[57] Getrenntes los

Er sass nach langer Zeit bei ihr zu Gast.
Schweigsam. Die beiden waren ehmals Gatten.
Aus längst Erlebtem schoben sich verblasst
Herüber die zurückgedrängten Schatten.
Er sass und sann: Ich habe sie gekränkt,
Als uns noch Eide aneinander banden.
Sie sprach in sich hinein: Kaum noch gedenkt
Mein Herz der Qualen, die es ausgestanden.
Sie liebte mich. Gewiss hat sie verschmerzt,
Dass neues Schicksal unsre Bahnen störte. –
- Ich habe alles in mir ausgemerzt
Bis auf mein eignes Selbst, das ihm gehörte. –
Noch immer ist sie meinem Herzen wert.
Zeitlebens dank ich ihrem Edelmute. –
- An meines Lebens fernstem Punkt verjährt
Doch nimmer der Verrat an meinem Blute.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Lachmann, Hedwig. Gedichte. Gesammelte Gedichte. Getrenntes los. Getrenntes los. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-D846-C