2. Wilhelm Tell

Nein! vor dem aufgestekten Hut,
Du Mörderangesicht!
Bükt sich kein Mann voll Heldenmuth,
Bükt Wilhelm Tell sich nicht!
Knirsch immer, du Tyrannenzahn!
Wer frey ist, bleibet frey!
Und wenn er nichts mehr haben kann,
Hat er noch Muth und Treu!
Der Landvogt voll von Raache schnaubt
Ihn an: »Schieß deinem Kind
Schnell einen Apfel weg vom Haupt;
Sonst würg ich dich geschwind«!
Tell hört und seufzt: »Ach, der Tyrann!
Ich sterbe, Sohn, für dich!
Doch Sohn! ich schieße, ja ich kann
Erretten dich und mich«!
Drükt an die Brust ihn – welch ein Schmerz! –
Und lispelt ihm: »Steh still!
Eh schlägt nicht mehr mein Vaterherz,
Eh ich dich trefen will«!
[70]
Und führt ihn sanft an einen Baum,
Drükt ihm den Apfel auf
Und legt den angewiesnen Raum
Zurük im schnellen Lauf,
Nimmt eilends Pfeil und Bogen, spannt,
Blikt scharf – fest steht der Knab –
Und drükt mit unbewegter Hand –
Es knällt – den Apfel ab!
Voll jugendlicher Munterkeit
Sucht ihn der Knab; in Eil
Bringt er dem Vater voller Freud
Am Apfel seinen Pfeil.
»Hätt der ihm nur ein Haar gefehlt,
Der zweyte träfe doch«!
»Wen?« »Geßler, dich! Du lägst entseelt,
Und Tell wär frey vom Joch«!
Der Vogt von Raach und Wuth entflammt,
Bindt schnell ihm Händ' und Füß'
Und schäumt und stampfet und verdammt
Den Tell zur Finsterniß.
Gebunden bleibt der Held ein Held,
In Ketten Tell noch Tell.
Gott, dem die Freyheit stets gefällt,
Sieht ihn und hilft ihm schnell.
Er ruft dem Sturm. Der Sturm braust her,
Die Schiffer stehn erblaßt,
Sehn bebend keine Rettung mehr,
Wenn Tell das Steur nicht faßt.
Des Helden losgebundner Arm
Arbeitet fort zum Strand.
Tell springt und steht von Freyheit warm
(Das Schiff prellt weg) am Land!
[71]
Die Wogen rauschen fürchterlich
In des Tyrannen Ohr,
Tell sieht zu Gott auf, stärket sich
Und läuft ihm schnell zuvor.
Er kömmt, auf seiner Stirne Zorn,
Verwirrung im Gehirn;
Tell sieht ihn hinter einem Dorn,
Sieht Tod auf seiner Stirn'.
Da zielt er, drükte – Heil dir! – los;
Der Pfeil zischt in die Brust.
Des Mörders schwarzes Blut zerfloß,
Und Tell sah es mit Lust.
Die Freyheit seines Vaterlands
Steht auf mit Geßlers Fall,
Und bald verbreitet sich ihr Glanz,
Bald strahlt sie überall.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lavater, Johann Kaspar. Gedichte. Aus: Schweizerlieder. 2. Wilhelm Tell. 2. Wilhelm Tell. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DC3C-2