ich seit funfzehn Jahren unaufhörlich eifrig gegen diese Verderbniß geredet und geschrieben habe. Was im §. 21. hierüber gesagt wird, ist kürzlich das: Krieg und Politik gehören nun einmal zu den Dingen, die man [308] nicht aus der Welt schaffen kann. Es ist also nöthig, daß man auch Vorschriften habe, nach welchen der moralisch gute Mann (der, er mag seine Sittenlehre aus meinen, oder andern Grundsätzen herleiten, wohl einsehn wird, daß Krieg und Ränke große Uebel sind) sich dabey betragen soll; in wie fern er, zum Beyspiel, auch gegen seine Grundsätze, verbunden ist, auf Befehl seines Regenten, die Waffen in einem Kriege zu führen, den er für ungerecht hält? Auf welche Weise er dann, in einem solchen Kriege, die Pflichten der Menschenliebe mit seinem Gehorsame vereinigen kann u.s.f. Mein Moralist wird hier nicht verlegen seyn; er wird eher sein Leben hingeben, als daß er, so wie einst Tilly und Melac, Befehlen folgen sollte, nach welchen er als Mordbrenner und Räuber, viel tausend Familien elend machen müßte; unter andern Umständen aber wird er es für Pflicht halten, Aufträge zu [309] übernehmen, die gänzlich mit seinen Grundsätzen streiten, wenn er einsieht, daß seine Weigerung das Uebel ärger machen, hingegen wenn das Geschäft in seine Hände kömmt, seine Menschenliebe dabey das größere Unglück hindern kann, das ein Andrer an seiner Stelle herbeyführen würde. Denn er nimmt stets auf die Lage der Sachen, auf den möglichst zu stiftenden Nutzen, Rücksicht. Ich möchte doch sehn, wie in solchen und ähnlichen Fällen, der Mann sich betragen würde, der nur nach allgemeinen Gesetzen handeln will – Doch, zum Glück hat noch kein Sterblicher je in dieser Welt darnach gehandelt, sondern nur darüber geschrieben, und es würde nicht schwer zu beweisen seyn, daß die neuern Herrn Philosophen selbst zwanzigmal im Tage von Umständen zu moralischen Handlungen bestimmt werden, wie denn dies Bekenntniß auch dem Erfinder ihrer Lehre[310] (man sehe eine von mir im §. 22. angeführte Stelle) entwischt ist.
»5) Alles Andre« (nämlich jede Handlung, die ohne Betracht auf die Umstände, ohne Hinsicht auf bestimmte Zwecke und Folgen, unternommen wird) »ist Ueberspannung.« (oder Unverstand) »Vorher hieß es Enthusiasmus, der nie von einer nüchternen Vernunft hergeleitet werden kann. Von wie vielen Menschen wird man noch hören, daß sie durch die Anerkennung des allgemeinen Gesetzes, durch rechtschaffene Erfüllung ihrer Pflicht (???) durch Demuth, Mäßigkeit, Keuschheit, verrückt geworden sind!« Nein! dadurch wird niemand verrückt, sondern vielmehr klüger und besser werden. Allein ich bin auch weit entfernt, zu glauben, daß durch das Moral-System der neuern Philosophen in der Vernunft der Menschen irgend eine Revolution bewürkt werden wird. Das hat nichts auf[311] sich! und dies System wird wohl um so weniger unsre jetzige Olympiade überleben, da geistlicher und weltlicher Despotismus und jede Gesetzgebung, die keinen andern Grund angiebt, als den: Du mußt, weil Du sollst, täglich verhaßter zu werden anfangen.
»Es ist ein würklich großes Glück für die Welt, daß man bisher so wenig Achtung für's Gesetz bewiesen hat und noch beweiset,« (O! Ihr unzähliche arme Tugendfreunde in allen Jahrhunderten!) »weil dadurch allein noch so Viele eine nüchterne Vernunft behalten haben. Doch es ist unmöglich Ernst mit dem Schaden, den wahre Tugend und Rechtschaffenheit« (???) »an richten soll, und noch weniger mit den Beweisen dieses Schadens, die alle nur dazu dienen, die Wahrheit, Schönheit, Nothwendigkeit und Brauchbarkeit des Moralgesetzes in ihr völliges Licht zu setzen. [312] Dazu ausgesucht sind diese Beweise vortreflich, und es konnten gewiß keine bessere ausfündig gemacht werden, dies deutlich darzustellen.«
Was ich gesagt habe (welches aber freylich ganz etwas anders ist, als was man mich hier sagen läßt,) war Ernst, wie ich denn überhaupt das Publicum, meine Freunde und mich selbst zu sehr ehre, um über solche Gegenstände in einem Tone von Persifflage zu reden.
»Kaum wage ich daher die Instanz von der Unmöglichkeit der reinen Liebe zu Gott und von dem darüber entstandenen Streite zu beleuchten. Rein ist die Liebe zu Gott, wenn sie aus keinem andern Grunde hergeleitet wird, als aus dem Verhältnisse zu Gott, als Vater, Wohlthäter, Regierer und Richter. Rein ist die Liebe zur Pflicht, wenn sie nur aus unsrer Verbindlichkeit zu ihr herfließt.«
[313] Man lese die Stelle in dem §. 21. aufmerksam; so wird man finden, daß, was über die Liebe zu Gott gesagt ist, nur beyläufig dasteht, um den Satz zu verstärken, daß selbst von unsern edelsten Trieben die Rücksicht auf unsre persönlichen Verhältnisse und Interesse nicht zu trennen sey.
»Daß das Gewissen die Belehrungen der Vernunft gebraucht, leidet wohl keinen Zweifel; aber Unterricht über Zweck und Nutzen scheint es nicht zu verlangen, da sein Amt nicht das eines Professors oder Gelehrten, sondern das eines Richters ist,« (das wäre mir ein schöner Richter, der bey Bestrafung einer Handlung keine Rücksicht darauf nähme, warum diese Handlung unternommen und welcher Schaden dadurch angerichtet worden wäre!) »dem nur das Gesetz, wonach er lossprechen oder verdammen soll, vorgelegt wird.« (Und dies buchstäbliche, allgemein passende Gesetz[314] findet sich dann bald in dem guten Herzen, bald in der reinen Vernunft, bald im Gewissen, bald in dem Begriffe der Moralität überhaupt, die doch dadurch erst bestimmt werden soll.)
»Die Folgerung, daß unsre Handlungen, wenn sie keine Folgen hätten, weder recht noch unrecht, sondern gleichgültig wären, ist nicht schulgerecht. Die Accidenzen einer Sache gehören nicht zu ihrem Wesen.«
Hier ist nicht von accidentellen glücklichen oder unglücklichen Folgen, sondern von den Würkungen die Rede, die unausbleiblich durch die Handlung hervorgebracht werden. Diese Würkungen sind ja der wesentliche Zweck der Handlung. Ist die Würkung, die eine Arzeney auf den Körper äussert, und wodurch sie, so viel ich weiß, allein zur Arzeney wird, etwa auch ein Accidenz, [315] das nicht zu ihrem Wesen gehört? Ist eine Wohlthat, wodurch niemandem etwas Gutes zufließt, auch eine Wohlthat? Ich denke, eben so wenig, wie der Regen, der nicht naß macht, Regen seyn würde. »Das Kleid, ist zum Beyspiel nicht der Mann,« (Ey, ey! ist denn das Kleid eine Folge des Mannes?) »wenn er sich auch ohne dasselbe nirgends sehn ließe. Sittenlehrer werden die Folgen nie ausser Acht lassen,« (Also wird doch dies einmal wieder eingeräumt) »da mit guten Gesinnungen und Handlungen beständig gute Folgen und mit bösen Gesinnungen und Handlungen schlimme Folgen verknüpft sind. Deswegen aber machen die Folgen nicht erst die Handlung recht oder unrecht. Denn diese Benennung erhält sie erst durch ihre Beziehung auf das Gesetz, oder den Grundsatz, durch den die Handlung hervorgebracht wurde.«
[316] Dies ist gar herrlich durch die alte Fabel von dem Bären widerlegt, der die gute Handlung begieng, seinen Wohlthäter mit der Tatze zu erschlagen, aus dem reinen Grundsatze, die Mücke zu tödten, die ihn im Schlafe stöhrte. Wenn gute Handlungen beständig gute Folgen haben; so sind die sichern Folgen der Handlung wesentlich, folglich keine Accidenzen, müssen daher bey Beurtheilung ihres Werths mit in Anschlag kommen, ja! die Absicht, der Grundsatz allein, ist practisch nichts werth, wenn vernünftiger Weise sich gar keine Würkung von seiner Befolgung versprechen läßt. Wir sind keine Maschinen, die den einförmigen Gesetzen eines innren Räderwerks gehorchen müssen, sondern darum ist uns die Vernunft gegeben, daß wir, bevor wir einen Vorsatz, der uns gut dünkt, ausführen, erst fragen sollen: Wohin [317] wird das führen? Ist das auch hier anwendbar, zu etwas nützlich?
»Die große Anzahl von Handlungen, worauf die reinen Begriffe von Recht und Unrecht nicht anwendbar sind, möchte ich doch kennen lernen. Moralische können sie nicht seyn, denn für die ist das Gesetz, wie dies der Name selbst anzeigt.«
Hierüber habe ich vielleicht schon zu viel gesagt, z.B. da, wo vom Kriege die Rede war.
»In dem §. 22. ist die Forderung der Vernunft richtig angegeben, daß der Mensch nach Bewegungsgründen handeln solle, die gar keinen Bezug auf den Erfolg haben.« (Wie reimt sich das zu der obigen Erklärung: daß der Sittenlehrer die Folgen nie ausser Acht lassen werde?) »Wir sollen bey unsern Handlungen das moralische Gesetz und zwar dieses allein immer mehr zur Anschauung vor uns [318] bringen.« (dann bedürften wir der Vernunft nicht sehr; Gedächtniß und Einbildungskraft möchten hinreichend seyn) »Schon Plato hat das gefordert und versichert, daß alsdann die Schönheit dieses Gesetzes eine solche Pracht zeigen werde, die mit nichts sonst zu vergleichen sey. Er sagt: (im Symposium; Zweybrücker Ausgabe B.X.S. 249, oder inSchillers Thalia, im 6ten Stücke, übersetzt) Hier, wo der Mensch zum Anblicke der ursprünglichen Schönheit (des Gesetzes?) selbst gelangt ist, wird sein Leben erst ein wahres Leben – – – Was muß es erst werden, wenn Einem das Glück widerfährt, die Urschönheit selbst ächt, rein, unvermischt, nicht verbunden mit körperlicher Masse oder Farben,« (Wie? Gesetz, verbunden mit Farben?) »oder andern vergänglichen Tand, sondern in ihrem göttlichen Glanze, in der ganzen [319] Reinheit ihrer Form zu erblicken! Glaubst Du nicht, daß ein solcher Anblick, wo der Mensch das, was er eigentlich soll« (Seine Bestimmung) »gleichsam von Angesicht zu Angesicht schauet, und sich innig mit ihm vereint, sein Leben beneidenswerth machen müsse? Glaubst Du nicht, daß ihm dann, wenn ihm dieser, einzig auf diese Art mögliche Anblick der Urschönheit zu Theil geworden ist, große Thaten erzeugen müßte, die nicht bloß Schattenbilder von Tugend sind, weil sie ihr Daseyn nicht einer Vereinigung mit einer Truggestalt zu danken haben, sondern wahre, würkliche Tugend, aus der Idee einer Realität entsprossen?«
Ich finde in dieser Stelle nichts, das gegen mich zeugen könnte. Hier ist keine Sylbe, die von einem diktatorischen Gesetze redete; Tugend, Weisheit, Wahrheit, Schönheit, Harmonie sind hier in platonischer [320] Manier gepriesen und uns bey größerer Veredlung nähere Aufschlüsse darüber verheissen.
»Wie traurig ist es dagegen bloß auf den Erfolg zu sehn! Euentus stultorum magister.« (Abermals eine Verwechselung von Ideen! Zufälliger Erfolg und sicher zu berechnende Folgen sind zwey sehr verschiedene Dinge.) »Wir brauchen weder solche Thoren zu seyn, die erst durch Schaden klug werden,« (Nein! dazu haben wir die Vernunft, die uns zum Voraus lehrt, was bey richtig angewendeten Mitteln erfolgen wird und muß) »noch so thöricht zu handeln, daß wir an Statt auf den Fürsten, der uns regiert, zu schauen, bloß um sein Gefolge« (Ein Wortspiel und nichts weiter) »uns bekümmern.«
»Nach §. 23. wird unser Gefühl von Recht und Unrecht bloß« (???) »für ein Werk unsrer Erziehung und Bildung [321] erklärt, deren Eindrücke uns zur andern Natur geworden sind, und die wir durch eine gewöhnliche Ideenverwechselung von dem allgemeinen Gesetze herleiten.«
Wo steht das? Es ist hier gar nicht von den allgemeinen Begriffen des Rechts und Unrechts, sondern von einigen besondern geselligen Pflichten die Rede, die wir, ohne eine Erziehung, die uns zu unsern Verhältnissen vorbereitet, im natürlichen Zustande, nicht kennen würden.
»Dies brauchte es noch zu guter Letzt, uns den moralischen Sinn, oder das Gewissen« (???) »abzusprechen. Wenn uns auch nicht die Empfindung von Recht und Unrecht gänzlich fehlt; so wird sie doch nicht durch das Vernunftgeboth erregt, entsteht nicht durch Anwendung des allgemeinen Gesetzes auf unser Thun und Lassen, sondern sie ist bloß Gedächtnißsache und eine Angewöhnung, die wohl eben so fehlerhaft [322] als gut und heilsam seyn könnte. Ob wir die Fertigkeit, unsre Handlungen zu beurtheilen, und die, nach Beschaffenheit des Rechts oder Unrechts, damit verbundene Freude oder Betrübniß nicht einer besondern Kraft der Seelen, die von dem Erinnerungsvermögen ganz unterschieden ist, beylegen müssen, läßt sich hier nicht ausführen. Es bleibt ohnehin das Gewissen ein Werk unsrer Empfindung, die wir zwar für uns selbst üben, aber niemandem in's Herz demonstriren können.« (Folglich, wenn wir demonstrable Grundsätze aufstellen wollen, uns nicht darauf beziehn dürfen.) »Nur das muß ich bemerken, daß das allgemeine Gesetz eine ausserordentliche Stärke und Festigkeit haben müsse, wenn es (auch nur zur Probe, oder als ein Wagestück, wie ich glaube, daß es in dieser Abhandlung geschehn ist,) nicht anders, als durch Leugnen des Gewissens« [323] (???) »der practischen Vernunft« (???) »der Freyheit« (Nun gar der Freyheit, die nirgends weniger Statt hat, als da, wo man allgemeine Gesetze annimmt, die keinen andern Grund angeben, als das despotische: Du sollst) »und mithin der Tugend und Pflicht angegriffen werden kann.«
Was ich nie behauptet habe und nur der verworfenste Mensch behaupten kann, glaube ich nicht, widerlegen zu müssen. Ueber die Unwandelbarkeit der Begriffe von Recht und Unrecht in abstracto und über das Gewissen habe ich mich in den Anmerkungen zu §. 8. und 21 erklärt.
»Ueber die Ideenverwechselung bey dem Begriffe der Schönheit und über das Willkührliche bey der Ordnung werden meine Anmerkungen völlig unnöthig seyn, da sie [324] über den Hauptinhalt der Abhandlung wider meinen Wunsch schon so weitläuftig gerathen sind.«
Nicht aber wider meinen Wunsch; denn ich habe meinem mir sehr werthen Freunde viel Verbindlichkeit dafür, daß er mir mit solcher Ausführlichkeit und ganz in der Manier unsrer Philosophen der neuern Schule, diejenigen Einwürfe entgegengestellt hat, die ich sonst weniger glimpflich, vielleicht von einem nicht so würdigen Gegner zu erwarten gehabt haben würde. Als ich die erste Haupt-Abtheilung schrieb, die nur als Einleitung dienen sollte, um den Unterschied unter erlaubter Selbstliebe und verwerflichem Eigennutze deutlich zu machen, übergieng ich manche nähere Bestimmung, indem ich voraussetzte, daß man mich nicht misdeuten würde. Nun ist auch, durch genauere Zergliederung meiner Gedanken, für [325] diesen Fall gesorgt. Man wird mir jetzt wenigstens nicht wohl vorwerfen können, daß ich es leichtsinnig unternommen, über einen Gegenstand zu schreiben, über den ich nicht nachgedacht, oder daß ich Behauptungen gewagt hätte, welche ich nur mit Geschwätze und Declamation zu unterstützen vermöchte.
Die Leser haben nun Gründe und Gegengründe vor sich, und mögen urtheilen; nur muß ich noch einige allgemeine Sätze zur Erläuterung hier anhängen, um deren Widerlegung ich vorzüglich diejenigen ersuche, welche sich die Mühe geben wollen, meine Behauptungen zu bestreiten:
1) Wo die Freyheit des Willens fehlt, da hat keine Moralität Statt. Zu Bestätigung dieses sehr einleuchtenden Satzes enthalte ich mich Rousseau als Gewährsmann [326] anzuführen, weil ich überhaupt nicht viel auf Autorität und Citiren halte.
2) Da nun, wo von unbedingtem Gehorsame die Rede ist, alle Freyheit des Willens wegfällt; so sind die Ausdrücke: Gehorsam, sollen, müssen usw. (worauf sich, wie auf Angeln, das Moral-System einiger neuern Philosophen dreht) in Rücksicht auf die sittlichen Vorschriften, die keineswegs Zwanggesetze sind, durchaus unpassend, unschicklich, sind Barbarismen – sind empörend, hochverrätherisch gegen die Majestät der freyen Menschheit.
3) Die Begriffe von Müssen und Sollen bezeichnen eine Nothwendigkeit, die, sie mag nun seyn, von welcher Art sie will, alle Bestimmung von gut und böse, von recht und unrecht ausschließt. Wer das thut, was er soll und muß; [327] der folgt nicht seiner Einsicht; seine Handlung kann ihm also nicht imputirt werden.
Da zum Beyspiele alle Menschen sterben müssen; so würde es unvernünftig seyn, zu sagen: ein Mensch habe gut oder recht gehandelt, indem er gestorben sey.
4) Beynahe eben so unpassend, wie die Begriffe von Sollen und Müssen in der Moral sind, ist auch der Ausdruck: moralisches Gesetz; doch läßt er sich, enger eingeschränkt und bestimmt, noch rechtfertigen. Genau genommen kann jede Gesetzgebung nur auf Uebereinkunft beruhn. Macht und Gewalt sind nicht hinreichend, das Recht des Gesetzgebers zu begründen. Die Vernunft maßt sich auch billig nichts weiter an, als nur Rathgeberinn, freundliche Leiterinn zu seyn, verspricht, verheißt, unter gewissen Bedingungen, aber gebiethet und [328] befiehlt nicht. »Thue das;« sagt sie »so wirst Du selig; so wirst Du glücklich seyn. Willst Du Ruhe und Freude haben; so darfst Du die Ruhe und Freude Deiner Mitgeschöpfe nicht stöhren.« Niemand aber wird gezwungen, sich glücklich zu machen. Gesetze und Zwang treten erst ein, wenn die Menschen durch Uebereinkunft bestimmen, daß es nöthig sey, vermöge dieser Mittel, diejenigen Einzelnen in Ordnung zu halten, welche durch die Regeln und Ermahnungen der Moral, deren freye Befolgung von der Willkühr abhängt, nicht zurückgehalten werden, die allgemeine Wohlfahrt zu hindern. Lasset uns indessen sehn, in wie fern man bey den reinen Vorschriften der Sittlichkeit, ohne Rücksicht auf die bürgerliche Verabredung, eine Uebereinkunft, diese Vorschriften als natürliche Gesetze gelten zu lassen, annehmen könne!
[329] 5) Wenn von Gesetzen geredet wird; so setzt das zwey Partheyen voraus; eine, welche gebiethet, die andre, welche gehorchen zu wollen eingewilligt hat. Zugleich Gesetzgeber und Gehorcher – das läßt sich nicht denken, denn die höchste Macht kann nicht mit sich selber eine Verpflichtung eingehn, folglich kann es für sie kein Grundgesetz, kein Gesetz, welches sie nicht übertreten dürfte, geben.
6) Zweyerley Kräfte sind in der menschlichen Natur würksam: die der Sinnlichkeit und die der Vernunft, die man daher als zwey Contrahenten betrachten kann. Eine von beyden muß dann die gesetzgebende, die andre die gehorchende Rolle spielen, wenn wir Sitten-Gesetze annehmen.
7) Die Sinnlichkeit hat oft Kraft genug, um über die Vernunft zu herrschen, [330] darf sich aber nie von ihr die Einwilligung zur Gesetzgebung versprechen, aus Gründen, die wohl keiner Ausführung bedürfen.
8) Die Vernunft hingegen hat alle Eigenschaften zur Gesetzgeberinn. Es fragt sich also nur, in wie fern sie die, zu jeder Gesetzgebung nöthige Einwilligung von der Sinnlichkeit erwarten könne?
9) Von der verderbten, ausschweifenden, zügellosen Sinnlichkeit vermag sie dieselbe nicht zu erlangen. Von dieser, die sich gegen alles Gute empört, kann also hier nicht die Rede seyn. Ich verstehe unter Sinnlichkeit überhaupt die physische Natur des Menschen, die Quelle aller seiner Thätigkeit und seiner edelsten Triebe. Diese macht einen Theil seines Wesens aus; ihre Forderungen sind keinesweges zu verachten, [331] zu unterdrücken, in so fern sie nur von der Vernunft geordnet werden. Wir müssen daher untersuchen, auf welche Weise diese physische Natur einwilligen könne, die Vorschriften und Rathschläge der Vernunft als Gesetze anzunehmen.
10) Niemand unterwirft sich dem Andern freywillig anders, als in der Absicht und unter der Bedingung, durch diese Unterwerfung einer größern Summe von Glückseligkeit theilhaftig zu werden. Es läßt sich daher gar nicht annehmen, daß die physische Natur des Menschen Verordnungen von der Vernunft annehmen sollte, wobey gar keine Rücksicht auf Beförderung der Glückseligkeit genommen wäre. Alle moralische Vorschriften, die als Gesetze gelten sollen, müssen also auf dieser Grundlage beruhn.
[332] 11) Diese Aufgabe aber ist keineswegs schwer zu lösen. Denn alle, von den weisesten Moralisten aller Zeitalter empfohlene moralische Regeln bewürken, wenn sie befolgt werden, die dauerhafteste Wohlfahrt, Glückseligkeit und Vollkommenheit des geistigen, physischen und geselligen Zustandes des Menschen. Es würde daher nicht vernünftig seyn, anzunehmen, daß die Beförderung der Glückseligkeit kein Zweck für sie seyn dürfte.
12) Jedes weise Gesetz muß ferner mit Rücksicht auf Lage und Umstände gegeben werden; also ist es eben so wenig vernünftig, zu behaupten, daß bey moralischen Vorschriften, wenn sie für Gesetze gelten sollen und wir nicht mit Worten spielen, auf Verhältnisse und Umstände keine Rücksicht [333] genommen werden müsse. Vielmehr kann die Vernunft auch nur solche Mittel empfehlen, von welchen sich, unter diesen Umständen, die Erlangung jenes Zwecks, nämlich die Beförderung der Glückseligkeit, als Folge, sicher erwarten läßt.
Es sey mir erlaubt, zum Uebergange in diese Materie, einige Resultate aus dem Vorigen zu ziehn!
Es ist ein tröstender, herzerhebender Gedanke, daß alles, was lebt und webt, vom liebreichen Urheber der Natur zum Glücklichwerden erschaffen, daß das Weltgebäude nicht etwa bloß ein Kunstwerk, zur Freude des Meisters und zur Verherrlichung seiner Allmacht, zusammengesetzt, sondern zugleich eine unermeßliche Anstalt zur Beglückung zahlloser Geschöpfe ist; daß hier Myriaden Wesen aller Art, vom Engel bis zur Made [337] herab, Genuß und Wonne schmecken, wenn sie der Ordnung der Natur folgen; hingegen, wenn sie sich von diesem Wege entfernen, dennoch nur unbedeutende Verwirrungen anrichten, nie aber die Harmonie des Ganzen zerstöhren können. Es ist herzerhebend, zu denken, daß wir also nicht weniger Zweck der Schöpfung sind, als es die Schöpfung für uns ist.
Je empfänglicher für die mannigfaltigen Freuden und je empfindlicher für Leiden ein Geschöpf ist, desto mehr Kraft liegt in seinem Wesen, um sich jene zu verschaffen und diese zu entfernen. Je größer der Drang der Bedürfnisse und Anforderungen in den verschieden organisirten erschaffenen Wesen sich äußert, desto geschickter fühlen sie sich, diese Bedürfnisse zu befriedigen, und für die nützlichste Verwendung ihrer Kräfte, zu ihrem eignen und des Ganzen Wohl, sind gerade die dringendsten [338] Triebe in ihre Natur gelegt; denn es gehört zu dem großen Plane des Allvaters, daß jedes einzelne Wesen, indem es für sich Genuß und Vergnügen sucht und sich verschafft, hierzu nicht anders sicher gelangen kann, als indem es für das Ganze mitwürkt. Darum sind auch die Triebe, die die Erhaltung des Lebens und die, welche die Fortpflanzung der Gattungen befördern sollen, die heftigsten von allen.
Weil nun die, mit höhern Kräften und mit Vernunft begabten Wesen, geschickter als die Uebrigen, zu der allgemeinen Ordnung beyzutragen, zugleich aber durch ihre größere Selbstständigkeit, mehr als die Andern, im Stande sind, sich eine abgesonderte, freye, von fremder Einwürkung unabhängige Existenz zu verschaffen; so offenbart sich, um diese Absonderung zu verhindern, in ihnen der Hang sich mitzutheilen, sich anzuschließen und auf andere Wesen [339] zu würken, vorzüglich stark, denn Gott hat nicht gewollt, daß wir die Bewegungsgründe zur nützlichen Würksamkeit aus kalten, abstrakten Theorien, sondern aus unsrer Natur und Be stimmung selbst, entlehnen sollten.
Es ist aber der Trieb zur Geselligkeit und gegenseitigen Dienstleistung allen lebendigen Wesen, selbst den Thieren, eingepflanzt. Allgemein bekannt ist es, mit welcher Sorgfalt die Eltern nicht nur ihre eigenen Jungen nähren, pflegen und vertheidigen, sondern wie sie auch die Wartung angenommener Zöglinge sich angelegen seyn lassen; mit welcher Sorgfalt die Henne junge Enten, die Grasmücke den jungen Kuckuck auferzieht; wie, in der Brutzeit, Männchen und Weibchen abwechselnd das Nest bewachen und warm halten, wie Jener, durch Lieder, der Gattinn, wenn sie auf den Eyern sitzt, die [340] Zeit verkürzt. Eben so bekannt sind die Beyspiele von Treue und Anhänglichkeit, welche die Hausthiere dem Menschen beweisen, von dem Unterschiede, den sie zwischen dem Hausherrn (wenn dieser ihnen auch nie Futter reicht) und den untergeordneten Personen zu machen verstehn. Weniger bekannt vielleicht und doch zum Beweise des allgemeinen Geselligkeitstriebes der Thiere dienend, ist aber die Beobachtung, die wir in Gmelins Reisen angezeigt finden. In Krasnojark nämlich giebt es eine große Menge Rallen; diesen wird es schwer, zu fliegen, und doch können sie den Winter in jenem kalten Erdstriche nicht ausdauern. Wenn daher die Störche im Herbste in die wärmern Climate ziehen, nimmt jeder Storch eine Ralle mit sich auf dem Rücken fort. Hier ist ein Beyspiel von geselliger Dienstleistung, so viel man weiß, ohne allen Eigennutz, und was erstaunlich ist – ohne [341] den kategorischen Imperativ der hyperpuren Vernunft. In einem, für Aerzte und Philosophen äußerst wichtigen, kürzlich durch den würdigen Herrn Hofrath, Doctor Brandis in Holzminden, übersetzten Werke, in Darwins Zoonomie, sind viel höchst sonderbare Beobachtungen von dieser Art gesammelt und der Verfasser geht sogar so weit, die, zur Erklärung solcher Thatsachen, bisher angenommenen Instinkte zu verwerfen und auch bey den Thieren Plan, Ueberlegung, Vorschriften, aus Erfahrung abstrahirt und durch eine Art von Ueberlieferung auf sie gekommen, anzunehmen.
Von allen Geschöpfen aber, das bleibt gewiß und unleugbar, ist keines so zur Geselligkeit, Theilnahme und Mittheilung gestimmt, wie der Mensch; aber er bedurfte auch dieses lebhaftern sinnlichen Triebes, um, da ihn das göttliche Geschenk der Vernunft in den Stand setzt, freyer und unabhängiger, [342] als andre Creaturen, zu leben, nicht in Egoismus zu fallen. Wenn ihn jedoch sein größerer Hang zur Geselligkeit und seine feinere Empfänglichkeit, Genuß und Freude aus allen Gegenständen zu schöpfen, in unzählige Verhältnisse verwickeln und ihm Gelegenheit geben, seine Würksamkeit auf so mannigfaltige Weise zu äußern; so dient ihm auch dieselbe Vernunft zur Leiterinn, um seine Handlungen zu ordnen, seiner Thätigkeit die gehörige Richtung zu geben, in zweifelhaften und Collisions-Fällen den richtigsten, den sichersten Weg zur dauerhaften Wohlfahrt sich vorzuzeichnen, ihn über die reine Glückseligkeit und den ächten Genuß aufzuklären und ihn zu lehren, selbst in den Aufopferungen vorübergehender Freuden, zum Vortheile seiner Mitgeschöpfe, einen höhern, sichrern, geistigern Genuß zu finden. Sie schreibt ihm zwar bestimmte Regeln dazu vor, die durch seine eigene Erfahrungen [343] bestätigt werden; aber nicht willkührliche Gesetze, sondern solche, deren herrliche Würkung und Zweckmäßigkeit er an sich selbst erproben kann, und wodurch er zu einer Macht über Leidenschaften und Sinnlichkeit, zu dem Gefühle einer innern Ruhe, einer Beharrlichkeit, eines Seelen-Friedens gelangt, den wir das gute Gewissen nennen. Alles aber zielt dahin, ihn glücklich zu machen und zu diesem Zwecke jeder geistigen und körperlichen Kraft in ihm die beste Richtung zu geben. Die Religion, welche die Vorschriften seiner Vernunft sanctionirt und sie zurechtweiset, empfiehlt ihm auch keine andre Motive. Sie giebt ihm keine despotische, willkührliche Befehle, sondern schreibt ihm nur das Gesetz der Liebe vor, das schon in sein Herz eingegraben ist. »Wer seinen Mitmenschen liebt,« sagt Jesus, »der hat das Gesetz erfüllt.« Und: »thue das; so wirst du glücklich; so wirst du selig werden.« [344] Der göttliche Stifter unsrer Religion, der ein besserer Menschenkenner war, als unsre neuern Philosophen, verlangte also nicht, daß der sinnliche Mensch Bewegungsgründe zu seinen Handlungen ausser sich suchen und sein eignes Ich, seine Personalität verleugnen sollte; Nein! Glück in dieser und jener Welt ist die Bedingung, die er dem anbietet, der seiner Lehre folgen will.
Der Mensch soll und muß also nichts; Er behält die Freyheit, sein wahres Heil zu verscherzen, und sich der höhern Wonne und Seligkeit zu berauben, wenn er keinen Sinn für sie hat. Die Opfer, die er seinen Brüdern und der gesammten Menschheit bringt, sind freywillige Opfer. Will er auf die reinen geistigen Freuden, auf die Ruhe im Innern, auf die Achtung guter Menschen und auf ihre gegenseitigen Dienstleistungen Verzicht thun; will er rastlos nach [345] eitler Lust streben, die weiter vor ihm flieht und seine Begierden immer mehr entflammt, je eifriger er ihr nachjagt; so bauet er sein eignes Elend und findet hier auf Erden keinen, Frieden. Dafür hat der Schöpfer aller Dinge gesorgt, daß die Verkehrtheit einzelner Geschöpfe die Ordnung des Ganzen nicht über den Haufen werfen kann; und damit auch die gesellschaftliche Zusammenlebung ruheliebender Menschen durch den Mangel an Moralität Einiger nicht gestöhrt werde, treten die Weisern und Bessern zusammen, um durch bürgerliche Gesetze sich gegen Ausfälle und Anmaßungen solcher Thoren zu wafnen. Seine innere Wohlfahrt zu befördern wird aber Jedem überlassen.
Das sind die Begriffe, die ich von moralischer Freyheit, von Sittlichkeit überhaupt und von Glückseligkeit habe, und von den Bewegungsgründen und Mitteln, diese Schätze zu erlangen. Wie klein, jämmerlich [346] und unglücklich erscheint mir dagegen nicht der moralische Mensch der neuern Philosophen! – Gleichsam der Leibeigene der Natur; verurtheilt, sclavisch unbedingten Gesetzen zu gehorchen, nicht solchen, die ihm seine überlegende Vernunft, nach Maßgabe der Umstände, vorschreibt, sondern Gesetzen, nach deren Gründen er nicht einmal fragen, die er befolgen soll, sie mögen zu den Umständen passen oder nicht, die bey unzählichen Fällen im Leben ihm keine bestimmte Vorschrift liefern; geschaffen, nur für fremde Rechnung zu arbeiten, seine Personalität, den ersten Zweck seines Daseyns, den frohen Lebensgenuß, zu vergessen, ohne Dank, ohne Verdienst, ohne Ersatz, ohne Trost! Versucht zu werden, jeden Augenblick auszurufen: wie kann ich dem Urheber meines Daseyns für mein Leben danken, wenn er mir dies Leben nur zum Frohndienste für Andre gegeben hat; wenn [347] ich mir nicht einmal den Gedanken erlauben darf, daß die Opfer, die ich ohne Aufhören bringen muß, freywillige Geschenke meines wohlwollenden Herzens sind; wenn die donnernde Stimme des Gesetzes ohne Unterlaß Du sollst! Du mußt! mir zuruft?
Die Dankbarkeit ist eine von den Tugenden, die, so viel ich es einsehe, gänzlich wegfallen würde, wenn dies despotische Gesetz die Quelle aller guten Handlungen wäre. Ich kann nur dem dankbar seyn, der, aus Liebe zu mir, aus Theilnahme an dem, was meine Glückseligkeit befördern kann, um meine Wünsche zu befriedigen, sich selber etwas entzieht, das er für sich behalten, zu seinem Vortheile anwenden könnte. Aber was für Verbindlichkeit bin ich dem schuldig, der etwas hergiebt, das ihm ohnehin nicht gehört, das er, dem strengen Gesetze nach, unbedingt Andern schuldig ist?
[348] Und so hätten uns dann die vorigen Betrachtungen auf den Gegenstand geleitet, der in dieser zweyten Haupt-Abtheilung beleuchtet werden soll.
Das Gefühl, das unser Herz zur Dankbarkeit stimmt, ist von der Hand des Schöpfers in unsre Natur gelegt und wird nur dann verleugnet, wenn andre heftige Leidenschaften, z.B. Eigennutz, Neid, falscher Ehrgeiz oder Eitelkeit, dasselbe ersticken. Wenn alle Geschöpfe des Erdbodens Genuß, Freude und Glück suchen; so ist nichts natürlicher, als daß sie sich hingezogen fühlen zu solchen Gegenständen, die ihnen Befriedigung ihres Glückseligkeits-Triebes verschaffen; und wenn dies bey leblosen Gegenständen der Fall ist; wie viel mehr Zuneigung werden sie zu thätigen, mit Willenskraft begabten Wesen empfinden, die absichtlich die Summe ihrer Freuden vermehren!
Dankbarkeit äußert sich sogar in unvernünftigen Geschöpfen. Wir bemerken nicht [350] nur bey den Hausthieren, die von uns Schutz, Nahrung und Pflege erhalten, eine treue Anhänglichkeit an ihre Beschützer; sondern man erzählt auch viel glaubwürdige Beyspiele von Löwen und Tygern, die, aus Dankbarkeit für die Errettung von drohender Gefahr, ihre natürliche Wildheit gegen den Wohlthäter abgelegt, diesen bewacht, vertheidigt und ihm unbedingten Gehorsam geleistet haben. Ja! manche dieser rohen Geschöpfe scheinen ein lebhafteres Gefühl für die Dankbarkeit zu empfinden, als der, von sich durchkreuzenden Leidenschaften in immerwährendem Strudel umhergetriebene, durch die mannigfaltigen Verhältnisse der bürgerlichen Zusammenlebung, mit unzähligen unnützen Bedürfnissen bekanntgewordene, von unersättlichen Wünschen und nie zu befriedigenden Forderungen irregeleitete Mensch. Dieser findet nämlich, wenn ihn unedlere Begierden blenden, selbst in der Vernunft,[351] die seinen natürlichen Trieben als Leiterinn zugesellt ist, Mittel, das bessere Gefühl der Erkenntlichkeit, zum Vortheile eines übel berechneten Eigennutzes, wegzuvernünfteln.
Es hat aber leider! auch Philosophen gegeben, welche die Heiligkeit der Dankbarkeitspflicht zu leugnen gewagt haben. »Wenn,« sagten diese, »Jeder, der Gerechtigkeit und Redlichkelt gegen mich übt, nicht mehr als seine Bestimmung erfüllt, wenn das Gegentheil Verbrechen seyn würde; welchen Dank bin ich ihm dann dafür schuldig?« Bedenkt man aber, wie leicht es dem bösen Willen oft wird, sich um jene Gerechtigkeit und Redlichkeit wegzuschleichen und, ohne sie geradezu zu übertreten, einen Vorwand zu finden, um thätige Hülfe, Beystand und Dienstleistung dem zu versagen, der dessen bedarf; so muß jeder gutgeartete [352] Mensch die Verbindlichkeit anerkennen, die er demjenigen schuldig ist, der, aus treuem guten Herzen und wahrer Theilnahme, ihm die Beschwerlichkeiten des Lebens auf irgend eine Weise tragen hilft.
Die Dankbarkeit ist ein Gefühl, welches das Herz veredelt und bessert, wohlthätig für den, der empfängt, wie für den, welcher giebt. Man empfindet eine reine Wonne, bey dem Anblicke eines Geschöpfs, das durch uns froh und glücklich ist; man vergißt eigne Leiden über das Bewußtseyn, die Wohlfahrt Andrer befördert zu haben. Ein edler Stolz, der sich auf unsre Kraft und auf die Wichtigkeit und Nützlichkeit ihrer Anwendung gründet, entschädigt uns für Mühe, Anstrengung und Verdruß. Wir lieben unser eignes Werk, fühlen uns hingezogen zu einem Wesen, das uns seine bessere [353] Existenz verdankt und zu Allen, denen wir noch ähnliche Wohlthaten erzeigen können. Der aber, welcher uns sein Glück verdankt, gewinnt auch dadurch die Welt lieb, in der es ihm wohlgeht, in welcher es so dienstfertige Menschen giebt. Er wird geneigt, auch Andern Gutes zu erweisen, nachdem er es empfunden hat, wie angenehm es ist, sich nicht vergebens nach fremder Hülfe zu sehnen. Der Undankbare hingegen, der keinen Sinn für das Gute hat, das Gott und Menschen ihm erweisen, wird feindselig, misgünstig und hart. Ihn ärgert die Freude, die Andre empfinden, weil keine Heiterkeit in sein Herz kömmt; er glaubt niemand nichts schuldig zu seyn, weil niemand seine unendlichen Forderungen befriedigt.
Der Wohlthäter bauet zuweilen das Glück seiner Nachkommenschaft, durch die [354] Liebes-Dienste, die er geleistet hat. Oft noch erndten seine Kinder die Früchte des Danks ein, der ihm gebührt. Die Geschichte liefert uns davon zahlreiche Beyspiele, wie denn überhaupt der Segen keiner guten That verlohren geht.
Die weisesten Männer aller Zeitalter haben die Dankbarkeit als die heiligste Pflicht empfohlen und kluge Gesetzgeber haben geschärfte Strafe auf die Verbrechen gelegt, die gegen Wohlthäter begangen würden.
Und dennoch, bey so vielfachen innern und äußern Bewegungsgründen, welche uns die Heiligkeit dieser Pflicht empfehlen, hört man über kein Laster so allgemein klagen, als über den Undank. Zwar sind diese Klagen auch je zuweilen eben so übertrieben, [355] wie die Forderungen derer, die auf Dank Anspruch machen und die oft auf unbedeutende Wohlthaten, an welchen mehr die Eitelkeit, oder irgend eine andre Leidenschaft, als wahre Menschenliebe Antheil hat, einen so hohen, drückenden Preis setzen. Zwar wird die Betrachtung, daß man für edle Handlungen nicht immer die verdiente Erkenntlichkeit einerndtet, den wahrhaftig großmüthigen Mann nicht abhalten, Andern Gutes zu thun; aber doch bleibt es traurig und niederschlagend, daß die Menschen, in ihrer Verblendung, auch diese natürliche Tugend verleugnen, und daß nicht selten die treueste, uneigennützigste Aufopferung und Hingebung mit dem schwärzesten Undanke, ja! mit Feindschaft und Verfolgung belohnt werden. Indessen lasset uns zu unsrer Beruhigung nicht vergessen, daß diese, so wie alle andre moralische Unvollkommenheiten, nicht in einer angebohrnen Verderbtheit der[356] menschlichen Natur, sondern in Schwäche, in unrichtiger Beurtheilung des eignen wahren Vortheils ihren Grund hat.
Bey einer großen Anzahl von Menschen ist ein übelgeordneter Freyheits-Sinn die Quelle des Undanks. Man hält sich für gedrückt durch die Last der Verbindlichkeit, glaubt sclavisch abhängig von dem Wohlthäter zu werden, wenn man es sich selber gesteht, wie viel man ihm schuldig ist und fühlt sich doch zu schwach, wird durch den Drang der Umstände abgehalten, auf fremde Hülfe Verzicht zu thun; und so empfängt man dann, vernünftelt aber die Pflicht weg, welche Erkenntlichkeit gebiethet. Ein falscher Stolz, der sich gegen den Gedanken, eine untergeordnete Rolle zu spielen, empört, überschreyet die innere Stimme des Gewissens. Man zürnt mit dem Schicksale, das [357] Andre so hoch gestellt hat, daß sie das Vergnügen, Wohlthaten auszuspenden, sich verschaffen können, indeß man dazu verurtheilt scheint, immer nur zu empfangen, zu suchen, zu bitten. Mit neidischen Augen betrachtet man nun den, dessen Beystand man hat annehmen müssen; man sucht Fehler an ihm auf, um seinen Werth und sein Verdienst um uns herabzusetzen, und nicht selten artet dies in bittern Haß und Feindschaft aus. Ich habe einen Mann gekannt, der sehr dienstfertig, allein durch die mannigfaltigen Erfahrungen von dem Undanke der Men schen so mistrauisch geworden war, daß er, so oft er jemanden eine Wohlthat erwiesen hatte, zu sagen pflegte: »heute habe ich mir abermals einen Feind mehr erworben.«
Diene neun und neunzigmal einem Menschen und schlage ihm die hundertste [358] Bitte ab; so wird er alles empfangene Gute vergessen und über Deine Hartherzigkeit klagen; denn die Forderungen der Menschen wachsen mit ihrer Befriedigung, und was man dem Ungefälligen für eine große That anrechnet, das treibt man von dem Dienstfertigen wie eine Schuld ein. Diejenigen erregen am mehrsten Aufsehn in der Welt, die ihre Tugenden nur wie Sonntags-Kleider selten zur Schau tragen.
Menschen, die selbst nichts für sich sind, suchen Dich auf, hängen sich an Dich, huldigen Dir, um durch Dich in bessere Verhältnisse zu kommen. Du erhebst sie, bringst sie in die Mode, überwindest das Vorurtheil, das gegen sie stritt und vielleicht Dir selber Schaden that; sie bleiben Dir so lange treu und anhänglich, als sie Deiner bedürfen, ziehen sich aber nach und nach zurück, suchen [359] sich eine eigne Existenz, vielleicht auf Deine Kosten, zu schaffen, wenn sie dazu Kraft haben, oder rennen einem andern Beschützer nach, wenn Dein Ansehn sinkt, und verwandeln sich am Ende wohl gar, wenn sie hoch genug über Dich zu stehn glauben, aus deinem Clienten, in deine Hofmeister, Lehrer und Rathgeber – Das alles muß man in dieser Welt erwarten, um, wenn es geschieht, nicht darüber zu zürnen, sondern zu lächeln.
Wenn diese und ähnliche Erfahrungen und Ueberlegungen vom Wohlthun abhalten dürften; so würde kein verständiger Mann ferner einen Schritt für Andre thun; allein zum Glücke für die Menschheit giebt es bessere Bewegungsgründe seinen Mitgeschöpfen Gutes zu erweisen, als das kleine, niedrige, eigennützige Verlangen, Dank einzuerndten. [360] Die sichern mannichfaltig nützlichen Folgen, die jede edle That auf das Ganze auch dann hat, wenn diese Folgen nicht sogleich sichtbar, wenn sie selbst von dem, den sie unmittelbar treffen, verkannt werden; die Freude, die in dem Bewußtseyn einer zweckmäßigen Thätigkeit, zum Wohl der Menschheit, liegt; die kleine, zwar nicht lobenswerthe, aber doch auch nicht sträfliche Eitelkeit, die in dem Gedanken, daß wir Andern etwas sind, daß sie Unsrer bedürfen, Nahrung findet; und endlich das angebohrne Gefühl des Wohlwollens und der Theilnahme – das alles wird, so lange die Welt steht, dazu mitwürken, daß es nie an Menschen fehle, die ihren Brüdern hülfreich die Hand reichen. Ja! es liegt eine unnennbare Wonne für ein edles, stolzes Herz in der Ueberzeugung, grade dann am bereitwilligsten zum Guten zu seyn, wenn man sicher voraussehn kann, daß man nie [361] weder Dank, noch Lohn, einzuerndten haben wird, folglich unsre Absicht ganz rein von Eigennutz ist.
Dennoch aber ist auch keineswegs der Wunsch, sich dankbare Menschen durch Wohlthaten zu verbinden, tadelnswerth, am wenigsten dann, wenn man zwischen diesen und schlechtdenkenden, unerkenntlichen Leuten zu wählen hat, und seine Freygebigkeit und Dienstfertigkeit nicht auf Alle ausbreiten kann, sondern, nach der Eingeschränktheit seiner Kräfte, ihnen Grenzen setzen muß. Warum sollten wir, wenn unser Herz warm für Andre schlägt, nicht auch wünschen dürfen, daß sie Regungen von eben so zärtlicher Art für uns empfinden? Und warum sollten wir nicht gern diese Stimmung in ihnen, durch freundschaftlichen Beystand zu erwecken suchen? Man tadelt oft verständige [362] Männer, die sich dem, was man gute Gesellschaft nennt, entziehen und ihr Leben im vertraulichen Umgange mit Personen ohne Cultur, Erziehung und Talente hinbringen; Reiche, die, Statt sich mit Frauenzimmern ihres Standes zu verbinden, Mädchen aus den so genannten niedern Classen zu Gattinnen wählen; Leute, die einem alten, geprüften Diener ausschließlich ihr Zutraun widmen, indeß sie ihre nächsten Verwandten verabsäumen und von sich entfernen; oder die gar allen menschlichen Umgang fliehen und auf die sonderbare Grille verfallen, ihre ganze Sorgfalt und Zuneigung einem treuen Hunde, oder andern Hausthiere zu schenken; aber wisset Ihr auch, wie oft diese guten Leute, zum Preise für das wohlwollendste, liebevollste Herz, von den fein cultivirten Herrn und Damen, die uns und die ganze Welt nur zu ihrem Dienste geschaffen glauben, mit schwarzem[363] Undanke sind belohnt, für gutmüthige Hingebung und Aufopferung verspottet, betrogen, von dem schändlichsten Eigennutze gemisbraucht worden, bis sie endlich, um doch irgend ein Geschöpf zu finden, das ihre Liebe nicht zurückstieße, einen Gegenstand ihrer Anhänglichkeit gewählt haben, von dem sie Erwiederung und Erkenntlichkeit erwarten durften? Würklich übertrifft es auch alle Vorstellung, wie unfein der Eigennutz auf reiche und bereitwillige gute Menschen mit Bitten und Zumuthungen losstürmt, bis diese endlich, nach manchen unangenehmen Erfahrungen, dahin gebracht werden, mit anscheinender Härte, solche Zudringlichkeiten zurückzuweisen und Dienstleistungen abzuschlagen, die sie, ohne Ungerechtigkeit gegen sich selbst und die Ihrigen, nicht gewähren können.
Es giebt aber sehr verschiedene Arten, sein Dankgefühl auszudrücken, und nicht immer ist derjenige unerkenntlich, der nicht viel Worte macht, der in seinem Herzen seine Empfindungen verschließt und dem großmüthigen Wohlthäter Verehrung, Hochachtung und Segnung zum stillen Opfer bringt. Ein stummer Dank, ein Händedruck und ein, zum Himmel gekehrter Blick des feuchten Auges, sind wohl so viel werth, als studierte Floskeln einer herzlosen Beredsamkeit.
Oft verlangt auch der Wohlthäter für das, was er vielleicht nicht einmal aus den reinsten Bewegungsgründen geleistet hat, mehr, als ein edles, stolzes Herz zu geben vermag, verlangt Opfer aller Art, Schmeicheley, gänzliche Abhängigkeit, Sclaven-Dienste, [365] und jammert dann über den Undank der Menschen, wenn man lieber auf alles Verzicht thut, was seine Prahlerey verspricht, als daß man es so theuer erkaufen sollte. Wenig Menschen verstehen die Kunst, so zu geben, daß man ihnen gern verpflichtet wird, daß vielmehr der, welcher empfängt, dem Andern eine Gefälligkeit zu erweisen scheint. Aber man erwarte auch keinen Dank für unerbetene, aufgedrungene Wohlthaten; für die Mühe, sich unberufen in fremde Händel gemischt, Versöhnungen und Heyrathen gestiftet zu haben; für Schmeicheley und Erniedrigung; für Lob in's Gesicht und hinter dem Rücken, das oft mehr Schaden als Nutzen stiftet; für Vertheidigung eines Mannes, der sich selbst besser und mit mehr Erfolge vertheidigen kann! Man erwarte keinen Dank, wenn man, obgleich in guter Absicht, die Eitelkeit der Leute beleidigt, wenn man klügern, [366] oder sich klüger dünkenden Leuten Rath geben, wenn man einen mittelmäßigen Schriftsteller abhalten will, die Welt mit schlechten literarischen Producten zu beschenken! Man erndtet selten Dank ein, wenn man zu bereitwillig ist, für jedermann kleine Aufträge zu übernehmen, Waaren zu verschreiben, Personen zu empfehlen, Sammlungen zu veranstalten, Unterzeichnungen zu befördern. Man wird dann ohne Unterlaß von zudringlichen Leuten bestürmt, wird hintergangen, leidet Schaden und kömmt zuweilen noch obendrein in den Verdacht, seine kleinen Privat-Vortheile dabey nicht vergessen zu haben.
Die mehrsten Großen der Erde verstehen die Kunst, um aller Verbindlichkeit überhoben zu seyn, sich dasjenige aufdringen zu lassen, was sie zu erhalten wünschen. Dagegen [367] machen sie aus dem, was Gerechtigkeit erfordert und ihre Schuldigkeit ist, eine Gnade, um Dank einzuerndten, wissen es so einzurichten, daß der Mann, dessen sie nothwendig bedürfen, die Bedienung erbetteln muß, zu welcher sie keinen geschicktern finden können. Sie verzögern ihre Wohlthaten, um die Menschen desto länger von sich abhängig zu machen, wissen sich von dem, was Andre gethan haben, das Verdienst zuzueignen, um ihnen den gebührenden Dank zu entziehn und sich zuzuwenden, dagegen aber Verantwortung und Verdruß auf sie zu wälzen.
Es ist eine sehr unangenehme Lage, wenn das Gefühl der Dankbarkeit mit dem Eifer für Gerechtigkeit, mit strenger Wahrheitsliebe, oder mit der Sorgfalt für das Wohl des Ganzen in Zusammenstoß kömmt. [368] Allein dann muß die untergeordnete Pflicht der höhern weichen; und der handelt nicht undankbar, der, aus Erkenntlichkeit gegen Individuen, nicht zum Verräther an dem gemeinen Wesen werden, nicht aus niedriger Gefälligkeit gegen einen Bösewicht, der einst sein persönliches Interesse befördert hat, zu dem Unrechte schweigen will, wodurch Tausenden Uebles zufließt. In eine nicht ganz so unangenehme Lage, die doch aber auch nicht wünschenswerth ist, wird man versetzt, wenn Leute, die man nicht schätzen kann, Menschen von geringem geistigen und moralischen Werthe, sich uns mit Huldigung, Aufmerksamkeit und würklichen Dienstleistungen aufdringen und dadurch ein Recht auf dankbare Erwiedrung zu erzwingen suchen. Den Verlegenheiten der erstern Art kann man fast immer ausweichen, wenn man sich hütet, von Personen, die Verachtung verdienen, Wohlthaten anzunehmen, [369] und wenn man in allen Fällen sich den Ruf erwirbt, da, wo es Wahrheit und Recht gilt, alle persönlichen Rücksichten bey Seite zu setzen. In den Fällen der andern Art aber wird brüderliche Duldung uns zu Erwiederung jeder unschuldigen Gefälligkeit und Höflichkeit, auch gegen weniger achtungswerthe Leute, bewegen. Man muß ja mit so Manchen leben, den man sich nicht grade zum Freunde wählen würde und das Bewußtseyn, daß wir vielleicht besser sind, als Andre, befreyet uns noch nicht von der Verbindlichkeit, gesellige und moralische Pflichten gegen sie auszuüben, in so fern diese Pflichten nicht mit höhern Obliegenheiten streiten.
Die allgemeinste Art von Undank und dessen wir Alle uns wohl, mehr oder weniger, schuldig machen, ist der Undank gegen [370] den liebreichen Schöpfer der Natur. Der Zweck des Daseyns aller lebendigen Geschöpfe ist der: Glück und Freude zu finden in der Welt; Alle können diesen Zweck erreichen und das, was vernünftige Wesen wahrhaftig glücklich macht, liegt fast allein in ihnen und ist nicht abhängig von äussern Umständen, noch fremdem Willen, in so fern sie nur richtige Begriffe von Glück haben und zweckmäßige Mittel ergreifen, um dazu zu gelangen. Gegen die zahlreichen Freuden, die der Weise und Tugendhafte schmecken kann, ist die Summe der unvermeidlichen Leiden sehr geringe, und selbst diese wird er vergessen, wenn er, durch Betrachtung der Vollkommenheit des unermeßlichen Ganzen, seinen Geist erhebt und sein Herz erwärmt. Man rechne einmal von der Anzahl der Ungemächlichkeit und Widerwärtigkeiten des Lebens diejenigen ab, die wir uns selbst, durch Einbildung, durch Vorurtheile, durch [371] eitle, thörichte Wünsche, durch unnützer Weise vervielfältigte Bedürfnisse des Luxus, der Eitelkeit, der Weichlichkeit und der Unmäßigkeit erschaffen – wie viel bleibt übrig, das einer Klage werth wäre? Wo ist der Mensch auf Erden, der, gänzlich ohne seine Schuld, oder Veranlassung, (sey es nun durch grobe Vergehungen, oder Unvorsichtigkeit) endlos elend geworden wäre und keine Hülfe hätte finden können? Ich gestehe es offenherzig, daß mir, der ich doch viel harte Schicksale erlebt habe, noch nie etwas würklich Unangenehmes begegnet ist, (Hierunter rechne ich aber nicht die Entbehrung des Reichthums und solcher unerwarteter Glücksfälle, die freylich Manchem zu Theil werden, worauf aber eigentlich kein Mensch gegründeten Anspruch machen kann) ich sage, daß mir nie etwas wahrhaftig Unangenehmes begegnet ist, wozu ich nicht auf irgend eine Weise, durch Mangel an [372] weisem Betragen, Veranlassung gegeben hätte, und daß ich dasselbe bey allen den unglücklichen Begebenheiten wahrgenommen, die ich andre Leute habe erleben gesehn. Allein wir pflegen dann, um ein Recht zu erhalten, undankbare Klagen gegen die Vorsehung auszustoßen, nur unsre Enthaltung von groben Vergehungen in Anschlag zu bringen. Der Mensch, der mit einem kränklichen Körper zu kämpfen hat, macht sich groß damit, daß er nicht durch wilde Ausschweifungen seine Gesundheit zu Grunde gerichtet habe; von der Vernachlässigung einer einfachen, seiner Constitution gänzlich angemessenen Lebensordnung hingegen schweigt er. Wenn ein Andrer darüber winselt, daß er von seinen Eltern, Statt eines großen Vermögens, nur Schulden geerbt habe; so vergißt er, sich zu fragen: was für ein Recht denn wohl überhaupt ein Mensch haben könne, von der Wiege an, ohne Arbeit und [373] Mühe, das zu besitzen, was andre bessere Leute erst im Schweisse ihres Angesichts erwerben müssen? Und wenn ein Dritter die widrigen Vorfälle aufzählt, die ihm begegnet sind; vergißt er in die andre Wagschale die Menge angenehmer Begebenheiten zu legen, die ihm unverhofft, unverdient, ja! oft dann begegnet sind, wenn er durch unkluge Aufführung vielleicht das traurigste Schicksal verdient gehabt hätte. In einer Welt, in welcher der Schöpfer nicht unaufhörlich Wunder würken will, muß jedermann die Folgen seiner Handlungen tragen. Wie weit, in der großen Kettenreihe der Ursachen und Würkungen, diese Folgen reichen werden, das läßt sich nicht bestimmen; daß aber durch kleine Vergehungen sehr große Uebel herbeygeführt werden können, das weiß jedes verständige Wesen und muß jene vermeiden, wenn es diesen ausweichen will. Noch einmal also! die Summe der[374] gänzlich unverdienten, würklichen, unabhelflichen Leiden in der Welt ist klein und selbst zu Hebung und Erleichterung dieser hat der liebreiche Urheber der Natur für Mittel gesorgt. Kein unschuldig gekränkter, von Unglück niedergebeugter Mann bleibt lange gänzlich verlassen, ohne von dem Mitgefühle andrer guten Menschen Beystand und Trost zu erhalten. Wer von uns hat nicht schon an sich selbst die Erfahrung gemacht, daß in Augenblicken, wo Muth und Hofnung auf immer zu verschwinden droheten, auf einmal die Hülfe von einer Seite her erschien, von welcher man sie gar nicht hatte erwarten dürfen? Wer dergleichen Erfahrungen wegraisonniren will, der thut seiner eignen Seelenruhe den größten Schaden. Dazu kömmt dann noch die wohlthätige Stimmung aller menschlichen Gemüther, durch welche sie nichts so leicht vergessen, als überstandenen Schmerz, da hingegen die Erinnerung [375] an froh verlebte Tage und die Erwartung eines bevorstehenden Vergnügens, der Einbildung fast eben so viel Wonne gewähren, als der würkliche Genuß; auch ist es wahr, und ich habe das oft an mir bestättigt gefunden, daß selbst der heftigste Schmerz einen gewissen Grad nicht überschreiten kann, die Stuffen der Freude aber unzählich sind; und endlich, daß ohne alle Abwechselung mit Leidens-Empfindungen und Entbehrungen, uns kein Vergnügen schmackhaft seyn würde.
Wenn zu diesem Allen nun noch die Ueberlegung kömmt, daß wir doch unmöglich bloß für die kurze Reihe, halb im Schlafe und in sorgloser Kindheit dahineilender Jahre geschaffen seyn können, folglich in einer bessern Zukunft die gütige Vorsehung uns reichlich für die kleinen unbedeutenden Plackereyen dieses spannenlangen Lebens entschädigen kann; wo ist dann Elend?
[376] Wie undankbar handelt also nicht der Mensch, der mit unaufhörlichen Klagen den Himmel bestürmt! Und doch jammern mehrentheils grade diejenigen am heftigsten über Unglück, denen nichts Widriges begegnet, als daß nicht alle ihre thörichte Wünsche nach eingebildetem Glücke erfüllt, nicht alle ihre unersättliche Begierden und unnütze Bedürfnisse befriedigt werden. Aber schlaget solchen Leuten, wenn sie andre Menschen beneiden, vor, mit diesen grade auf zu tauschen; und sehet zu, ob sie den Vertrag einzugehn bereit seyn werden! Ja! dort möchte ein Mann gern den Reichthum seines Nachbars besitzen; fraget ihn aber, ob er auch zugleich dessen Geiz, seine Dummheit, seine Feinde, oder seine Kränklichkeit, oder seine garstige alte Frau, mit übernehmen möchte? – Schwerlich wird er sich dazu verstehn wollen. Wer aber nicht willig ist, sein ganzes Wesen, nebst allen innern [377] und äußern Umständen, gegen die vollständigste Existenz irgend eines Andern zu vertauschen, der beweiset dadurch, daß er noch etwas zu besitzen glaubt, worauf er Werth setzt, und daß er folglich nicht ganz unglücklich ist.
Undankbar gegen religiöse Gefühle sind diejenigen, welche das ganze Wesen der Religion und Gottes-Verehrung zu einer Sache der kalten Vernunft machen wollen. Wir sind nun einmal sinnliche Menschen, so lange wir hier auf Erden wandeln; soll irgend eine Wahrheit Interesse für uns haben; so müssen wir sie nicht bloß demonstriren, sondern es auch fühlen können, daß die Ueberzeugung von dieser Wahrheit uns nützlich, wohlthätig sey. Der Abstand zwischen uns und dem unsichtbaren allervollkommensten Wesen ist aber so groß, daß, [378] um uns von demselben nur irgend einen Begriff zu machen, für den wir empfänglich seyn können, wir uns diesen Begriff versinnlichen müssen. Dies wird um so nöthiger, wenn die Religion nicht bloß ein Gegenstand unsrer Speculation bleiben, sondern auch Einfluß auf unsre Handlungen, das heißt, auf die Anwendung unsrer Kräfte und Thätigkeits-Triebe erhalten soll. Es ist wohl gewiß, daß, wenn wir uns Gott, um uns mit ihm gleichsam in Rapport zu setzen, (man erlaube mir diesen Ausdruck!) in dem Verhältnisse als Vater, Freund und Wohlthäter vorstellen, mit dem wir reden, wie mit einem Menschen und uns an ihn unmittelbar mit Worten im Gebete wenden können, so oft unser Herz Erleichterung bedarf; daß dann diese Vorstellung bey weitem nicht erhaben genug ist; allein sie ist doch nicht falsch, ist dabey trostreich, erquickend, rührend, und hat von je her die [379] wohlthätigsten Einflüsse auf die Ruhe und Moralität der Menschen geäußert, besonders auf die große Anzahl derer, die keines höhern Geistesschwungs fähig sind und, ohne sinnliche Bewegungsgründe zur Pflicht-Erfüllung, in Irrthum und Zweifel fallen würden. Eine bloß philosophische Religion ist eine Religion für Philosophen, also für wenig Menschen. Es liegt ausser den Grenzen meines Zwecks und vielleicht auch meiner Kräfte, hier eine Untersuchung anzustellen, ob die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft ohne positive Religion, ohne den Glauben an Offenbarungen, würde bestehn können; ob die Offenbarung der christlichen Religion nur Bestättigung der Vernunft sey und uns keine andre Wahrheiten lehre, als zu welchen uns reifes Nachdenken, obgleich später, auch würde geführt haben. Das aber ist doch ausgemacht, daß das Christenthum die Fortschritte und [380] allgemeine Ausbreitung der tröstlichsten und erhabensten Wahrheiten befördert und beschleunigt hat und es jezt nicht mehr möglich ist, sich die Moral, ohne den Einfluß, den jenes darauf gehabt hat, zu denken.
Indem ich aber von der Undankbarkeit gegen religiöse Gefühle und Meinungen rede; bin ich doch weit entfernt, auch dem Aberglauben, den Vorurtheilen, der Schwärmerey, den dunkeln, unbestimmten Gefühlen, die mit den Grundsätzen einer gesunden Vernunft, welche uns der Schöpfer zur Leiterinn gegeben hat, in offenbarem Widerspruche stehen, das Wort zu reden. Diesen haben wir gewiß nichts bleibend Gutes zu verdanken. Vielmehr pflegen sie zum geistlichen Stolze, zur Unduldsamkeit, zum Verfolgungsgeiste, zur Heucheley zu führen, und vertragen sich nicht selten, wie uns das [381] Beyspiele lehren, mit einem wollüstigen, üppigen, unnütz verschwelgten, oder verträumten Leben. Der von Enthusiasten so hoch gepriesene, entzückend selige Zustand, in welchen Schwärmerey und dunkle Gefühle versetzen, ist nichts als ein Rausch; die Freuden der Träumerey und Phantasie sind vorübergehend, gewähren kein dauerhaftes Glück, und die betrügliche Ruhe, die auf den Glauben an offenbare Vorurtheile, an willkührliche, nicht erweisliche Voraussetzungen gebauet ist, kann einem denkenden Wesen nicht wünschenswerth seyn.
Lasset uns jezt von einigen Arten des Undanks reden, dessen sich die Menschen gegen einander, in den verschiedenen Verhältnissen des Lebens, schuldig machen!
Den gegründetsten Anspruch auf unsre Dankbarkeit haben gewiß diejenigen Personen, [382] denen wir die Erhaltung unsrer Existenz, unsrer Bildung und Erziehung schuldig sind; und dennoch wird vielleicht keine Bemühung so schlecht vergolten und erkannt, wie die, welche Eltern, Pflege-Eltern, Lehrer und Hofmeister zum Wohl ihrer Kinder und Zöglinge anwenden. Es ist eine sehr gemeine Bemerkung, daß Eltern fast immer mit größerer Zärtlichkeit ihren Kindern zugethan sind, als sie von ihnen geliebt werden. Es mag wohl seyn, daß hieran zuweilen die Eitelkeit ihren Theil hat, und daß die Eltern in den Kindern, die sie gleichsam wie ein Werk ihrer Schöpfung ansehen, sich selbst gefallen. Hier ist aber nicht von der Lebhaftigkeit solcher Empfindungen die Rede, über welche man nicht immer Meister ist und von denen man also der Vernunft keine Rechenschaft geben kann; sondern von Ausübung der moralischen Pflicht der Dankbarkeit gegen schätzbare Personen, die sich[383] durch treue Sorgfalt für unsre bessere Existenz um uns verdient gemacht haben. Ich übergehe die Fälle, wo niederträchtiger Undank, wo Mishandlung aller Art der treuesten Wartung, Pflege und Aufopferung zum Lohne wird, ungeachtet diese Fälle nicht so ganz selten sind; Wir wollen die Menschheit nicht in ihren verworfenen Ab-Arten betrachten, sondern nur das vor Augen nehmen, was am häufigsten geschieht. Es ist auch wohl gewiß, daß manche Eltern und Erzieher ihre Forderungen und Ansprüche auf Dank und Abhängigkeit zu weit ausdehnen. Sie verlangen dann, daß die Kinder und Zöglinge lebenslang unmündig bleiben, durchaus keinen eigenen Willen haben, keine eigene Einsichten geltend machen, oder daß sie in sclavischer Abhängigkeit von ihnen, nur für sie, durch sie und auf ihre Winke thätig seyn sollen; oder sie vergessen den Unterschied, der unter den Neigungen der verschiedenen [384] Menschenalter Statt hat, entziehen den jungen Leuten jeden Genuß unschuldiger Jugend-Freuden und verlangen, daß sie, bey ihrem Eintritte in die Welt, eben so unempfindlich für die Reizungen anlockender Gegenstände seyn sollen, wie sie es, am Ende ihrer Laufbahn, nach vieljähriger Uebersättigung sind. Dies alles aber bey Seite gesetzt; wie wenig junge Leute giebt es da, besonders in unsern Tagen, die es lebhaft und innig fühlen und thätig beweisen, wie viel sie denen schuldig sind, denen sie ihre Bildung zu guten und verständigen Menschen verdanken! Sie denken nicht an die mühselige Wartung, die ihnen in den ersten Jahren der hülflosen Kindheit zu Theil geworden ist; nicht an die beschwerliche Arbeit des ersten Unterrichts; nicht an das Opfer der schönsten Jahre, in denen man sich so manche Freude und Zerstreuung versagt hat, um sie nicht ohne Aufsicht, nicht in Händen leichtsinniger[385] Miethlinge zu lassen; nicht an die durchgewachten Nächte, an die Sorgen, Entbehrungen, Anstrengungen und Arbeiten des redlichen Hausvaters, dem der Unterhalt seiner Familie obliegt und oft so schwer wird. Der Ordnung der Natur nach, sollte jedes vernünftige Wesen, wenn es sich selbst forthelfen und ernähren kann, nicht länger von dem Fleisse und Vermögen Anderer leben; allein bey unsern Verfassungen, besonders in den höhern Ständen, nimmt gewöhnlich erst dann der größere Aufwand, die größere Sorge für die Kinder, den Anfang, wenn diese ein Alter erreicht haben, das sie vollkommen in den Stand setzt, mit ihrer Hände Arbeit und mit den erworbenen Kenntnissen ihr Brod zu gewinnen. So verschwendet und verschwelgt zuweilen der Jüngling auf Universitäten eine größere Summe, als die übrigen Mitglieder der Familie, die sich seinetwegen die sparsamste Einschränkung [386] gefallen lassen müssen, zu Hause zu ihrem Unterhalte verwenden; Eltern und Geschwister arbeiten für ihn, der das Geld mit vollen Händen ausspendet. So trägt vielleicht die erwachsene Tochter die ganze jährliche, sauer erworbene Einnahme ihres fleißigen Vaters, in Flitterstaat angelegt, auf einmal an ihrem Körper. Und wie wenig Ersatz haben nicht nachher oft die Eltern im hohen Alter dafür zu erwarten, wenn dann endlich die Kinder versorgt, glücklich verheyrathet sind, oder in einträglichen Bedienungen stehen! Es kömmt ihnen gar nicht anders in den Sinn, als daß sie ein Eigenthumsrecht auf des Vaters Vermögen haben, zu dessen Herbeyschaffung von ihrer Seite kein Finger ist gerührt worden. Sie murren über seine Verschwendung, wenn er auch einmal von demjenigen etwas mit geniessen will, was ihm allein gehört. Die unbedeutendsten Gefälligkeiten und Aufmerksamkeiten, [387] die sie den Eltern erweisen, rechnen sie sich zum hohen Verdienste an, uneingedenk der unzähligen Opfer, die diese ihnen gebracht haben. Warnung und Rath, Bestreitung ihrer Thorheiten, Empfehlung weiser Mäßigkeit und Versagung, auf richtige Erfahrung und reife Vernunft gestützt, nennen sie unerträglichen Zwang, Eigensinn, mürrische Laune. Hat, durch die Sorgfalt der Eltern, Erzieher und Lehrer, ihr Verstand sich so ausgebildet, haben sich ihre Kenntnisse so vermehrt, daß sie vielleicht in einem einzelnen Fache größere Fortschritte als Jene machen; so vergessen sie, daß dies ohne eine gute Grundlage unmöglich gewesen seyn würde; glauben sich weit über die erhaben, glauben die zu übersehn, welche diese Grundlage gelegt haben, schreiben überhaupt das, was größtentheils fremdes Werk ist, allein auf die Rechnung ihres Fleißes, ihres Scharfsinns und ihrer Naturgaben, [388] und überheben sich der Pflicht der Dankbarkeit. Es ist indessen auch nicht weniger wahr, daß die Eitelkeit der Lehrer und ihre Anhänglichkeit an alte Formen sie, wenn sie nicht selbst mit dem Zeitalter fortgerückt sind, oft verleitet, von ihren Schülern blinde Unterwürfigkeit unter den Despotismus ihres Systemgeistes und ihrer Orakelsprüche zu verlangen.
Die undankbarste aller Bemühungen zur Bildung der Jugend ist wohl die eines Prinzen-Hofmeisters. Es ist bekannt genug, mit welchen Schwierigkeiten aller Art ein solcher Mann zu kämpfen hat. Wird dennoch seine Arbeit mit Erfolge gekrönt; so rechnet man doch fast nie die guten Eigenschaften, welche sein fürstlicher Zögling in der Folge zeigt, dem Mentor zum Verdienste an; der Prinz aber, wenn er herangewachsen, oder gar zur Regierung eines Landes gekommen ist, betrachtet seinen bisherigen [389] Führer wie einen beschwerlichen Sittenrichter. Er weiß, daß niemand vertrauter mit seinen Schwachheiten ist, als dieser; und das ist schon ein großes Verbrechen. Werden die jüngern Hofschranzen diese Stimmung ihres gnädigen Herrn, den sie möglichst an Leib und Seele zu verderben suchen, gewahr, und der ehemalige Hofmeister ist nun vielleicht alt und stumpf geworden; so wird er der Gegenstand ihrer schaalen Spöttereyen. Froh endlich, wenn er sieht, daß er jedermann im Wege steht, ein mäßiges Jahrgeld in Ruhe genießen zu können, zieht er sich in irgend ein Winkelchen des Landes zurück und bringt da den Rest seiner Tage in Verborgenheit zu. Dies ist das Schicksal so vieler Prinzen-Hofmeister und fast sollte man argwöhnen, es werde dies Geschäfte allgemein für das undankbarste von allen gehalten, wenn man sieht, daß so oft Leute dazu gewählt werden, die kaum zu irgend [390] einem andern Geschäfte in der Welt taugen.
Im Allgemeinen ist das große Publikum unerkenntlich gegen die Bemühungen der Erzieher. Wie geringschätzig behandelt und wie ärmlich besoldet man nicht noch immer, in so manchen Gegenden, die Schul- und Hauslehrer! Wird ein Jüngling seiner guten Eigenschaften wegen gelobt; so geschieht selten dabey des Mannes Erwähnung, dem er seine Bildung zu danken hat. Will man es an einem jungen Menschen rühmen, daß er sich die Fehler nicht zu Schulden kommen läßt, die an seinem Vater auffallend sind; so erhebt man deswegen seine festen Grundsätze oder seine glückliche Gemüthsart. Daran aber wird nicht gedacht, daß vielleicht gerade der weniger vollkommene Vater am sorgsamsten seinen Sohn vor den Fehlern zu bewahren gesucht hat, deren schädlichen[391] Einfluß er lebhaft fühlte, ohne die Kraft zu haben, sich selbst davon zu befreyn. Mislingt hingegen eine Erziehung; so wälzt der große Haufen die Schuld davon fast immer auf die öffentliche oder häusliche Anstalt, in welcher der junge Mensch einen Theil seiner Bildung erhalten hat.
Nicht nur für die Verwendung unsrer Kräfte zu dem edlen Zwecke, der Menschheit nützliche Mitglieder zu erziehn, werden wir nur gar zu oft mit Undank belohnt; sondern es muß auch überhaupt Jeder, der es sich angelegen seyn läßt, Andern frohe und glückliche Tage zu bereiten, sich darauf gefaßt machen, von denen selbst, auf die er Wohlthaten häuft, verabsäumt, hintergangen, verleumdet, gemishandelt zu werden. Hierüber ist schon im neunten und [392] zehnten Absatze etwas gesagt worden; jetzt nur noch Einiges davon!
Menschen, deren wir uns, ohne mit ihnen in andern als allgemeinen Verhältnissen zu stehn, kräftig angenommen, sie der Noth entrissen, in Wohlstand versetzt, im bürgerlichen Leben zu einträglichen Aemtern erhoben, ihnen Ruf, Bekanntschaften, Schutz und die Gelegenheit verschafft haben, mit ihren Talenten zu wuchern, kehren uns den Rücken, sobald sie Unsrer nicht mehr bedürfen, suchen sich auf unsre Unkosten zu erheben, zu bereichern, und die Wege zu einem redlichen Fortkommen, die wir ihnen gebahnt haben, uns zu versperren. Personen, denen wir unser Herz ohne Rückhalt eröfneten, wenn sie als Hausfreunde, täglich um uns waren und unser Brod aßen, verrathen uns, um andre Freunde zu gewinnen, misbrauchen [393] unser Zutraun, verlästern uns, stiften uns Feindschaften, oder plaudern die kleinen Schwachheiten und häuslichen Geheimnisse aus, die sie, bey vertraulichem Umgange, uns abgelockt haben. Da es wenig gutherzige Menschen geben wird, die nicht wenigstens einmal in ihrem Leben auf ähnliche Weise sind mishandelt worden; so enthalte ich mich, von meinen eignen häufigen Erfahrungen dieser Art zu reden.
Vergebens erwartest du von Leuten, die du von Elend oder Gefahr errettet hast, sobald das Gefühl der Dankbarkeit in ihren Herzen erstickt und die Wohlthat vergessen ist, daß einst, wenn du nicht mehr bist, dein Weib und deine Kinder an ihnen Beschützer, Rathgeber, Helfer finden werden. Kannst du ihnen kein sichrers Vermögen hinterlassen, als die Forderungen auf fremde [394] Dankbarkeit; so sind sie schlecht gegen Elend und Dürftigkeit geschützt.
Am empfindlichsten aber schmerzt der Undank, womit Menschen uns kränken, in denen wir die Gefühle treuer, inniger Freundschaft und Liebe erweckt zu haben, die wir für uns geschaffen glaubten, denen wir uns ganz hingaben, ihnen ein ungetheiltes Herz darboten, denen wir mehr aufopferten, als wir vielleicht vor dem Richtstuhle der strengern Vernunft rechtfertigen können, und die das Alles so hinnahmen, uns Gegenliebe heuchelten, um den eiteln Triumpf zu schmecken, uns ganz verstrickt, ganz abhängig von sich gemacht zu haben; und die dann die Larve abziehen, zurücktreten und noch wohl uns höhnen, unsrer Schwäche spotten. Wer je auf diese Weise in die Hände eines Egoisten oder einer Coquette gefallen ist, der wird die Härte eines so niederbeugenden Zustandes kennen.
Der Arzt, der alle Kräfte seiner Kunst aufbietet, um uns von körperlichen Leiden zu befreyn und ein Leben zu fristen, das nützlich für die Welt verwendet werden kann, das redlichen Freunden theuer ist und wovon vielleicht der Wohlstand einer zahlreichen Familie abhängt, hat den gegründetsten Anspruch auf unsre Dankbarkeit, um so mehr, wenn er seinen Beruf ohne Eigennutz und mit wahrhaftig theilnehmender Menschenliebe erfüllt. Er hat dieselben Ansprüche auch dann, wenn seine Kunst nicht hinreicht, das Uebel zu heben, gegen welches er kämpft. Die mehrsten Menschen aber glauben sich aller weitern Verbindlichkeit für so wesentliche Dienste überhoben, wenn sie dem Manne, der sie dem Tode entrissen hat, einige Goldstücke darreichen. Ihre Genesung schreiben sie übrigens der Stärke ihrer Natur zu, jede mislungene Cur hingegen [396] setzt der große Haufen auf die Rechnung der Ungeschicklichkeit oder Nachlässigkeit des Arztes.
Kränkliche Personen danken oft sehr schlecht denen, welche ihrer warten, pflegen, aus Sorgfalt für sie, sich jedes gesellige Vergnügen versagen und allen ihren Launen nur Geduld entgegensetzen, für diese zärtliche Bemühung, verlangen noch immer größere Opfer, und kaum sind sie wieder hergestellt, so mishandeln sie dieselben Menschen, die so viel Nachsicht mit ihnen gehabt haben.
Für die Ausübung der Gastfreundschaft wird uns gewöhnlich auch sehr schlecht gedankt und die so genannten Tischfreunde pflegen eben nicht die zu seyn, auf welche man am zuverläßigsten rechnen darf. Eine Mahlzeit ist freylich eine geringe Wohlthat und jeder nicht ganz arme Mann hat ja auch zu Hause [397] so viel als nöthig ist, um seinen Hunger zu stillen; allein was aus gutem Herzen, um mit seinen Gästen eine frohe, der Geselligkeit gewidmete Stunde, zu verleben, dargereicht wird, verdient immer, der Absicht wegen, Dank, verdient wenigstens nicht so schlecht belohnt zu werden, wie es nur gar zu oft geschieht. Ein Mann, der in dem Rufe steht, gastfrey zu seyn, wird zur Ungebühr von müßigen, zudringlichen Leuten überlaufen. Man nimmt keine Rücksicht auf seine Vermögens-Umstände, sondern quartiert sich bey ihm ein, läßt sich von ihm bewirthen, wenn man da besser, bequemer, angenehmer und wohlfeiler, als in einem Gasthofe, leben zu können glaubt. Das Haus eines wohlhabenden Mannes, der häufig Gesellschaft bey sich sieht, wird von den mehrsten Leuten wie ein allgemeiner Sammelplatz betrachtet, wohin man sich begiebt, um dort Personen anzutreffen, mit denen [398] man gern seine Zeit hinbringen möchte, ohne in seiner eignen Wohnung Ungemächlichkeit davon zu haben. Um den Hauswirth bekümmert man sich dann wenig, läßt sich's aber auf seine Kosten wohl seyn. Noch ist er glücklich, wenn die Herrn und Damen nur zufrieden mit dem vorlieb nehmen, was seine Küche und sein Keller vermögen; allein gewöhnlich bekritteln die, welche es sich am besten haben schmecken und die daheim gewiß nicht so viel würden aufgehn lassen, hinterher die Art der Bewirthung, suchen den Mann lächerlich zu machen, der ihnen alle Aufmerksamkeit bewiesen hat und misbrauchen die vertraulichen Aeußerungen, die ihm beym frohen Mahle entwischt sind, zu seinem Nachtheile. Hast du nun vollends das Unglück, für einen Liebhaber und Beförderer der Wissenschaften und Talente zu gelten; so wird bald deine Wohnung zu einer Herberge für alle reisende Gelehrte und Künstler [399] werden. Diese finden Mittel, deine Gastfreundschaft auf vielfache Weise zu ihrem Vortheile zu nützen. Ihre Rechnung im Wirthshause wird geringer, wenn sie an deiner Tafel ihren Hunger stillen; durch dich gelangen sie zu der Kenntniß aller Merkwürdigkeiten, die in deiner Vaterstadt aufzuweisen sind, welches ihnen dann, wenn sie zu der Legion von Büchermachern gehören, Gelegenheit giebt, ein Paar Bogen Papier mit den Beobachtungen zu beklecksen, die sie an deiner Seite gemacht haben; bald nachher erlebst du die Freude, in einer schlechten Reisebeschreibung, oder in einer Zeitschrift, ein verzeichnetes Gemälde deines häuslichen Lebens, eine Schilderung deines Charakters, den sie in wenig Stunden ergründet haben, und eine unbescheidne öffentliche Mittheilung der unbefangenen Reden, die du gegen sie geführt hast, zu lesen und vielleicht deine eigne Waare wieder zu kaufen.
[400] Uebrigens geschieht auch manchen Leuten schon Recht, die, aus Eitelkeit und Prahlerey, sich um die Ehre reissen, jeden Fremden, besonders von vornehmem Stande, in ihren Häusern zu bewirthen, damit diese sehn sollen, wie groß es bey ihnen hergeht; die jeden Abentheurer von der Straße hereinziehen, um in den Ruf ausgebreiteter Bekanntschaften und Verbindungen zu kommen – es geschieht ihnen schon Recht, wenn hinterher Undank und Spott ihr Lohn ist, wenn vernünftige Leute über die Thorheit eines Mannes die Achseln zucken, der sein und seiner zahlreichen Familie Vermögen auf diese Weise verschleudert, wenn endlich, nachdem er sich zu Grunde gerichtet hat, oder zur Sparsamkeit zurück gekommen ist, die vornehmen Tischgenossen sich stellen, als kennen sie den Mann nicht, bey dem nichts mehr zu geniessen ist, der Haufen der Schmarotzer aber sich um ein Haus wegschleicht, [401] aus welchem sie nicht länger den Duft köstlicher Leckerbissen wittern.
Von den allgemeinen und größtentheils sehr gegründeten Klagen über das unedle Betragen der Dienstbothen gegen ihre Herrschaften, habe ich in dem zweyten Abschnitte der ersten Haupt-Abtheilung §. 28. geredet. Was dort von dem Vorwurfe des Eigennutzes gesagt ist, gilt auch in Ansehung des Undanks, dessen sich diese, für feinere Gefühle so selten empfängliche Menschenclasse, schuldig macht. Wenig Bediente belohnen auch die beste, väterlichste Behandlung mit wahrer Zuneigung. Vergebens sucht man das Gesinde durch Dankbarkeit an sich zu fesseln, indem man sehr junge, ungebildete und rohe Geschöpfe in sein Haus aufnimmt, sie zu nützlichen Menschen erzieht und zum Wohlthäter an ihnen wird. Kaum hat [402] man sie, mit unermüdeter Geduld, so weit gebracht, daß sie uns einige Handreichung leisten können; so fangen sie an, große Forderungen zu machen; rechnen die Reihe ihrer Dienstjahre her; vergessen, daß sie während derselben Unterhalt und Lohn erhalten haben, ohne brauchbar für uns zu seyn; verlangen, wenn man einigen Einfluß im bürgerlichen Leben hat, durch unser Vorwort, in ein öffentliches Amt eingesetzt zu werden, wozu man nie einige Hofnung in ihnen genährt hat, oder versuchen es, wenigstens dadurch, daß sie uns zu verlassen drohen, die Erhöhung ihres Jahrgeldes zu ertrotzen. Gelingt das alles nicht; so werden sie mürrisch und saumselig. Bey jedem freundlichen Blicke oder kleinen Gewinne, der einem ihrer Mit-Hausgenossen zu Theil wird, äussern sie Misgunst und Neid. Sie stürmen auf unsre Nachsicht und Geduld los, die sie als Schwäche auslegen und [403] beklagen sich dagegen über Härte und Strenge, sobald wir sie zur Ordnung und zum Fleisse anhalten. Sie misbrauchen Herablassung und Vertraun, spotten hinter unserm Rücken her über die kleinen Schwachheiten, die sie uns bey täglichem Umgange abgelauert haben, und bemühen sich, wenn sie endlich den Dienst verlassen müssen, uns verhaßt und lächerlich zu machen. Herrscht in einem Hause Uneinigkeit unter den Mitgliedern der Familie; so beobachten sie genau, welche Parthey am häufigsten ihren Willen durchsetzt; zu dieser schlagen sie sich dann, um nicht selten den redlichen Hausvater, dessen Brod sie essen, gemeinschaftlich mit seinem pflichtvergessenen Weibe und ausgearteten Kindern, zu hintergehn, zu kränken und zu verrathen.
Einige sehr rührende Beyspiele von dankbaren, treuen Dienstbothen finden wir hingegen [404] in diesen Zeiten der französischen Staats-Umwälzung. Ich habe Bediente gesehn, die ihre ausgewanderten Herrn auch in dem armseligsten Zustande nicht hatten verlassen wollen, sondern mit freudigem Eifer jetzt durch ihrer Hände Arbeit den Mann ernährten, bey dem es ihnen einst in seinen glänzenden Tagen wohlgegangen war. Wo findet man teutsches Gesinde, das solcher Handlungen fähig wäre? Aber freylich werden auch bey uns die untern Volksclassen in der Erziehung so vernachlässigt, daß man keine Grundsätze edlerer Art bey ihnen suchen und selten einen andern als den gebietherischen Ton gegen sie annehmen darf, wenn sie sich nicht vergessen sollen, da hingegen in Frankreich, unter Herrn und Dienern, ein vertraulicherer Umgang mit strenger Unterwürfigkeit sich wohl vereinigen läßt.
[405] Sehr traurig ist es aber, daß Personen, denen man, ihrem Stande und ihrer Erziehung nach, erhabenere Gesinnungen zutrauen sollte, in ihren Verhältnissen als Diener des Staats, nicht besser als jenes gemeine Gesinde handeln. Es ist unglaublich, wie undankbar sich zuweilen die Günstlinge der Fürsten gegen ihre Herrn betragen, wie weit sie ihre Forderungen für die unwichtigsten Dienste treiben, wie unersättlich ihr Ehrgeiz, ihre Habsucht und ihre Eitelkeit sind, und wie unwürdig, trotzig und verächtlich sie oft gegen den Wohlthäter verfahren, der sie aus dem Staube emporgehoben, sie mit Glücksgütern und Ehrenstellen überhäuft hat.
Von der andern Seite zeugt jedoch auch das Verhalten der Regierungen gegen treue [406] Staatsdiener nicht immer von Erkenntlichkeit. Man nützt die Leute, bey geringer Besoldung, so lange sie noch Kräfte haben, wozu sie taugen; wenn sie aber alt und stumpf werden und ihr Vermögen zugesetzt haben, findet man nichts dagegen einzuwenden, wenn sie sich in Ruhe setzen wollen und wirft ihnen dann jährlich einen Gnadenbrocken hin, wobey sie des Lebens nicht froh werden. Nichts verleitet aber so sehr zur Nachlässigkeit im Dienste, als eine solche Aussicht in die Zukunft und überhaupt jede undankbare Behandlung von Seiten der Obern. Wie schwer ist es nicht, immer mit gleichem Eifer fortzuarbeiten, wenn man sieht, daß es nicht erkannt wird, und daß niedrige Schmeichler, Augendiener, Windbeutel und Menschen ohne Geschick und Talent, zu ehrenvollen, wichtigen und einträglichen Geschäften gebraucht werden, indeß man immer wie ein Tagelöhner und [407] Handlanger fortarbeiten und Kleinigkeiten treiben muß!
Nirgends darf man weniger die Dankbarkeit suchen, als da, wo überhaupt keine Tugend einheimisch zu seyn pflegt – ich meine: an Höfen. Hier arbeitet Jeder nur darauf los, sich, auf Unkosten Andrer, Vortheile zu erschleichen und tritt mit lachendem Munde den Wohlthäter unter die Füße, wenn der Weg zum vermeintlichen Glücke über diesen hin geht. Auch wird da der stillschweigende Vertrag, sich einander so viel möglich zu betrügen, allgemein anerkannt. Niemand erwartet etwas anders, oder verlangt mehr, als daß dies nur mit gehöriger Manier geschehe. Man bleibt in immerwährendem Vertheidigungsstande und hält sich gegenseitig durch Furcht in den Schranken.
[408] Der große Haufen ist fast immer undankbar gegen die Bemühungen derjenigen Männer, welche das Ruder der Staaten führen. Ohne einen Begriff von der Last zu haben, die auf den Schultern der Regenten liegt, von den Schwierigkeiten, die ihnen von allen Seiten her Eigennutz, Betrug, Widerspenstigkeit und Nachlässigkeit in den Weg legen; ohne zu überlegen, daß, wenn ein Fürst, oder ein Minister auch hundert Augen hätte, er doch nicht durch alle diese Täuschungen hindurch zu schaun vermöchte; ohne zu bedenken, daß Unvollkommenheit von allen menschlichen Anstalten und Einrichtungen unzertrennlich ist; daß die Befriedigung aller Wünsche jedes Einzelnen sich unmöglich mit der Wohlfahrt des Ganzen vereinigen läßt; daß auch manche offenbare Misbräuche mit dem Systeme, worauf die allgemeine Ordnung beruht, so fest und vielfach [409] verwebt sind, daß sie, wenigstens nicht auf einmal, ausgerottet werden können, ohne eine noch schädlichere Verwirrung anzurichten; wirft Jeder sich zum Richter und Tadler in Regierungssachen auf. Aber was würde wohl aus manchen Ländern werden, wenn man an die Spitze der Geschäfte solche Klügler stellte, die oft ihr eignes Hauswesen nicht zu verwalten verstehen?
Politischer Partheygeist macht undankbar gegen die wohlthätigsten Verfügungen der Regenten. Man hat Beyspiele in der Geschichte, daß Monarchen, wenn sie, zum Wohl der Völker, die Theilnahme an einem verderblichen Kriege von sich abgelehnet, oder, um von ihren Grenzen die Greuel der Verheerung abzuwenden, früher als ihre Verbündeten den Frieden geschlossen haben, auf die schändlichste Weise von der, durch [410] Eigennutz zu noch längerer Fortsetzung des Krieges gereizten Parthey sind verlästert worden, und daß in diesen Ton selbst die Bewohner solcher Provinzen mit eingestimmt haben, welchen die wohlthätigen Früchte jenes Friedens vorzüglich mit zu Theil wurden.
Nationalstolz, Neid, Eitelkeit, Vorurtheil und Leichtsinn, machen undankbar gegen ganze Nationen, gegen besondre Classen und Stände und gegen lebende und verstorbene einzelne große Männer. Von jeder dieser Arten des Undanks wollen wir einige Beyspiele vor Augen nehmen.
Von der Zeit an, da sich unsre teutsche Literatur ein wenig aus der Dunkelheit hervorgehoben hat, so daß unsre Geistesproducte kaum anfangen, auch der Ausländer Aufmerksamkeit auf sich zu ziehn, fehlt es[411] nicht an einheimischen Schriftstellern, die, in ihrem Dünkel, unsern Geschmack und unsre Gelehrsamkeit schon jetzt auf einem solchen Gipfel der Vollkommenheit zu erblicken wähnen, daß sie dreist alle andre Völkerschaften auffordern, ihre Werke gegen die unsrigen auf die Wage zu legen. Besonders ist es bey diesen Herrn zur Sitte geworden, der französischen Oberflächlichkeit in wissenschaftlichen Fächern, der Characterlosigkeit dieser Nation, der Leichtfertigkeit ihrer Sitten und des wäßrichten, schaalen Geschmacks, der in ihren poetischen und andern Kunstwerken herrscht, zu spotten. Dabey freuet man sich, wenn man durch eine Stelle aus einem französischen Schriftsteller, (der etwa den, für ihn unbedeutenden Namen eines unsrer Büchermacher, oder eines Landstädtchens, eines Wässerchens, das wir einen Strohm nennen, unrichtig schreibt, oder eine unsrer unzählichen Residenzen mit [412] der andern verwechselt) den Beweis ihrer Unwissenheit begründen kann. Teutscher Fleiß, teutsche Gründlichkeit, Treue, Wahrhaftigkeit und Biedersinn, gute alte Sitte und Häuslichkeit, verdienen gewiß alle Achtung; allein lasset uns auch erkennen, daß es den Leuten jenseits des Rheins wahrlich nicht an gründlichen Gelehrten, besonders in dem Fache der Geschichte, der Naturkunde, der Arzeneykunst und der mathematischen Wissenschaften gefehlt hat und noch fehlt! Lasset es uns nicht vergessen, daß wir dem Studium ihrer Literatur zuerst die Wohlthat verdanken, uns von den schwerfälligen Banden einer widrigen Pedanterey losgemacht und die Kunst gelernt zu haben, auch ernsthafte Gegenstände in ein gefälliges Gewand zu hüllen, der Wahrheit, durch Lebhaftigkeit und Anmuth des Vortrags, allgemeinern Eingang zu verschaffen, nach ihrem Vorbilde, auch unsre Sprache zu reinigen [413] und bestimmten Gesetzen zu unterwerfen; endlich, daß unser Theater zuerst durch die Nachahmung des ihrigen das geworden, was es nun ist und, daß, wenn ihre Trauerspiele jetzt für uns zu leichte Speise sind, wir hingegen im Lustspiele sie noch lange nicht erreicht haben! Lasset es uns nicht vergessen, daß durch die vertrautere Bekanntschaft mit den französischen Sitten der Ton unsers geselligen Umgangs leichter, ungezwungener und unterhaltender geworden, und daß dadurch bey uns der Sinn für die feinern Aufmerksamkeiten und Gefälligkeiten zuerst erweckt worden ist. Sind wir hie und da in der Nachahmung zu weit gegangen; haben sich einzelne Teutsche, oder ganze Classen und Gegenden, statt gebildeter Franzosen, Carricaturen und Abartungen zu Mustern gewählt; haben wir, zugleich mit dem Guten, auch Fehler und Laster mit angenommen; [414] wen anders, als uns selbst, dürfen wir dann deswegen anklagen?
Der Undankbarkeit gegen ganze Stände machen wir uns unter andern durch zu allgemeine Schmähungen des Adels und des Priesterstandes schuldig. Ich kann wohl nicht leicht in den Verdacht kommen, als redete ich den, in unser Zeitalter gar nicht passenden Vorurtheilen der privilegirten Stände, der geistlichen Hierarchie und dem Mönchswesen das Wort; allein wenn wir die Thorheit dieser Classen und den Unfug, den sie von je her angerichtet haben, rügen; so lasset es uns auch nicht mit Stillschweigen übergehn, daß eine liberalere Denkungsart, daß Gastfreundschaft, daß Begriffe von wahrer Ehre, von Großmuth gegen niedergedrückte Feinde, von Treue und Glauben, von Schutz-Verleihung an unschuldig [415] Gekränkte, von Zartgefühl in der Verbindung zwischen beyden Geschlechten, zum Theil noch Ueberbleibsel aus den alten romantischen Ritterzeiten sind, und daß manche Wissenschaften, Kenntnisse und literarische Schätze während dem barbarischen mittlern Zeitalter in den Klöstern aufbewahrt, durch Mönche und Weltgeistliche von dem gänzlichen Untergange gerettet und auf die Nachkommenschaft sind gebracht worden – ja! daß unsre wohlthätige Reformation selbst das Werk eines ehemaligen Mönchs gewesen ist.
Die Undankbarkeit des teutschen Publicums gegen große Männer und die Ungerechtigkeit, womit es die Verdienste derjenigen zu miskennen oder zu vergessen pflegt, die, durch edle, nützliche Thaten oder durch ihre Schriften, sich als Wohlthäter der [416] Nation, der Nachwelt und der ganzen Menschheit ausgezeichnet haben, sind zu allgemein, als daß es schwer fallen könnte, Beyspiele von der Art anzuführen. Man ist in Teutschland nur zu bereit, den Mann bis an die Wolken zu erheben, zu vergöttern, ihn auf Unkosten aller seiner Vorgänger und Mitwerber zu loben, der auf irgend eine Weise Aufsehn erregt, eine veränderte Ordnung der Dinge bewürkt, ein neues Lehrgebäude aufstellt, oder in einer eignen Manier arbeitet; allein kaum tritt ein andrer Held des Tages auf; so rennt der nachäffende Haufen hinter diesem her; das brauchbarere, bessere Alte, wird durch neues Flickwerk verdrängt, kömmt aus der Mode und da, wo man würklich zu größerer Vollkommenheit fortgerückt ist, verläugnet man den Dank, welchen man denjenigen Männern schuldig geworden, auf deren mühsam gelegten Grund man, ohne große Anstrengung, [417] gebauet hat; ihre Namen werden kaum genannt, ja! man spottet wohl gar ihrer altväterischen Weise und vergißt, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen gehabt haben, um uns den Weg zu höherer Ausbildung zu bahnen. Unsre ältern Dichter und vorzüglichsten prosaischen Schriftsteller in dem Fache der schönen Literatur: Hagedorn, Utz, Lichtwehr, Gellert, Kleist, Cronegk, Gleim, Rabner u.s.f. liest fast niemand mehr. Unsre jungen Leyermänner, Romanen-Sudler und Comödien-Fabricanten zucken die Achseln über diese Classiker. Kaum läßt man noch den unsterblichen Lessing gelten, obgleich er leider! keine Ritterstücke geschrieben hat. Herr Haschka heult Oden und glaubt wohl kaum, daß der, noch von keinem unsrer lyrischen Dichter übertroffene Ramler, etwas Aehnliches würde haben zu Stande bringen können, wenn ihn die hochwürdigen Patres societatis [418] Iesu in Wien gebildet hätten. Daß der arme Gottsched, der doch wahrlich wenigstens den Eifer für die Vervollkommnung unsrer Sprache erweckt hat, sich von jedem Stümper, der noch schlechter schreibt, als er, (obgleich in andrer Manier) muß verhöhnen lassen; versteht sich von selber.
Den verächtlichsten Undank zeigen die unbärtigen Weltweisen in unsern Tagen gegen die Verdienste der Wolfischen Philosophie. Seit mehrern Jahrtausenden sind wir in der Gewißheit über metaphysische Gegenstände nicht um einen einzigen Schritt fortgerückt. Wir wissen von dem Wesen der Dinge, von dem Zusammenhange im Universo, von der alles belebenden Kraft, von der unsichtbaren Natur – nichts. Vergebens versuchen wir es, die alltäglichsten Erscheinungen aus der Vernunft zu erklären. Wir sehen überall Bewegung und [419] nehmen doch nirgends einen leeren Raum an, in welchem sich die Materie bewegen könnte. So widersprechen sich unsre Lehrsätze, und in jedem Augenblicke stürzen die gemeinsten, unleugbarsten Erfahrungen ganze Kettenreihen unsrer Theorien über den Haufen. Es ist nicht nur keine einzige unleugbar erweisliche neue Wahrheit in diesem Fache durch Schlußfolgen a priori entdeckt worden (auch wird wohl nie der Menschheit auf Erden das Loos zu Theil werden, da klar zu sehn, wohin die Sinne nicht reichen) sondern selbst der Kreis, den unsre Speculationen durchlaufen, um wenigstens Wahrscheinlichkeit und Zusammenhang in unsre Träume zu bringen, scheint längst geschlossen zu seyn. Wer die Werke der ältern philosophischen Schulen studiert hat und sich nicht neue Kunst-Wörter, Einkleidungen und Mischungen, das heißt: neue Formen, für neue Materien, aufhängen läßt, weiß recht [420] gut, was er von dem Posaunentone der unbescheidenen Anhänger gewisser Systeme halten soll. Allein eben um die Form, in welcher wir unsre Ahnungen von den Gegenständen, die über unsern irdischen Gesichtskreis hinaus liegen, ordnen und Andern in gehöriger Deutlichkeit mittheilen können, hat die Wolfische Philosophie sich unendliche Verdienste erworben. Noch aber wurde uns Teutschen von den Ausländern unser barbarischer, steifer, pedantischer, unnöthiger Weise mit ausländischen Wörtern und Kunst-Ausdrücken überladener Schul-Styl zum Vorwurfe gemacht. Auch diesen Misstand haben dann die vorzüglichsten unsrer philosophischen Schriftsteller in diesem Jahrhunderte gehoben. Ich brauche nur die Namen Moses Mendelsohn und Garve zu nennen, um Beyspiele von Männern anzuführen, die uns gezeigt haben, daß sich sowohl speculative, als practische Sätze der [421] Vernunftweisheit so vortragen lassen, daß sie wenigstens solchen Personen, die sich gewöhnt haben, ihre Aufmerksamkeit auf ernsthafte Gegenstände zu heften, verständlich und annehmlich werden. Sie haben uns gezeigt, daß man Gründlichkeit mit Deutlichkeit und Anmuth vereinigen könne – nicht mit der Anmuth der Poesie oder der Rednerkünste, und der so genannten Schönschreiberey, welche die Einbildung und das Gefühl auf Kosten der Vernunft bestechen; sondern mit der Anmuth, die Klarheit und Würde erzeugen. Auf diesem Wege hätten wir fortarbeiten sollen, um von dem, was allen Classen von Menschen wichtig ist, auch unter alle Classen von Menschen wenigstens so helle Begriffe zu verbreiten, als zu Befriedigung einer lobenswerthen Wißbegierde und zu Beruhigung ihrer Herzen nützlich seyn kann; allein nun tritt eine neue philosophische Schule auf, die, in einer so [422] barbarischen Sprache, als noch nie in Büchern geredet worden, ein System auslegt, dessen Grundzüge freylich in einem Zeitalter, in welchem man das Studium der alten Literatur und der Geschichte der Philosophie so sehr zu vernachlässigen anfängt, leicht für neu gelten und Anhänger finden können. Gewiß ist es dem würdigen Stifter dieser philosophischen Secte, der für sein System eine Einkleidung wählte, die ihm grade die passendste schien, gar nicht eingefallen, damit eine Norm zu einer allgemeinen neuen philosophischen Sprache zu erfinden. Auch können die Unbescheidenheit und Marktschreyerey einiger seiner Schüler keinesweges auf seine Rechnung kommen. Allein, wie es dann in Teutschland geht, nicht genug, daß mit diesem Abracadabra philosophische Abhandlungen ausgeschmückt werden, glaubt der Haufen unverständiger Nachahmer sich ein gelehrtes Ansehn zu geben,[423] indem er sogar ästhetische Gegenstände auf diese Weise behandelt. Das heißt in der That die Regeln des guten Geschmacks in einer, allen guten Geschmack empörenden Sprache vortragen. Ja! politische und ökonomische Schriften werden in eine widersinnige Form dieser Art gebracht, mit fremden Kunstwörtern ausgeschmückt und erst kürzlich hat mir ein junger Mann, auf meine Bitte, von Jena aus eine Vorschrift geschickt, wie man Meth (ein gegohrnes Getränke, aus Honig gebrauet) verfertigt, in welchem die Wörter transscendental, Perfectibilität und Kategorie vorkommen. Doch immerhin könnte man es ruhig mit ansehn, daß diese Pedanterey eine kurze Zeit hindurch (denn lange wird sie sich wohl nicht erhalten) im Schwange gienge; wenn man aber hören muß, mit welchem Uebermuthe, mit welcher Prahlerey der Troß der Nachahmer und blinden Bewunderer [424] von den neuen Lehren und wie wegwerfend hingegen er von den Werken und Entdeckungen der weisesten und scharfsinnigsten Männer, die vor diesem Zeitpunkte sich allgemeine Achtung erworben haben, redet; welchen entscheidenden, absprechenden, höhnenden Ton diese Männlein über Jeden anstimmen, der Zweifel gegen die Neuheit, Haltbarkeit, Folgerichtigkeit und gegen den Zusammenhang dieses Systems äußert; so kann man sich eines bittern Unwillens nicht erwehren. 1
1 Es ist, meiner Meynung nach, her höchste Triumph der ächten Wahrheit, Weisheit und Erkenntniß, wenn sie sich in der größten Klarheit und Einfalt darstellen läßt. Die Kunst, über wichtige Gegenstände zugleich gründlich und populär zu schreiben, erfordert ein nicht gemeines Talent und Studium. Wer seine Sätze in einen dunkeln Vortrag einhüllt, täuscht gewöhnlich nur gar zu leicht entweder sich selbst, oder will Andre täuschen, indem er neue Worte für neue Sachen hält, oder ausgiebt. Neue Wahrheiten lassen sich, genau genommen, vielleicht gar nicht mehr in dieser Welt erfinden, wohl aber neue Verbindungen von Gedanken; allein auch zu diesen bedarf es keiner neuen Sprache. Es giebt keine geometrische Aufgabe, wovon die Auflösung, im strengsten Verstande, sich nicht in die gemeine Sprache übersetzen ließe. Allein die algebraische Form ist freylich für den Kunstverständigen einfacher und deutlicher. Derselbe Fall tritt bey andern positiven Wissenschaften ein; Kunstwörter kürzen oft den Ausdruck ab; Anatomiker haben jedem Muskel, Naturkündiger jeder Pflanze, einen Namen gegeben, und es ist bequemer sich an diese Namen, als an Umschreibungen zu halten; auch haben nur Kunstverständige ein Interesse, über solche Gegenstände zu reden, und lassen sich die Mühe nicht verdrießen, die einmal eingeführte Sprache zu erlernen. Ist hingegen von Sätzen, von Lehren die Rede, welche für jedes denkende Wesen ein hohes Interesse haben; so ist es Pflicht, seinem Vortrage so viel Deutlichkeit zu geben, als mit Gründlichkeit bestehn kann; und da zeigt sich's dann fast immer, daß Gründlichkeit und Deutlichkeit sich einander gar nicht im Wege stehen, sondern vielmehr sich wechseitig unterstützen. Will nun aber gar eine kleine Anzahl Menschen den Uebrigen eine, allein von ihnen erfundene dunkle Sprache aufdringen: so muß das, was sie auf diese Weise vortragen, so wichtig und zugleich so neu seyn, daß die Mühe, die ein gebildeter Mann auf die Entzifferung verwendet, belohnt werde. Sieht er sich von dieser Seite getäuscht; so darf ihn das Geschrey der Parthey, daß er sie nicht verstanden, nicht Scharfsinn genug habe, in den Geist ihrer Lehren zu dringen, so wenig wie die zu erwartenden Schmähungen partheyischer Kunstrichter, abhalten, das zu behaupten, was ihm seine nüchterne Vernunft eingiebt, und das ohne Ansehn der Person – Ich weiß wohl, daß diese Aeußerungen vielleicht um einige Jahre zu früh kommen, und daß mein Buch mit solchen Sätzen wenig Glück machen wird; aber das kümmert mich nicht. Mode, Autorität, fremde Machtsprüche und Menschenfurcht haben von je her wenig Gewalt über mich gehabt.
Es würde ein garstiger Flecken in dem teutschen National-Charakter seyn, wenn [426] es sich beweisen ließe, daß wir undankbarer gegen die Verdienste unserer lebenden und [427] verstorbenen großen Männer und geneigter wären, Schwachheiten und Untugenden an ihnen aufzusuchen, um sie von der Höhe herabzuziehn, auf welcher ungern der Neid sie über sich hervorragen sieht. Allein dieses Sträuben gegen die Anerkennung eines Uebergewichts, das dem mindern Verdienste einen Vorwurf aus seiner Mittelmäßigkeit zu machen scheint, ist wohl unter allen Himmelsstrichen so einheimisch, daß Verunglimpfungen und Verfolgungen fast immer die [428] Begleiterinnen und zugleich die Kennzeichen des höhern Werths sind. Es ist wahr, daß diese Unart bey uns sehr weit getrieben wird. Hat ein Feldherr sich durch eine lange Reihe glänzender Thaten ausgezeichnet, die man nicht auf die Rechnung des blinden Glücks schreiben kann; befördert ein Fürst, durch weise Anordnungen und wahrhaftig väterliche Sorgfalt, die Wohlfahrt und Ruhe seines Volks, den Flor des Landes, und erweckt dadurch die Scheelsucht der Nachbarn; so fehlt es nicht an Leuten, die sich ein Geschäfte daraus machen, seinen Privat-Charakter anzugreifen, seine kleinen Schwachheiten an das Licht zu ziehn, und, wenn sie sonst nichts wissen, das Verdienst seiner Thaten auf kluge Rathgeber im Felde und im Cabinette schieben – gleich als wenn es nicht schon einen hohen Grad von Weisheit verriethe, wenn man die besten Rathgeber [429] auszuwählen versteht und guten Rath anzunehmen, zu nützen und zu befolgen weiß! Auch Schriftsteller von Bedeutung werden, zum Danke für das Vergnügen, das sie dem Publiko gewährt und für den Nutzen, den sie gestiftet haben, nicht selten, von Seiten ihrer Talente und ihres moralischen Charakters, verlästert. Man weiß, wie der arme Rousseau von seinen Zeitgenossen und von der Nachkommenschaft ist behandelt worden. Welche schändliche Angriffe sich kürzlich ein Paar nichtswürdiger Menschen gegen die Ehre des verstorbenen verdienstvollen Bode erlaubt hat; das ist auch bekannt genug. Sterne-Yorick galt lange Zeit hindurch mit Recht für eines der vorzüglichsten Original-Genies; seine unerreichbare, herrliche Laune, sein Scharfblick, sein feiner Takt und sein unvergleichlicher Witz waren der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung. Nun aber [430] hat kürzlich ein gewisser Engländer, Herr Ferriar, die schöne Entdeckung gemacht, daß Sterne nichts weiter, als ein Ausschreiber, Plünderer und Nachahmer, besonders der alten Schriftsteller Rabelais und Burton, gewesen sey – Wir wollen dem Herrn Ferriar, zur Dankbarkeit für die Mittheilung dieser Entdeckung, das Talent wünschen, mit so viel Geschicklichkeit, wie Yorick, zu stehlen.
Lebende verdienstvolle Männer, edle Streiter für Wahrheit und Tugend, müssen es sich, besonders wenn sie kühn die herrschenden Thorheiten angreifen und böse Ränke aufdecken, zum Lohne für ihren treuen Eifer, auch oft gefallen lassen, verläumdet und niedriger Absichten beschuldigt zu werden. Läßt ihnen auch der bessere Theil des Publikums [431] Gerechtigkeit wiederfahren; so wird doch durch dergleichen Schmähungen nicht selten der Kreis ihrer nützlichen Würksamkeit beengt und sie selbst werden am Ende des immerwährenden Kämpfens und der undankbaren Arbeit müde.
Die Gerechtigkeit fordert aber, daß wenn wir von der Unerkenntlichkeit des Publikums gegen große Männer reden, wir nicht verschweigen, daß diese auch zuweilen nicht sehr dankbar für die Ehre sind, die sie einerndten; daß sie dem Neide sehr große Blößen geben; daß sie, wenn sie sich einen gewissen Ruf erworben zu haben glauben, durch Eitelkeit oder Hochmuth geblendet, nicht mehr so sorgfältig über sich wachen, in ihrer fernern Ausbildung zur Vollkommenheit nicht weiter fortrücken, die allgemeine Stimme [432] nicht genug ehren und zu verlangen scheinen, daß man alles für Orakelsprüche und Meisterstücke von Weisheit und Kunst halten soll, was nachlässig und sorglos aus ihrem Munde, oder aus ihrer Feder kömmt.
Und nun lasset uns dann die nicht sehr angenehmen Betrachtungen über den Eigennutz und Undank der Menschen beschließen! Es ist schwer, bey Behandlung solcher Gegenstände, über die man selbst so manche niederschlagende und empörende Erfahrung gemacht hat, ohne Bitterkeit zu reden, und ohne in den deklamatorischen Ton zu fallen, der doch dem philosophischen Forscher nicht ziemt. Indessen darf der Unwillen des verständigen Mannes über diese Verkehrtheiten nur vorübergehend seyn, nicht aber in Menschenhaß ausarten. Wenn man sich grade mit der genauern Beobachtung solcher moralischer [434] Gebrechen beschäftigt; so reißt das manche alte Wunde wieder auf; aber ein Augenblick von kaltblütiger Ueberlegung und der Gedanke, daß die Mehrsten unsrer Brüder mehr aus Irrthum und Mangel an Einsicht, als aus Bösartigkeit fehlen, versöhnt dann wieder mit der Menschheit.
Oft betrogen, gemishandelt und gemisbraucht, trauet man freylich nicht mehr so leicht und glaubt nicht so schnell an die uneigennützige Zuneigung, noch an die zu erwartende Dankbarkeit. Man wundert sich weniger darüber, daß man hintergangen wird, als man sich darüber freuet, wenn wenigstens dieselben Menschen uns nur Einmal betrogen haben. Man verschließt sich nach und nach in sich selbst, möchte am Ende seiner Tage nun auch ein wenig sich selber leben, wenn man lange genug nur für Andre gelebt hat. Aber darum hört man [435] doch nicht auf, Gutes zu thun, wenn sich die Gelegenheit dazu zeigt; nur sucht man diese Gelegenheit vielleicht nicht mehr mit so viel Eifer, dringt seine Dienstleistungen niemanden auf. Wenn diese Stimmung von Einer Seite den Kreis der Wohlthätigkeit beschränkt; so erweitert sie ihn von der andern auch wieder. Denn wer nicht viel von den Menschen erwartet und fordert; wer nicht nur, wie die mehrsten Leute, sich nicht gleich erzürnt, wenn ihm das nicht zu Theil wird, was bloß von der Gefälligkeit, dem freyen Willen und dem Wohlwollen Andrer abhängt; sondern wer auch nicht einmal auf dasjenige, was er als Pflicht erheischen könnte, sichre Rechnung macht; wer sich bestrebt, so wenig wie möglich Andrer zu bedürfen und für die Dienste, welche er, aus Liebe zum Ganzen, seinen Mitgeschöpfen leistet, keine Gegendienste fordert; der wird durch das undankbare und eigennützige Betragen [436] derer, die ihn umgeben, nicht abgehalten werden, den Weg zu wandeln, den Kopf und Herz ihm vorzeichnen.
Rousseau sagt: »er liebe die einzelnen Menschen, aber nicht die Menschen im Ganzen.« Ich möchte wohl im Gegentheil sagen: ich liebe mehr die Menschheit, als die einzelnen Menschen. Es ist mit der Zusammenlebung in der Welt, wie mit den mehrsten großen Orchestern. Vollstimmige Sachen werden leidlich gut vorgetragen; die einzelnen Fehler laufen mit durch, ohne das Ganze widrig zu machen und die Haupt-Harmonie zu stöhren. Als Ripien-Spieler in diesem allgemeinen Concerte sind die mehrsten Menschen gut genug; auch trägt wohl hie und da einmal Einer eine obligate Passage angenehm und richtig vor – Allein lang darf diese nicht seyn und sehr in der Nähe darf man auch nicht zuhören. Der [437] wahren Virtuosen, die man als Solospieler oft und lange und in seinem Cabinette hören möchte, giebt es Wenige; aber diese Wenigen machen uns dann auch das Menschengeschlecht werth und versöhnen uns mit den Uebrigen, die doch auch da seyn müssen, wenn man große Sachen aufführen will.