Fanny Lewald
Von Geschlecht zu Geschlecht

Erste Abtheilung. Der Freiherr

Erstes Buch
1. Capitel
[3] [5]Erstes Capitel

Die Herrschaft Richten war eine der reichsten Besitzungen in der Monarchie, und die Freiherren von Arten, denen sie gehörte, eines der ältesten Geschlechter des inländischen Adels. Sie waren am Hofe wohlgelitten, in der Provinz, in welcher ihre Besitzungen lagen, geachtet und beliebt, und jene ruhige Vornehmheit, welche die alten Geschlechter kennzeichnete, hatte in den Freiherren von Arten stets ihre würdigsten Vertreter gefunden.

Es war damals aber auch das goldene Zeitalter für den Adel. Die Standesunterschiede wurden in der Gesellschaft noch aufrecht erhalten, und hatten doch aufgehört, eine Schranke für den Edelmann zu sein, wenn er geneigt war, sich gelegentlich über dieselbe fortzusetzen. Sie schützten ihn, ohne ihn zu hindern. Die Vorrechte des Adels waren groß im Staate, seine Pflichten und Lasten für das Allgemeine sehr gering. Der Grundbesitz war fast ausschließlich in seinen Händen, und man hatte trotzdem bereits angefangen, die Güter gewerblich zu benutzen und ihren Ertrag dadurch zu erhöhen. In den Fürstenschlössern, in den Richter-Collegien, in der Verwaltung und im Militär, überall herrschte der Adel vor, und daneben hatte er sich vielfach eine Bildung erworben, die zu besitzen er stolz war. Er hatte sich den Gelehrten, den Schriftstellern, den Künstlern und Dichtern genähert und befreundet, da er selbst bedeutende Menschen und schöne Talente in seinen Reihen zählte, und während man sich auf diese Art völlige Freiheit für jedes [5] Streben und Thun zu sichern verstand, wagten die bürgerlichen Klassen es noch nicht, dem Adel die Vorrechte streitig zu machen, welche er sich angeeignet hatte und nun seit Jahrhunderten besaß.

Kamen diese Glücksgüter und Privilegien rohen Naturen in die Hände, so boten die eigene Gerichtsbarkeit und die theilweise noch zu Recht bestehende Leibeigenschaft den Gutsherren die Mittel zu einer Tyrannei, unter welcher das Land und die Leute schwer zu leiden hatten; und Selbstsucht und Willkür auf der einen Seite erzeugten dann auf der anderen einen Haß und eine Aufsässigkeit, die um so erbitterter wurden und um so tiefer wurzelten, je weniger sie sich kund zu geben vermochten. Gelangten aber wohlwollende und gebildete Edelleute zu dem Gebrauch solcher aristokratischen Rechte und Macht, so bildete sich durch ihren vorsorglichen und mäßigen Gebrauch zwischen der Gutsherrschaft und ihren Hörigen ein Verhältniß des Schutzes und der anhänglichen Dankbarkeit heran, welches in den Edelleuten das Gefühl einer gewissen Souverainetät entstehen ließ und ihnen neben dem Bewußtsein ihrer großen persönlichen Freiheit eine würdevolle Herablassung verlieh, die sie beliebt und dadurch liebenswürdig machte.

Der Freiherr Franz von Arten, welcher die Herrschaft Richten zu Ende der achtziger Jahre im vorigen Jahrhundert besaß, war in diesem Sinne das Musterbild eines Edelmannes. Er hatte eine vortreffliche Erziehung genossen, hatte viele Jahre seiner Jugend auf Reisen zugebracht, lange und mit großem Erfolge an den verschiedenen Höfen von Europa verweilt, und sich dadurch jene weltmännische Gewandtheit zu eigen gemacht, welche ihm den Anspruch gab, unter seinen Standesgenossen für einen vollkommenen Cavalier zu gelten. Aber neben den leichten, gefälligen Formen hatte er, wie die Richtung jener Zeit es eben mit sich brachte, sich auch eine schönwissenschaftliche und künstlerische [6] Bildung erworben, und Schloß Richten, das von seiner mäßigen Höhe weithin über das rundum flache Land bis zu den fernen Gebirgen hinabsah, zeigte in seinem Aeußern wie in seiner inneren Einrichtung, daß es von einem eben so prachtliebenden als gebildeten Edelmanne bewohnt werde.

So lange sein Vater lebte, hatte der Baron sich trotz aller Vorstellungen desselben nicht zur Ehe überreden lassen. Er fühlte sich nach den Erfahrungen, welche er bei den Frauen gemacht hatte, nicht geneigt, seine Zu friedenheit und seine Zukunft weiblichen Händen dauernd anzuvertrauen, und erst das Ableben seines Vaters, das den Baron als den letzten Arten von der Linie Richten antraf, brachte ihm mit der Pflicht, für das Fortbestehen seines Stammes zu sorgen, den Entschluß, sich zu vermählen.

Der Baron war damals in der Mitte seiner vierziger Jahre und ein schöner Mann. Hätte er bis dahin weniger Erfolg bei den Frauen gehabt, so würde er vielleicht in diesem Alter noch das Verlangen gefühlt haben, eine Heirath zu schließen, an welcher das Herz lebhaften Antheil genommen. Er hatte aber viel geliebt und zweifelte gar nicht daran, Neigung zu erwecken, wo er solche anzuregen und zu gewinnen wünschte. Er schritt daher sehr kaltblütig zu einer Wahl und hielt sich bei derselben nicht eben lange auf.

Nächst den Freiherren von Arten waren die Grafen Berka das angesehenste Geschlecht der Provinz. Die Ahnenreihe der Herren von Arten reichte allerdings weiter in die Vergangenheit zurück, dafür hatten aber die Grafen Berka dem Lande in dem letzten Jahrhundert einen seiner bedeutendsten Feldherren und einige einflußreiche Staatsmänner gegeben, und reich waren die Häuser, eines wie das andere. Nur ein wesentlicher Unterschied waltete zwischen ihnen ob. Die Grafen Berka waren, wie der ganze Adel der Provinz und wie das ganze Landvolk, [7] protestantisch; die Herren von Arten hingegen hatten in den Heeren des deutschen Kaisers gefochten bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges und waren Katholiken geblieben für und für.

Indeß der Adel war im Allgemeinen in jenen Tagen, von denen wir erzählen, nicht orthodox, und Baron Franz fand in sich kein Bedenken gegen eine Ehe mit einer nichtkatholischen Frau. Die Frauen des Berka'schen Geschlechtes waren zudem fast alle schön, es umgab sie der Ruf strengen Wandels, und die Verehrung, welche sie genossen, hatte ihnen jene Ruhe und Sicherheit in der äußeren Erscheinung gegeben, welche den Frauen des hohen Adels so viel anmuthige Freiheit verleiht.

Mit einer Gräfin Berka glaubte der Baron am wenigsten zu wagen. Die einzige Tochter des Hauses zeigte sich ihm nach kurzer Bewerbung geneigt, die Eltern gaben mit Freuden ihre Einwilligung; noch ehe der Herbst herankam, wurde die Zeit der Hochzeit festgesetzt, und der erste Nachtreif ruhte auf dem Lande, als man in Berka eines Abends den Ehevertrag des Barons mit Comtesse Angelika unterzeichnete.

Der Baron befand sich dabei in der angenehmsten Verfassung. Die zurückhaltende Zärtlichkeit seiner Braut hatte einen eigenthümlichen Reiz für ihn, die Aussicht, das schöne Mädchen bald sein eigen zu nennen, regte ihn angenehm auf. Er war von den mancherlei Festen hingenommen, welche man zu Ehren der Verlobten in den beiderseitigen Familien auf den verschiedenen Besitzungen derselben veranstaltete, und dazwischen beschäftigten ihn die Vorkehrungen, die er in seinem Schlosse traf, um es vor der Ankunft seiner jungen Gattin in einer Weise einrichten zu lassen, die ihrer und seiner Bequemlichkeit, ihrem und seinem Geschmacke genügen konnte.

Etwa vierzehn Tage vor seiner Hochzeit befand er sich eines Mittags in dem für seine Frau bestimmten Wohnzimmer. [8] Sein Caplan war bei ihm, und sie überlegten gemeinschaftlich, ob man die beiden antiken Statuen des Amor und der Venus, welchen man neue Postamente gegeben hatte, neben dem Kamine oder in den Ecken des Zimmers aufstellen lassen solle. Als der Baron sich eben für das Letztere entschieden hatte, weil Kunstwerke, wenn sie neben dem Kamin stehen, die Aufmerksamkeit, welche den Lebenden, welche der Gesellschaft zukommt, auf sich zu lenken pflegten, brachte der Diener ihm einen Brief.

Der Freiherr blickte das Schreiben an, steckte es, ohne es zu öffnen, in die Tasche und versetzte kurz: Sag' Er, ich sei beschäftigt!

Dem Diener schien diese Abfertigung des Briefes nicht aufzufallen, der Baron war offenbar in seiner heiteren Stimmung gestört worden. Er trat noch ein paar Mal hieher und dorthin, die Wirkung der Statuen zu beurtheilen, dann entließ er die Diener, welche dabei behülflich gewesen waren, und ging langsam im Zimmer auf und nieder, als wolle er den Eindruck prüfen, welchen es auf den Beschauer bei einem ersten Anblicke machen würde.

Er war mit seiner Einrichtung zufrieden. Die gediegene Pracht that der Wohnlichkeit keinen Abbruch, es stimmte Alles zusammen, und was die Schönheit des Raumes noch erhöhte, das war der unbegrenzte Blick in die Ferne, den das Zimmer aus seinen hohen Bogenfenstern darbot.

Der Tag war sonnig, die Luft so fein, daß sie dem Blicke nirgend ein Hinderniß entgegenstellte. Auf dem Rasenplatze vor dem Schlosse lag stellenweise noch der weiße Reif, unter welchem das Gras sommerlich grün und frisch hervorsah. Die weithin sich erstreckenden gradlinigen Hecken von Buchsbaum, die scharf zugespitzten Obelisken und Taxus-Pyramiden hatten durch die späte Jahreszeit noch nichts von ihrer Farbe und Form verloren. Sie entsprachen auch jetzt noch der architektonischen [9] Absicht: die herrschaftliche Wohnung über die Grenze des Hauses hinaus in das Freie fortzusetzen, und am Ende des Gartens hoben sich die Bäume des sogenannten Bosquets empor, majestätische Kiefern, deren braunrothe Stämme, wie die Pinien, breite, grüne Kronen trugen, und prächtige Eichen, noch voll von ihrem üppigen und jetzt goldgelb gefärbten Laube.

Der Baron ging an das eine, dann an das andere Fenster. Er hatte Neigung genug für seine Braut gewonnen, um sich von ihrer Zufriedenheit Genuß zu versprechen, und es freute ihn, seiner edlen Gattin diese Heimath bieten zu können. War es Zufall oder Absicht, sein Blick fiel in den Spiegel, als er sich zurück in's Zimmer wendete, und ohne daran zu denken, richtete er sich dabei mit Selbstgefühl empor.

Er war ein Mann, der gefallen konnte, gefallen mußte. Die große, breitbrüstige Gestalt entsprach dem stolzen Kopfe vollkommen. Der prächtige Haarbeutel fiel vornehm über den kräftigen Nacken auf den niedrigen Kragen des gestickten, breitschößigen Tuchrockes herab; die fein gepuderten Seitenlocken machten die Gesichtsfarbe noch brauner und frischer, die dunkeln Augen noch lebendiger aussehen, und als der Baron sich nach dieser unwillkürlichen Musterung der persönlichen Vorzüge, die er seiner Erwählten darzubieten hatte, auf dem Kanapee niederließ, hätte Jeder ihn in der besten Stimmung glauben müssen, der ihn weniger lange kannte, weniger genau zu beobachten gewohnt war, als sein Caplan.

Nur um einige Jahre älter als der Baron, war er einst als Erzieher desselben in das von Arten'sche Haus gekommen und hatte später den jungen Freiherrn als Gouverneur auf dessen erster großer Reise begleitet. Er war es denn auch gewesen, der den Geschmack des jungen Edelmannes für die schönen Wissenschaften und für die Künste entwickelt und gepflegt hatte. Was aber den gebildeten und ehrgeizigen jungen [10] Geistlichen später bewogen, sein Leben ganz dem Dienste des freiherrlichen Hauses zu weihen, statt an irgend einem Collegium oder in der Kirche die Laufbahn zu verfolgen, für die er sich vorbereitet hatte und welche seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechend gewesen wäre, das war eigentlich selbst der freiherrlichen Familie ein Räthsel geblieben. Indeß sie hatte zu benutzen gewußt, was sich ihr dargeboten hatte. Der Freiherr besaß in seinem Caplan neben einem sehr formvollen und gelehrten Gesellschafter zugleich einen Bibliothekar und Archivar, und die Familie von Arten hatte in ihm einen geistigen Berather, dessen Treue, dessen umsichtige Verläßlichkeit sich bei den verschiedensten Gelegenheiten eben so tröstend als klug vermittelnd und versöhnend bewährt hatte.

Gemeinsame Jugenderinnerungen und ein langes gemeinsames Leben hatten den Baron und den Caplan zu Freunden gemacht, so weit Herr und Diener, so weit ein auf seine Standesvorrechte stolzer Edelmann und ein auf seine Würde achtsam haltender Geistlicher, so weit ein freier Lebemann und ein Mann von Selbstbeherrschung und von dem strengsten Lebenswandel Freunde sein konnten.

Der Baron war ein Freidenker in Bezug auf die Dogmen der Religion, aber er hatte eine lebhafte Phantasie, und während er die biblischen Wunder leugnete, war er sehr geneigt, nach der Weise seiner Zeit, an das Wunderbare zu glauben. Der Caplan seinerseits war ebenfalls nicht streng orthodox, indeß er war ein eifriger und treuer Bekenner seiner Kirche und hielt für seine Person unwandelbar an dem Moral- und Sittengesetze derselben fest. Er hatte Anfangs die Verbindung des Barons mit einer Protestantin, so weit es an ihm lag, zu verhindern gesucht. Als er dann aber gesehen, daß der Entschluß desselben einmal gefaßt sei, hatte er sich durch die vortrefflichen Eigenschaften der jungen Gräfin mit der Absicht des [11] Freiherrn ausgesöhnt, und zufrieden, daß derselbe überhaupt zur Ehe schreite, das Weitere vertrauensvoll der Zukunft überlassen.

Wenn der Baron sich dem Geistlichen überlegen fühlte, weil er sich das Recht zuerkannte, sein Leben nach seinem Ermessen zu führen und zu genießen, so gaben dem Caplan seine makellosen Sitten und seine gründliche Gelehrsamkeit ein moralisches Uebergewicht über den Baron, das um so schwerer in die Wage fiel, als ruhige Menschenbeobachtung und Welterfahrung den Geistlichen milde und nachsichtig für fremde Schwäche gemacht hatten. Da nun der Baron von weichem Herzen war und das Gute liebte und that, sofern es ihm keine großen Opfer kostete, und da er in seinem Leben auf äußern Anstand hielt, so hatte der Caplan unter dem Schutze seines Herrn vielfach nützlich wirken, viel Gutes fördern, manches Unrecht verhindern oder vergüten können, und beide waren in der Regel mit einander auch wohl zufrieden gewesen. Der Caplan wußte viel Lobenswerthes an seinem Herrn zu würdigen; der Baron rühmte sich, einen verläßlichen Freund und einen wahren Schatz an Jenem zu besitzen, und eben diesen Morgen hatten sie bei Aufstellung der Statuen wieder eine recht angenehme Stunde mitsammen zugebracht.

Auch jetzt, als der Baron dem Caplan gegenüber Platz genommen hatte, sagte er, noch einmal nach den beiden Ecken des Gemaches hinblickend, als habe ihn bis dahin nichts Anderes beschäftigt:

Die beiden Figürchen behaupten sich doch überall! Sie werden, denke ich, meiner Frau in diesem Zimmer Vergnügen machen, wenn schon ich freilich an eine Frau nicht dachte, als ich sie damals in Neapel erstand.

Gewiß! sie nehmen sich hier noch besser aus, als in der Bibliothek. Die halbe Lebensgröße schrumpfte in dem hohen Saale zu sehr zusammen, bestätigte der Caplan, der schon [12] früher mehrmals vorgeschlagen hatte, die Statuen aus dem Bibliotheksaale zu entfernen und hier aufzustellen.

Eine kleine Weile saßen die beiden Männer schweigend sich gegenüber. Des Barons Blicke glitten von einem Gegenstande auf den anderen, selbst seine Stellung wechselte er ungewöhnlich oft. Dem Caplan entging das nicht. Er lehnte gelassen in seinem Sessel. Den Kopf auf die Hand gestützt, sah er dem Spiele der Flammen im Kamine zu, es ruhig erwartend, was der Baron ihm mitzutheilen haben werde. Denn daß dieser ihm eine Eröffnung zu machen gedenke, davon hielt er sich überzeugt.

Wissen Sie, lieber Freund, nahm der Baron denn auch mit einem Male das Wort, ich fange an, mit einer Art von Vergnügen an die Ehe zu denken, so schwer mir der Entschluß dazu Anfangs auch geworden ist. Ja, ich habe Stunden, in denen ich es bedauern könnte, mich nicht früher verheirathet zu haben.

Dieses Bedauern ist vielversprechend für die Zufriedenheit Ihrer Zukunft, gnädiger Herr, versetzte der Caplan verbindlich.

Ich glaube das selbst, fuhr der Baron fort. Wäre es freilich nach meinem verstorbenen Vater und nach Ihnen gegangen, so hätte ich mich schon vor zwanzig Jahren verheirathen müssen, und es mag vielleicht recht gut sein, wenn man sich in der Jugend mit aller Schwärmerei der ersten Liebe zur Ehe entschließt. Sie hat uns dann für das Opfer, für das nicht hoch genug anzuschlagende Opfer unserer Freiheit, neue Genüsse und große Entzückungen zu bieten, die sie uns später, wenn wir die Frauen kennen und den Werth der Ungebundenheit erst völlig schätzen lernten, nicht mehr zu gewähren hat. Ein fertiger Mann befindet sich einem jungen Mädchen gegenüber doch immer in der Lage, ohne alle eigenen Illusionen großen Illusionen entsprechen zu sollen, und Sie müssen mir zugeben, daß dies seine bedenkliche Seite hat.

[13] Der Caplan blickte mit dem Ausdrucke einer gewissen Verwunderung den Sprechenden an, dessen Worte etwas ganz Anderes aussagten, als die Einleitung hatte vermuthen lassen. Der Freiherr bemerkte dies, und schnell einlenkend, sprach er: Trotz dieser Einsicht, die sich ein Mann wie ich nicht fortphilosophiren kann, ist meine bevorstehende Gebundenheit mir erwünscht. Auch die Lust an der Freiheit, an der Selbstbefriedigung erschöpft sich, und ich stelle es mir angenehm vor, das Glück eines jungen Wesens zu machen, das mir vertrauensvoll sein Leben in die Hand giebt. Es mag in solchem Gefühle sich das herannahende Alter verkünden, aber in der That, ich empfinde so!

Ein kaum merkliches Lächeln in seinen Mienen widersprach jedoch dieser Behauptung über sein alter, und der Caplan wußte zudem, daß der Freiherr es nie mals ernstlich meinte, wenn er desselben erwähnte, ja, daß er in solchen Fällen immer auf einen Widerspruch rechnete. Aber diesmal fand der Caplan es nicht angemessen, ihm die Genugthuung eines solchen Widerspruches zu gewähren. Er bemerkte daher nur, daß die junge Gräfin liebreich und liebebedürftig erscheine, daß der Baron also darauf rechnen könne, für seine beabsichtigte Hingebung durch eine schöne Zärtlichkeit belohnt zu werden, und daß überdies seine reife Erfahrung ihm neben der jungen Frau die Möglichkeit gewähren werde, dieselbe nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu erziehen.

Gewiß! gewiß! rief der Baron mit einer Ungeduld, die bei dem ruhigen Gange dieser Unterhaltung nicht berechtigt schien; aber grade mit dem Erziehen ist es ein eigenes Ding!

Er brach davon ab, und sprach dann nach einer Pause mit sichtlicher Ueberwindung: Sie wissen, daß ich nichts halb zu thun liebe. Ich bin also genöthigt – er stand auf, rückte ein Bild an der gegenüber liegenden Wand zurecht und sagte darauf mit einer gewissen Heftigkeit, als wollte er sich zwingen, [14] es auszusprechen: Ich muß den Handel in Rothenfeld zu Ende bringen! Pauline muß fort!

Es war ihm lieb, dies ausgesprochen zu haben; es kam ihm damit festgestellt und also halb geschehen vor. Er nahm eine Prise aus der goldenen Dose, auf welcher das Bild seiner Braut gemalt war, und bot sie darauf dem Caplan dar.

Dieser griff behutsam hinein, und während er den feinen Taback mit gespitzten Fingern langsam zur Nase führte, sagte er, den Kopf beim Schnupfen senkend, daß er den Freiherrn nicht anzublicken brauchte: Das wird allerdings eben so unerläßlich als zweckmäßig sein! Er säuberte darauf leichthin das schwarze eng anliegende Gewand von dem Taback, der etwa darauf verschüttet sein konnte, knipste mit den feinen Fingern die paar Körnchen hinunter, welche auf dem seidenen Beinkleide liegen geblieben waren, und sah mit seinem klaren, ernsten Auge dem Freiherrn nach, der im Zimmer hin und wieder ging.

Seit vollen sechs Jahren war der Name Pauline zum ersten Male zwischen ihnen genannt worden, und es dünkte dem Baron, als sei er durch das bloße Aussprechen dieses Namens dem alten Freunde näher gebracht, als seit langer Zeit; denn ein Lebensgenosse, dem wir geflissentlich vorenthalten, was uns beschäftigt, rückt uns in demselben Grade fern und ferner, in welchem der Gegenstand unserer verborgenen Theilnahme uns näher tritt.

Weil der Baron aber die ihm peinliche Mittheilung baldmöglichst abgethan zu haben wünschte, sagte er: So verschieden unsere Ansichten in Manchem, und eben auch in diesen Dingen sind, so werden Sie mir doch zugeben müssen, mein Freund, daß über dem Menschen eine Unfreiheit liegt, gegen die er – mögen Sie dieselbe Geschick, Schicksal, Verhängniß, Vorsehung oder wie Sie immer wollen, nennen – ohnmächtig ist. Das macht es mir so entmuthigend, in die Vergangenheit [15] zurückzublicken. Unser Wollen und unser Vollbringen decken sich so selten, unsere Absichten und unsere Thaten entsprechen einander oftmals so wenig. Und dabei bilden fremdes Empfinden und der Zufall noch so unabweisliche Faktoren in jedem Menschenleben, daß man oft fragen möchte: Was war That und was Erleiden? Was war Schicksal und was freier Wille? Wo endet das Verdienst, wo beginnt die Schuld? Wo haben wir zu sühnen, wo uns selber zu bewahren? Denn die Moral, welche Kirche und Staat als Canon aufstellen, kann nur äußere Entscheidungen und Entschlüsse hervorrufen; den inneren Zwiespalt lösen ihre Gesetze nicht.

Mich dünkt aber, hob der Caplan an, welcher dem Baron bis dahin mit Achtsamkeit gefolgt war und der den Seelenzustand desselben deutlich übersah – mich dünkt aber, der Fall, dessen Sie gedenken, ist nichts weniger als verwickelt, wenn schon er ....

Und wieder ließ der Baron ihn nicht vollenden. Urtheilen Sie nicht, lieber Freund, und vor Allem verdammen Sie nicht, ehe Sie nicht die Reihe von besonderen Thatsachen und die einander widerstrebenden Empfindungen kennen, die hier mitwirken und mich peinigen, sprach er, jede Einwendung des Geistlichen im Voraus abwehrend. Denn bedrängt, wie er sich fühlte, wünschte er doch Herr des Gespräches zu bleiben und mit seinem Vertrauen vorzugehen oder einzuhalten, wie es ihm im Augenblicke passend scheinen würde. Es war auf eine Herzenserleichterung und allenfalls auf Beistand, nicht auf eine Selbstanklage oder eine Ermahnung von ihm abgesehen, welche der Caplan in früheren Jahren, als der Baron sich noch bisweilen zu den kirchlichen Ceremonien entschlossen, ihm nicht erspart hatte.

An und für sich, als nackte Thatsache betrachtet, fuhr der Baron mit absichtlich zur Schau getragener Leichtigkeit fort, ist [16] die Sache im Grunde der einfachsten eine. Der unverheirathete Gutsherr hat die Tochter seines Jägers, hat ein Mädchen von seinen Gütern zur Geliebten gehabt und denkt dasselbe aufzugeben, es abzufinden, weil er sich verheirathen will, verheirathen muß. Das kommt, wie Sie, mein Freund, es von Ihrem Standpunkte aus auch tadeln mögen, doch alle Tage vor und ist etwas so Gewöhnliches, daß es in der That kaum die Rede darüber werth wäre! Und doch – können Sie es Sich denken? habe ich mir den Entschluß zu meiner Heirath förmlich abringen müssen! Doch habe ich es auch noch bis heute, wo meine Hochzeit vor der Thüre steht, nicht über mich gewinnen können, dem armen Geschöpfe zu sagen: Nimm dein Kind und geh'! – Abrahams Handlungsweise gegen Hagar ist mir stets als eine rohe Grausamkeit erschienen.

Der Caplan ließ eine kleine Weile in Schweigen verstreichen, dann versetzte er bestimmt und gemessen wie immer: Ich kann mir wohl vorstellen, wie eben Sie Sich schwer zu einem solchen Schritte entschließen können. Hier aber, wo ein beklagenswerthes Ereigniß unabänderlich feststeht, wo eine zwingende Nothwendigkeit zur Entscheidung drängt, gilt es allein, um jeden Preis ein neues und größeres Uebel zu verhüten! Mich dünkt, Herr Baron, Sie haben gar keine Wahl in diesem Augenblicke!

Keine Wahl? Wie meinen Sie das? fragte der Freiherr mit jener halben Zerstreutheit der Vornehmen, die selten achtsame Zuhörer sind und mit ihren Gedanken umherzuschweifen beginnen, sobald sie selbst nicht sprechen. Keine Wahl? Wie meinen Sie das?

Ich meine, daß Ihre Verheirathung für Sie eine Nothwendigkeit geworden ist. Ihre Wahl ist eine in jedem Betrachte glückliche und vortreffliche zu nennen. Die künftige Frau Baronin hat neben ihren anderen seltenen Vorzügen ein weiches Herz und eine schöne, reine Seele. Sie hat für diese eine [17] eben so reine Lebensatmosphäre zu verlangen, und Paulinen's Nähe würde diese ohne alle Frage bald beeinträchtigen. Ganz abgesehen davon, daß für den verheiratheten Mann ...

Ich weiß das, ich weiß das! Ich habe mir das alles längst und selbst gesagt! rief der Baron mit schnell erwachter Ungeduld lebhaft aus. Sie sehen ja auch, mein Entschluß steht fest! Ich habe im Leben ähnliche Händel, ich habe tiefere Herzensverbindungen sonst auch mit raschem Entschlusse, mit fester Hand zerrissen und mich damit beruhigt, daß Selbsterhaltung eine gebietende Pflicht, und jeder Mann in der Lage sei, für sein Wohlbefinden selbst zu sorgen! Ja, ich bekenne Ihnen, ich finde es eigentlich eine unbegreifliche Schwäche von mir, daß es mir so widerstrebt, das Natürliche, das Sittlichgebotene zu thun, und wenn ich mein innerstes Herz befrage, so ist es außer der wirklichen Zuneigung, welche ich für das Mädchen und für den Knaben hege, eine Art von Aberglauben, der mich an Paulinen festhalten, eine unheimliche Ahnung, die mich zögern macht, die Arme von hier fortzuschicken!

Diesen letzten Einflüssen, Herr Baron, hätte ich Sie in der That nicht mehr, und am wenigsten in diesem Falle unterworfen geglaubt, bemerkte der Caplan mit vieldeutigem Lächeln.

Der Baron beachtete das kaum, er hing schweigend seinen Gedanken nach. Ich habe sie einst als ein Pfand des Glückes angesehen, habe im Geiste meinen Stern an den ihrigen geknüpft, als sie noch ein hülflos Kind gewesen ist, sagte er nach einer Pause, gleichsam in sich selbst hineinredend, und, fuhr er dann nach einem neuen, kurzen Schweigen lebhafter fort, Sie können sich in der That nicht denken, lieber Freund, in welcher Verfassung ich nach meinem zweiten Aufenthalte in Dresden in die Heimath zurückkehrte. Die traurige Angelegenheit mit der Gräfin, das unglückliche Duell mit ihrem Manne lagen mir auf der Seele. Mein Herz war verzagt, mein Sinn beschwert, [18] mein Ehrgefühl durch den herzlosen Leichtsinn der Gräfin, die mich über dem Sarge ihres Gatten einem jungen Laffen aufopferte, empfindlich gekränkt. Ich glaubte, der großen Welt, der Höfe, der Frauen müde zu sein. Ich fühlte einen Widerwillen gegen die Unnatur aller der Verhältnisse, die wir uns als Convenienzen auferlegen, und als ich von der Höhe der Berge Schloß Richten erblickte, als ich so einsam dahinfuhr und die Bäche rieseln, die Halme sich im Morgenwinde wiegen sah, als die Bäume unserer Wälder mir ihren Schatten spendeten und ihren Willkomm zuflüsterten, da erwachte in mir eine nie gefühlte Freude an der Natur, und ich gelobte mich in der Stille meines Herzens ihr und ihren einfachen Freuden und Pflichten an. Es war eine Stunde, deren ich mich lebenslang als einer schönen, feierlichen erinnern werde.

Und doch war gerade jener Zeitpunkt einer der traurigsten für diese Gegend, wendete der Geistliche ein. Wenigstens haben Alle, die ihn hier durchlebten, ihn schwer genug empfunden. Die Berichte, welche man der verstorbenen Frau Baronin nach Italien sandte, klangen, obschon man gewiß sich in denselben vorsichtig geäußert hatte, untröstlich genug.

Mir in meiner Stimmung, entgegnete der Baron, kam das allgemeine Unglück nur wie ein Mahnruf für mich selber vor. Die Seuche, welche die Provinz heimsuchte, hatte auch bei uns große Verheerungen angerichtet. Ganze Familien waren dem Typhus erlegen, ganze Häuser ausgestorben und leer. Selbst in unserm Hause fand ich fast ein neues Dienstpersonal vor, und gerade am Tage meiner Ankunft war die Frau meines Jägers ihrem Manne in das Grab gefolgt.

Sie war, wie man uns bei unserer Rückkehr sagte, die letzte Person, welche im Schlosse starb, bemerkte der Caplan.

Sie war überhaupt die letzte Person, die auf unseren Gütern starb, bestätigte der Baron, und tief aufathmend fügte [19] er hinzu: Und eben daran knüpft sich für mich das Verhängnißvolle. – Er blieb stehen, setzte sich dann wieder vor dem Kamine nieder und sagte: Sie waren mit meiner Mutter und Schwester abwesend, und mein Vater nicht geneigt, sich irgendwie auszusetzen. Die Angst vor der Ansteckung war also maßlos geworden, als ich nach Hause kam. Man hatte in der letzten Woche Noth gehabt, die Leichen unter die Erde zu bringen, oder den Kranken auch nur die nothdürftigste Pflege und Wartung zu verschaffen. Als die Frau des Jägers nun auch gestorben war, wollte mein Vater das ebenfalls erkrankte Kind derselben nicht mehr im Hause leiden, und überall weigerte man sich, das kleine, kranke Geschöpf aufzunehmen. In einer Stimmung, wie die meine damals war, und mit siebenundzwanzig Jahren schlägt man das Leben nicht eben hoch an. Es fiel mir also nicht sonderlich schwer, ein gutes Beispiel zu geben. Trotz aller Bitten und Warnungen meines Vaters half ich die Frau bestatten, fuhr ich selbst das kranke Kind, dem der Arzt das Leben abgesprochen hatte, zu meiner Amme, die damals noch eine rüstige, unverzagte Frau war, und sich mir zu Liebe, seiner Pflege zu unterziehen versprach.

Der Baron hielt einen Augenblick inne, dann sagte er, an seinen früheren Ausspruch anknüpfend: Diese That war Freiheit; was ihr folgte, möchte ich Verhängniß nennen. Denn als ich mit dem kranken Kinde durch den Wald fuhr und es so elend in seinen Kissen auf dem Rücksitze des Wagens vor mir liegen sah, schoß mir plötzlich der Gedanke durch den Kopf: wenn das Kind wider alles Erwarten genese, wenn es mir die tödtliche Krankheit nicht übertrage, so solle mir das ein Zeichen sein, daß mir noch Freude und Wirksamkeit hienieden bestimmt sei, und wie ein Pfand meines Glückes wolle ich dann die Kleine ansehen und in meiner Nähe behalten.

Der Baron hatte das alles in eigenem Rückerinnern gesprochen. [20] Jetzt blickte er dem Caplan fest ins Auge, als wolle er dessen innerste Meinung erforschen, ohne daß er um dieselbe zu fragen oder sie anzuhören brauchte, und sagte: Ich weiß, was Sie über solch ein Würfelspielen mit dem Zufalle denken. Sie nennen es unchristlich; ich nenne es thöricht, und doch übte es damals, übt es noch in dieser Stunde seinen Einfluß auf mich aus. – Um des Beispiels willen, so sagte ich mir damals, in der That jedoch mehr, um mein Schicksal zu erproben, fuhr ich im Laufe der nächsten Woche häufiger nach Rothenfeld hinüber, um nach dem Kinde zu sehen. Was der Mensch aber zu beobachten anfängt, darauf richtet er seine Neigung, und hatte ich doch ohnehin meine eigene Zukunft in meiner Phantasie an dieses Kind geknüpft! Ich sorgte mich um dasselbe, sein Ergehen beschäftigte mich lebhafter, als ich es für möglich gehalten hätte, ja ich empfand eine große Freude und Beruhigung, als die Kleine sich zu erholen begann und endlich vollständig genas. Ich glaubte von jenem Zeitpunkte ab wieder an die Zukunft, ich hoffte für mich wieder etwas von der Zukunft.

Ihre Theilnahme an dem Kinde hatte, als wir von Venedig heimkehrten, für die verstorbene Frau Baronin und auch für mich allerdings etwas Auffallendes. Wir wußten uns Ihr Verhalten nicht zu enträthseln und fanden Sie überhaupt ganz ungemein verändert. Indeß die Mittheilungen, welche Sie mir eben zu machen belieben, erklären mir jene Theilnahme wie jene Veränderung, bemerkte der Caplan, der immer nur dann sich in die Rede des Freiherrn mischte, wenn er befürchtete, daß sie ins Stocken gerathen, und die Angelegenheit, um welche es sich handelte, dadurch nicht zu ihrem Ende geführt werden möchte.

Die Wandlung in meinem Wesen war natürlich genug, meinte der Baron. Der Wechsel der Umgebungen und der [21] Zustände war für mich sehr grell gewesen. In Dresden ein Leben des Genusses, welches mir das Herz zerrissen, hier Noth und Elend, an denen ich mich aufgerichtet hatte. Nun kamen Sie mit meiner Mutter von dem Sterbebette meiner Schwester aus Venedig heim ....

Ja, fiel der Caplan ihm mit einer Weise in die Rede, als wünsche er bei dieser Erinnerung nicht zu verweilen, der Verlust, welchen die Frau Baronin, welchen das Haus erlitten hatte, machte dieselbe nur geneigter, sich der Unglücklichen auf den Gütern anzunehmen. Das kam Ihrem Schützlinge damals sehr zu Statten.

Gewiß! Auch verlor ich Pauline, so lange meine Mutter lebte, mehr und mehr aus den Augen, sprach der Baron, der sich von dem Caplan schnell wieder zu seiner Erzählung zurückgeführt fand. Mein Sinn hatte sich allmählich erheitert, ich überließ mich wieder den Neigungen meines damaligen Alters. Ich wechselte öfter den Aufenthalt, und wenn ich dazwischen die Kleine einmal wiedersah, so freute ich mich ihres Gedeihens, sah mit Vergnügen, wie hübsch sie sei, und ließ mir von meiner Mutter und von der alten Margarethe erzählen, daß das Kind mich wie seinen Herrgott verehre und liebe, während ich selbst es nicht vergessen konnte, daß ich es einst als Glückspfand betrachtet hatte. – Jahre gingen so hin. Man schickte Pauline in die Schule, in der freilich wenig genug zu lernen war; aber sie ließ sich gut an, und als man sie dann nach dem Tode meiner Mutter confirmirte – ich lebte eben wieder im Auslande –, fragte man mich, ob man sie jetzt in fremde Dienste thun oder versuchen solle, sie im Schlosse unter die Dienstboten einzureihen. Um der Anfragen ledig zu werden, bestimmte ich, daß sie bei Margarethe bleiben solle; und vor der Wohnung meiner Amme, unter ihrer Thüre sitzend, sah ich Pauline eines Abends zum ersten Male wieder, als ich nach längerer Abwesenheit von [22] Hause einmal nach Rothenfeld hinüberritt, meine Amme zu besuchen. Mein Vetter Waldern begleitete mich auf diesem Ritte. Mich erblicken, auf mich zustürzen, meine Hände küssen war für Pauline, sobald ich vom Pferde gestiegen, das Werk eines Augenblickes. Es überraschte mich, sie so erwachsen zu sehen, wie meinen Vetter der ganze Vorgang überraschte. Um ihn aufzuklären, sagte ich, daß ich das Mädchen hätte erziehen lassen. Für sich? fragte er lächelnd, und ich ließ die Frage unbeachtet, weil sie mir zuwider war. Gutsherrliche Liebschaften waren niemals mein Geschmack, und meine Sinne haben mich nie beherrscht ohne die Mitwirkung meines Herzens. Trotzdem aber wurde ich das Bild des schönen Geschöpfes, das in seiner feurigen Dankbarkeit mir nur noch reizender erschien, nicht wieder los, und ich mußte mir bald sagen, daß es so gar leicht für mich sei, es zu besitzen, um mich in dem Vorsatze, das Mädchen zu meiden, aufrecht zu erhalten. Hätte Paulinen's Zuneigung sie mir nicht immer wieder in den Weg geführt, ich würde meinem Vorsatze treu geblieben sein.

Der Caplan wurde von dieser Aeußerung betroffen. Der Baron mußte sehr erregt, sehr erschüttert sein, daß er sich vor sich selbst in solcher Weise zu rechtfertigen suchte, daß er es nicht fühlte, wie nahe es an das Gebiet des Komischen grenzte, wenn er, der erfahrene, herzenskundige Lebemann, es unternahm, sich halbwegs als durch die Liebe eines Kindes verleitet, darzustellen. Er mochte wohl auch etwas von dieser Verwunderung in den Mienen des Caplans bemerken, denn er brach plötzlich ab und sagte dann: Was soll ich Ihnen erzählen, wie ein unerwartetes Begegnen in einsamer Stunde einmal meine Sinne anfachte, wie des Mädchens Hingebung es mir in die Arme warf!

Er erhob sich nach diesen Worten und begann wieder im Zimmer umherzugehen. Dem Genusse folgte die Reue auf dem [23] Fuße, sagte er kurz und schnell, als wolle er bald beenden, was ihm zu erzählen noch übrig blieb. Das Mädchen war mein Schützling gewesen; ich konnte das nicht vergessen. Unzufrieden mit mir selbst, dachte ich dem Handel keine weitere Folge zu geben. Ich hatte fest beschlossen, Pauline sogleich zu entfernen, und suchte nur nach einem Orte, nach dem ich sie schaffen, oder nach einem Manne ihres Standes, mit dem ich sie verheirathen und von welchem ich eine gute Behandlung des armen Geschöpfes erwarten konnte, denn ich wollte ihr in jedem Falle ein möglichst gutes Loos bereiten. Aber die Leidenschaft des Mädchens hatte etwas Dämonisches. Sie hing sich mit einer Gewalt der Liebe an mich, die ich in ihrem Alter und in ihrem Stande nicht für möglich gehalten hätte. Wie an meine Schritte gebannt, folgte sie mir mit einer Art von Instinkt. Sie schien meine Gedanken, meine Absichten im Voraus zu errathen; wohin ich kam, fand ich sie; wo ich sie nicht vermuthen konnte, erschien sie plötzlich. Sie wurde mir eine Art von psychologischem Räthsel. Wir wissen ja so wenig von der verborgenen Macht, welche die Wesen aneinander kettet! Ich konnte mich der Vorstellung nicht erwehren, daß ein geheimnißvoller Zusammenhang dieses Mädchen mir verbinde; aus Mitleid, aus einer menschenfreundlichen Grille und, ich mag mich Ihnen nicht besser darstellen, als ich bin, aus Genußsucht endlich behielt ich sie.

Ich verbot ihr jedoch, mir zu folgen oder jemals nach Richten zu kommen; ich versprach, sie aufzusuchen. Ihre Freude war groß, ihr Gehorsam unbedingt, und bald war mir das Idyll, bald war sie selbst mir in das Herz gewachsen. Ich unterhielt mich damit, ihren Verstand zu entwickeln; ich wollte sehen, was Erziehung aus einem Naturkinde zu machen vermöge. Ich wollte einmal eine ungekünstelte, ungeheuchelte Liebe genießen, mich an der reinen, einfachen Natur erfreuen. [24] Ich wies den neuen und tüchtigen Schullehrer an, ihren früh abgebrochenen Unterricht wieder aufzunehmen. Paulinen's Wißbegier, durch das Verlangen, mir näher zu rücken, gesteigert, war so unermüdlich, als ihr Fleiß. Ihre Fortschritte überraschten mich. Neben den geistreichsten Frauen hat mich oftmals das Gefühl einer Ermüdung beschlichen; neben Pauline habe ich das nie empfunden. Ihre Ursprünglichkeit machte sie mir immer reizend, sie ist durch aus eigenartig. Ich habe viel Freude an ihr gehabt.

Der Caplan hatte durch sein Schweigen dem Freiherrn die Genugthuung vollen Aussprechens gewähren wollen, um danach zu berechnen, was geschehen müsse, ein gethanes Unrecht möglichst zu sühnen und neue, weiter fortgeführte Sünde zu verhüten. Nun, da der Baron anfing, sich in die Erinnerungen zu versenken, welche ihn an Pauline fesselten, dünkte es dem Geistlichen an der Zeit, diesen Erinnerungen ein Ziel zu stecken, und er fragte plötzlich nach Paulinen's Alter.

Sie war siebenzehn Jahre, als ich sie einrichtete, und neunzehn, als sie den Knaben gebar, der nun im sechsten Jahre steht, antwortete er. Die Frage des Caplans hatte den Baron aber unbehaglich aufgeschreckt; er setzte seinen Weg durch das Zimmer eine Weile lautlos fort.

Auch an dem Knaben hänge ich, sagte er dann mit einem Male. Er erschreckt mich oft durch seine Aehnlichkeit mit meinem Vater und mit mir. Dazu ist er an meinem Geburtstage, wie Pauline an dem Geburtstage meiner Mutter, geboren, deren Namen sie ja auch trägt, fügte er mit unverkennbarer Zärtlichkeit hinzu.

Und weiß sie es bereits, daß Sie sie entfernen wollen, entfernen müssen? fragte der Caplan, um den Baron von der Betrachtung dessen abzulenken, was er als das Dämonische anzusehen liebte.

[25]

Ja, sie weiß es. Als sie durch mich zuerst von meiner bevorstehenden Verheirathung erfuhr, nahm sie die Nachricht mit anscheinender Fassung auf, und weil ich sie verständig zu finden wünschte, hoffte ich, daß sie es sei und daß sie mir keine Schwierigkeiten bereiten würde. Ich belobte sie, ich sagte ihr, daß sie mir eine Beruhigung gewähre, mir einen Beistand leiste, daß ihre Zukunft mir sehr am Herzen liege, daß ich für den Knaben in jedem Betrachte sorgen würde, und ich verließ sie, sehr zufrieden, sie so fügsam gefunden zu haben. Ja, ich war ihr dankbar, recht eigentlich dankbar dafür, daß sie mir erleichterte, was mir selber so schwer fiel. Ich hatte aber nicht berechnet, daß sie nicht über den Augenblick hinaus zu denken pflegte, wenn ich bei ihr war.

Der Baron wollte die ihn drückende Angelegenheit gern wie ein Geschäft behandeln und zum Abschluß bringen. Aber wie sehr er sich auch dazu zwang, der Zwiespalt zwischen seiner Vernunft und seiner Empfindung, zwischen seinen Absichten und seinem Gewissen verrieth sich immerfort, und er hatte Pauline vielleicht nie zärtlicher im Herzen getragen, als in dieser Stunde, in der er sich für immer von ihr loszumachen strebte.

Paulinen's Knabe ist natürlich protestantisch, wie die Mutter, bemerkte der Caplan, der den Baron bei den Thatsachen festzuhalten wünschte und der es damit verrieth, daß er von den Vorgängen in Rothenfeld wohl unterrichtet sei.

Ja, sprach der Baron, aber ich bekenne Ihnen ehrlich, ich wünschte, daß es anders wäre; denn der Katholicismus kommt mit seinen Lehren dem Bedürfnisse der Schwachen, der Leidenden doch weit mehr, ich möchte sagen, sichtbarer, faßbarer zu Hülfe, als der Protestantismus es thut. Und auch hier trage ich eine Schuld. Es hätte mich nur ein Wort gekostet, den Knaben unserer Kirche zu übergeben; aber die Mutter würde ohne Zweifel dem Kinde dann nachgefolgt sein. Ich habe dies [26] zu thun versäumt, und jetzt gäbe ich doch viel darum, wenn die arme Pauline unserer Kirche angehörte.

Ist sie denn überhaupt eine religiöse Natur? fragte der Geistliche.

Sie war es ganz unstreitig! Indeß die zelotische Strenge des Neudorfer Pfarrers hatte sie so beängstigt, daß ich sie, um sie zu beruhigen, nur leider von der Kirche entwöhnen mußte. Das ist jetzt in der That ein großes Unglück für sie und für mich. Wenn Pauline Katholikin wäre, wenn sie einer Kirche vertrauensvoll angehörte, wenn sie sich aussprechen, beichten, Rath und Trost finden, ja, selbst büßen könnte, so würde das in diesem Augenblicke eine Wohlthat, es würde die größte Hülfe, es würde eine Rettung für sie sein. – Und ihr zu helfen, mir zu helfen, das ist es, was ich jetzt von Ihnen zu fordern genöthigt bin, mein alter Freund! schloß der Baron im Tone bittender Herzlichkeit.

Der Caplan zögerte zu antworten; er ging offenbar mit sich zu Rathe. Und was verlangen Sie von mir? Was wünschen Sie, daß ich für Pauline thue? fragte er danach.

Gehen Sie zu ihr, mein Freund! Zeigen Sie ihr, daß Sie Alles wissen, suchen Sie ihr Vertrauen zu gewinnen. Seit die alte Margarethe todt ist, hat sie Niemand mehr gehabt, der Theil an ihr genommen hat, sagte der Freiherr. Der Vorzug, den ich ihr einräumte – Sie kennen ja die Menschen – machte sie unbeliebt. Man mißgönnte ihr denselben von der einen Seite, und warf von der anderen den Stein auf sie. Man mißtraute ihr und beneidete sie. Sie war also, mehr als gut ist, auf mich allein angewiesen. Stellen Sie ihr die Dinge vor, wie sie liegen. Machen Sie ihr meine und ihre Lage klar. Was Sie ihr sagen, wird uneigennütziger, milder scheinen, als meine Vorstellungen, und wird darum eindringlicher wirken. Sagen Sie ihr, daß sie, schon um ihrem Knaben eine gute Zukunft zu bereiten, sich früh mit ihm von hier entfernen [27] müsse. Mit einem Worte, bester Freund! er ging auf den Caplan zu, ergriff seine Hände und sagte mit einer Bewegung, die er nicht mehr bemeistern konnte: Ich kenne Ihre Grundsätze, aber ich kenne auch Ihre Anhänglichkeit, Ihre Freundschaft für mich. Ich habe Ihre Gewandtheit und Rechtlichkeit vielfach schätzen zu lernen Ursache gehabt, und hier handelt es sich nicht einzig und allein um mich. Ein armes, unglückliches Weib hat Ihren erbarmungsvollen Beistand nöthig, und Pauline liegt mir mehr am Herzen, als mir lieb ist. Beruhigen Sie sie um meiner Ruhe willen. – Und vor allen Dingen machen Sie, daß sie sich entfernt, denn ich bin das zu thun nicht im Stande – und fort muß sie!

Er wandte sich danach schnell ab, verließ das Zimmer, und der Caplan blieb allein zurück.

Er sah dem Freiherrn gedankenvoll nach. Immer der Alte, sagte er endlich, indem er eine Prise nahm, seinem Herzen wie seinen Sinnen und seinen Phantasmen unterthan. Eben so leicht geneigt, sich die Zügel schießen zu lassen, als sich dessen anzuklagen und sich davon freizusprechen. Wann wird die Stunde endlich für ihn schlagen?

Er blieb wie in Gedanken vor den Bildern stehen, welche die Hauptwand des Zimmers schmückten. Sie stellten die Eltern und die verstorbene Schwester des Freiherrn vor. Er betrachtete das Portrait der Letzteren lange und liebevoll.

Nur Etwas von ihrem klaren, festen Sinne, und welch ein Anderer wäre auch er geworden! rief er aus. Dann entfernte er sich ebenfalls, und nur die hellen Sonnenstrahlen belebten das schöne, würdige Gemach.

[28]
2. Capitel
Zweites Capitel

Noch an demselben Abende ließ der Caplan sich den kleinen Wagen anspannen, der ihm seit langen Jahren zu seinem Privatgebrauche überwiesen worden war, und fuhr nach dem fast eine Stunde entlegenen Dorfe Rothenfeld hinüber, die Geliebte des Freiherrn aufzusuchen.

Vor dem Dorfe stieg er aus. Er wollte den Wagen nicht vor Paulinen's Thür stehen lassen. Das kleine Haus lag am Eingange des Dorfes. Es hatte, seit Pauline die Geliebte des Barons geworden war, einige Veränderungen erhalten, die es, so gering dieselben auch waren, doch vortheilhaft von den andern Häusern des Dorfes unterschieden. Es war sauber getüncht, die Fenster höher ausgebrochen, hatte grüne Läden vor denselben, und ein Gärtchen, in welchem noch einzelne Stockrosen farbig über ihre bereits braun gewordenen Blätter emporragten. Auch noch jetzt im Herbste und trotz des vielen abgefallenen Laubes verrieth es eine liebevolle Pflege.

Die Hausthüre stand offen, der kleine Vorplatz war sauber mit Sand bestreut, das Feuer auf dem Heerde brannte hell. Es beleuchtete die Reihen weiß und blauer Fayence-Teller und blanker Zinngeräthschaften auf dem Simse und in den Borden. Eine ganz junge Magd spann bei seinem Scheine. Als der Schritt des Caplans auf dem knisternden Sande der Schwelle hörbar wurde, öffnete sich die Stubenthüre und Pauline kam heraus. Aber kaum hatte sie den Geistlichen erkannt, so trat sie [29] erschreckend zurück, und mit einer Miene, in der sich ihre Enttäuschung aussprach, sagte sie: Herr Caplan! Sie sind es, Herr Caplan? Sie hier? Sie faßte sich jedoch schnell und nöthigte ihn mit feiner Handbewegung zum Eintritt.

Das Zimmer war bescheiden und freundlich wie das Haus. Ein Canapé mit grünem Rasch überzogen, ein Lehnstuhl daneben, Tische, Stühle und Schränke von Nußbaumholz mit weitgeschweiften Füßen, und ein kleiner Spiegel in zinnernem, vielgeschnörkeltem Rahmen gaben ihm eine hübsche Behaglichkeit. Auf dem Tische stand sauberes Kaffeegeräth neben dem Nähkästchen, von welchem die Arbeit niedergeglitten war. Trockene Eicheln und Kastanien, in Häufchen gesondert, bedeckten den andern Theil des Tisches. Sie machten das Spielzeug des Knaben aus, der, auf einem Stuhle knieend, den ungewohnten Gast mit neugierigen Blicken betrachtete.

Sie hier, Hochwürden? wiederholte Pauline. Was ist dem gnädigen Herrn zugestoßen?

Sie erwarteten also den Herrn Baron? fragte der Geistliche und ließ sich auf den großen Lehnstuhl nieder, den sie ihm trotz ihrer Verwirrung mit guter Manier angeboten hatte.

Ich dachte – ich hatte heute Morgen an den gnädigen Herrn geschrieben – und ich hoffte also immer noch – sprach sie, unentschlossen, was sie sagen solle, und sich deßhalb selbst fortwährend unterbrechend. Dann nahm sie sich plötzlich zusammen und sagte sehr bestimmt: Hochwürden, was ich hören soll, das sagen Sie mir gleich und grade heraus. Sie sind zu mir nicht bloß von ungefähr gekommen!

Sie hob dabei den Knaben vom Stuhle herunter und hieß ihn in die Küche zu dem Mädchen gehen. Als er sich entfernt hatte, setzte sie sich vor ihre Arbeit hin, die Hände auf den Tisch gelegt und offenbar auf eine schwere Mittheilung gefaßt.

Der Caplan hatte sie nicht in der Nähe gesehen und nicht [30] gesprochen, seit sie nicht mehr nach Richten und in das Schloß gekommen war. Er fand sie daher in jedem Betrachte verändert. Sie hatte die Kleidung der Landleute abgelegt und trug sich wie die städtischen Frauen bürgerlichen Standes. Das enganliegende Leibchen des großblumigen Kattunrockes, das weiße Busentuch, das Nacken und Kehle freiließ, die kleine Dormeusenhaube, die, ihr auf dem Hinterkopfe sitzend, die Fülle ihres braunen Haares nicht zu fassen vermochte, kleideten sie vortrefflich. Sie war wirklich schön zu nennen, ihre Züge waren rein und sehr weiblich, nur die kleine Stirn mit den nahe zusammengewachsenen und scharfgezeichneten Brauen gab dem Kopfe etwas Finsteres und Hartes, und erklärte dem Caplan die Gewalt, welche Pauline über den Baron besaß, und die geheimnißvolle Macht, durch die er sich an das Mädchen gebunden glaubte.

Der Caplan hatte es sich auf der Fahrt nach Rothenfeld ruhig zurecht gelegt, was er ihr sagen und wie er sie behandeln wolle, aber wie es auch den Gescheutesten manchmal zu begegnen pflegt, daß sie ihr einstiges Wissen und ihre Vorstellungen von den Personen festhalten, wenn diese längst nicht mehr dieselben sind, so hatte er trotz seiner sonstigen Lebensklugheit es außer Acht gelassen, daß er die jetzige Pauline gar nicht kannte, daß der natürliche Verlauf der Zeit, daß der langjährige vertraute Umgang mit dem Freiherrn sie verändert haben mußten. Als er sie denn jetzt plötzlich vor sich sah, fand er, daß Alles, was er ihr vorzuhalten beabsichtigt hatte, für sie und ihren gegenwärtigen Zustand nicht mehr paßte. Es war ihm daher recht erwünscht, daß ihre lebhafte Besorgniß ihm die Mühe ersparte, sie auf seine Mittheilungen vorzubereiten, und daß sie ihn ohne sein Zuthun als den Boten übler Kunde ansah.

Ich komme allerdings nicht zufällig hieher, sagte er, aber dem Herrn Baron ist kein Unglück zugestoßen. Er befindet sich [31] wohl und wird morgen in aller Frühe auf einige Tage nach der Stadt reisen, jedoch noch einmal hieher zurückkommen.

Das war immer sein Vornehmen, versetzte sie, und weil ich das wußte, schrieb ich eben heute. – Beide sprachen dabei das Wort von der Vermählung des Barons geflissentlich nicht aus.

Was machte Sie also eine üble Nachricht vermuthen, als ich kam? fragte der Caplan.

Sie sah ihn mit raschem Blicke forschend an, als wolle sie erspähen, was sie etwa von ihm zu erwarten habe; dann zuckte sie leise mit den Schultern und meinte seufzend: Sie werden das wohl wissen, Hochwürden, daß mir jetzt vom Schlosse nichts Gutes mehr kommt. Sie sind ja auch niemals hier gewesen, seit ich hier allein im Hause wohne!

Sie wurde roth, als sie diese Worte sprach, und der Caplan hätte die Aeußerung für seine Zwecke nicht besser wünschen können. Das ist leider wahr und sehr erklärlich, sagte er. Als die verstorbene Frau Baronin noch am Leben war und Sie im Schlosse noch aus-und eingingen, war es freilich anders, und die gnädige Frau hat sicherlich nicht erwartet, was hernach geschehen ist.

Hochwürden, rief Pauline und hob die Hände unwillkürlich bittend zu ihm empor, sprechen Sie davon nicht, jetzt nicht! Seit neun Tagen ist der Herr Baron nicht mehr hier gewesen, obschon er auf dem Schlosse war die ganze lange Zeit; seit neun Tagen ist mein Leben ein einziges Warten gewesen Tag und Nacht! Ich weiß vor Angst und Qual nicht mehr, wie mir zu Muthe ist; ich habe genug auf dem Herzen, auch ohne daß ich an die selige Frau Baronin denke!

Und hoffen Sie denn, daß Sie hier in Rothenfeld, so lange Sie in der Nähe des Schlosses leben, jemals zur Ruhe kommen werden? fragte er nachdrücklich.

Sie war bis dahin äußerlich gefaßt und ruhig gewesen, [32] bei dieser Frage aber fuhr sie augenblicklich leidenschaftlich empor. So lange ich in der Nähe des Schlosses bin? Wo soll ich denn anders sein als hier, als hier, wo ich geboren bin und hingehöre? Ich gehe auch nicht fort von hier, gewiß und bestimmt nicht! Ich habe ihm das selbst gesagt seit all den Wochen und Wochen, und wenn Sie nur deßhalb hergekommen sind, Hochwürden, so .... Sie vermochte seinem ruhigen Blicke gegenüber das trotzige Wort nicht zu vollenden, und plötzlich abbrechend rief sie: Alles, alles, was er will – nur nicht fort von hier!

Sie nannte den Namen des Barons auch jetzt wieder nicht, indeß die Art, in welcher sie ihn bezeichnete, gab deutlich das Verhältniß kund, in dem sie seit Jahren zu ihm gestanden, und das Gefühl der Berechtigung, daß sie dadurch neben ihm gewonnen hatte. Sie dauerte den Caplan; er sah sie an, um in ihrem gramerfüllten und doch stolzen Antlitz die Züge des einst so freundlichen und heiteren Kindes wiederzufinden, und unwillkürlich gab er ihr schweigend die Hand. Das machte einen erschütternden Eindruck auf sie. Sie schlug die Augen nieder und schien sich ihrer Heftigkeit zu schämen.

Es thut mir leid, sagte er, daß ich Sie so wiederfinde und daß ich mit solchem Auftrage, wie der meine, zu Ihnen kommen muß; denn allerdings ist es die Nothwendigkeit Ihrer Entfernung, die ich Ihnen begreiflich zu machen wünsche. – Er hielt inne, sein Blick lag fortdauernd mit demselben ruhigen Ernste über ihr. Sie waren solch ein gutes Kind, solch braves Mädchen! sagte er nach einer Weile.

Ein Zug von Schmerz flog über ihre Mienen, sie antwortete und regte sich nicht.

Als ich es dem Herrn Baron verhieß, zu Ihnen zu gehen und mit Ihnen zu sprechen, fuhr der Caplan fort, brachte ich [33] ein Opfer damit. Jetzt freut es mich, daß ich gekommen bin, denn ich hoffe, auch Ihnen soll es zu Gute kommen.

Mir? Was können Sie mir helfen, wenn Sie es auch wollten? unterbrach sie ihn. Der gnädige Herr allein ....

Der Caplan ließ sie nicht weiter sprechen. Es ist fern von mir, fuhr er fort, Ihnen Vorstellungen, Vorwürfe zu machen, welche Ihr eigenes Gewissen Ihnen in ruhigen Stunden sicherlich nicht erspart. Es ist eben so fern von mir, Ihnen den Weg nennen zu wollen, auf dem Sie bisher gegangen sind. Sie haben Verstand, Sie haben ein Herz, Sie müssen also den Unsegen Ihrer Lage selbst empfunden haben, und Ihr Kind wird den Makel seiner Geburt durch sein ganzes Leben tragen. Aber Sie waren jung, als Sie den ersten Schritt zur Sünde thaten, und ....

Sünde? wiederholte sie, indem sie sich aufrichtete, was habe ich denn gesündigt?

Pauline! rief der Geistliche mit Strenge, wen wollen Sie jetzt täuschen, sich oder mich?

Nicht Sie, nicht mich! entgegnete sie fest und mit einer Sicherheit, welche ihrem Wesen einen großen Adel verlieh. Es ist wahr, ich bin seit Jahren die Geliebte des gnädigen Herrn! Soll das mein Verbrechen sein? – Wer sich einen Baum groß zieht, dem gehört der Baum, der kann damit schalten und walten, wie's ihm gutdünkt, und wenn der Baum von sich wüßte, wie ein Mensch, so müßt's ihm recht und lieb sein, wenn sein Herr sich an ihm freut. Als ich klein war, fuhr sie mit wachsender Lebhaftigkeit und Freiheit fort, kleiner und hülfloser als jetzt sein Kind, da hat er sein Leben daran gesetzt, mir das meine zu erhalten. Obdach und Nahrung, Kleidung und Wartung, Pflege und Lehre habe ich gehabt, und Alles durch ihn, und habe keinen andern Menschen auf der Welt gehabt, als ihn. Was er mich hat thun heißen, das habe ich [34] gethan von Kindesbeinen an. Als ich groß geworden war, hat er mir gesagt, daß er mich liebte und daß er mich nie verlassen würde, und ich habe ihm das geglaubt, denn ich habe an ihm gehangen, seit ich denken kann, und was er mir versprochen hat, das hat er auch immer gehalten. Es hat mir mein Gewissen auch nicht beschwert, als das Kind gekommen ist und hat mich mit seines Vaters Augen angesehen. Gar nicht! – Ja, wenn ich eine Dame gewesen wäre! – Aber mich konnte der gnädige Herr ja doch nicht heirathen!

Sie schwieg, als müsse dieser letzte Grund den Geistlichen selbst ohne Weiteres überzeugen, und erstaunt über die besondere Richtung, welche diese Natur genommen hatte, fragte dieser: So hat Ihr Gewissen Ihnen nie gesagt, daß Sie auf falschem Wege gingen?

Niemals! antwortete sie bestimmt. Ich habe gethan, was ich nicht anders konnte. Er hat mir immer versichert, daß er nicht heirathen würde, daß ich immer bei ihm bleiben solle und daß er nicht von mir lassen werde. Wenn es dann manchmal auch geheißen hat, daß er eine Frau nehmen würde, und ich mir darüber Sorgen und Gedanken gemacht habe, so ist das immer eine unnöthige Sorge gewesen. Und ich bin ja auch immer glücklich und wie im Himmel gewesen, bis – bis nun in diesem Sommer. Sie konnte das Wort von der Verlobung des Barons nicht über ihre Lippen bringen.

Und der Pfarrer, der Pfarrer von Neudorf, bei dem Sie ja eingepfarrt sind, hat er Sie nie zur Rede gestellt, Sie nie gewarnt?

Hochwürden, weßhalb wollen Sie das wissen? fragte sie mißtrauisch.

Weil ich finde, daß Ihnen ein ehrlicher, wahrhaftiger Freund gefehlt hat! erwiederte er mit immer steigendem Antheile an dem jungen Weibe.

[35] Sie meinen also, der Herr Pastor hätte als solch ein Freund an mir handeln sollen?

Es würde das wenigstens seine Pflicht und eine Wohlthat für Sie gewesen sein.

Nun, rief sie mit einem Anflug von Spott, dann hat er seine Pflicht nicht gut verstanden! Und eine Wohlthat für mich hätte es sein sollen? Das heißt doch nicht wohlthun, wenn man einem das Herz im Leibe bricht und einem sagt, daß man diesseits und jenseits verdammt und verloren sei, weil man gethan hat, was man nicht anders konnte, was man ... Sie stockte, wollte weiter sprechen, besann sich wieder und sagte endlich: Was hätte er denn auch mit mir machen sollen?

Er hätte Sie wenigstens darauf aufmerksam machen sollen, daß nichts Bestand hat, was wider Gottes Gebot und wider die Sitte der Menschen ist, antwortete der Caplan ihr sanft und ernsthaft. Sie würden es dann, deß bin ich gewiß, weit weniger schwer gefunden haben, sich jetzt in das Nothwendige zu schicken, und würden nicht so rathlos und verzweifelt sein, als ich Sie leider finde.

Sie blieb ruhig sitzen, seufzte leise und sah ihn nachdenklich an. Er fragte sie, was sie beschäftige.

Ich denke darüber nach, daß es besser wäre, Sie wären gar nicht hergekommen! entgegnete sie ihm.

Und doch kam ich in der besten Absicht! bedeutete er sie.

Sie sagte, davon sei sie überzeugt, aber statt sich dadurch gekräftigt zu fühlen, rief sie plötzlich mit der ihr eigenthümlichen unterdrückten Heftigkeit: Sehen Sie mich nicht so an, Hochwürden, ich halte das nicht aus!

Sind Sie der menschlichen Theilnahme, der wohlgemeinten Sorge denn so sehr entwöhnt? fragte er mit großer Weiche des Tones und der ganzen Milde seines Herzens.

Ja, sehr entwöhnt! wiederholte sie klanglos; und mit hervorquellenden [36] Thränen rief sie: Ach, Hochwürden, machen Sie mir das Herz nicht weich, dann kann ich mir gar nicht mehr helfen, und weiß jetzt erst recht nicht, was aus mir werden soll!

Sie wollte aufstehen, er nahm sie bei der Hand und nöthigte sie dadurch, sich niederzusetzen; widerstrebend gab sie nach.

Weine nur, Pauline! sprach der Caplan, dem sie mehr und mehr beklagenswerth erschien und der sie in dem Gedanken an ihre Vereinsamung zum ersten Male wieder wie in den Tagen ihrer Kindheit Du und mit ihrem Namen anredete. Weine Dich aus! Es mag lange her sein, daß Du nicht von Herzen um Dich selbst geweint hast! – Sie regte sich nicht, nur ihre Thränen brachen neu hervor. – Das Weinen wird Dir das Herz erleichtern, und Du mußt viel gelitten haben, ehe Du Dich so gegen die Stimme Gottes, die Jeder in seinem Gewissen in sich trägt, verhärtet hast! fuhr der Caplan fort.

Sie weinte bitterlich. Mit Einem Male jedoch trocknete sie ihre Thränen, und sich auflehnend gegen die Wirkung, welche sein Zuspruch auf sie übte, rief sie: Wenn Gott es zulassen kann, daß ich so ohne Grund und ohne meine Schuld verstoßen werde, so giebt es keinen gerechten, keinen barmherzigen Gott mehr in der Welt! – Aber kaum hatte sie diese wilden Worte ausgesprochen, so schlug sie die Hände vor dem Gesichte zusammen und der Klageruf: Es wird mich noch von Sinnen bringen! rang sich aus ihrem gequälten und verzweifelnden Herzen hervor.

Armes Weib! sagte der Caplan, ergriffen von ihrem Schmerze, und sich ihm plötzlich zu Füßen werfend, flehte sie: Helfen Sie mir! Ach, helfen Sie mir, Hochwürden! Auf Sie hört er, zu Ihnen hat er Vertrauen; er hat das hundert und aber hundert Mal gesagt! Sie können das Alles durchsetzen bei dem Herrn Baron! Wenn Sie nur wollten! Sie könnten mir helfen!

[37] Er ließ sie absichtlich auf ihren Knieen vor sich liegen, denn dem herzbeladenen Menschen thut es wohl, sich vor demjenigen zu beugen und zu demjenigen empor zu sehen, von dem er Beistand erwartet, und mit tiefem Erbarmen fragte er sie, was sie wünsche und was sie denn verlange.

Hier bleiben will ich! sagte sie mit einem Tone, der, so leise er war, doch unheimlich wie der Wahnsinn klang, hier bleiben will ich, weiter nichts!

Der Caplan war sehr erschüttert. Er sah mit Schrecken, wie gut der Freiherr den Charakter und den Seelenzustand seiner Geliebten beurtheilt hatte und wie gründlich er Paulinen's religiöses Bewußtsein untergraben, als sie, durch die Vorstellungen des Pfarrers angeregt, über ihr Verhältniß zu dem Baron unsicher geworden war, und Reue gefühlt haben mochte. Jetzt, da derselbe sie, wenn auch mit Bedauern, zu entfernen beabsichtigte, wünschte er allerdings, sie gläubig und unter dem Einflusse sittlicher Begriffe zu finden, um sie auf einen höheren Trost und eine innere Belohnung verweisen zu dürfen; aber der Geistliche kannte das Menschenherz genugsam, um ihm irgend eine Sammlung oder Erhebung zuzumuthen, wenn es sich so bedrängt und so im Aufruhr befindet. Alles, was er daher in diesem Augenblicke anstreben konnte, war, Pauline über denselben fortzuhelfen und sie zu der Entfernung zu bestimmen, die ihm für alle Theile unerläßlich schien. War das erreicht, so konnte man nachher versuchen, ein neues Leben in der Verlassenen aufzuerbauen und sie auf den Weg zu leiten, auf welchem nach der Ueberzeugung des Geistlichen allein Heil und Trost für sie zu finden war.

Du willst hier bleiben, Pauline, sprach er, und ich begreife es, daß Du dieses wünschest. Aber hast Du Dir auch bedacht, was Dir hier bevorsteht? Er machte eine kurze Pause und sagte danach im Tone ruhiger Erzählung: Heute in vierzehn [38] Tagen, in drei Wochen, wird vielleicht die Frau Baronin an der Seite des Herrn Barons durch das Dorf fahren, und er wird ihr sagen, wer in diesem und wer in jenem Hause wohnt, und er wird sie dann bitten, seinen Unterthanen eine gütige Herrin, den Kindern des Dorfes eine Mutter zu sein, wie die selige gnädige Frau es Dir und allen Andern auch gewesen ist. – Und wieder schwieg er einen Moment, da er merkte, wie achtsam und gespannt sie seinen Worten folgte. Wenn der Herr Baron dann an Dein Haus kommen wird, fuhr er fort, indem er sie scharf dabei ansah, was soll er ihr dann sagen? Wenn sie Deinen Knaben sieht, was wird er von seiner Frau für denselben erbitten können, mit welchem Herzen wird er ihn in Zukunft betrachten? Und Du selbst, Pauline! Wünschest Du der Frau Baronin zu begegnen? Oder lüstet's Dich, Dich zu verbergen, wenn sie mit ihrem Manne hier vorüberkommen wird? – Willst Du es hinter den Vorhängen Deines Fensters mit ansehen, wie der Baron vor Deiner Thür das Auge niederschlägt und den Blick abwendet, wenn Dein Sohn ihm in den Weg tritt? – Willst Du den Knaben lehren, den Herrn Baron zu meiden, dem er jetzt zutrauensvoll seine Arme entgegenstreckt? Und was soll Dein Sohn der Frau Baronin antworten, wenn sie ihn einmal fragen wird, wer er sei und wem er angehöre?

Pauline war schon lange von ihren Knieen aufgestanden. Bleicher und bleicher werdend, das Auge finster und starr auf den Fußboden gerichtet, hatte sie den Worten des Geistlichen zugehört. Das leise Zucken ihrer Lippen, das Zusammenziehen ihrer Augenbrauen verriethen, was in ihr vorging.

Ueberlege es Dir wohl, Pauline, hob er noch einmal an, überlege es Dir wohl, was Dein Verlangen, hier zu bleiben, Dir eintragen wird. Furcht, Schrecken, Eifersucht, Verzweiflung für Dich, Heuchelei und Lüge für den Knaben, Verachtung für [39] Euch Beide, das ist es, was Du Dir hier bereiten willst, was Dein Theil sein wird, bis der Kummer und die gerechte Forderung der Frau Baronin Dich früher oder später doch von hier forttreiben werden!

Nein, nein, das ist unmöglich! rief sie. Sie ist ja auch ein Weib! Wenn sie ein Herz hat, wird sie, muß sie Mitleid mit mir haben! – Und es schien, als gehe der Unglücklichen mit diesem Gedanken ein neuer Stern der Hoffnung auf.

Der Caplan schüttelte verneinend das Haupt. Du irrst Dich, sagte er; sie wird Deine Nähe fürchten, und was wir fürchten, das bemitleiden wir nicht, das beklagen wir nicht, das hassen wir viel eher!

O, ich hasse sie auch! stieß Pauline leidenschaftlich hervor, und ihre Augen funkelten in wildem Feuer.

Wie solltest Du nicht, da Du nur Dich im Auge hast, da Du nach Recht und Unrecht, nach Schuld und Unschuld nicht mehr fragst! sprach der Geistliche, einen neuen Weg zu Paulinen's Verstand und Herz versuchend.

Hochwürden! rief Pauline flehend.

Beharre in der Härtigkeit Deines Herzens! fuhr er fort, ohne ihren Ausruf zu beachten; weide Dich daran, das Leben der jungen, schuldlosen Gutsherrin zu beunruhigen; zwinge den Baron, sich immer wieder daran zu erinnern, was er gegen Dich und mit Dir gesündigt hat, verbittere ihm den Frieden der Ehe, die er eingehen will! Aber sage dann nicht, daß Du jemals Dankbarkeit, daß Du Liebe für ihn empfunden hast, daß etwas Anderes, als Dein eigenes Gelüsten und Deine Selbstsucht Dich ihm angeeignet haben! Der Zeitpunkt, verlaß Dich darauf, wird dann nicht lange auf sich warten lassen, in welchem er mit Schrecken an Dich denken und, Selbstsucht gegen Selbstsucht setzend, sich berechtigt fühlen wird, auch ohne Deine Zustimmung Dich von hier fortzuschicken!

[40] Und wenn ich gehe? fragte sie nach langem Schweigen; wenn ich gehe – und vergessen werde? – Sie barg ihr Gesicht in ihre Hände, der Schmerz gewann wieder eine wohlthätige Herrschaft über die Erbitterung in ihr.

Du wirst nicht vergessen werden, kannst nicht vergessen werden! tröstete der Caplan. Reue und Bedauern werden den Baron an Dich erinnern; Dank für den Frieden, welchen Deine Entfernung allein ihm in seiner Ehe möglich macht, Neigung und Sorge für den Knaben werden ihn Dir dauernd verbunden halten, und Du ganz allein sollst über Deine Zukunft zu entscheiden haben, in welcher Reue und Buße auch Dich hoffentlich zur Einkehr in Dich selbst, zum Frieden führen werden!

Aber Pauline hatte in ihrer Herzenszerrissenheit seine letzten Worte wieder nicht beachtet, und sich immer nur an das Nächste haltend, rief sie: Meine Zukunft? Was kümmert mich die! – und abermals versank sie in ihr Brüten.

Der Caplan sah, je länger er mit ihr sprach, es immer deutlicher ein, daß hier mit Einem Schlage nichts auszurichten sei, und daß man ihr Zeit lassen müsse, sich durch Aufregen und Nachdenken zu erweichen und zu ermüden; denn er hielt sie für einen der Charaktere, welche nur dann zum Nachgeben bewogen werden können, wenn ihre Kraft erschöpft ist. Er erhob sich also, um zu gehen.

Ich habe Dir die beiden Wege gezeigt, zwischen denen Du zu wählen hast! sagte er eindringlich. Deine Entfernung ist nothwendig und darum unabänderlich beschlossen! An Dir ist es, zu wählen, wozu sie sich für Dich gestalten soll: zu einer Buße und Erhebung, oder zu einer Strafe und neuen Pein! An Dir ist es, zu wählen; von Dir allein wird es abhangen, wie der Herr Baron in Zukunft Deiner gedenken soll! Ueberlege Dir das wohl, ehe Du entscheidest!

Er gab ihr die Hand und ging der Thüre zu. Als er[41] dieselbe bereits geöffnet hatte, fragte Pauline schnell und unerwartet: Hochwürden, ist die Gräfin schön, ist sie sehr schön?

Hast Du nichts Anderes zu denken? versetzte er, von dieser Wendung ihres Sinnes überrascht.

Ist sie schön? Liebt er sie denn sehr? wiederholte sie dringend.

Der Caplan sah, daß er ihr diese Fragen beantworten müsse. Die Comtesse ist jung und schön und edel, sagte er; sie verdient die Neigung, welche der Herr Baron ihr zugewendet hat, in vollem Maße.

Pauline schwieg darauf. Der Caplan wußte nicht, was in ihr vorging, was er von ihr denken sollte. Er stand zögernd an der Thüre still; sie stützte sich mit der Hand auf den Tisch.

Willst Du sonst nichts weiter? fragte er nach einem längern Abwarten.

Nein! Nichts!

So lebe wohl!

Leben Sie wohl, Hochwürden! erwiderte sie ihm mit anscheinender Ruhe, aber gleich darauf wallte das Herz ihr auf, und mit einer Innigkeit des Tones, welche sehr abstach gegen ihre letzten Worte, sagte sie: Hochwürden, kommen Sie wieder! Mein Unglück ist so groß, so grenzenlos groß, daß ich es nicht begreifen kann!

Sie hielt, als schwindle ihr, die Hände gegen den Kopf und setzte sich nieder. Der Caplan versprach ihr, sie bald wiederzusehen, ermahnte sie nochmals zum Nachdenken, und verließ sie weit besorgter, als er gekommen war.

Nun er Pauline kannte, hielt er ihre Entfernung erst vollends für unerläßlich. Bei der Schwäche des Barons, bei der Gewohnheit, welche ihn an sie kettete, war Alles für das Glück seiner Ehe und für den Frieden der jungen Frau zu fürchten, wenn Pauline blieb. Und doch sah er noch nicht ein, [42] wie man sie auf dem Wege der Güte in so wenig Tagen zur Abreise werde bestimmen können, während er wußte, daß der Baron vor jeder offenen Gewaltthätigkeit und Härte zurückschrecken würde, wennschon er es sonst eben nicht scheute, Andere leiden zu machen, sofern ihm selbst nur das persönliche Einschreiten und der Anblick des von ihm erzeugten Leidens erspart blieben.

Bei der Abendtafel saßen der Freiherr und der Caplan sich allein gegenüber, denn es waren keine Gäste im Schlosse, weil des Freiherrn Abreise so nahe bevorstand. Der Freiherr sprach von lauter äußerlichen Dingen, obgleich es ihm nicht entging, daß der Caplan sich ernster und stiller zeigte, als gewöhnlich. Indeß er war nicht eilig, die Ursache von dem Nachdenken desselben zu erfahren, und erst als die Dienerschaft sich entfernt hatte und auch jener sich zurückziehen wollte, fragte der Baron ganz beiläufig, ob der Caplan vielleicht schon in Rothenfeld gewesen sei. Dieser bejahte es.

Nun, und wie haben Sie Pauline gefunden? fuhr der Baron in der früheren leichten Unterhaltungsweise fort. Sie war außer sich, nicht wahr? Ich kenne das an ihr, und eben darum wünschte ich, daß grade Sie mit ihr verhandeln sollten. Haben Sie etwas ausgerichtet?

Der Caplan versetzte, Pauline sei allerdings sehr aufgeregt gewesen, wie das bei einer solchen ersten Unterredung mit einem Manne, der ihr in diesem Falle ein Fremder sei, nicht fehlen könne. Es lasse sich aber eben darum von diesem Zusammentreffen nichts Bestimmtes sagen, man müsse Geduld haben und weiter zusehen. Er hoffe und wünsche, daß man zu einem verständigen Uebereinkommen gelangen werde, weil man kein Mittel sparen dürfe, ein solches zu erreichen.

Er sprach dabei nichts Bestimmtes aus; der Baron war auch sehr zufrieden damit, nichts Näheres hören zu müssen. [43] Er war stets bereit, seine Last auf die Schultern seiner Untergebenen zu laden und ihnen ihre Mühewaltung als eine Ehrensache anzurechnen. Er versicherte daher dem Caplan, daß er volles Zutrauen zu seiner Einsicht und zu seiner Freundschaft hege; daß er zu jeder Forderung, welche Pauline für ihre äußeren Umstände mache, im Voraus seine Bewilligung ertheile, und daß er also die ganze Leitung und Läuterung der peinlichen Verhältnisse dem Freunde überlasse.

Ich habe Ihnen heute den höchsten Beweis von Vertrauen gegeben, lieber Freund, den ein Mann dem andern zu geben im Stande ist, sagte er. Ich habe Sie gebeten, in einer mir äußerst wichtigen und schmerzlichen Angelegenheit statt meiner zu handeln. Was Sie für nöthig erachten, werde ich unbedenklich thun, was geschehen wird, wird allein Ihr Werk sein! –

Er betonte dieses Letztere, als gebe er im Voraus seinen Dank zu erkennen; aber der Caplan wußte, daß der Baron sich dieser Wendung ohne Zweifel sehr wohl erinnern würde, wenn es etwa darauf ankommen sollte, dem Vermittler die ganze Verantwortlichkeit für ein Mißlingen oder für irgend eine unangenehme Verwicklung zuzuwenden, und als wolle er ihm gar nicht Zeit zu irgend einer Entgegnung einräumen, fügte der Baron mit wiedergekehrtem Gleichmuthe leichtfertig hinzu: Nur das Eine halten Sie fest, daß der Gedanke an das arme Geschöpf mir wehe thut, weil es mich in der That mehr liebt, als Männer meiner Art eigentlich in ähnlichen Verbindungen geliebt zu werden wünschen.

Darauf gab er einige Aufträge, die er hier im Schlosse während seines Aufenthaltes in der Stadt vollzogen zu sehen wünschte, und empfahl dieselben dem Caplan eben so angelegentlich, als er ihm Pauline empfohlen hatte. Seine Wiederkehr und die Abreise zur Hochzeit wurden auf Tag und Stunde [44] festgesetzt, und in aller Frühe des nächsten Morgens brach der Freiherr von seinem Schlosse auf.

Es war noch nicht völlig hell, als er durch Rothenfeld fuhr und an Paulinen's Haus vorüberkam. Er bog aus Gewohnheit den Kopf ein wenig hervor; die Hausthüre, die Fensterladen waren noch geschlossen. Er hatte in ihrem Schutze manche Stunde voll Genuß durchlebt. Die Erinnerung daran bewegte ihn, aber in einer Weise, als läge die Zeit, in der es geschehen war, ein halbes Menschenleben hinter ihm. Er hatte jetzt nur die nächsten Tage, nur die Verbindung mit Gräfin Angelika im Sinne. Mit der Vergangenheit hatte er sich gestern abgefunden, als er dem Caplan davon ausführlich gesprochen hatte. Pauline zu befriedigen und zu trösten war nun dessen Sache.

Als der Wagen um die Ecke bog, sah der Baron das Haus noch einmal von der andern Seite vor sich. Es fiel ihm ein, daß es, wenn Alles nach seinen Wünschen gehe, bei seiner Heimkehr bereits verlassen sein werde, und noch einmal überschlich ihn die Wehmuth, die ihn gestern zu den Mittheilungen an den Caplan bewogen hatte. Aber er verscheuchte sie schnell mit dem erfreulichen Gedanken, daß er für sein Alter doch noch eine große Frische der Empfindung besitze. Als feiner Egoist verstand er es vortrefflich, sich selbst seinen Schmerz in eine gewisse Befriedigung zu verwandeln, und wie er sich am gestrigen Tage im Hinblicke auf seine junge Verlobte, seiner Wohlgestalt gefreut hatte, so erfreute es ihn jetzt, daß die Trennung von einer Geliebten ihn noch wirklich im Gemüthe leiden mache. Seine Braut konnte sich nach seiner Meinung des Besten zu einem Manne versehen, der neben den Erfahrungen der reifen Jahre alle Vorzüge der Jugend bewahrt hatte.

Was aber Pauline anbetraf, so gestand er es sich im Vertrauen, daß sie an Anziehungskraft für ihn verloren habe, [45] daß sie nicht mehr dieselbe sei, als vor fünf Jahren. Was sie an Entwicklung gewonnen, das hatte sie an Ursprünglichkeit eingebüßt, und es war im Grunde nicht übel, daß seine Heirath ihm die Pflicht auflegte, sich von ihr zu trennen. Daß es ewig währen könne zwischen ihr und ihm, hatte sie ja selbst nicht glauben können. Aber er wollte in jeder Weise für sie sorgen, für sie und für sein Kind, und wenn er das that, so war ihr doch immer ein ganz anderes Loos gefallen, als ihr ohne sein Dazwischentreten jemals hätte zu Theil werden können. Er war also beruhigt und durchaus mit sich zufrieden.

[46]
3. Capitel
Drittes Capitel

Die Hälfte der Zeit, welche der Baron für seine Abwesenheit angesetzt hatte, war bereits verflossen, ohne daß der Caplan zu einem befriedigenden Abschlusse mit Pauline hätte gelangen können. Denn mit dem Eigensinn des Herzens, welchen die Halbbildung sich als Charakterstärke auslegt, wies sie Alles von sich, was ihrem Empfinden widersprach, hielt sie an ihren Vorstellungen fest, und alle diese Vorstellungen kamen ihr von dem Baron; nur daß in seiner Geliebten sich zu einem Ganzen gestaltet hatte, was in ihm unverbunden neben einander herging, und daß in ihr zur Glaubenssache geworden, was in ihm stets mehr oder weniger ein Spiel und die Wirkung zufälliger Stimmungen geblieben war.

Der Baron war kein Wüstling, kein gewöhnlicher Lebemann, kein herzloser Aristokrat, kein schwärmender Phantast. Er hatte aber von allen diesen Arten einzelne Züge in seinem Charakter, und dabei eine Eitelkeit, welche seine Herzensgüte, seinen Verstand beeinflußte und es ihm zu einem Bedürfnisse machte, immerdar Etwas vorzustellen und dafür mindestens von sich selbst Bewunderung einzuernten.

In der großen Welt hatte er früher durch seine Prachtliebe und durch seine Abenteuer geglänzt, im Felde oder im Staatsdienste würde seine Eitelkeit ihn vielleicht zu Anstrengungen getrieben haben, die ihm Ehre gebracht und Ruhm erworben hätten. In der Stille des Landlebens konnte es ihm [47] geschehen, daß er sich, wenn es sich eben so fügte, aus der Erziehung eines schönen Waisenkindes ein Bewußtsein machte, daß die Anbetung, welche dasselbe ihm zollte, ihm für eine Zeit lang genügte, und daß er sich von einem solchen Mädchen ganz und gar gefesselt fühlte, weil er es gänzlich als sein Geschöpf betrachten durfte. Er hatte mit voller Wahrheit gegen den Caplan behaupten können, Pauline sei das einzige Frauenzimmer, neben welchem er nie Langeweile gefühlt habe, denn Alles, was sie wußte und sprach, kam ihr von ihm oder durch ihn, und war daher sicher, ihm immer zu gefallen.

Einige Jahre hindurch hatte er Pauline gegenüber die Wirkung seiner Großmuth oder seines Geistes genossen, wenn sie sich verständig und immer fortschreitend bewies, und sich daneben lächelnd ihrer Einfalt und seiner Ueberlegenheit gefreut, so oft die Schranke ihrer Natur und ihres Wesens ihm bemerklich wurde. Diese Zeit jedoch war jetzt vorüber. Pauline hatte sich an ihren Platz neben dem Baron gewöhnt, sie hatte seine Schwächen kennen und, um ihn in guter Stimmung zu erhalten, dieselben benutzen und ihn dadurch beherrschen lernen. Sie hing an ihm noch immer mit leidenschaftlicher Liebe, sie vergaß es auch niemals, was sie ihm schuldete; aber weil sie die geistige Kluft nicht ermessen konnte, welche den Freiherrn von ihr trennte, hatte sie sich mehr und mehr in seinem Besitze sicher gefühlt, und die von ihm oft wiederholte Aeußerung, daß ihr Leben dem seinigen in räthselhafter Weise verbunden sei, hatte sie in dem Glauben bestärkt, daß der Baron sie nie verlassen könne, daß sie nothwendig zu seinem Leben, zu seinem Glücke gehöre.

Sie war daher wie vernichtet gewesen, als sie die Nachricht von seiner bevorstehenden Verheirathung erhalten hatte. Der Baron selbst hatte sie ihr mitgetheilt, ohne deshalb, nach den leichten Grundsätzen seiner Zeit, gleich Anfangs an die [48] Nothwendigkeit ihrer Entfernung zu denken. Erst ihr leidenschaftlicher Schmerz und die heftigen Ausbrüche ihres Zornes, erst ihre Drohung, daß sie seine Heirath zu hintertreiben wissen werde, hatten ihm gezeigt, daß er sie nicht in Rothenfeld behalten könne, und hatten ihn gegen sie verstimmt. Indeß schwach und nachgiebig gegen sie wie gegen sich selbst, hatte er mit der Entscheidung gezögert, bis der Tag seiner Hochzeit heran nahte, bis er sich der Aussicht auf die schöne junge Gattin zu erfreuen, und sich über den Verlust seiner Geliebten mit dem ihm schmeichelnden Gedanken fortzuhelfen begann, daß er seinem Gewissen und seiner Verlobten ein großes Opfer bringe, und daß er als Edelmann die Pflicht habe, für sein edles Geschlecht ein würdiges Familienleben in seinem Hause aufzubauen.

Er war mit sich auf diese Weise leicht genug fertig geworden. Der Caplan hatte dafür mit Pauline einen um so schwereren Stand. Sie mißtraute ihm als katholischem Geistlichen, als Abgesandten des Barons, und verlangte doch nach seiner Nähe, weil sie sich verlassen fühlte und weil sie mit ihm von demjenigen sprechen konnte, was ihr allein am Herzen lag.

So oft er zu ihr kam, mußte er sich von ihr die einfache Geschichte ihres Lebens erzählen lassen. Sie wiederholte ihm jene Grundsätze eines Naturrechts, auf das der Baron sie verwiesen, als er sie durch die Ermahnungen des Pfarrers beunruhigt gesehen hatte. Sie gab ihm ihre Eifersucht und Verzweiflung zu erkennen, und der Gedanke an die baldige Anwesenheit der künftigen Baronin, den der Caplan ihr so eindringlich vorgehalten hatte, wirkte nun unablässig in ihr nach. Sie verlangte Rath von ihm und verwarf denselben; sie verlangte Trost und Hülfe, aber sie wendete sich ab, sobald er sie auf einen Trost verweisen wollte, den sie in ihrem eigenen Innern sich zu bereiten habe. Sie wollte weder von kirchlichen noch von staatlichen Geboten reden hören, aus Furcht, daran [49] erinnert zu werden, daß sie dieselben übertreten habe, und daß sie diese Uebertretung sühnen und büßen müsse. Mehr oder weniger gebildet und aufgeklärt, würde sie leichter zu bestimmen gewesen sein, als jetzt; und es waren schließlich nicht die Vorstellungen ihres Berathers, nicht seine Moral und seine Vernunftgründe, welche Eindruck auf Pauline machten. Es waren seine Geduld mit ihr und seine Milde, die ihr das Gemüth bewegten und sie allmählig dahin brachten, daß ihr Zorn und ihre Verzweiflung dem reinen Schmerze wichen, der nicht mehr sich zu rächen, sondern nur noch sich selbst zu helfen trachtet.

Eines Morgens, als der Caplan wieder zu ihr kam, fand er sie vor ihrer großen Nußbaum-Commode sitzen. Um sie her lagen verschiedene Kleidungsstücke ausgebreitet, daneben Bänder, Zierathen, Nähbestecke und viele jener Kleinigkeiten, mit denen man die Frauen zu beschenken pflegt, deren eigentliche Bedürfnisse ohnehin befriedigt werden. Sie schien Musterung zu halten, und der Caplan fragte sie, weshalb sie dieses thue.

Weshalb ich das thue? wiederholte sie. Ja! wenn ich das wüßte, Hochwürden! Ich kann nicht sagen, wie ich darauf verfiel, die Schubladen aufzumachen und die Sachen zu besehen. – Die Commode ist mein Lieblingsstück! bemerkte sie nach einer Weile, während sie die Sachen forträumte, die auf derselben gelegen hatten. Sehen Sie einmal das Geäder in dem Nußbaume. Es sieht wie Bäume aus; und dann der schwere Messingbeschlag und die großen Griffe! Ich weiß den Tag, an welchem ich die Commode bekommen habe. Die alte Margarethe gönnte sie mir gar nicht, und ich habe zuerst viel bittere Worte darüber hören müssen und manche Thräne darüber vergossen!

Sie erzählte darauf, wie schwer die Alte ihr bisweilen das Leben gemacht habe, und in die Art und Weise, mit welcher sie ihre Schätze wieder an Ort und Stelle brachte, mischte sich der [50] Stolz auf den Besitz derselben mit einer unverkennbar wehmüthigen Erinnerung. Der Caplan ließ sie ruhig gewähren.

Wenn ich das Alles so vor mir sehe, sagte sie mit einem Male, ist's mir grade, als ob ich die ganzen vergangenen Jahre wieder vor mir hätte. Von jedem Stücke kann ich sagen, wann er es mir geschenkt hat, wann ich es zuerst getragen und gebraucht, und wie Alles damals gewesen ist. Manches liegt noch ganz neu da, Manches ist nicht mehr zu gebrauchen, und ich könnte es doch nicht fortgeben. Sie bückte sich bei den letzten Worten, nahm aus der untersten Lade eine Jacke von Kattun hervor, hielt sie dem Caplan hin und sagte: Sehen Sie, Hochwürden, das war der erste Anzug, den er mir nach seiner Rückkehr kaufte. Ich war damals noch nicht ausgewachsen und so mager! Aber ich hätte es nicht mit ansehen können, daß ein Anderer mir nachgetragen, was er mir einmal gegeben hat.

Der Caplan warf einen Blick auf das bezeichnete Kleidungsstück und machte die Bemerkung, daß es ihr auch künftig an Nichts fehlen und der Baron für alle ihre Bedürfnisse auch künftig sorgen lassen werde.

Sie hörte nicht darauf, denn sie war viel zu sehr mit sich und der Vergangenheit beschäftigt. So oft er nach der Stadt fuhr, brachte er mir Etwas mit, nahm sie wieder das Wort. Zuletzt dieses große, rothe Umschlagetuch. Ich sollte mich darüber freuen, ich sollte sehen, wie schön es sei. Schön genug war es, aber freuen konnte ich mich nicht mehr darüber. Ich wußte ja schon, was hier bevorstand.

Die Freude an Deinem Hab und Gut wird wiederkommen, sagte der Caplan, wenn Du erst wieder in Ruhe und unter Menschen sein wirst, denen Du Deine Sachen zeigen kannst.

Sie schüttelte verneinend das Haupt. Wer so unglücklich gemacht werden soll, wie ich, den freut Nichts mehr, und aus dem Unglück darf man nicht zurückdenken an die guten Tage, [51] wenn's einem das Herz nicht brechen soll. Ich wollte, ich hätte die Commode gar nicht aufgemacht!

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, schloß die sämmtlichen vier Schubladen zu und steckte die Schlüssel in die Tasche von weißem Piqué, die sie unter ihrem Kattunrocke trug.

Der Caplan stand auf; das schien sie zuerst auf den Gedanken zu bringen, daß sie mit dem Aufräumen in seiner Gegenwart etwas Ungehöriges gethan hätte. Sie bat ihn deßhalb um Entschuldigung. Aber, fügte sie hinzu, wenn Sie nur ein einziges Mal erfahren hätten, wie einem Menschen zu Muthe ist, dem so wie mir der Todesstoß gegeben wird, so würden Sie wissen, auf was man da Alles verfällt. Elend muß man kennen, damit man's versteht!

Die Worte kamen ihr von Herzensgrund und rührten den Caplan durch den Ausdruck, mit welchem sie gesprochen wurden. Er seufzte unwillkürlich, sah Pauline an, zögerte einen Augenblick und sagte dann mit ganz verändertem Tone: Und wenn ich es nun verstände, was Elend ist, wenn ich es wüßte, wie Dir Armen zu Muthe ist?

Sie richtete ihre dunkeln Augen forschend auf seine Miene. Hochwürden, was soll das sagen? fragte sie danach. Sie sollten wissen, wie mir zu Muthe ist? So wie Sie, Hochwürden, sieht man nicht aus, so still und ruhig nicht, wenn man so zerschmettert worden ist und sein Alles verloren hat, wie ich.

So still und ruhig wird man, kann man werden, wenn man sich vorhält, daß Alles, was wir leiden, uns von Gott kommt, und daß der Heiland selbst sein Kreuz getragen, daß Christus selbst den Kelch des Leidens ausgekostet hat bis auf den letzten Tropfen! entgegnete er ihr.

Pauline schwieg, als stände sie an geweihter Stätte, als sei ein Vorhang vor ihr aufgezogen, der ihr ein Allerheiligstes offenbarte. Sie faltete die Hände, ihr Blick hing mit einer [52] ganz neuen, liebevollen Empfindung an dem milden Antlitze des geistlichen Herrn, und näher zu ihm tretend, während sich ihre Wangen rötheten von der Scheu, mit welcher sie die Frage an ihn richtete, sprach sie leise: Hochwürden, sind Sie denn auch verlassen und verstoßen worden?

Nein! entgegnete er.

Was ist Ihnen denn geschehen? forschte sie weiter, und ihre Stimme wurde weicher, ihr Blick von Theilnahme gesänftigt.

Er nahm sie bei der Hand, setzte sich und nöthigte sie damit, sich ebenfalls niederzulassen; dann sagte er ruhig: Ich habe mich überwunden!

Freiwillig? rief sie aus.

Freiwillig! wiederholte er, und sie schwiegen Beide. Pauline war wie umgewandelt, sie vergaß sich selbst in diesem Augenblicke. Das Vertrauen des Caplans hatte sie erhoben. Ihn aber hatte es eine neue, große Ueberwindung gekostet, vor Pauline von seinem eigenen Geschicke zu sprechen; indeß er hatte richtig erkannt, daß man auf diese Frau nur wirken könne, indem man ihre Theilnahme auf einen Anderen richte und ihr ein Beispiel aus dem Bereiche vorhielt, den sie kannte und übersah. Das Verlangen, mehr von dem Schicksale des Geistlichen zu hören, ließ ihr nun keine Ruhe. Sie wollte vergleichen können, und doch band die Ehrfurcht ihr die Zunge, bis sie endlich die Frage wagte: Und jetzt, Hochwürden, sind Sie denn jetzt nicht mehr unglücklich, haben Sie verschmerzt, was Sie gelitten, was Sie geopfert haben?

Ja, ich habe es verschmerzt! Ich habe wieder Freude an dem Leben, ich habe Menschen, deren Wohl und Wehe mir sehr am Herzen liegt ....

Und Sie können also wirklich wieder glücklich sein? fragte sie noch einmal.

Ich bin freudig in meiner Arbeit, in der Erfüllung meiner [53] Pflicht! Mit einem Worte, ich lebe gern, versetzte er – und ich habe doch keinen Sohn, für den ich leben könnte!

Sie faßte den Gedanken offenbar bereitwillig auf. Ja, sagte sie, es ist ein gutes Kind, und Sie glauben nicht, wie klug er ist. Weit über seine Jahre klug! Er merkt Alles und weiß Alles, ohne daß man es ihm sagt. Wenn er mich traurig findet, sieht er mich an, daß man denkt, es sei eine Sünde, ihn merken zu lassen, was man aussteht. Er läßt dann keinen Blick von mir, und seine Augen sind ganz wie die des Vaters. Sie sprach darauf von der Absicht des Barons, den Knaben früh einer männlichen Leitung zu übergeben, und klagte sich an, daß sie denselben bisher nicht genug geliebt habe. – Ich habe immer und immer nur an den Vater gedacht, sagte sie; der Knabe würde mich bald vergessen, nähme man ihn fort von mir, und der Vater wird mich noch schneller vergessen! setzte sie mit erneuter Klage hinzu.

Der Caplan mochte es ihr nicht bemerken, daß sie damit zum ersten Male ihre indirecte Zustimmung zu den Absichten des Barons kundgegeben hatte, aber die Thatsache war ihm wichtig, und obschon er bei Paulinen's schnell wechselnden Stimmungen auf diese plötzliche Sinnesänderung nicht allzu viel vertraute, fing er doch an, mit ihr von einem der nächstgelegenen Städtchen und von dem Leben in demselben zu sprechen. Pauline wußte es, daß der Baron sie dorthin senden wollte. Sie fragte, wie weit der Ort von Richten entfernt sei und wie viel Zeit man brauche, um von dort nach der Hauptstadt der Provinz zu kommen, in welcher nach dem oftmals ausgesprochenen Plane seines Vaters der Knabe später erzogen werden sollte. Dann erkundigte sie sich, ob ihrem Sohne seine Geburt bei der Aufnahme in eine Erziehungsanstalt keine Hindernisse in den Weg stellen würde, wie sie einmal gehört zu haben glaubte, und sie blieb überhaupt nur mit der Zukunft des Knaben beschäftigt, [54] bis der Caplan sich entfernte. Es war aber ersichtlich daß ihr Etwas auf dem Herzen lag, für das sie den Ausdruck oder den Moment nicht zu finden wußte, und der Geistliche hielt schon den Drücker der Thüre in der Hand, als sie sich ihm näherte und schüchterner, als es ihre Art war, die Frage aufwarf: Sie haben sich überwunden, sich aufgeopfert, Hochwürden, hat Ihnen das gute Frucht gebracht? Haben sie es Ihnen gedankt, diejenigen, für welche Sie sich geopfert haben?

Ein Opfer, für das man Lohn erwartet, ist kein Opfer mehr! entgegnete er ihr.

Sie verstummte darauf und ließ ihn gehen. Aber er war ihr menschlich näher getreten, seit sie wußte, daß auch er gelitten und verzichtet habe; und es gelang ihm nach einigen Tagen endlich, ihre Einwilligung zu der Uebersiedelung nach der Stadt zu erhalten. Sie erklärte jedoch, daß sie den Baron noch einmal sehen wolle, ehe sie Richten verlasse. Sie müsse aus seinem eigenen Munde das Versprechen erhalten, daß er sie besuchen werde, wenn er nach ihrem künftigen Wohnorte komme; daß er selbst über den Lebensweg ihres Sohnes wachen wolle, und der Caplan ging, so weit er es vermochte, auf alle ihre Wünsche ein.

Neben diesen Stunden voll ruhiger Ueberlegung gab es aber auch viele andere, in welchen sie sich nur mit der Hochzeit des Barons und der künftigen Baronin beschäftigte, und in denen sie völlig wieder in ihren Schmerz versank. Sie betheuerte dann unaufhörlich, daß sie ja verzichten möchte, daß sie es aber nicht könne, und daß es über ihre Kräfte gehe. Es war ein Auf und Nieder in ihren Empfindungen, dem schwer zu folgen, dessen Ursachen oft nicht zu erspähen waren; und oftmals, wenn die Vorstellungen und Gespräche des Caplans sie so weit gebracht hatten, daß ein Schuldbewußtsein und der Gedanke, daß man ein Verschulden büßen müsse, in ihr rege [55] wurden, warf sie mit der ihr eigenthümlichen Plötzlichkeit gewisse Aeußerungen über die ihr einzig angemessene Art von Buße hin, welche er aufs Neue zu bekämpfen hatte.

Am Freitag Abend ging er nochmals zu ihr. Man erwartete in der Nacht die Ankunft des Barons, der sich am Sonntag in aller Frühe zu seiner Braut begeben wollte. Der Caplan wünschte ihm bei seiner Heimkehr sagen zu können, daß er Alles geordnet habe und daß Pauline in ihr Schicksal ergeben sei. Er war daher sehr zufrieden, als er Abends, da er zu ihr kam, sie damit beschäftigt fand, die Kleider und das Spielzeug ihres Sohnes in einen kleinen Koffer zusammen zu packen. Sie sprachen fortdauernd von der Reise und von der Stadt.

Als der Caplan sie fragte, für welche Zeit er ihr die Pferde bestellen solle, gab sie den Sonntagmorgen an, und wünschte, daß der alte Kämmerer bewogen werden möge, sie zu begleiten. Sie habe Richten nie verlassen und es bange ihr vor der Fremde. Der Caplan versprach ihr, dies zu vermitteln und Alles nach ihrem Wunsche einzurichten. Nur als sie auf die begehrte Unterredung mit dem Baron zurückkam und auf dieselbe bestand, erklärte er ihr, er zweifle, daß derselbe geneigt sein werde, sie in diesem Augenblicke wiederzusehen. Von ihrer Forderung zu Bitten übergehend, flehte sie zuletzt den Caplan mit Thränen, ihr diese einzige Gunst zu erwirken, und er sagte ihr zu, dem Baron ihren Wunsch mitzutheilen.

Indeß gleich die erste Begegnung mit demselben ließ ihn erkennen, daß er hier auf Widerstand stoßen werde und daß für die Erfüllung von Paulinen's Bitte Nichts zu hoffen sei. Der Baron war sehr aufgeräumt und in der That auch viel beschäftigt. Er fragte Anfangs gar nicht nach Pauline, und da er es später that, geschah es in einer Weise, die kaum eine Antwort zu verlangen schien. Dennoch, und obschon der Caplan[56] selbst eine Unterredung oder einen Abschied zwischen dem Baron und Pauline für zwecklos ansah, sprach er dem Ersteren davon, um seiner Zusage nachzukommen; indeß der Baron lehnte den Vorschlag entschieden ab.

Ich kenne des guten Geschöpfes Liebe und Leidenschaft, sagte er, und ich kenne auch meine Schwäche. Es ist nicht Fühllosigkeit oder Härte gegen das arme Weib, das ich meinen Verhältnissen und meiner sittlichen Ueberzeugung opfern muß, es ist die unerläßliche Nothwehr gegen mich selbst, wenn ich mir in dem Augenblicke der Abreise zu meiner Braut eine Scene erspare, die mir, sie mag ausfallen wie sie immer wolle, das Herz zerreißen wird, ohne nach der andern Seite hin irgend etwas zu nützen.

Es fiel dem Caplan auf, daß der Baron auch dieses Mal Paulinen's Namen auszusprechen vermied und sich mit anderer Bezeichnung dafür behalf. Er kannte das an seinem Herrn und wußte, was es zu bedeuten habe. So kam er denn auch nicht mehr auf den Wunsch Paulinen's zurück, aber der Baron erbot sich später aus freiem Antriebe, ihr noch einmal zu schreiben, was der Caplan für zweckmäßig erachtete. Auch schrieb er ihr noch in derselben Stunde und sandte den Brief sogleich durch einen Boten ab.

»Ich danke Dir«, lauteten die Zeilen, »daß Du Dich entschlossen hast, in die Stadt zu ziehen. Du kennst mich genugsam, um zu wissen, daß ich Dir dies lohnen werde. Es soll Dir dort, darauf kannst Du Dich verlassen, ein ganz sorgenfreies Leben bereitet werden, und Paul wird nicht aufhören, ein Gegenstand meiner treuen Sorgfalt zu sein. Der hochwürdige Herr Caplan, der sich in diesen Tagen Deiner so gütig und väterlich angenommen hat, wird auf meine Bitte Dir auch ferner mit seinem Rathe zur Seite stehen und dafür sorgen, daß Du Dich nach Deinem Ermessen einrichten kannst. Daß [57] ich nicht zu Dir komme, geschieht aus Rücksicht für Dich sowohl als auch für mich. Wozu ein Wiedersehen, wenn man vergessen will? Und vergessen lernen mußt Du! Folge in Allem ganz dem Rathe und den Anordnungen des verehrten Herrn Caplans. Was Du in Zukunft etwa von mir wünschest, was ich von Dir erfahren soll, theile ihm mit. An mich selbst schreibe nicht. Meine Theilnahme und mein Schutz werden Dir und Paul nie entgehen, und ich werde mich Dir verpflichtet fühlen, wenn Du Dich mir in diesen Anordnungen pünktlich fügsam zeigst. Somit lebe denn wohl! Sei Gott mit Dir, und möge er uns Allen in seiner Gnade eine ruhige Zukunft verleihen!«

Pauline empfing den Brief gegen Mittag aus den Händen des damit beauftragten Reitknechtes. Sie hieß ihn warten und durchflog das Schreiben. Aber es schien, als könne sie den Inhalt nicht gleich fassen. Ihre Augen, ihr Herz suchten nach einem freundlichen Worte, suchten endlich nur nach der Anrede mit ihrem Namen, nach irgend einem Zeichen der Bewegung in der Seele dessen, der diesen Brief geschrieben hatte. Es war vergebens. Als sie das Blatt zum zweiten Male beendet hatte, ließen ihre bebenden Hände es zur Erde fallen.

Ihr Knabe, der dabei stand, glaubte, ein Zufall habe das Papier den Händen der Mutter entgleiten machen, und bückte sich, es ihr zu reichen. Sie hielt ihn davon zurück. Rühre das Blatt nicht an, sagte sie mit befehlendem Tone, rühre es nicht an!

Der Knabe war erschrocken; er lehnte sich auf den Schooß der Mutter, die sich niedergesetzt hatte, weil die Kniee ihr versagten. Sie küßte ihm den lockigen Kopf, ihre Thränen flossen auf ihn nieder. Er wollte bei dem Unbehagen, das ihn peinigte, gern Etwas thun, es los zu werden, wußte aber nicht, was, und fragte also, ob der Ludwig, der den Brief gebracht habe, fortgehen solle. Sie bejahte das, und der Knabe brachte dem Diener die Weisung.

[58] Ist nichts zu bestellen, Mamsell? fragte der Reitknecht, die Thür öffnend.

Nichts! antwortete sie fest, und er ging davon. Der Knabe drängte sich an sie. Du weinst immer! sagte er, und da sie ihm nicht antwortete, setzte er nach einer Weile hinzu: Weine nicht, ich kann's nicht leiden, wenn Du weinst! – Die Worte klangen herrisch in dem Munde eines Kindes, aber der Kleine schmiegte sich zärtlich an ihr Knie, während er sprach.

Dieses Mal indeß machte die Liebkosung des Sohnes keinen Eindruck auf die Mutter. Sie schob ihn leise von sich. Lehne Dich nicht immer an mich! Lerne allein stehen, Du wirst's nöthig haben! sagte sie finster und streng.

Das verdroß den Knaben. Ich bin Dir nicht gut, Mutter! schmollte er.

Du hast auch keinen Grund dazu, entgegnete sie ihm. Ihre finstere Weise machte Paul bange. Es wurde ihm unheimlich bei der Mutter und in der Stube, und er lief zur Magd hinaus.

Als Pauline allein war, fing sie laut und heftig zu weinen an. Das währte eine geraume Zeit. Bisweilen war es, als wolle sie sich besänftigen, aber dann nahm sie den Brief wieder vor, den sie nach der Entfernung des Kindes von dem Boden aufgehoben hatte, und ihre Thränen flossen auf's Neue.

Sie ließ beim Mittagessen die Speisen unberührt, war aber mit dem Knaben freundlich und legte ihm reichlich zu essen vor. Nach der Mahlzeit ging sie wieder daran, verschiedene Sachen einzupacken, indeß sie kam damit nur langsam vorwärts, denn sie setzte sich oftmals nieder, ihre Hände gegen die Stirn pressend, weil der Kopf sie schmerzte. Nach einer Weile stellte sie die Arbeit gänzlich ein und blieb wohl eine Stunde hindurch ruhig aufgestützt am Fenster sitzen. Dann stand sie auf, zog sich zum Ausgehen an, hieß den Knaben seine Mütze nehmen und verließ mit ihm das Haus.

[59] Gleich am Eingange des Dorfes bog sie von der großen Fahrstraße ab und schlug einen Feldweg ein. Er führte durch den Wald in den Park des Schlosses. Durch eine Hecke trat sie in denselben ein. Es war hell unter den großen Bäumen, aber die Luft wehte stark und die Blätter rauschten mit leisem Klingen, sofern sie noch an den Bäumen hielten. Der ganze Boden war mit welkem, vielfarbigem Laube wie mit einem dichten Teppiche bedeckt, daß die Schritte bald unhörbar darüber hinglitten, bald es raschelnd nach sich zogen, je nachdem es trocken oder feucht war. Hier und da flog ein Vogel auf, hier und da kamen ein Hirsch oder ein paar Rehe aus dem Unterholze hervor und streckten zutraulich die feinen Köpfe mit den klaren, neugierigen Augen aus der leichten Umzäunung hervor. Die Mutter hatte dem Knaben oft von den schönen, schlanken Rehen und von den Hirschen mit ihren großen Geweihen erzählt, aber er hatte sie niemals gesehen, und seine Freude an den Thieren war sehr lebhaft. Er hatte den Rest seines Vesperbrodes in der Tasche und wollte sie füttern. Die Mutter gab es nicht zu.

Laß es gut sein, sagte sie, das ist Nichts für Dich; hier werden andere Kinder die Rehe füttern! – Sie hielt ihn an der Hand fest, um schneller mit ihm vorwärts zu kommen, und zeigte ihm im Vorübergehen die Statuen im Garten, welche große Blumenkörbe und schwere Füllhörner in den Armen trugen. Ein Ende weiter standen auf den Postamenten Knaben-und Mädchengestalten aus Stein gehauen, welche die Flöte bliesen und Guitarre spielten. Es war das Alles neu für Paul und machte ihm Freude; aber seine Freude konnte nicht aufkommen vor dem finstern Ernst der Mutter. Er fragte mehrmals: Wem gehören die Rehe? Wem gehören die Hirsche? Wem gehört das Alles? Sie antwortete ihm kurz: Dir nicht!

In der Nähe des Schlosses sah sie der Gärtner, der die [60] Orangeriehäuser zur Nacht decken ließ. Er blickte ihr verwundert nach, weil sie seit Jahren nicht im Schloßgarten gewesen war, bot ihr den Guten Abend, sagte aber Nichts. So kam sie bis zu der Stelle, an welcher der kleine Fluß sich durch die Ausgrabungen zu einem großen Teiche verbreiterte und von wo sich das Schloß auf seiner Terrasse am stolzesten ausnahm. Die Sonne war schon zum Sinken geneigt, sie spiegelte sich in den Fenstern, daß sie leuchteten, als wäre Feuer dahinter. Auf den Terrassen standen, wie in Paulinen's Garten, auch noch einige Stockrosen, die der Nachtfrost verschont hatte und die dem Knaben als etwas Bekanntes Vergnügen gewährten. Aber obschon die Terrasse durch das Schloß vor dem Winde geschützt war, waren auch hier die Bäume schon entlaubt. Die letzten acht Tage hatten sie sehr mitgenommen, ihre Blätter schwammen auf dem Wasser, von dem der Nebel aufzusteigen begann, denn die Luft war klar und kalt.

Die vielen Schornsteine des Schlosses, die sich, drei, vier aneinandergelehnt, emporhoben, fielen dem Knaben auf.

Zähle die Schornsteine und merke Dir Alles, denn hier wohnt Dein Vater! Das ist Deines Vaters Haus! sagte die Mutter mit dem kurzen, nachdrücklichen Tone, der alle ihre Worte auf diesem Wege dem Kinde auffallend und eindringlich machte, ohne daß es wußte, weshalb ihm Alles so besonders klang.

Zähle die Schornsteine, wiederholte sie, und zähle, wie viel blanke Fenster das Schloß hat, und wie viel große Thore und Thüren. Hinter den blanken Fenstern, in denen die Sonne sich so golden spiegelt, werden glückliche Kinder wohnen und spielen, aber Du wirst nicht hineinkommen in das Haus. Merke es Dir gut. Das ist Schloß Richten! Hörst Du, Paul! Das ist Schloß Richten, das gehört dem Baron von Arten, dem Onkel Baron, und der Onkel Baron ist Dein Vater! Der Baron von Arten ist Dein Vater, Paul!

[61] Sie sah den Knaben an, sein ernstes Gesicht, in dem sich ein großer Scharfsinn kundgab, befriedigte sie. Weißt Du's jetzt? fragte sie.

Ja; das ist Schloß Richten, das gehört dem Onkel Baron, und der Baron von Arten ist mein Vater! sprach der Kleine ihr halb verwundert und halb im Schrecken nach.

Merk' Dir's, Dein Vater heißt Herr Baron von Arten! wiederholte sie. Sage das noch einmal nach!

Mein Vater heißt Herr Baron von Arten! sprach das Kind; und ich komme nie hinein! setzte er aus freiem Antriebe hinzu, denn es that ihm leid, daß er nicht hinein sollte in das schöne Schloß zu den glücklichen Kindern, die einst hinter den goldenen Fenstern spielen würden.

Mache, daß Du hineinkommst! rief die Mutter mit unterdrückter Stimme, denn Dir kommt es zu, dort in dem Schlosse zu wohnen. Dir kommt es zu! Hörst Du, Dir! Du bist der älteste Sohn! Dir kommt es zu, dieses Schloß!

In dem Augenblicke hörte sie Schritte. Sie fuhr zusammen, faßte ihres Sohnes Hand, und als sie sich umwendete, stand der Caplan vor ihr. Er hatte sie aus dem Fenster seines Zimmers auf der Terrasse gesehen und kam besorgt herab, sie zu fragen, was sie hierher geführt habe.

Paul soll doch wenigstens einmal sehen, wo sein Vater wohnt, antwortete sie trocken. Da er den Park und das Schloß nie hat betreten dürfen, so lange wir hier lebten, soll er es sich genau betrachten, ehe wir von hier scheiden.

Der Caplan machte keine Einwendungen dagegen. Er sprach ihr und dem Kinde freundlich zu, aber er suchte sie, indem er vorwärts ging, von der Terrasse, auf welche auch die Fenster von dem Zimmer des Barons hinaussahen, fortzubringen, und weil die Achtsamkeit des Knaben sich auf die Schwäne unten im Flusse hinwendete, gelang es Jenem leicht, Mutter[62] und Sohn dorthin zu leiten. Am Flusse blieb Pauline stehen. Die Sonne war herunter, das Wasser sah schon ganz finster und schwarz aus, die Schwäne zogen mit ihren weißen gehobenen Flügeln langsam darauf hin.

Sieh', wie breit der Fluß hier ist! sagte Pauline, der geht durch das ganze Land, und ist tief, sehr tief. Noch ein paar Wochen, dann wird er gefroren sein. Vergiß das nicht, Paul! Oben liegt das große, helle Schloß und unten fließt das tiefe, finstere Wasser! Wirst Du das behalten?

Ja! versicherte der Knabe.

Nun, dann können wir gehen! rief die Mutter, blieb aber doch noch einmal stehen, um noch einen Blick auf das Schloß zu werfen, und sagte: Da oben ist auch Alles leer, all die Stuben von der seligen gnädigen Frau und von dem gnädigen Fräulein! Die haben auch Platz machen müssen!

Sie seufzte, wollte noch Etwas sagen, unterließ es jedoch und wünschte dem Caplan eine gute Nacht, wobei sie ihm dankte, daß er so viel Geduld und Nachsicht mit ihr gehabt habe und daß er sie und den Knaben hier nicht gestört. Er versuchte, mit ihr von ihrer Reise, von ihrer Einrichtung in der Stadt zu sprechen, und geleitete sie während dessen bis zum Parke hinaus. An der Pforte desselben bat er sie, sie möge das Wort halten, das sie ihm neulich gegeben, den Baron nicht weiter zu beunruhigen.

Was ich versprochen habe, das habe ich versprochen und das werde ich halten! Was der Herr Baron von mir noch hören soll, das erfährt er durch Sie, Hochwürden! betheuerte sie.

Der Caplan lobte das, sie boten sich nochmals gute Nacht, und Pauline schritt mit ihrem Sohne durch die hereinbrechende Dunkelheit gen Rothenfeld nach Hause.

[63]
4. Capitel
Viertes Capitel

Als der Geistliche in das Schloß zurückkehrte, sagte man ihm, daß der Baron nach ihm gefragt habe, und er verfügte sich nach dessen Zimmer.

Ein freundliches Licht, eine behagliche Wärme strömten ihm entgegen, als er in dasselbe eintrat. Im Kamine knisterte und flackerte das Feuer und warf seine Streiflichter nach den Genien von Marmor empor, die von der hochgegiebelten Spitze desselben Kränze und Palmenzweige herniederreichten. An dem großen Schreib-Bureau, oben, gegen das Fenster hin, saß der Baron. Bei dem klaren Lichte der Wachskerzen, die auf den silbernen Armleuchtern brannten, ordnete er verschiedene Briefschaften und Papiere, und die im Kamine auffliegenden leichten Feuerflocken verriethen, daß er auch Papiere verbrannt haben mußte.

Als er den Caplan gewahrte, stand er auf und ging ihm ein paar Schritte entgegen. Es ist gut, daß Sie da sind, Bester, sagte er dann; mir wurde allmählig bange vor diesem Schreibtische. Alte Papiere durchzusehen, ist mir beinahe noch quälender, als auf einem Kirchhofe umher zu wandeln. Der Kirchhof, so traurig seine Mahnung an unsere Vergänglichkeit ist, zeigt sich uns doch immer als die Ruhestätte für man ches Leiden, und wir selber empfinden uns auf demselben mit Behagen als die Lebenden, wir sind für den Augenblick wenigstens noch die Bevorzugten. Aber vor solchen Papieren – er wies mit der Hand darauf hin – fühlen wir selbst uns schon in [64] gewissem Sinne als Vergangene. Wir kennen uns selbst nicht in den durchlebten Zuständen wieder, wir belächeln das, was uns einst wichtig schien, wir sehen auf uns selbst wie auf etwas Fremdes zurück, und daneben wälzt sich uns die ganze Masse von Irrthümern und Verschuldungen auf, die man sich nicht ableugnen kann und mit denen man sich selbst und Andere leiden machte. Die vergangenen Freuden sind uns keine rechten Freuden mehr, die Menschen, die vor uns auftauchen, sind theils wirklich todt, theils todt für uns, und weil wir auf so viel Vergangenes blicken, verlieren wir das Zutrauen zu demjenigen, was wir jetzt wünschen und erstreben. Der grüne Rasen des Kirchhofes ist lange nicht so melancholisch, als solche Päcke vergilbter Papiere. Sie müßten uns alle Lust am Leben nehmen, wären wir nicht wie die Kinder geneigt, uns das Kommende, das Unbekannte, trotz aller unserer Erfahrungen, doch immer wieder schöner und verlässiger, als das Bekannte vorzustellen. Wer seines Lebens froh werden will, muß eigentlich gar keine Zeugnisse seiner Vergangenheit aufbewahren, denn damit allein gewinnt man die Möglichkeit, sich nur dessen zu erinnern, was man festzuhalten wünscht, und Alles zu vergessen, was man vergessen möchte.

Der Caplan widersprach dieser Ansicht. Wer das Bestreben der Selbstvollendung hat, meinte er, muß sich vor sich selbst als Einheit aufzurichten wünschen und hat als Grundlage für seinen eigenen Fortschritt den genauen, klaren Ueberblick über seine ganze Vergangenheit nöthig. Mich dünkt, sagte er, ein jeder Irrthum, aus dem wir belehrt hervorgegangen sind, wird uns zu einem Antriebe, weiter in dem Streben nach Wahrheit fortzuschreiten; jede Versuchung, jede üble Neigung, die wir besiegten, ist eine Ermuthigung für uns, jedes Unterliegen eine Mahnung zum Mißtrauen gegen uns selbst, und wenn ich auf [65] meine ganze Vergangenheit zurückschaue, so möchte ich nicht eine Stunde derselben vermissen.

Der Baron war von der Aeußerung überrascht. Ich kenne Sie doch nun über ein Vierteljahrhundert, sagte er, aber für so glücklich hätte ich Sie nicht gehalten. Nach Ihren Aeußerungen müssen Sie von dem Leben, von den Menschen keine Enttäuschungen erlitten haben; dann freilich wären Sie zu beneiden, wären Sie glücklicher als ich gewesen bin; aber ich habe das nicht geglaubt.

Er brach damit plötzlich das Thema ab, als sei es völlig erschöpft, wenn er seine Ansicht darüber ausgesprochen habe, und der Caplan hatte keine Neigung und keinen Grund, es weiter fortzusetzen. Aber der Baron war aufgeregt und warf mit einer gewissen Heftigkeit noch einige Päcke Papiere in das Feuer, die hell aufflammten und bald als ein Häufchen Asche zwischen den großen Holzbränden versanken.

Das wäre abgethan! sagte er, und als sei mit diesen schriftlichen Zeichen entschwundener Jahre auch all dasjenige vernichtet, was der Baron nicht erlebt und gelebt zu haben wünschte, so erleichtert wandte er sich von dem Feuer ab. Er ging an sein Bureau, schloß eines der Fächer desselben auf, nahm einen Schmuckkasten von violettem Sammet heraus, der auf seinem Deckel das Wappen der Familie Arten trug, und zeigte, den Kasten öffnend, seinem Freunde den darin enthaltenen Schmuck.

Sehen Sie einmal, sagte er, was Fassung thut! Sie kennen ja unsern Familienschmuck; aber wie viel schöner sieht er in seiner jetzigen Fassung aus, als in der früheren, in welcher meine Mutter ihn trug! Er hielt ihn dabei gegen das Licht, daß die Flamme der Kerzen sich tausendfach in den schön facettirten Brillanten spiegelte, und schien große Freude an ihrem Glanze zu haben.

[66] Mich dünkt, der Schmuck ist größer und reicher, als ich ihn früher gesehen habe, meinte der Caplan.

Das ist er auch. Sie wissen ja, daß es ein Uebereinkommen oder vielmehr eine Sitte unter uns ist, bei jeder neuen Uebertragung des Schmuckes auf eine neue Frau von Arten, den Schmuck zu vergrößern. Ich habe die fünf Solitaire, welche die Mitte des Colliers bilden, dazu gekauft, und die ganze Aigrette ist neu. Ich denke, daß sie Gräfin Angelika vortrefflich kleiden wird. Die fünf Steine, welche durch meinen Ankauf an der hinteren Seite des Halsbandes übrig geworden sind, habe ich als Pendeloques für die Brust-Agraffe fassen lassen, und so schön die Steine an und für sich sind, muß man es dem Juwelier, dem Jakob Flies, doch lassen, daß er ihnen durch die Art der Zusammenstellung einen ganz besonderen Glanz gegeben hat. Er ist fraglos einer der geschicktesten Juweliere und der honneteste Jude, der mir vorgekommen ist.

Er blieb mit der Betrachtung des Schmuckes beschäftigt, nahm die einzelnen Theile mit einer fast weiblichen Genugthuung aus dem Etui heraus, hielt sie gegen das Licht und rief endlich: Keine Königin dürfte sich dieses Schmuckes schämen! Dann legte er Alles in dem Etui zurecht, deckte das wattirte weiße Atlaskissen über die Brillanten und schloß das Kästchen mit dem goldenen Schlüssel wieder behutsam zu. Ehe er es aber in das Bureau setzte, ließ er den Caplan noch einmal die Arbeit des Etuis betrachten, welche sehr geschickt das alte, jetzt zu klein gewordene Schmuckkästchen nachahmte, und mit dem doppelten Behagen des Kenners und des Besitzers holte er noch vier, fünf ältere Schmuckkasten herbei, welche die Vorgänger des jetzigen gewesen waren.

Man hatte durch alle Generationen die Form und Zeichnung des ersten Schmuckkästchens festgehalten, das einst einer der Herren von Arten seiner Braut als Hochzeitsgabe dargebracht [67] hatte. Es machte sich also von selbst, daß der Baron dabei seiner Mutter und Großmutter, seiner Vorfahren überhaupt gedachte, und er, der sich eben noch gegen alle und jede persönliche Rückerinnerungen ausgesprochen hatte, fand sich bald in das liebevollste Gedenken an seine Eltern, in den stolzesten Rückblick auf sein Geschlecht versenkt. Er sprach von seiner Mutter, von seinem Vater, er verglich die Eigenschaften und den Charakter seiner verstorbenen Schwester mit denen seiner Braut, er entwarf Lebensplane für die Zukunft und war, wie sanguinische Menschen bei einem neuen Abschnitte in ihrem Leben es pflegen, voll guten Glaubens und voll guter Vorsätze.

Er kam darauf noch einmal, als er dem Caplan die Trauringe zeigte, auf den jüdischen Juwelier zurück. Ich kenne ihn seit langen Jahren, mein Vater bediente sich seines Vaters schon, sagte er, aber ich habe mir niemals die Mühe genommen, mich weiter mit ihm einzulassen, als unser eigentliches Geschäft es nöthig machte. Jetzt, da ich ausführlicher mit ihm zu verhandeln hatte, habe ich ihn näher kennen lernen, und ich finde nun vollkommen bestätigt, was man mir von ihm gerühmt hat. Er ist ein anständiger Mann und von einer Bildung, die ich bei Leuten seines Gleichen in der That nicht vorausgesetzt haben würde.

Ich hatte Ihnen das immer gesagt, bemerkte der Caplan. Verwandte von mir, die vor Jahren in seinem Hause wohnten, hielten einen gewissen Verkehr mit ihm, und ich habe dadurch bei meinen früheren Besuchen in der Stadt die Gelegenheit gehabt, ihn und seine Frau kennen zu lernen. Es sind äußerst brave und recht gebildete Leute.

Mich freut es, diese Bestätigung Ihrer Ansicht durch meine eigene Erfahrung gewonnen zu haben, erklärte der Baron; denn ich hege nicht üble Lust, den Mann als meinen Agenten in der Stadt zu benutzen. Er hat Waarenkenntniß aller Art und [68] viel Geschmack. Er ist daneben klug, umsichtig, ein sehr gewandter Geschäftsmann, und die Weise, in welcher er seine Frau und seine einzige, beiläufig sehr schöne Tochter behandelte, gefiel mir sehr. Discret scheint er mir auch zu sein.

Der Caplan hatte Anfangs nicht recht einsehen können, was den Baron bewogen, grade jetzt, wo seine Zeit beschränkt war, die nähere Bekanntschaft des Juweliers zu machen; noch weniger konnte er begreifen, wozu er eines Agenten in der Stadt bedürfe und weßhalb er sich zu einem solchen eben einen Juden ausersehe. Indeß die letzten Worte, welche der Verschwiegenheit des Herrn Flies gedachten, klärten für den Caplan den Vorgang alsbald auf. Die ganze Maßregel konnte sich nur auf Pauline oder auf den Knaben beziehen, den der Freiherr dem Schutze und Rathe des Juweliers anzuvertrauen beabsichtigen mochte, weil er mit demselben auf sehr leichte und unverfängliche Weise im Zusammenhange bleiben konnte. Da der Baron aber mit keinem Worte Paulinen's gedachte, hielt der Caplan es für angemessen, ihrer ebenfalls nicht zu erwähnen, und der Abend ging mit ruhigen, meist heiteren Gesprächen hin, als säße nicht eine halbe Stunde von ihnen ein unglückliches, verlassenes Weib in all seinem Jammer da, die langsam dahingleitenden Minuten mit seinen Herzschlägen qualvoll durchmessend.

Am andern Morgen kam der künftige Schwager des Barons, ein junger Militär, nach Richten, um den Bräutigam seiner Schwester zur Hochzeit zu begleiten. Er diente in einem Cavallerie-Regimente, dessen eine Schwadron unfern in Garnison lag. Es war ein prächtiger Tag. Das Pferd des Cornets wieherte vor Freude, als es, dampfend von dem scharfen Ritte durch den kalten, klaren Morgen, das Schloß erreichte, dessen wohlversorgte Ställe ihm bekannt und lockend winkten. Die beiden ihn begleitenden langhaarigen Windhunde sprangen in [69] großen Sätzen vor ihm her, als ahnten sie in der klaren Herbstluft die nahe Jagd.

Der Cornet war pünktlich gewesen, um keinen Aufenthalt in der Abreise zu verursachen, und kaum hatte ein Diener sein Pferd weggeführt, so trat gleich ein zweiter heran, dem Reitknechte des jungen Grafen das Gepäck abzunehmen, welches dieser für seinen Herrn auf dem Pferde hatte. Denn die Reisewagen waren bereits zum Anspannen fertig und man hatte nur noch die Mantelsäcke des jungen Grafen unterzubringen.

Der Baron hatte, am Fenster stehend, schon eine ganze Weile nach seinem Schwager ausgesehen. Er hatte vortrefflich geschlafen, war heiter erwacht und am Morgen unter verschiedenen Vorwänden durch das ganze Schloß gegangen, das ihm heute zum ersten Male so leer erschien, als habe die Gefährtin, die er zu holen beabsichtigte, es schon lange mit ihm bewohnt und ihn eben jetzt erst verlassen. Er sah daran, wie viel er in dieser Zeit an sie gedacht hatte, wie sehr er sich ihres nahen Besitzes freute und wie sehr er sie bereits in sein Leben aufgenommen habe. Er begrüßte und umarmte dann den Jüngling, der ihn mit den schönen Augen seiner Schwester anlachte, mit der größten Freude, aber er war so eilig, fortzukommen, daß er trotz seiner Gastlichkeit, noch während der Cornet beim Frühstück saß, den Befehl zum Anspannen der Wagen ertheilte.

Der Cornet wollte davon nichts hören. Er hatte sich vor Tagesanbruch auf den Weg gemacht, nun verlangte er Zeit, sich auszuruhen, denn er wollte sein Haar, das von dem mehrstündigen Ritte in Unordnung gerathen war, frisch frisiren und pudern lassen, um am Abende sich in seiner Familie gebührend präsentiren zu können. Er neckte daher den Baron mit aller kecken Laune eines jungen Militärs und mit allem Uebermuthe eines verwöhnten Günstlings über die große Eile, mit welcher derselbe zur Abreise trieb. Der Baron ließ sich das von dem [70] Bruder seiner Braut mit Heiterkeit gefallen, ja, er willigte endlich darein, dem jungen Grafen noch die ganze neue Einrichtung des Schlosses zu zeigen, und es vergingen damit nahezu zwei Stunden, die man in der angenehmsten und behaglichsten Weise verbrachte.

Endlich fuhren die beiden Reisewagen vor das Schloß. Den einen sollten bei der Heimkehr die Vermählten, den anderen der Cornet und der Caplan benutzen. Die Dienerschaft stand vor der Thüre, der Haushofmeister sah dienstbeflissen noch einmal die Taschen des Wagens nach, sich zu überzeugen, daß die mitgegebenen Vorräthe wohl untergebracht wären, der Kammerdiener legte die Fußsäcke und Pelzdecken zur Vorsicht in den Wagen, und nahm dem Gärtner die Schachtel ab, in welcher das Bouquet von Orangenblüthen, das der Baron seiner Braut als Willkommsgabe aus seiner Orangerie mitzubringen wünschte, vorsichtig in Moos verpackt war.

In dem Augenblicke trat der Baron mit seinen beiden Begleitern aus dem Portal des Schlosses heraus, und der Cornet machte unwillkürlich die Bemerkung, wie schön sein Schwager in dem violetten, mit Goldschnüren besetzten Sammetüberrocke aussehe. Mit klarem Auge selbstzufrieden umherschauend, drückte der Baron den flachen, gleichfalls mit Goldschnüren verzierten dreieckigen Hut auf das Haupt und wollte eben den Wagen besteigen, als sich unten am Flusse eine unruhige Bewegung zeigte. Der Gärtner mit seinen Burschen und einige Arbeiter waren am Wasser beschäftigt, man holte Stangen herbei, und der Gärtner bestieg das Boot, mit dem man nach dem Schwanenhäuschen überzufahren pflegte.

Was giebt's da unten? fragte der Freiherr.

Man wußte es in seiner Umgebung nicht und schickte hinunter, es zu erkunden.

[71] Aber noch ehe der Bote zurückkam, brachte der Gärtnerbursche dem Caplan einen Brief.

Was geht da vor? wiederholte der Freiherr.

Gnädiger Herr, sagte der Bursche, es hat sich Einer in's Wasser gestürzt!

Wer? Wann? rief der Freiherr mit einem Schrecken, der aus irgend einer furchtbaren Ahnung hervorgehen mußte.

Ich weiß nicht! antwortete der Gärtnerbursche auf ein Zeichen des Caplans, von dessen Wangen alles Blut gewichen war.

Der Freiherr wollte die Terrasse hinuntereilen, der Caplan hielt ihn zurück. Bleiben Sie, bleiben Sie! Es ist vergebens, es ist zu spät! sagte er eilig und selbst nach Fassung ringend.

Den Brief, den Brief! drängte darauf der Baron und entriß dem Widerstrebenden das Papier. Es enthielt die folgenden, kurzen Zeilen:

»Was ich von Dir erfahren soll, das theile dem Herrn Caplan mit! hat er mir geschrieben. – Sagen Sie ihm also, Hochwürden, daß ich nicht anders konnte. Ich habe fortgehen wollen, nun der Tag da ist, geht's über meine Kräfte. Ich will ihn ja nicht stören in seinem Glücke, aber hier bleiben muß ich! Wenn er heruntersieht auf das Wasser, werde ich ihm wohl einfallen, und er wird dann auch wohl an den Paul denken, der nun keinen Menschen mehr auf der Welt hat, als ihn! Sagen Sie ihm das, Hochwürden! – Wenn's Tag wird und Sie den Brief bekommen, dann ist's lange mit mir vorbei!«

Das war Alles. Der Brief war kurz und ohne alle Weichheit, wie Paulinen's Charakter in sich abgeschlossen, und ihr Entschluß schnell gewesen war. Sie hatte nicht einmal ihren Namen unterschrieben.

Während der Baron las, hatte seine ganze Dienerschaft erfahren, was geschehen war. Die Blicke seiner Leute waren auf ihn gerichtet, er beachtete es nicht. Seine Hand zitterte, [72] seine Kniee versagten ihm den Dienst, er mußte sich auf einer der Bänke vor dem Schlosse niedersetzen, und im furchtbaren Schmerze schloß er die Augen. Es war eine vollkommene Unthätigkeit in seine Umgebung gekommen, Niemand schien zu wissen, was er thun solle.

Mit einem Mal richtete er sich auf. Abspannen! befahl er und wollte sich in das Schloß begeben. In dem Augenblick kam aber der Cornet zurück, welcher mit der Lebhaftigkeit seines Alters bei der ersten Kunde von dem Unfalle nach dem Wasser hinuntergegangen war.

Es hat sich ein Frauenzimmer aus dem Dorfe ertränkt! sagte er gleichgültig, und sie meinen, es müsse schon viele Stunden her sein, denn der Mantel und die Schuhe, die man auf dem Rasen gefunden hat, waren schon festgefroren, als Ihr Gärtner sie bemerkte. Unter den Schuhen soll ein Brief an den Herrn Caplan gelegen haben. – Ah, Sie haben den Brief schon! rief er, als er das Blatt in den Händen seines Schwagers und zugleich mit dessen Verstörung es bemerkte, daß der Kammerdiener die Pelzdecken wieder aus dem Wagen herausnahm.

Was haben Sie, Baron? Sie lassen ausspannen? fragte er verwundert. Fahren wir denn nicht?

Ja, bald, gleich! erwiederte der Baron, sich gewaltsam beherrschend. Ich muß nur erst sehen ....

Ob Sie Todte lebendig machen können? rief der Cornet. Wenn wir darauf warten sollen, wird Angelika heute eine schlaflose Nacht haben und sich Sorgen um uns machen, wobei Sie natürlich für zwei zählen und ich für Nichts! Vor Abend kommen wir jetzt ohnehin nicht mehr nach Berka, und der Caplan ist ja unten. Ueberlassen Sie ihm doch den Rettungsversuch, das ist sein Amt, und – fügte er übermüthig hinzu – wer weiß, ob der hochwürdige Herr, an den der Brief gerichtet war, nicht am Ende ohnehin mehr von der Sache weiß.

[73] Er lachte über seinen Einfall; der Baron hatte nichts von diesen frechen Worten des jungen Mannes gehört; aber er kam allmählig aus seiner Versunkenheit zurück, fuhr sich mit der Hand mehrmals über die Stirn, und als er sich dann umsah, waren seine Mienen wieder ruhig geworden.

Sie haben Recht, sprach er; ich kann hier in der That Nichts helfen, und Ihre Schwester soll nicht ohne Grund beunruhigt werden. Kommen Sie, lieber Gerhard, lassen Sie uns einsteigen! – Während der junge Graf sich dem Wagen näherte, winkte der Baron den Haushofmeister heran und sagte: Ich lasse den Herrn Caplan ersuchen, alles Nöthige, verstehen Sie mich, alles Nöthige, zu besorgen und mir baldmöglichst nachzukommen! Und daß ich hier Alles finde, wie ich's angeordnet habe!

Der Haushofmeister verneigte sich, die Dienerschaft, welche eben so bestürzt gewesen war, als ihr Gebieter, trat beflissen hinzu, und der Baron stieg ein. Als der Cornet sich zu ihm niedersetzte und der Kammerdiener ihnen die Decken von schwarzem Bärenpelz über die Kniee gebreitet hatte, lehnte der Baron sich in die Ecke zurück, wie einer, der zu schlafen beabsichtigt.

Sie werden heute keinen unterhaltenden Gesellschafter an mir haben, sprach er zu dem jungen Manne. Freude und Erregung haben mich die Nacht nicht schlafen lassen, und nun ist der Schrecken mir auf die Nerven gefallen, daß ich einen Ansatz von Migraine fühle, den ich mir wegschlafen möchte, um Ihre Schwester heiter und frei umarmen zu können.

Kannten Sie das Frauenzimmer, das sich ertränkt hat? fragte gleichgültig der junge Mann.

Ja, versetzte der Baron, und es überlief ihn eiskalt, daß er zusammenschauerte und sein Begleiter ihn, aufmerksam werdend, betrachtete. Dem Baron entging das nicht, und die Achtsamkeit seines Schwagers von dem rechten Pfade abzulenken, [74] sagte er: Mit aller seiner Philosophie kann man sich des Aberglaubens in entscheidenden Momenten doch recht schwer er wehren. Daß solch ein Unglück vor meinen Augen geschah, grade als ich den Wagen besteigen wollte, um an das Ziel meiner Wünsche zu gelangen, hat mir einen äußerst peinlichen Eindruck gemacht, und ich möchte um Alles in der Welt nicht, daß Ihre Schwester Etwas davon erführe.

O, bewahre! Wozu auch? erwiederte der Bruder; aber daß Sie sich so Etwas derart zu Herzen nehmen könnten, hätte ich mir nicht gedacht! Mich läßt dergleichen völlig ruhig. Wer sich das Leben nimmt, thut es zu seinem eigenen Schaden.

Er machte dazu ein ganz ernsthaftes Gesicht, lehnte sich ebenfalls zurück, wickelte sich fest in seinen Reitermantel ein und war, da er mit Tagesanbruch ausgeritten, bald eingeschlafen, während der Baron, von Schmerz und Gewissensbissen gefoltert, von Sorgen und Unglücksahnungen gepeinigt, mit Schrecken daran dachte, daß er am Abend seine Braut begrüßen und sie bald als seine Gattin in sein Haus führen sollte, vor dessen Fenster das dahin fließende Wasser ihn ewig an den Untergang Paulinen's mahnen mußte.

[75]
5. Capitel
Fünftes Capitel

Die ganze gräfliche Familie war bereits im Schlosse beisammen, als der Baron in Berka eintraf. Der Schwiegervater, die neuen Vettern, kamen ihm bis in die Halle entgegen. Bei dem Scheine der Windleuchter, welche die geschäftige Dienerschaft herbeigetragen, hieß man ihn mit aller Feierlichkeit willkommen, und dem Baron war jeder Aufenthalt, war Alles erwünscht, was ihm die Veranlassung zum eignen Handeln ersparte, was die erste Begegnung mit seiner Braut, wenn auch nur für Minuten, hinausschob.

Oben in seinen Zimmern, in die man ihn geführt hatte, um ihm Zeit für seine Umkleidung zu geben, warf er sich erschöpft auf das Canapé, und die Herzbeklemmung, die er den ganzen Tag ertragen und überwunden hatte, machte sich in Thränen Luft.

Gut geschult, verließ sein Kammerdiener ihn, sobald er die Gemüthsbewegung seines Herrn gewahrte, und es dauerte eine Weile, ehe der Baron demselben schellte, um sich ankleiden zu lassen. Er war sonst äußerst sorgsam für seine Toilette, heute blieb dieselbe gänzlich dem Kammerdiener überlassen.

Der Baron beachtete es nicht, in welcher Weise jener ihm die vollen Seitenlocken puderte; er sprach kein Wort, während der Diener ihm das Haar flocht und die Schleifen des breiten Bandes an dem Haarbeutel befestigte. Er merkte es kaum, als er ihm das kleine, goldene Messer reichte, den Puder von [76] der Stirne fortzubringen, und wäre der Diener nicht selbst stolz gewesen auf die vornehme Erscheinung seines Herrn, so hätten die weißseidenen Strümpfe sich ziehen können, wie sie mochten, und weder die kantenbesetzte weiße Halsbinde, noch das Jabot und die Spitzenmanschetten würden die rechten vollen, vornehmen Falten geworfen haben. Erst als der Baron das Zimmer verlassen wollte, um sich zu seiner Braut zu verfügen, und der Diener ihm den Parfümerie-Kasten hinreichte, damit er für sein Taschentuch den Parfüm nach Wohlgefallen wählen könne, erlaubte sich derselbe die Anfrage, ob der gnädige Herr nicht in den Spiegel sehen wolle, und sein zufriedenes Lächeln schien von diesem Vorschlage Erheiterung für den Baron zu erwarten. Indeß der Blick desselben wendete sich kalt von dem Spiegel ab, nachdem er ihn flüchtig darauf gerichtet hatte, und mit einem Seufzer, den er nicht zu unterdrücken vermochte, verließ er das Zimmer.

Er hatte keine Sylbe gesprochen, er hatte es nicht einmal für nöthig gehalten, dem Diener Verschwiegenheit zu befehlen. Er kannte sich und seine Leute. Er wußte, daß sie treue Diener waren, weil er sie immer empfinden ließ, daß er ihr Herr sei.

Langsam und schwerer, als es seine Art war, schritt er die Treppe hinab, durch die Vorzimmer, an der theils wartenden, theils beschäftigten Dienerschaft vorbei, bis die Flügelthür des Saales vor ihm geöffnet wurde. Aber das Licht, das helle Licht, welches ihm aus demselben entgegenstrahlte, war ihm unangenehm. Es blendete ihn heute zum ersten Male in seinem Leben und erinnerte ihn damit, wie heiße Thränen er geweint hatte. Indeß es blieb ihm keine Zeit, an sich zu denken. Er hatte seine Braut zu begrüßen, er mußte ihr sagen, was er in diesem Augenblicke leider ganz und gar nicht empfand, daß er glücklich sei, sie wiederzusehen.

[77] Wie hold sie ist! hörte er ausrufen, als Gräfin Angelika ihm mit unverhehlter Freude und Zärtlichkeit entgegenkam.

Die schlanke Gestalt sah so leicht aus in dem Kleide von rosenfarbener Seide. Das schöne Haar, nur von einem rosa Bande gehalten, puffte sich hoch über ihrer schmalen Stirne empor und fiel hinter beiden Ohren in langen Locken weich und schwer auf ihren Hals und ihren Busen hinab.

In jedem anderen Momente würden ihre Jugend und ihre Schönheit dem Baron eine Entzückung bereitet haben; heute bewegten sie ihn nicht, obschon er sie gewahrte. Er küßte Angelika's Hand und umarmte sie, aber sie mußte die Begrüßung nicht gefunden haben, wie sie dieselbe erwartet hatte, denn es legte sich ein Schatten über ihr Gesicht und ihr Auge blieb ängstlich auf den Baron gerichtet, als man sich nach kurzer Zeit in den Speisesaal verfügte.

Die Unterhaltung belebte sich an der Tafel schnell. Man befand sich noch in den Zeiten, in welchen Männer und Frauen es kein Hehl hatten, daß sie in die Gesellschaft gingen, um einander zu treffen und daß sie einander zu gefallen wünschten. Die Geselligkeit, die Unterhaltung wurden noch als eine Kunst betrachtet, in welcher geübt und geschickt zu sein für einen Gebildeten als eine Ehrensache galt. Der Baron, als trefflicher Gesellschafter gerühmt, hatte seinen Ruf aufrecht zu erhalten und hätte ihn selbst in seiner gegenwärtigen Stimmung, in dem Kreise seiner neuen Familie und unter den Augen seiner Braut nicht einbüßen mögen. Er nahm sich also zusammen, und da man für den Moment durch Ueberreizung seiner Kräfte ihre Abspannung am leichtesten besiegt und verbirgt, so steigerte er sich allmählich zu einer Lebhaftigkeit, welche die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn richtete und ihn zum Mittelpunkte des ganzen Kreises machte.

Er kam aus der Stadt, war vor nicht langer Zeit in[78] Berlin gewesen und hatte viel Gutes von den Freunden zu erzählen, welche er an beiden Orten gesehen. Er konnte, weil ihm die hervorragendsten Persönlichkeiten des Hofes und der Diplomatie bekannt waren, genaue Auskunft über den Stand der Welthändel geben, welche damals noch nicht so offen und so schnell vor aller Leute Augen gebracht wurden, als in unsern Tagen, und was die Literatur anbelangte, an der man zu jener Zeit in der guten Gesellschaft weit mehr Antheil nahm als heute, so führte er als das Neueste und Bedeutendste in seinem Reisewagen außer Goethe's Geschwistern noch die ersten veröffentlichten Bruchstücke des Don Carlos mit sich. Er mußte vom Könige erzählen, von der Gräfin Lichtenau, deren Charakter und deren Thun und Treiben seit der neuerdings erfolgten Thronbesteigung Friedrich Wilhelm's des Zweiten eine noch größere Wichtigkeit bekommen hatten, und wie sehr er die Abneigung seiner Zuhörerinnen gegen die königliche Maitresse auch berücksichtigte und schonte, konnte er doch nicht umhin, sie als eine Frau von Geist, von Geschmack und von Kunstsinn zu bezeichnen. Hier und da verrieth ein Blick, ein Wort es den Männern, daß er noch mancherlei Besonderes zurückbehalte, was den Vertrautesten mitzutheilen sich wohl eine gute Stunde finden lassen werde, und selbst die Frage der Damen nach den neuen Moden in Kleidung und Wohnungseinrichtung freundlich zu befriedigen, ließ der Baron sich gefällig herbei, bis alle Anwesenden voll von seinem Lobe waren, bis er selbst sich fortgehoben hatte über seinen verstörten Sinn. Er hatte die Gesellschaft für sich eingenommen und sich durch die Betrachtung erheitert, wie viel Herrschaft er über sich habe und über welche Mittel er gebiete, sich die Neigung und Bewunderung der Menschen zu gewinnen; das genügte ihm für den Augenblick und half ihm vorwärts.

Nur Eine Person in der Gesellschaft schien die allgemeine [79] Zufriedenheit und den allgemeinen Frohsinn nicht zu theilen, nur Comtesse Angelika blieb ernst und schweigsam. Das fiel dem Baron auf, und, besorgt und ein wenig empfindlich zugleich, fragte er sie: Fehlt Ihnen etwas, meine Beste, oder was ist geschehen, das Lächeln von Ihrem lieben Antlitze zu verscheuchen?

Da richteten sich ihre sanften Augen ruhig forschend auf die seinen, und mit leiser Klage sagte sie: Sie erzählen so viel Schönes, aber Sie sagen mir Nichts!

Der Scharfblick des jungen Mädchens erschreckte, der Vorwurf traf ihn, indeß schnell gefaßt neigte er sich zu ihr und sprach flüsternd: Wollen Sie, daß ich hier inmitten der Familie und der Gäste die Selbstbeherrschung verliere, die mir Ihnen gegenüber, Süßeste, zu behaupten so schwer wird, daß ich, um Herr über mich zu bleiben, mich mit Plaudern beschwichtigen muß? Was soll ich Ihnen sagen, das Sie nicht wüßten, meine holde Braut?

Sie lächelte und erröthete, ohne jedoch durch seine Schmeichelrede beruhigt zu werden. Sagen Sie mir, daß Sie sich freuen, bei mir zu sein, daß ich Ihnen gefalle! bat sie mit einem Tone, der scherzend sein sollte, der aber ihre Besorgniß nicht verbergen konnte.

Angelika, rief der Baron und sah sie mit einem Blicke an, vor dem sie erglühend die Augen senkte, bestes, theuerstes Mädchen, was ficht Sie an, wie kommt Ihnen dieser Zweifel? Ich begreife Sie nicht!

Sie lächelte verwirrt, sie schalt sich selbst ein verwöhntes Kind, sie bat ihren Verlobten, ihr zu verzeihen, und reichte ihm die Hand hin, die er zärtlich drückte; aber er wußte jetzt, daß er sich vor Angelika zu hüten habe, und seine Stimmung ließ ihm heute nur Einen Weg, auf dem er sich behaupten konnte.

[80] Er hatte bis dahin seine Braut mit all der strengen Zurückhaltung behandelt, welche Reinheit und Unschuld von dem Manne zu fordern berechtigt sind. Jetzt, da er im Innersten erschüttert und bedrängt, keiner freien Empfindung mächtig, seine Braut beunruhigt und zum Argwohn geneigt sah, jetzt mußte der Schein der Leidenschaft und des Verlangens ersetzen, was Angelika an ihm vermißte, und es fiel dem erfahrenen Frauenkenner nicht schwer, das Herz des jungen Mädchens lebhaft zu beschäftigen. In den folgenden Tagen gab es der Zerstreuungen, welche ihm zu Hülfe kamen, auch mancherlei, denn die große Familie, welche jetzt im Schlosse zusammen lebte, nahm beide Verlobten sehr in Anspruch. Das neue Eintreffen des einen oder des anderen noch fehlenden Gastes brachte immer neue Zwischenfälle, welche dem Freiherrn seine Haltung wesentlich erleichterten, und da Angelika, aus ihrer friedlichen Ruhe aufgeschreckt, das Alleinsein mit ihm zwar suchte, aber es eben so schnell wieder floh, so verfloß die ganze Woche ohne besondere Störungen. Die Männer zogen in der Frühe auf die Jagd, man speis'te gemeinsam und am Abend vereinigten Unterhaltung und Spiel die Gesellschaft in verschiedenen Gruppen, während die Jüngeren hier und da zum Tanze ihre Zuflucht nahmen.

Am Vorabende der Hochzeit hatte man länger als gewöhnlich bei der Mittagstafel verweilt und sich dann in das Nebenzimmer begeben, um dort den Kaffee einzunehmen. Der Baron stand, den Rücken gegen die Stubenthüre gekehrt, die kleine Tasse von meißener Porzellan in der Hand, mit einigen Herren in lebhafter Unterhaltung an dem Kamine. Man sprach von Diesem und Jenem, man neckte den Baron damit, daß er zerstreut sei, weil die bevorstehende Hochzeit ihm im Sinne liege; und der Gedanke an dieselbe führte die Männer, welche zum Theil Jugendfreunde und Lebensgenossen des Freiherrn waren, auf die Erinnerungen [81] an ihre eigenen Hochzeiten und auf manches gemeinsame Erlebniß zurück. Es fehlte dabei nicht an einer Menge jener kleinen Züge, welche man einander, vorsichtig nach den Frauen hinüber schauend, mit Lächeln und Flüstern erzählte, und wie das zu geschehen pflegte, waren die Männer, welche am ruhigsten das friedliche Joch ihrer Ehe ertrugen, unter denjenigen, die am eifrigsten gegen den Zwang der Beständigkeit protestirten und sich am dreistesten des Uebermuthes berühmten, mit dem sie die Tage ihrer Freiheit und Ehelosigkeit genossen haben wollten.

Sie waren der Klügste von uns Allen, Baron! sagte einer seiner Verwandten, der mit ihm gleichen Alters war. Sie haben sich Ihre Freiheit nach Gebühr zu Nutze gemacht, und nun, da ich armer Thor bereits meines Sohnes Erstgebornen aus der Taufe gehoben habe, nun führen Sie, als ob das eben so sein müßte, das schönste Mädchen des Landes heim, um das die ganze Schaar unserer jungen Edelleute sich vergebens bemühte. Ihre Frau wird großes Aufsehen machen, wenn Sie sie am Hofe präsentiren.

Das könnte sein, versetzte der Baron, ich habe aber nicht die Absicht, an den Hof zu gehen, und meine Braut hat vollends keine Neigung für das Leben in der Residenz.

Weil sie es nicht kennt! meinte einer der jüngern Männer, denn ich halte es für unmöglich, sich nicht von dem schwungvollen Sinne, von dem Geiste und von der Bildung gefesselt zu fühlen, welche sich dort zur Verschönerung des Lebens und zum Genuß desselben verbinden.

Schon die große Zahl von Franzosen und Engländern, von Fremden überhaupt, machen den Hof jetzt anziehender, als er seit lange gewesen ist, bemerkte der Edelmann, der zuerst gesprochen hatte, und sich zu dem Freiherrn wendend, sagte er: und nicht allein Fremde erscheinen dort, auch Geister lassen sich sehen. Was haben Sie denn über die Sache erfahren?

[82] Sie meinen die Erscheinung des Grafen von der Mark, welche man dem Könige bereitet hat? fragte der Freiherr.

Eben diese! versetzte der Andere, und der Freiherr berichtete, was er davon gehört und wie sehr der König sich durch den Anblick dieses von ihm geliebten und als Kind verstorbenen Sohnes erschüttert gefühlt haben sollte.

Einige der Männer, feste, alte Voltairianer, zuckten mitleidig und verächtlich die Achseln, als die Unterhaltung sich nach dieser Seite wendete. Indeß die Geisterseherei war Mode geworden, Jeder hatte seine Meinung über ihre Möglichkeit, und die Frauen, deren weichem Herzen der Tod ja fast immer als eine Grausamkeit erscheint, sprachen sich zum Theil sehr lebhaft für eine Ansicht aus, welche ihnen einen fortdauernden Zusammenhang mit ihren dahingegangenen Lieben in Aussicht zu stellen versprach.

Der Baron, dessen Meinung man zu verschiedenen Malen herausgefordert hatte, vermied es, sie zu äußern. Er war zurückhaltender, als er es sonst über ähnliche Materien zu sein pflegte, und weil sich Niemand in der Gesellschaft befand, der die Unterhaltung verständig leitete und beherrschte, verlor sich dieselbe, je mehr die Dämmerung hereinbrach, immer tiefer in das Gebiet des Geheimnißvollen und Sentimentalen. Man erzählte die Erfahrungen, die man selbst von dem Uebergreifen der Geisterwelt in den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren gemacht zu haben glaubte, man erinnerte an die damals vielbesprochene Geschichte der jungen Schauspielerin, der ihr verrathener Geliebter sich auf die wundersamste Weise kundgegeben haben sollte.

Das Für und Wider äußerte sich noch einmal und noch lebhafter, als zuvor, bis einer der älteren Edelleute, welchem diese weichlich mysteriöse Unterhaltung nicht behagen mochte, ihr mit einem Scherze ein Ende zu machen beschloß.

Man könnte sich es schon gefallen lassen, sagte er, einer [83] ungetreuen Schönen zu einem allgegenwärtigen und unvermeidlichen Memento mori zu werden, wenn man nur vor Repressalien sicher wäre! Stellen Sie sich doch aber vor, meine Herren, was sollte aus uns Ehemännern und aus dem Frieden unseres Hauses werden, wenn jedes hübsche Lärvchen, das uns einmal das Herz gerührt hat, so ganz ad libitum in unserem häuslichen Kreise erscheinen und unsere eheliche Eintracht stören könnte? Unsere Damen, die jetzt so sehr für diese neue Weltanschauung schwärmen, würden ja die Ersten sein, um Gottes willen gegen einen solchen sichtbaren Zusammenhang mit der Geisterwelt zu protestiren.

Man lachte, man belobte hier und da den gesunden, heiteren Einfall des alten Herrn, man sagte, daß der rechte Frohsinn jetzt nur noch bei den Alten zu finden sei, und stachelte damit den Ehrgeiz des jungen Grafen Gerhard auf, den Witz und die Heiterkeit der Jugend kund zu thun. Unglücklicher Weise waren aber Maß halten und ruhiges Ueberlegen nicht eben seine Sache. Der reichlich genossene Wein hatten ihn heute noch unbesonnener und kecker als gewöhnlich gemacht, und sich an seinen Schwager wendend, dessen Ernst und dessen Schweigen ihm aufgefallen sein mochten, rief er: Der Onkel Kammerherr hat wahrhaftig Recht! Stellen Sie sich doch vor, Baron, was aus Ihnen werden sollte und was Angelika sagen würde, wenn alle die Frauen, denen Sie um Angelika's willen das Herz gebrochen, Ihnen erscheinen sollten? Stellen Sie sich vor, wenn – er wies mit dem Kopfe nach dem Eingange des Zimmers und der Baron und die Anderen folgten unwillkürlich seinem Winke – wenn dort sich zum Beispiel plötzlich die Thür öffnete und ...

Ein Schauer durchflog die Glieder des Barons, denn die Thüre that sich wirklich wie mit Einem Schlage plötzlich auf, ein blendendes Licht strömte herein, und mit krampfhafter Bewegung [84] den Arm des ihm Nächststehenden ergreifend, sank der Baron auf den Sessel am Kamine nieder.

Aber nur wenige wurden das gewahr, denn die Diener brachten eben jetzt die vielarmigen Leuchter in das Zimmer, deren helles Licht die Mehrzahl der Anwesenden blendete, und der Eintritt des Caplans, dessen Ankunft man kurz vorher gemeldet hatte, nahm die Anderen in Anspruch. Der Graf und die Damen des Hauses bewillkommten den neuen Gast, und der Baron gewann inzwischen Zeit, sich zu sammeln und sich zu erholen. Dennoch neckte man ihn mit seiner Ueberraschung, mit seinem Schrecken; man wollte wissen, welche Erscheinung er gehabt habe, indeß der Baron entzog sich mit guter Art und großer Selbstbeherrschung allen darauf zielenden Fragen und Neckereien, und mitten in der allgemeinen Unterhaltung, zu der er sich genöthigt fand, fragte er, als der Caplan an ihn herangetreten war, denselben leise und beklommen: Hat man sie gefunden?

Alle Mühe war vergeblich! antwortete jener ebenso.

Und Paul? fragte der Baron mit derselben Dringlichkeit.

Ist fürs Erste wohl aufgehoben in der Stadt.

Wer brachte ihn dorthin?

Ich selbst! versetzte der Caplan.

Der Baron drückte ihm schweigend die Hand, andere Personen traten mit Ansprache und Bewillkommung dazwischen, der Abend verging in bewegter Geselligkeit und der Baron fand sich erst wieder mit seinem Hausgenossen zusammen, als dieser ihn am späten Abende noch in seinen Gemächern besuchte. Er traf den Baron, der sonst noch vor dem Schlafengehen lange in seinem Zimmer zu lesen pflegte, bereits im Bette.

Wundern Sie sich nicht, daß ich mich schon niedergelegt habe, redete der Baron den eintretenden Caplan an, ich bin sehr müde. Der Stand eines Bräutigams ist an und für sich [85] eine Unnatur und legt uns eine abgeschmackte Rolle auf. Wenn ein fertiger Mann ein Mädchen zur Frau begehrt, so sollte man es ihm geben und ihn mit der Erwählten ziehen lassen. Was soll dieses wartende Verlangen von der einen und von der anderen Seite? Es ist so viel Zwang und Heuchelei darin, ja, es liegt im Brautstande, wenn man von einer Gesellschaft umgeben ist, wie die hier im Schlosse versammelte, sogar eine Art von Cynismus, der mich beleidigt. Ich wollte, wir wären zwei Tage weiter und fort von hier. – Er machte eine kleine Pause und warf dann die Bemerkung hin: Ich schlafe auch schlecht! Am Tage Ermüdung, in der Nacht wenig Schlaf und während desselben quälende Träume! Wahrhaftig, man könnte .... er vollendete den Satz nicht, fuhr mit der Hand, wie es seine Gewohnheit war, ein paar Mal über Stirn und Gesicht und stieß dann ein Ach! hervor, in welchem sich sein ganzer Zustand offenbarte.

Der Caplan fand ihn übel aussehend, auch die Stimmung des Barons kam ihm bedenklich vor. Weil es spät war und er die Weise seines Freundes kannte, sich möglichst lange auf Umwegen von dem Gegenstande fern zu halten, den zu erörtern er Scheu trug, kam er ihm zuvor, indem er ohne Vorbereitung davon zu sprechen begann.

Sie fragten mich heute, hob er an, wo Paul sich befinde, und ich sagte Ihnen, daß ich selbst ihn nach der Stadt gebracht habe. Da es an dem Morgen nicht gelang, die Mutter aufzufinden, so machte ich mich noch am Abende mit dem Knaben auf den Weg, weil ich ihn nach dem Vorgegangenen nicht eine Stunde unnöthig in Rothenfeld verweilen lassen wollte. Unentschieden, wo ich ihn unterbringen solle, da er bei seinem Alter noch für kein öffentliches Pensionat geeignet ist, fiel es mir ein, mich, weil ich keine Zeit zu verlieren hatte, an Herrn Flies zu wenden.

[86] Und Sie sagten ihm, wem der Knabe gehöre? unterbrach ihn der Baron.

Ich hatte das nicht nöthig, obschon er Anfangs mit der Zurückhaltung, welche Sie an ihm rühmten, nicht merken ließ, was der erste Anblick des Knaben ihm verrathen hatte.

Also Sie finden auch, daß der Knabe mir so ähnlich sieht? fragte der Baron in einer Weise, die schwer erkennen ließ, welcher Empfindung sie entsprossen war, und ohne des Caplans Antwort abzuwarten, wollte er wissen, ob sein Sohn sich jetzt bei dem Juwelier befinde.

Nein, entgegnete der Andere; ihn dauernd in einer jüdischen Familie zu lassen, wäre doch nicht wohl thunlich gewesen, und ich zweifle auch, daß Herr Flies sich dazu verstanden haben würde, ihn aufzunehmen, da ....

Und Ihr Vetter, der früher in dem Flies'schen Hause wohnte? unterbrach ihn der Baron; ich habe an Ihren Vetter und dessen Frau gedacht ....

Die Leute sind kinderlos, bemerkte der Caplan.

Eben deshalb! meinte jener lebhaft.

Meine Verwandten sind so sehr an eine ruhige Häuslichkeit gewöhnt, daß eine Störung derselben ihnen durch Nichts aufgewogen werden könnte, sagte der Caplan ablehnend.

Der Baron verstand ihn, das bewies das unwillkürliche Zusammenpressen seiner Lippen; der Caplan ließ ihm aber zu seiner Mißempfindung nicht lange Zeit, denn er berichtete, wie der Juwelier Rath geschafft und ihn an die Familie gewiesen habe, welche jetzt den dritten Stock seines Hauses als Miether bewohnte.

Wer sind die Leute? fragte der Baron dazwischen, der sich im Bette aufgerichtet und den Kopf auf die weiße, wohlgepflegte Hand gestützt hatte, die vornehm aus den Spitzenmanschetten des weitärmeligen Nachthemdes hervorsah.

[87] Eine ebenfalls kinderlose Beamtenfamilie, wie meine Verwandten. Die Frau zeigte sich ohne Weiteres bereit, auf den Vorschlag einzugehen, da das Gehalt des Kriegsrathes nur beschränkt und die Familie doch zu einem gewissen Aufwande genöthigt ist. Eine Vermehrung der Einnahmen schien ihr also sehr erwünscht. Der Kriegsrath hatte Bedenken, sie wurden aber von der Gewandtheit des Juweliers ohne all mein Zuthun besiegt.

Bedenken? wiederholte der Baron mit einem Anfluge jenes empfindlichen Stolzes, der sich wundert, wenn sich Jemand seinen Wünschen nicht gefügig zeigt.

Sie galten der Herkunft des Knaben, der möglichen Ungelegenheit, welche dieselbe verursachen könnte, und endlich auch der Sicherheit der Pensionszahlungen, für die Herr Flies sich dann natürlich alsobald verbürgte, während er zugleich auf die Förderung hin deutete, welche dem Kriegsrathe durch Ihre Vermittlung zu Theil werden könnte.

Sie glauben also, daß der Knabe dort gut aufgehoben ist? fragte der Baron, über die Antwort des Caplans leicht hinweggehend.

Der Juwelier versicherte es mir, und eilig, wie ich war, fand ich es am besten, ihn in dem Hause zu lassen, da Herr Flies und seine Frau ein Auge auf ihn zu haben versprachen.

Der Baron nickte zustimmend. Ich danke Ihnen, sagte er, Sie haben mir einen Dienst geleistet; ich bin über den Knaben beruhigt, wenn Flies ihn in seiner Nähe und Aufsicht behält. Wollte Gott, ich könnte mich auch sonst beruhigen! Man hätte vielleicht der Unglücklichen Zeit lassen, Sie hätten ihr nachgeben, ihr gestatten sollen, den Winter oder wenigstens noch einige Wochen in Rothenfeld zu bleiben. Ich beurtheilte Pauline richtiger, als Sie!

Der Caplan war, wie er den Baron kannte, darauf vorbereitet [88] gewesen, daß er es zu seiner Selbstberuhigung versuchen würde, dem Freunde einen gewissen Antheil an dem Unheile aufzubürden, welches er selber angerichtet hatte. Er ließ also diese Aeußerungen absichtlich unbeachtet, und dadurch genöthigt, sich weiter kund zu geben, sagte der Baron, von dem Thatsächlichen der traurigen Angelegenheit abbrechend:

Gewisse Erfahrungen muß man an sich selber ma chen, und so theuer man sie erkauft, bezahlt man sie doch wahrscheinlich nicht zu hoch. Sie werden sich künftig, mein werther Freund, über mich nicht mehr zu beklagen haben!

Der Caplan bat um eine Erklärung dieser Worte.

O, versetzte jener, mich dünkt, darüber könnten Sie nicht in Zweifel sein! Ich habe wohl sonst Ihre strengen Morallehren als unnatürliche Beschränkungen, Ihre ganze Weltanschauung und Lebensführung als die Frucht eines furchtsamen Aberglaubens angesehen, und Sie in meinem Innern beklagt, daß Sie sich in Folge Ihrer Gelübde nicht zu genießen erlaubten, was uns zum Genusse ladet und für denselben geschaffen ist. In den letzten Tagen, sagte er mit einem schweren Seufzer, habe ich mich aber oftmals des Gedankens nicht erwehren können, daß Sie jetzt der Glücklichere von uns beiden sind. Ja, ich habe Sie recht eigentlich um Ihre Gemüthsruhe, um Ihren Seelenfrieden beneidet und oft gedacht, daß man schon aus Selbstsucht und Berechnung ein einfaches, reines Leben führen müßte. Wenn ich daher in meiner Ehe mit Gräfin Angelika Kinder haben sollte, so will ich sie Ihnen und Ihrer Führung ausschließlich anvertrauen, und Sie sollen mich an diese Stunde erinnern, lieber Freund, wenn ich gegen dieses Versprechen handle. Es ist sicher ein köstlich Ding um ein unbeflecktes Gewissen und um die Möglichkeit des Glaubens und des Gebetes!

Der Geistliche sah ihn prüfend an. Er wußte, welcher [89] schnell wechselnden Ansichten der Baron fähig war, und pflegte deßhalb auf seine Aeußerungen, sofern sie aus einer ungewöhnlichen Stimmung hervorgingen, kein großes Gewicht zu legen. Es däuchte ihm aber, als sei es Pflicht des Christen und vor Allen des Geistlichen, einem Schwerbeladenen und Niedergebeugten, und ein solcher war der Freiherr jetzt in jedem Betrachte, in der Stunde der Noth die Hand zu reichen, und ihm den Trost zu bieten, an welchem man sich in der eigenen Ohnmacht gehalten und an dem man sich aufgerichtet hat.

Haben Sie es denn versucht, fragte er ihn deßhalb sanft und ernst, sich einmal innerlich Ihr ganzes bisheriges Leben darzulegen? Haben Sie es versucht, recht in sich zu gehen und sich mit dem Gedanken an die Folgen Ihres Handelns Rechenschaft über dasselbe zu geben, als wäre diese Rechenschaft von einer Macht gefordert, die den Zusammenhang der Dinge besser kennt, als wir? Haben Sie sich denn in letzter Zeit wohl jemals der Religion mit dem Bedürfniß um Erlösung zugewendet?

Sie wissen, bester Freund, sagte der Baron zögernd und mit Bedauern, daß dies leider nicht geschehen ist. Bei meinem lebhaften Sinne und einem starken Selbstgefühle ist mir die Religion seit lange nur als eine Stütze und ein Heilmittel erschienen, deren der Gesunde und Kräftige entrathen und nach denen mich persönlich niemals verlangen könne. Indeß die Erfahrungen, welche ich jetzt an mir und in dem Leben überhaupt gemacht, und ein Eindruck, eine räthselhafte Erscheinung, die ich gehabt, eben heute gehabt habe – Er brach ab und sagte: Ich wiederhole Ihnen, ich wollte, ich könnte heute glauben und beten wie Sie, mein Freund, und mir damit das Herz entlasten.

Und was hindert Sie daran? fragte der Caplan, ihm fest ins Auge blickend.

[90] Mir fehlt die Zuversicht, der Glaube, daß Gebet mich trösten könne, daß für mich auf diesem Wege die begehrte Hülfe zu finden sei, wendete der Freiherr mit einer Weise ein, die sehr von jener Leichtigkeit abwich, mit welcher er solche Materien sonst zu behandeln gewohnt war.

Der Caplan schwieg eine Weile wie im Nachdenken versunken, dann sprach er ernsthaft und bewegt, wie man eine tiefe Ueberzeugung, eine an sich selbst erprobte Erfahrung kund giebt: Mich müßte Alles trügen, oder Sie stehen auf einem jener Wendepunkte des Lebens, Herr Baron, auf welche der Mensch, nach meiner festen Ueberzeugung, nur dann gestellt wird, wenn das Einschlagen eines völlig neuen Weges für ihn das einzige Rettungsmittel geworden ist. – Er machte darnach wieder eine Pause und sagte endlich, als habe er lange nach der Form gesucht, in welcher er seinen Glauben dem Freiherrn zugänglich machen könne: Sie haben vor nicht langer Zeit selbst gegen mich über die mystische Grenze gesprochen, welche in unseren Handlungen das freie Wollen von dem Müssen und Erleiden scheidet, und ich erinnere Sie an diese Ihre eigene Ansicht, um in derselben Ihnen ein Gleichniß und in gewissem Sinne auch die Erklärung für Ihren jetzigen Zustand zu bieten. Ist irgendwo eine solche mystische Grenze zwischen der Freiheit des Menschen und der Führung des Höchsten vorhanden, so offenbart sich dieselbe, wenn wir Ihr Leben einheitlich überschauen, an Ihnen. Alles, was Sie unternahmen, sich eine höchste Befriedigung im weltlichen Sinne zu schaffen, erfüllte den Zweck nicht, Sie innerlich wahrhaft zufrieden zu stellen. Da fallen Sie auf einen Gedanken der Menschenliebe, aber auch ihm liegt ein weltliches Element zu Grunde. Sie machen ein Geschöpf Gottes, das Ihnen durch eine Verknüpfung von Umständen zur Pflege zugeführt wird, nicht zu einem Gegenstande Ihrer selbstlosen Sorgfalt, sondern zu einem Spiele Ihrer Phantasie, zu [91] einem Glückspfande, und nur zu bald wird das arme Wesen Ihr Opfer, wird durch Sie um Unschuld, Glauben und Hoffnung gebracht. Jetzt kommt der Augenblick, in welchem Sie selbst das Bedürfniß fühlen, sich ein neues und geläutertes Leben in Ihrem Hause aufzuerbauen, und nun erwächst Ihnen aus Ihrer Vergangenheit, aus früherem Verschulden ein Unheil, das Sie selbst wie einen Fluch empfinden, vor dessen Anmahnung Sie sich nicht zu bergen, gegen dessen Last Sie sich nicht zu wehren und vor dem Sie keine Rettung zu finden wissen, von dem Sie auch nirgends Rettung und Erlösung finden werden, als an der Quelle, aus welcher alle Erlösung und alle Gnade quillt. –

Er machte eine Pause. Der Baron hatte noch immer das Haupt auf den Arm gestützt und sah, in tiefes Sinnen versunken, vor sich nieder. Der Caplan wartete, ob Jener zu sprechen beginnen würde, indeß nur die Traurigkeit und Weichheit seiner Mienen verrieth, was in seinem Herzen vorging, und der Caplan hielt es für seine Pflicht, dem Bereuenden weiter entgegen zu kommen.

Sie sind in diesem Augenblicke, sagte er, wie der verlorene Sohn, wie der Sohn, der im Uebermuthe seiner Kraft es verlernt hat, sich als Kind in seines Vaters Arme zurück zu flüchten. Sie wissen, Sie kennen den Weg, der Sie an das Ziel Ihrer Sehnsucht führen kann, aber Sie scheuen sich, ihn zu betreten, weil Sie verlernt haben, ihn zu gehen. Sie möchten beten können; heißt das nicht beten? Sie möchten sich zu Gott, zu Ihrem Erlöser wenden; heißt das nicht zu ihm gewendet, zurückgekehrt sein zu ihm? Sie verlangen nach Hülfe, nach Beistand, nach Gnade – aber die göttliche Gnade ist so unerschöpflich, daß das bloße brünstige Verlangen nach ihr, wenn es ein fortgesetzter Zustand der Seele wird, schon die Bürgschaft für ihre Gewährung in sich trägt, denn der Allhelfer fehlt dem Menschen [92] niemals, wenn es von ihm ist, daß man Hülfe und Erlösung erwartet.

Der Freiherr hatte den Kopf erhoben; er sah den Caplan forschend an, und mit dem unverkennbaren Verlangen, eine Widerlegung seines noch nicht überwundenen Zweifels zu erhalten, fragte er: Könnte Unglauben so rasch zum Glauben werden?

Moses schlug voll Glaubens gegen den Fels, und aus dem harten, verschlossenen Gestein sprang die helle Flut des Lebens hervor, sein ganzes Volk zu erquicken. – Der Caplan rückte bei diesen Worten seinen Sessel nahe an den Baron heran, neigte sich zu ihm und sagte, indem er mit sichtlich bewegtem Herzen die Hand desselben ergriff: O, könnte ich Ihnen doch klar und eindringlich machen, was als feste, erhebende Ueberzeugung in mir lebt! Der Glaube, der Ihren Vater, Ihre Mutter durch das Leben leitete, der Ihre verklärte Schwester in einer Weise sterben machte, welche ihrem Leben erst die volle Weihe verlieh, dieser Glaube hatte Sie verlassen, und so nahe wir beide durch alle die Jahre neben einander lebten, Herr Baron: wir standen einander ferner, als es zwischen so alten Lebensgenossen hätte sein sollen! Aber glauben Sie mir, mein Freund, wie gering der Antheil auch gewesen ist, den Sie mir bisher an Ihrem Seelenleben gönnten, ich habe nicht aufgehört, um dasselbe zu sorgen; ich habe nicht aufgehört, zu hoffen, daß der Erlöser Sie zu finden wissen werde! Und nun, da das Entsetzliche hereinbrach, habe ich mit Ihnen gelitten Tag für Tag, ich habe für Sie gedacht, für Sie in meinem Herzen gebetet und in die Zukunft zu blicken gestrebt, nach Beruhigung für Sie! Da ist mir der Gedanke an die wunderbaren Wege und Fügungen des Himmels tröstlich zu Hülfe gekommen! Wer von uns will es ermessen, ob Gott nicht das junge Weib, ob er nicht Pauline, die das Opfer Ihrer Sinnlichkeit [93] geworden war, sich ausersehen hat als ein Werkzeug zu Ihrer Bekehrung? Ob nicht Pauline sterben mußte, das eigene Vergehen zu büßen und Sie hinzuführen an die Gnadenquelle, aus der das Geschlecht, welches fortzupflanzen Sie morgen Ihre Ehe schließen, sich erquicken und erstarken soll zu neuem Glauben, zu neuem Wandel auf dem rechten Wege?

Der Baron hatte dem Freunde mit steigender Erschütterung zugehört. Weichherzig wie er war, hatten schon die tiefe und ernste Bewegung, die fromme Liebe und die feste Treue des alten Lebensgenossen ihn gerührt und aufgerichtet, aber bei des Caplans letzten Worten erhellten die ganzen Mienen des Barons sich wundersam. Der zuversichtliche Glaube an die räthselhaften Wege einer allweisen Vorsehung, welcher dem Caplan den Gedanken eingegeben hatte, daß Pauline nach Gottes Rathschluß habe sterben müssen, um den Freiherrn und sein Haus dem Glauben wiederzugeben, trug für den Letzteren schon eine halbe Erlösung in sich und leuchtete ihm ein, da er seiner persönlichen Eigenliebe wie dem Stolze auf sein Geschlecht plötzlich in der erwünschtesten Weise entgegenkam. Er war, nach solcher Annahme von den Fügungen des Himmels, nicht mehr völlig und ausschließlich verantwortlich für seine That und ihre schwere Folge. Er war nicht mehr der allein Schuldige, der Frevler, welcher Pauline in den Tod gestürzt. Nur ein Werkzeug war er gewesen, wie sie, in der starken Hand des Herrn. Nicht mehr ein Sünder war er, der sich demüthigen mußte, um die Verdammung von sich abzuwenden, er war ein Auserwählter, ein Begnadigter; denn Gott hatte das Leben eines armen Weibes bestimmt und darangegeben zum Opfer für ihn und sein Geschlecht, und erleichterten Herzens und nach Beruhigung dürstend, fragte er: Und hegen Sie den Glauben, daß Reue ganz versöhnt?

Ja, ich hege diese Zuversicht! rief der Caplan mit festem, [94] innig vertrauendem Glauben. Ja, ich hege die Zuversicht, daß Reue, daß büßende und zugleich fruchtbar thätige Reue eine Erlösung in sich verbürgt! Wollten Sie sich in dumpfem Schmerze der Erinnerung an das von Ihnen verschuldete Unglück überlassen, so würde damit sicher Nichts geholfen, Nichts gebessert sein. Aber wenn Sie die Möglichkeit der erlösenden Versöhnung nicht nur auf sich selbst beziehen, wenn Sie dieselbe zugleich als eine Aussöhnung mit dem eigenen Bewußtsein betrachten; wenn Sie sich sagten, ein Mädchen, das mich liebte, ist untergegangen durch mich, dafür soll das Weib, das ich mir erwählte, um so glücklicher werden; wenn Sie mit Selbstvergessenheit für die Frau, für die Familie zu leben versuchten, welche sich um Sie her bilden wird, wenn Sie die Seelen, welche die Vorsehung Ihnen anvertraut, im Glauben und in Heiligung erziehen – mich dünkt, mein Freund, das würde so viel Licht über Ihr Dasein ausbreiten, daß davor die Schatten, welche jetzt Ihr Leben umdüstern, allmählich weichen können. Gebet und Reue sind erlösend, wenn sie eine Selbsterkenntniß und ein Gelöbniß, zugleich demüthig und muthig sind.

Der Caplan hielt inne, denn der Baron hatte sonst immer eine große Ungeduld bewiesen, wenn sein geistlicher Freund ähnliche Gespräche oder ähnliche Erörterungen herbeizuführen gesucht hatte. Heute war das anders. Es that ihm wohl, die Stimme des Freundes und seinen ermuthigenden Zuspruch zu hören, denn sie waren milder, als sein eigenes Gewissen, und fast bittend sagte er: Sie sind nicht zu Ende, enthalten Sie mir Nichts vor, mein Freund!

Was könnte ich noch hinzufügen, entgegnete der Caplan, das nicht in dem Gesagten schon enthalten wäre, das Ihr eigenes Herz Ihnen nicht kund giebt? Jede Sünde ist eine Verfehlung gegen das Gute und gegen das Recht! Machen Sie sich von diesen Verfehlungen frei, stellen Sie sich als [95] Sünder Ihrem Schöpfer, als tadelloses Familienoberhaupt, als tadelloser Gutsherr den Menschen gegenüber, und ich zweifle nicht, daß sich zwischen diesen beiden Polen für Sie der Weg und die Mittel zu einer Befreiung Ihres Herzens und Ihres Gewissens finden lassen werden, daß Sie eines Glückes theilhaftig und einer dauernden Zufriedenheit fähig werden können, von der Ihre Vergangenheit Ihnen noch kein Bild gegeben hat!

Der Freiherr athmete auf. Er richtete sich empor, er sah die Möglichkeit vor sich, wieder erhobenen Hauptes zu leben, da er den Vorsatz hegte, sein Haus im Geiste des Christenthumes aufzubauen. Er konnte in diesem Augenblicke selbst an Pauline wieder denken, ohne die herzzerreißenden Gewissensbisse zu empfinden, welche ihm seit ihrem Tode keine Ruhe mehr gelassen hatten. Er versank noch einmal in ein tiefes Sinnen. Der Caplan, dessen innere Wahrhaftigkeit in diesem Falle die Selbsttäuschungen des Freiherrn nicht voraussah, saß ihm, seinen eigenen ernsten Betrachtungen nachhangend, schweigsam gegenüber. Seine ganze Seele war Gebet. Endlich reichte der Baron dem Geistlichen die Hand.

Ich danke Ihnen, sagte er, ich danke Ihnen von Herzen, und Sie haben Recht! Ja! Sie haben Recht! Es ist eine große Wohlthat des Himmels, er brauchte diesen Ausdruck mit Selbstgenuß, es ist ein Segen von Gott, einen Freund, wie Sie in der Nähe zu haben, sich mit einem Freunde wie Sie recht von Herzen aussprechen zu können; und wie selten habe ich mir in der Zerstreutheit der vergangenen Jahre diese Befriedigung gewährt! – Er bog sich ein wenig nach hinten über, dehnte Brust und Rücken, und meinte: Ich glaube in der That, diese Nacht werde ich schlafen können. Ich fühle mich ruhiger, freier als in den verwichenen Tagen. Nur der Gedanke an Richten quält mich unaufhörlich; und ich gäbe viel darum, [96] wenn ich es jetzt noch nicht wiederzusehen, es noch nicht mit meiner Frau wiederzusehen brauchte.

Und giebt es dafür keinen Ausweg? fragte der Caplan, dem die Beruhigung seines Freundes, von welcher er sich die sittliche Erhebung desselben versprach, lebhaft am Herzen lag. Sie haben ja das Haus, welches Fräulein Esther Ihnen hinterlassen hat, eigentlich noch gar nicht bewohnt. Wie wäre es ....

Wenn wir nach der Residenz gingen? fiel der Baron ihm in die Rede, daran habe ich selber schon gedacht; nur daß Alles, wie Sie wissen, auf unsern Aufenthalt in Richten angelegt und angeordnet war und daß in der Stadt gar Nichts für unsere Aufnahme vorbereitet ist. Ich habe das Haus meiner Tante, als ich es bei meinem letzten Aufenthalte in der Residenz übernahm, doch recht vernachlässigt und traurig gefunden, und man würde es vollständig erneuern müssen, um es angenehm und uns angemessen zu machen. Indeß davon zu reden wird morgen Zeit sein, mein lieber Freund! Für heute wünsche ich gesammelt zu bleiben und noch eine Weile mit mir allein zu sein. Schlafen Sie wohl! Gewiß, ich hoffe auch endlich wieder eine gute Nacht zu haben.

Er gab dem Geistlichen nochmals die Hand und dieser verließ ihn mit dem beruhigenden Bewußtsein, gethan zu haben, was ihm oblag. Er hatte den Zerknirschten nicht mit harter Verdammung niedergeschmettert, sondern ihn aufzurichten gesucht, da er seine Erhebung anstrebte und ersehnte; und es eröffnete sich ihm jetzt dafür die Aussicht, der Kirche ein ihr entfremdetes Glied, das Haupt einer einflußreichen und vornehmen Familie, dem Glauben und der Sitte einen Menschen von vielen Gaben und von einem an sich guten Herzen wieder zuzuführen, während ihm selbst der Freund zurückgegeben zu werden schien, an dem er immer mit warmer Neigung gehangen hatte, seit der Baron einst sein Zögling gewesen war.

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Der Caplan betete also an dem Abende noch länger und noch inniger als sonst, und der Freiherr schlief seit Paulinen's Tode in dieser Nacht den ersten traumlosen und ruhigen Schlaf. Das setzte ihn wieder völlig in den Gebrauch seiner Kräfte ein. Er fühlte sich erfrischt und befreit, er erschien sich verjüngt, als er sich im Spiegel betrachtete, und er sah mit wachsender Spannung und freudiger Bewegung der bevorstehenden Ceremonie entgegen.

Am Mittage wurde die Trauung des Barons mit der Gräfin Angelika, wie es in den Ehepacten festgesetzt worden war, nach katholischem Ritus vollzogen. Der Baron hatte am Morgen noch eine lange Unterredung mit dem Caplan gehabt, und beide waren bemüht gewesen, sich auf dem Wege zu erhalten, auf welchem der Freiherr gestern die erste trostreiche Beruhigung gefunden. Er hatte dem Caplan die feierliche Zusage gegeben, dahin zu wirken, daß auch seine Töchter, falls er deren haben sollte, in der katholischen Kirche auferzogen würden, und er war danach während der Trauung ernster und feierlicher gestimmt, als die Gesellschaft, welche ihn im Schlosse umgab, es von ihm erwartet hatte. Die Eltern der Braut erfreuten sich dessen als einer Bürgschaft für das Glück der Tochter; die junge Gräfin selber war gegenüber der Innigkeit, mit welcher ihr Gatte sich gegen sie bezeigte, voll demuthsvoller Zärtlichkeit und Liebe, und es war sicherlich Niemand unter den anwesenden Gästen, welcher diesem von dem Schicksal so vielfach bevorzugten schönen Paare nicht eine glückliche Zukunft vorausgesagt hätte.

Bei der Tafel, als eine der Tanten den Schmuck bewunderte, mit welchem der Baron seine Braut zur Hochzeit beschenkt hatte, erklärte dieser, daß er seiner Frau noch ein anderes Angebinde, oder vielmehr noch eine Ueberraschung vorbereitet habe, welche ihr, wie er hoffe, willkommen sein werde. Er bat sie, zu errathen, was er für sie im Sinne führe, aber sie traf das [98] Rechte nicht, und endlich fragte er: wie würde es Dir gefallen, meine Beste, wenn wir morgen, statt unsern Weg nach Richten einzuschlagen, uns nach der entgegengesetzten Seite wenden und nach der Residenz begeben würden, um dort den Winter zuzubringen?

Der Vorschlag erregte bei Allen ein großes Erstaunen, denn seit der Verlobung hatte man es festgesetzt gehabt, daß die Neuvermählten das erste Jahr ihrer Ehe in Richten verleben sollten. Alle Plane des Barons waren darauf begründet, alle seine Briefe voll gewesen von der Schilderung der Annehmlichkeiten, welche er sich von dieser Einrichtung versprochen hatte. Nun sollte das plötzlich Alles anders werden. Man wußte sich nicht gleich in eine so unerwartete Veränderung hineinzudenken, wußte sich ihre Ursache nicht zu deuten, und besonders Angelika vermochte bei diesem Vorschlage des Barons, der ihren Neigungen und Hoffnungen gleichmäßig widersprach, vollends keine Freude zu empfinden.

Die gräflich Berka'sche Familie gehörte zu jenen alten guten Adelsgeschlechtern, welche das Leben im eigenen Hause und auf eigenem Grund und Boden als die einem Edelmanne am meisten zuständige Lebensweise erachteten. Nur einmal und nur für eine kurze Zeit hatte Angelika in der Stadt verweilt, als eine Krankheit der Mutter die Berathung eines dortigen berühmten Arztes nothwendig gemacht hatte. In der Residenz war sie niemals gewesen, und an ein ruhiges Dasein, an eine einförmige Folge der Tage gewöhnt, reizte das Neue sie weniger, als das Fremde sie beunruhigte. Alle die idyllischen Hoffnungen, welche sie für ihre nächste Zukunft gehegt, sanken vor dem neuen Plane ihres Gatten in Nichts zusammen, und rasche Uebergänge aus einem Gedanken- und Vorstellungskreise in den andern zu machen, war ihr nicht gegeben. Ihre Mienen verriethen daher nichts weniger als Freude bei der Eröffnung des Barons, und als er ihr im [99] Besondern die Frage vorlegte, ob er ihrer Neigung mit seiner Absicht begegnet sei, verneinte sie es mit der Bemerkung, es schmerze sie, daß ihr auf diese Weise das erste ruhige Beisammensein mit ihm verkümmert und ihr die Gelegenheit genommen werde, sich ihm in der neuen Heimath als Hausfrau angenehm und lieb zu machen.

Er suchte ihr das auszureden, er bemühte sich, ihr begreiflich zu machen, daß sie in gewissem Betrachte in der Residenz weit mehr auf einander angewiesen sein würden, als in Richten, wo Familienbesuche sie vielfach beansprucht und ihnen die Zeit einsamen Verkehrs beschränkt haben würden, und sie ließ das endlich gelten. Aber der Baron hatte bei diesen Auseinandersetzungen zum ersten Male Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß seine Frau zwar ihre liebsten Hoffnungen freundlich seinen Wünschen unterzuordnen wußte, daß es jedoch nicht leicht sei, sie ihren Sinn ändern zu machen oder ihr fremde Gedanken unterzuschieben.

Man speiste lange, man tanzte nachher. Die Braut fand allmählig ihre Heiterkeit wieder, sie war lieblicher und anmuthiger, als je zuvor, und der Baron sah schön aus in der freudigen Erregung, die ihn durchglühte. Die Töne der Gavotte und der Quadrille à la Reine erklangen noch immer, nachdem er schon lange seine junge Gattin in den stilleren Theil des Schlosses entführt hatte, in welchem die Zimmer für die Neuvermählten eingerichtet worden waren.

Ihre Abreise sollte am nächsten Mittage vor sich gehen. Nach der Gewohnheit des Hauses frühstückten die Gäste auf ihren Zimmern. In dem Wohngemache der gräflichen Hausherrin war das neue Ehepaar mit den Eltern und dem Grafen Gerhard, dem jüngsten Bruder der Braut, beisammen; der ältere Bruder und Majoratserbe befand sich bei einer Gesandtschaft außer Landes. Man wünschte, sich der scheidenden Tochter noch einmal in Ruhe zu erfreuen.

[100] Der Graf sah es mit Vergnügen, wie zärtlich sein Schwiegersohn der jungen Frau begegnete, wie er vor Entzücken aufflammte, wenn sein Auge sich auf die schöne Gattin richtete. Die eigene Erinnerung wurde ihm dabei lebendig, er war dadurch mit der Gräfin auch liebevoll und zärtlich, und er verargte es derselben ganz entschieden, daß ihre Blicke so ängstlich und so fragend auf die Tochter geheftet blieben. Er verargte es der Tochter, daß sie so schweigend da saß, daß sie die liebevolle Zuvorkommenheit ihres Mannes nicht wärmer aufnahm, sie nicht ein einziges Mal erwiderte.

Sie ist nicht wie ihre Mutter! dachte der Graf, und in seinem Innern sagte er ihr jene völlige Herrschaft über den Baron voraus, welche kalte Frauen über warmherzige Männer stets gewinnen. Aber er hatte Angelika nicht für so kalt gehalten, er hatte erwartet, sie am ersten Tage ihrer Ehe eben so heiter und zärtlich zu finden, als der Baron sich bezeigte.

Je näher der Augenblick der Trennung kam, je weniger verbarg sich die Schwermuth der beiden Frauen. Keine von ihnen sprach sich über ihre Empfindungen aus; indeß die Mutter hatte von jeher so klar in dem Herzen der Tochter gelesen, daß sie wußte, der trübe Ernst in dem Auge derselben, die festgeschlossenen Lippen müßten noch etwas Anderes zu verbergen haben, als den Schmerz des Scheidens von dem Vaterhause, den einzugestehen Kindespflicht und Dankbarkeit ihr fast geboten. Angelika aber bedurfte des Wortes von dem Munde ihrer Mutter nicht, um sich von ihr verstanden zu fühlen. Was geschehen sei, vermochte die Gräfin nicht zu enträthseln; nur das stand für sie fest, ihre Tochter sah anders aus, wenn Glück und Zuversicht aus ihren Mienen lächelten.

Endlich schlug die zur Abreise angesetzte Stunde. Mitten aus dem Kreise der nächsten Familie und der männlichen Gäste, welche der Tochter des Hauses bis hinab auf die Rampe das [101] Geleite gaben, hob der Baron seine Frau in den Wagen. Noch ein letzter Blick von dem Auge der Mutter, noch ein Zuruf von Vater und Bruder, noch Grüße und Grüße von der alten, treuen Dienerschaft, noch ein Peitschenknall durch die frische Luft, ein kräftiger Ansatz der vier feurigen Rosse, und das Vaterhaus war verlassen für immer. Die Baronin von Arten hatte fortan auf eigenen Wegen zu gehen, Angelika hatte sich eine Heimath in dem Hause und in dem Herzen ihres Mannes zu errichten.

Aber still und traurig, wie sie den ganzen Morgen hindurch gewesen war, saß sie in dem Reisewagen an der Seite ihres Gatten, und all seine Zärtlichkeit, all seine Betheuerungen, daß er für sie leben, daß er sein Glück darin suchen wolle, sie glücklich zu machen, waren nicht im Stande, die Schwermuth von ihrer Stirne zu bannen oder den Zug des Schmerzes von ihrem Munde zu vertilgen. Es war umsonst, daß der Baron sich damit tröstete, die Trauer einer Tochter bei dem Abschiede von den Eltern sei natürlich; umsonst, daß er sich sagte, diese starke Liebe für die Eltern verspreche ihm Gutes. Es beschlich ihn eine Unruhe, es bemeisterte sich seiner eine Ungeduld, die ihn allmählig verstimmten; und als am Nachmittage die Sonne sank und der Abend sein bleiches Grau über die weiten, kahlen Flächen des Landes auszubreiten begann, war das Herz ihm beklommen, und sein niedergedrückter Geist hatte Mühe, sich von den Erinnerungen fern zu halten, denen er seit der Unterredung mit dem Caplan entfliehen zu können gehofft hatte.

Eine geraume Zeit war vergangen, in welcher weder der Baron noch Angelika ein Wort gesprochen hatten, als diese ganz plötzlich mit anscheinender Ruhe die Frage that: Heißt Jemand Pauline unter den Frauen, die Du kennst?

Den Baron traf es wie ein Stich durch's Herz, das Räthsel begann sich ihm in erschreckender Weise zu lösen. [102] Pauline? wiederholte er, den Schauer niederkämpfend, der ihn beim Aussprechen dieses Namens überfiel, wie kommst Du zu der Frage, Geliebteste?

Angelika war unsicher, ob sie antworten solle, endlich sagte sie: Weil Du mich mehrmals so genannt hast.

Es war ein Glück, daß die Laternen des Wagens noch nicht angezündet waren und daß Angelika die Blässe und den Ausdruck seines Gesichtes nicht sehen konnte, als er sich bemühte, sie an einen Irrthum, an ein Mißhören von ihrer Seite glauben zu machen. Aber obschon sie schwieg, war er gewiß, sie nicht überzeugt zu haben, und in die Nothwendigkeit versetzt, ähnlichen Möglichkeiten vorzubeugen, sagte er: Es kann wohl sein, daß ich den Namen ausgesprochen habe, denn eine Frau, die ihn trug, ist mir einst werth gewesen, und es ist leicht möglich, daß in Deiner lieben Nähe die Erinnerung an sie mich unwillkürlich überschlich. Aber Du hast von dieser Erinnerung nichts mehr zu fürchten, fügte er mit einem schweren Seufzer hinzu, und Du, meine Angelika, bist zu vernünftig, bist zu klug, als daß Du hättest hoffen können, die Gedächtnißtafeln eines Mannes so rein und unbeschrieben zu finden, als die Deinen es zu meiner Freude sind, Du süßes Weib!

Die Baronin sah ihn an, der Schein der Laternen, die man inzwischen mit Licht versehen hatte, zeigte ihr seine Mienen ruhig und gefaßt. Und wer ist diese Pauline? wo lebt sie? fragte sie, um Beruhigung bittend.

Sie lebt nicht mehr! antwortete der Baron, und wieder überflog der Schauer des Entsetzens seine Glieder. Sie lebt nicht mehr! laß Dir das genügen. Meine Zukunft ist Dein, Dein ausschließlich, das gelobe ich Dir! so wahr ein Gott über uns waltet. Die Vergangenheit, die nicht Dein war, ist nicht mehr, und es ruht allein in Deiner lieben Hand, sie mich völlig vergessen zu machen.

[103] Er sprach das mit großer Aufrichtigkeit, mit fester Zuversicht; indeß er sah, daß er Angelika nicht befriedigt hatte, und es war ihm ein ungewohntes und peinliches Gefühl, sich für alle Zeiten gebunden zu denken, sich eingestehen zu müssen, daß in der That das Glück und der Friede seiner kommenden Jahre von dem Willen und den Eigenschaften einer jungen Frau abhingen, von welcher man bis dahin kaum die Wahl der eigenen Kleidung und sicherlich keine ihrer eigenen Handlungen abhängig gemacht hatte. Ohne daß er es verrieth, drückte ihn der erste Ring der Fessel, mit welcher er sich gebunden hatte. Es wäre ihm sehr erwünscht gewesen, jetzt ein freundliches Wort von der Baronin zu vernehmen, und daneben verdroß ihn die Bemerkung, daß er eben auf ein gutes Wort zu warten sich genöthigt fand. Angelika jedoch blieb in sich gekehrt in ihrer Ecke sitzen, und weil sie dabei so gar traurig aussah, nahm er sie in seine Arme, schloß sie an sein Herz und fragte sie, ob sie ihm denn nicht glaube, nicht vertraue?

Ja! versetzte sie, o ja! ich glaube Dir, aber –

Aber? wiederholte er besorgt.

Sie wollte sprechen und fand den Ausdruck nicht, bis sie, in Thränen ausbrechend und in Scham erglühend, mit einer ihr fremden Hast die Worte hervorstieß: Sie stehen zwischen mir und Dir, diese unglückseligen Erinnerungen, und ich kann und kann es nicht vergessen, wenn Du mich in Deine Arme, an Dein Herz nimmst, daß schon Andere an Deiner Brust geruht, an welcher ich meines Lebens heilige Zufluchtsstätte zu finden hoffte!

Sie schien sich in diesem Augenblicke wirklich so unglücklich zu fühlen, daß sie dem Baron Mitleid einflößte. Er bedauerte sie, er bedauerte auch sich selbst und dachte mit aufrichtiger Reue an seine Vergangenheit zurück; aber vor Allem machte der Vorgang ihn doch verdrießlich. Die reine Seele [104] seiner Frau und ihre Wahrhaftigkeit waren ihm achtungswerth und erfreulich, nur mußten sie ihn nicht belästigen; und wie er es auch vorhatte, ein gewissenhafter Ehemann zu werden, so war ihm die Aussicht, daß Angelika zur Eifersucht geneigt sein könne, vollends unbehaglich.

Er hatte Ruhe, Frieden, Erheiterung, Zerstreuung nöthig, hatte sie von dieser Reise mit seiner jungen Frau erwartet, und sollte nun als Angeschuldigter da sitzen, sollte sich rechtfertigen, Trost sprechen und Vernunft predigen! Das dünkte ihn bald widerwärtig und bald lächerlich. Er fühlte sich in einzelnen Augenblicken zu dem Wunsche, den er sich selbst als einen lästerlichen bezeichnete, veranlaßt, daß er eine weniger sittenstrenge Gattin besitzen möge, vorausgesetzt, daß sie nur leichtlebiger und fröhlicher sei; denn als der Baron sich zu verheirathen beschloß, hoffte er, nicht nur zufrieden gestellt zu werden, sondern auch zufrieden zu stellen; und er hatte nach seiner Meinung ein Recht, dies als eine nothwendige Ausgleichung für seine aufgegebene Ungebundenheit und Freiheit zu begehren.

Er schwankte, ob er sich gegen Angelika erzürnt zeigen oder ob er sie besänftigen solle, aber die ernsten und guten Vorsätze, welche er für seine Ehe gefaßt hatte, trugen den Sieg davon. Er machte seiner Frau einige von jenen allgemeinen unbestimmten Bekenntnissen über seine Vergangenheit, welche Nichts verriethen und doch hinreichten, einer liebevollen und sittenreinen jungen Frau Gelegenheit zum Beklagen des Schuldigen, zum Verzeihen gegen den Bereuenden zu bieten; und als das unerfahrene, liebende Herz der Baronin den geliebten Mann nur beklagen und ihm verzeihen und eine zärtliche Versöhnung mit ihm genießen konnte, war es für den Augenblick gar leicht beschwichtigt und über seine Zweifel fortgetragen.

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6. Capitel
Sechstes Capitel

Die Erfahrung, welche der Baron an dem ersten Tage seiner Ehe gemacht hatte, ward ihm eine Anmahnung zur Selbstbeherrschung, aber grade die Nothwendigkeit derselben ließ ihn erkennen, wie sehr er durch Paulinen's Tod erschüttert war, und während die anmuthigste und liebenswürdigste Frau an seiner Seite saß, von deren Tugend und Bildung er selbst sich ein reines Glück erhoffte, konnte er das Bild des unglücklichen Geschöpfes nicht verscheuchen, das ihm in willenloser Leidenschaft, in ausschließlicher Liebe zu eigen gewesen war und, durch ihn selbst von jedem andern Anhalte losgelöst, keinen Ausweg für sich gefunden hatte, als den Tod, da er sich von ihr abgewendet.

Der Wagen führte ihn vorwärts, aber alle seine Gedanken gingen nach Richten und in die Vergangenheit zurück, und obschon er mit großer Anstrengung die Heiterkeit und Zufriedenheit zur Schau trug, welche jeder herzensfreie Mann an der Seite Angelika's empfunden haben würde, die sich wieder zutrauensvoll und fröhlich an ihn zu schließen begann, hätte er bisweilen viel darum gegeben, eine Stunde des Alleinseins, eine Stunde zwanglosen Leidens und Ausruhens genießen zu können. So drückend ihm der Gedanke an die Rückkehr nach Richten Anfangs auch gewesen war, er fand, daß er nicht klug gethan habe, indem er sich in seiner gegenwärtigen Stimmung zu dem unausgesetzten Beisammensein mit seiner Frau verdammt [106] hatte, und er erschrak doch vor sich selber, als er sich eben dieser Empfindung bewußt ward.

Dazu hatte er die Fahrt nach der Residenz auf kurze Tagereisen anlegen müssen, um dem vorausgesandten Kammerdiener Zeit zu den unerläßlichsten Vorkehrungen in dem Hause von Fräulein Esther zu lassen, und obgleich die Tage noch sehr hell und freundlich blieben, war die Jahreszeit doch schon weit vorgerückt. Die Abende waren lang, die Orte, in denen man zu rasten hatte, boten keine Zerstreuungen, die Gasthöfe nicht einmal eine gewisse Behaglichkeit dar. Ohne die Anspruchslosigkeit und den jugendlichen Sinn der Baronin, die niemals gereist war und die daher in manchen Dingen noch einen Reiz und eine Belustigung zu finden vermochte, welche ihrem Gatten nur als Unbequemlichkeiten erschienen, wäre diese Fahrt nach ihrem neuen Aufenthaltsorte nicht danach angethan gewesen, der jungen Frau als eine ihr von ihrem Gatten gewährte Ueberraschung oder Vergünstigung zu erscheinen.

In der Regel aber steigert sich die Erwartung, mit welcher wir einem unbekannten Zustande entgegen gehen, durch die Dauer der Zeit wie durch die Mühe, mit welcher wir zu demselben zu gelangen haben, und besonders die Jugend, welche noch an ein nothwendiges Gleichgewicht zwischen Mühe und Erfolg glaubt, hält sich berechtigt, ihre Hoffnungen und Ansprüche je nach der Zeit des Wartens höher zu spannen. Die erste Ankunft in der Residenz war jedoch nicht dazu geeignet, den Vorstellungen zu entsprechen, mit welchen die Baronin ihr in den letzten Tagen und Stunden entgegen gesehen hatte.

Es war ein unfreundlicher Nachmittag, an welchem der Reisewagen des Barons durch das Frankfurter Thor in Berlin einfuhr und nach langem Wege vor dem Hause von Fräulein Esther Halt machte. Nach mehreren Wochen des schönsten, hellsten Wetters hatten Regen und Nebel des Herbstes sich ganz [107] plötzlich eingestellt und fielen deshalb um so widerwärtiger auf. Das Haus lag in einer Straße, welche zu den vornehmsten gezählt hatte, ehe die Erweiterung der Stadt hier wie überall die schöne Welt nach dem Westende übersiedeln machte, und die dunkeln Mauern sahen bei der trüben nassen Luft noch grauer als gewöhnlich aus.

Breit für seine Höhe, auf weitem Hofe hingestreckt, mit eisernem Gitter gegen die Straße abgeschlossen und von den Bäumen des Gartens überragt, übte das Haus auf die Baronin eine überraschende Wirkung aus, indeß der Verfall desselben drängte sich ihr trotz der beginnenden Dämmerung deutlich auf, und das Innere des Gebäudes entsprach dem Aeußern nur zu sehr.

Die öde, mit schwarzen Fliesen ausgelegte Eintrittshalle, die breiten Steintreppen mit den altersgeschwärzten Eisengallerien, die hohen, mit stumpffarbigen Seidenstoffen und gepreßtem Leder tapezierten Gemächer, der Hausrath, dem man es ansah, daß er seit gar langen Jahren nicht erneuert worden war, hatten etwas Trauriges. Die Brocatüberzüge der Möbel, die Gardinen und Thürvorhänge waren farblos, die reichen Vergoldungen ohne Glanz, die prächtigen Spiegelgläser waren blind geworden. Die gestickten Tischdecken, die Teppiche und Polster sahen fahl aus, und von den Oelgemälden und Pastellbildnissen, deren sich eine große Anzahl in den Zimmern vertheilt befanden, waren die Farben ebenfalls verblichen, daß sie blaß und gespenstisch auf die Eintretenden herniederschauten.

Zwar brannten in den herabhängenden altmodischen Messing-Laternen der Halle die Lichter, und in den Räumen, welche man zu ebener Erde auf die ganz unerwartete Nachricht von der bevorstehenden Ankunft des Barons geöffnet und für ihn hergerichtet hatte, flammten die Feuer lustig in den großen Kaminen, aber trotz der Mühewaltung des vorausgesandten [108] Dieners war und blieb der melancholische Hauch, der über dem Hause lag, unzerstörbar.

Das widerwillige Bellen der beiden alten Hunde, welche den fremden Eindringlingen den Eingang verwehren zu wollen schienen, erschreckte die Baronin, und die steifen Verbeugungen und Knixe der in dem Hause waltenden Kammerfrau von Fräulein Esther, die mit kaltem Auge, ohne eine Miene zu verziehen, ohne ein Wort des herzlichen Willkomms zu äußern, ehrerbietig und feierlich wie der Aufseher eines Grabgewölbes Zimmerthüre um Zimmerthüre öffnete, waren vollends niederschlagend.

Dem Baron war selbst dabei nicht wohl zu Muthe. Das Hôtel kam ihm fremd und wie verwandelt vor, da er es jetzt mit dem Auge seines jungen Weibes und als dessen nächsten Aufenthalt betrachtete. Er war des Hauses und seiner ganzen Einrichtung von seiner ersten Kindheit an gewohnt gewesen; seitdem hatte sich nichts in demselben verändert, und er hatte daher, wenn er Tante Esther sonst aufgewartet, kaum noch auf ihre Umgebung geachtet. Alles hatte, so wie es da war, mit der blassen, stolzen Greisin zusammengehört, Allem hatte das alte Fräulein seinen Charakter aufgeprägt, und so einheitlich lebte Esther's Bild mit diesem Hause in dem Geiste ihres Neffen fort, daß er immer meinte, wenn er den Kopf zurückwende, werde Tante Esther in dem steifen, schwarzen Kleide, mit dem schwarzen Spitzentuche über der thurmhohen Frisur wieder an dem Kamine sitzen, unwillig darüber, daß der Baron sich unterfangen habe, die fremde, junge Frau ohne ihre besondere Erlaubniß hierher zu führen, und daß er daran denke, in dem Hause seiner Tante Anordnungen zu treffen, ehe er deren Meinung darüber eingeholt. Es fehlte nicht viel, so hätte er Angelika gebeten, sich von dem Sessel am Kamine zu erheben, weil die Tante es niemals geduldet hatte, daß Jemand anders sich [109] ihres Armstuhles bediente oder sich auf einem der Plätze niederließ, auf denen sie gewöhnlich zu sitzen pflegte.

Jetzt erst, da er in der Residenz zu leben und das Haus nach seinen Bedürfnissen umzugestalten dachte, wurde ihm die Herrschaft der Verstorbenen, die ihm bis dahin nur in komischem Lichte erschienen war, drückend und lästig. Er hatte nichts dagegen, daß sie ihrem Erben die Verwerthung dieses Hauses, welches mit seinen Gärten in der aufblühenden Stadt ein bedeutendes Vermögen darstellte, durch ihr Testament wesentlich erschwert hatte. Er war reich und hatte den Sinn des Edelmannes, dem der liegende Besitz, das eigentliche Haben, neben dem Genießen die Hauptsache ist. Aber der Eigenwille der alten Dame, welche nicht nur ihrer Kammerfrau, sondern auch ihren Hunden und Katzen ein fortdauerndes Asyl in ihrem Hause gesichert hatte, ohne seinem jetzigen Besitzer auch nur die Möglichkeit einer Ablösung dieser Last zu gestatten, sofern er sie nicht nach Richten übersiedelte, empörte ihn; und die Verpflichtung, die alten Bilder und gewisse Zimmer und Möbel für immer unverändert zu belassen, so lange das Haus in seinem Besitze blieb, hemmte daneben den Baron bei den Planen für die Umgestaltung desselben mehr, als er es erwartet hatte. Es war in dem Hause Alles stets so ausschließlich auf Fräulein Esther und auf deren Bedürfnisse und Gewohnheiten berechnet gewesen, daß der Bann, den ihre Willkür bei ihrer Lebzeit um sie her verbreitet hatte, auch jetzt noch auf dem Hause lastete, nachdem sie selbst es bereits mit der stillen Ahnengruft ihrer Familie in dem Garten von Schloß Richten hatte vertauschen müssen.

Der Baron befand sich in einer sehr unangenehmen Lage. Seit Monaten hatte er sich damit beschäftigt, das schöne Stammschloß seiner Familie zu würdiger Aufnahme der jungen, schönen Herrin einzurichten. Mündlich und schriftlich war zwischen [110] ihm und seiner Braut vielfach darüber verhandelt worden, und obschon er ihr die Art der Einrichtung mehrfach geschildert, hatte er doch gehofft, sie durch den heitern Glanz der kunstgeschmückten Räume, in welchen sie künftig zu leben hatte, angenehm zu überraschen. Statt dessen hatte er sie in die Residenz gebracht, und er begriff es jetzt kaum, wie der vorsichtige und kluge Freund ihm diesen Vorschlag habe machen und wie er selbst darauf habe eingehen mögen.

Wo er Freude zu erregen beabsichtigte, rief er unabweislich eine trübe Stimmung hervor. Statt in breitem Behagen sorgenfrei und leicht mit seiner jungen Frau zu leben, sollte und mußte sie jetzt nothwendig mancherlei Mühen und Arbeiten übernehmen, und statt des Dankes, den er von ihr zu ernten gewünscht, hatte er wegen einer plötzlichen Abänderung des festgestellten Planes, für die sich nicht der geringste haltbare Grund anführen ließ, Entschuldigungen zu machen und um Vergebung zu bitten.

Er konnte nicht aufhören, sich diese Uebelstände zu wiederholen, und doch vermochte er es nicht einmal völlig zu ermessen, wie sehr Angelika von ihrer neuen Umgebung litt, und wie der Hauch der Vergänglichkeit, der hier Alles umwitterte, auf die Phantasie einer jungen Frau wirken mußte, die mitten in ihren Glücksträumen ihren ersten großen Schmerz, ihre erste bittere Erfahrung in sich zu überwinden gehabt hatte.

Angelika fühlte sich in dem Hause wie in der Verbannung, wie in der Gefangenschaft. Es war das ihrige geworden, ohne daß sie sich gewöhnen konnte, es als solches zu betrachten, denn überall, in welches Zimmer sie kam, fand sie entweder das Bild der Tante mit dem verschleierten, weltabgeschlossenen Blicke, oder eines jener verblichenen Portraits von Esther's Freunden, die nach der Testaments-Vorschrift an ihren Plätzen verbleiben mußten. Verließ sie diese Zimmer, [111] so begegnete ihr auf der Treppe bald die schleichende Katze, bald das altersgraue Windspiel, bald der schwerfällige Mops des verstorbenen Fräuleins, oder es kam ihr gar Mamsell Marianne entgegen, die, in das obere Stockwerk des Seitenflügels verwiesen, aus demselben nur herunterstieg, um hier und da mit mißvergnügten Blicken die beginnende neue Einrichtung und das erneute Leben im Hause zu betrachten und krittelnd zu mustern.

Angelika konnte sich eines Schreckens nicht erwehren, wenn Mamsell Marianne, die es abgelehnt hatte, in die Dienste der neuen Haushaltung zu treten, plötzlich wie aus der Erde gewachsen vor ihr stand. Dieses Wesen, das nicht Herr, nicht Diener war, das kein Mitlebender sein wollte und das man doch nicht verbannen konnte, verleidete der Baronin das Haus nur noch in höherem Grade, während die neue Dienerschaft eine wirkliche Furcht vor Mamsell Marianne empfand und von dem Glauben nicht abzubringen war, daß es überhaupt in dem Hause nicht richtig sei, und daß Fräulein Esther allnächtlich, ja, selbst bis zum hellen Tage, in demselben umgehe. Der Eine wollte es gesehen haben, wie das Fräulein noch im Morgengrauen auf dem Lehnstuhle am Kamine gesessen und ihre Hunde und Katzen um sich gehabt habe; ein Anderer wollte ihr begegnet sein, wie sie mühsam athmend um Mitternacht nach der Stube von Mamsell Marianne hinaufgestiegen war, und daß es ihre Bilder wie mit unsichtbaren Händen an den Mauern festgehalten, als man sie habe abnehmen wollen, um sie nur zu säubern, das ließen sämmtliche Arbeiter und Dienstboten sich nicht ausreden.

Angelika schämte und schalt sich, wenn sie solchen Gerüchten Gehör gab. Aber sie selbst konnte ihr Auge nicht von den verschiedenen Bildern der Tante abwenden, und je öfter sie auf denselben verweilte, um so lebendiger erschienen sie ihr. [112] Es war ihr, als ob das Bild ihr mit seinen großen, schwarzen Augen folgte; es ließ ihr selbst im Schlafe keine Ruhe. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß die Tante noch in ihrem Hause weile und daß sie mehr Herrschaft in demselben besitze, als Angelika und ihr Gemahl.

Indeß diese unheimlichen Empfindungen begannen theilweise zu weichen, je weiter die Erneuerung der Einrichtung gedieh, und Angelika und der Baron beeilten sich, sie zu vollenden. Diese Beschäftigung war den Eheleuten heilsam. Die kleinen gemeinsamen Sorgen und Mühen für ihren Haushalt führten sie auf die natürlichste Weise zusammen. Der Baron konnte dabei die angenehme Erfahrung machen, daß es seiner Frau an Umsicht und Gewandtheit nicht gebreche. Der sichere Besitz, die berechtigte Liebe zeigten sich ihm bald als etwas sehr Bequemes, und die Jugend und Schönheit seiner Frau erfreuten ihn doppelt, da man sie nach ihrem Eintritte in die Gesellschaft und in die große Welt auch in dieser auszeichnete und bewunderte. Sein Herz, sein Verstand, sein Ehrgeiz und seine Eitelkeit fanden sich in gleichem Maße durch seine Frau befriedigt; er gefiel sich darin, sich der Wahl zu rühmen, die er getroffen hatte, und sich ein Verdienst aus den Eigenschaften seiner Erwählten zu machen.

Dazu kam er hier in der Residenz in eine Gesellschaft, die ihm vertraut und lieb war und in der er lange mit Erfolg gelebt hatte. Der Menschenkreis, der sich am Hofe und um den Hof bewegte, war ihm bekannt. Wie in einer zweiten Heimath empfingen ihn dort die Genossen seiner früheren Jahre, so männliche als weibliche, mit Vergnügen, und daß er eben jetzt noch zu dem eigenen reichen Besitze das ansehnliche Vermögen und Haus seiner Tante ererbt hatte, in welchem seine junge Frau die Wirthin machen sollte, gereichte ihm bei seinen Freunden nur zum Vortheil.

[113] Der Baron hatte ausgebreitete Verbindungen in allen Kreisen der Gesellschaft, er fand in jedem derselben etwas, das einer oder der andern Seite seines Wesens entsprechend war, und Angelika sah sich dadurch bald in eine endlose Reihe von Zerstreuungen gezogen, die ihr jedoch, nachdem der erste Rausch der Ueberraschung vorüber war, schon darum keinen Genuß gewährten, weil dieselben sie von ihrem Manne fern hielten, auch wenn sie beide daran Antheil nahmen. Sie war überhaupt in ihren Anlagen und Neigungen eigentlich der völlige Gegensatz von dem Wesen ihres Gatten. Sie war weder eitel noch vergnügungssüchtig, sondern eine ganz innerliche, zum Ernst und Nachdenken geneigte Natur. Für ein abgeschlossenes Leben in der Familie erzogen und durch geistige Bildung für die Genüsse einer beschaulichen Zurückgezogenheit vorbereitet, war es eben die Bildung des Barons gewesen, welche das junge Mädchen zuerst an ihm schätzen lernte, und als Angelika seine Braut geworden war, hatte sie nach dem Ausspruche ihres Verlobten eine häusliche Ehe wie die ihrer Eltern mit ihm zu führen gehofft. Von dem Allem wurde ihr das Gegentheil geboten, und ihre Liebe für ihren Mann ließ sie dies als einen Nachtheil betrachten.

Die Menschen, unter denen sie zu leben hatte, waren ihr kein Ersatz für den stillen Verkehr mit ihrem Gatten; sie waren und blieben ihr fremd, und der unter ihnen herrschende Ton war nicht danach angethan, einem jungen, reinen Weibe Beifall abzugewinnen. Wenn sie ihr Mißfallen an den freien Sitten äußerte, von denen sie sich umgeben sah, wenn sie es als eine Demüthigung und eine Unwürdigkeit empfand, wie man sich vor den beiden erklärten Maitressen des Königs beugte und die Frauen, welche die gleiche Stellung ohne diesen Titel einnahmen, mit besonderem Eifer suchte und mit besonderer Zuvorkommenheit behandelte, so stimmte der Baron ihr darin bei; [114] aber er gab ihr daneben zu bedenken, daß die Welt nicht überall ihrem Vaterhause gleichen könne, daß man nicht überall die strengen Grundsätze desselben voraussetzen und als Maßstab nehmen dürfe. Er forderte Duldsamkeit von Angelika, und er vergaß, daß die Jugend nicht duldsam sein kann, weil nur die Erfahrung jene Nachsicht mit der Schwäche des Menschen und jene Weltklugheit erzeugt, die in den meisten Fällen schon ein Abweichen von dem Moralgesetze in sich schließt. Angelika hätte von sich selbst abzufallen geglaubt, wenn sie duldsam gegen das Unrecht gewesen wäre, und sie konnte nicht aufhören, sich die Frage vorzulegen, was ihren Gatten bewogen haben möge, eben jetzt, da sie seine Frau geworden war, mit ihr eine Gesellschaft aufzusuchen, deren Sittenlosigkeit so offenkundig war, und in welcher keine ihr bekannte Ursache sein Verweilen forderte. Er büßte dadurch in ihren Augen einen Theil der Würdigkeit ein, unter welcher er ihr bisher erschienen war, und sie wußte es ihm keinen Dank, daß er sie ruhig der galanten Bewerbung der Männer überließ, daß er ihr im Vertrauen auf ihre Jugend große Freiheit für ihr Handeln gewährte, ja, es schien ihr dies eine Gleichgültigkeit zu verrathen, welche sie betrübte.

Was man daneben in der zur Gewohnheit gewordenen Leichtfertigkeit jener Tage, selbst im Beisein der jungen Frau, von dem früheren Leben und von den Abenteuern des Barons bald erzählte, bald errathen ließ, verstimmte oder verletzte sie eben so sehr. Sie sah, daß er auch jetzt noch um die Frauen bemüht war, daß sie seine Huldigungen mit Vergnügen aufnahmen, daß sie ihm mit Zuvorkommenheit begegneten und daß er sich daran erfreute; und sie hatte leider Niemanden in ihrer Nähe, der es ihr begreiflich gemacht hätte, wie viel dem älteren Manne, ganz abgesehen von seiner angeborenen Neigung zur Galanterie, daran gelegen sein mußte, seinem jüngeren Weibe [115] darzuthun, daß er auch anderen Frauen noch zu gefallen und überall noch Beifall zu erringen vermöge.

Indeß jedes Alter trägt seine Bedingungen in sich, und der glänzenden Erscheinung, welche der Baron noch immer in der Gesellschaft machte, stand die unausbleibliche Abspannung in der Ruhe des Hauses bedenklich gegenüber. In Gegenwart von Fremden stets heiter angeregt, überfiel ihn oft plötzlich eine tiefe Niedergeschlagenheit, wenn er sich mit Angelika allein befand, und mehrmals, wenn er sich von ihr unbeachtet glaubte, nahm sie einen Ausdruck von Kummer und Schmerz in seinen Mienen wahr, vor dem sie erschrak. Mit all der Liebe, welche sie für ihn hegte, bemühte sie sich, den Grund dieses Wechsels zu erkennen, aber dieses gutgemeinte Bestreben verbesserte den Zustand nicht, sondern machte den Baron in der Regel nur noch trüber, ja, es beunruhigte ihn offenbar. Er zwang sich dann zu einer Heiterkeit, welche ihn ermüdete, ohne Angelika zu täuschen, und wie sehr sie es sich wegzuleugnen wünschte, konnte sie es sich nicht verbergen, daß sie nicht den ihr gebührenden vollen Antheil an dem Leben ihres Mannes besitze. Sie sah, daß er einen Kummer hatte, den er ihr verschwieg; ihn erheiterten Vergnügungen, für welche ihr der Sinn gebrach, ihn zogen Menschen an, von denen sie sich zurückgestoßen fühlte; er suchte Gesellschaft, sie wünschte ihn für sich allein zu haben, und der Gedanke, daß sie ihm jetzt ferner stehe, als vor ihrer Hochzeit, drängte sich ihr oftmals entmuthigend auf.

Sie wurde dadurch irre an sich selbst. Sie beneidete die Frauen, welche er ihr als seine früheren Bekannten bezeichnete, welche es so trefflich verstanden, ihn bei guter Laune zu erhalten, und doch mißfielen sie ihr, doch mißfiel ihr selbst die spielende Weise, in welcher ihr Gatte mit ihnen verkehrte. Eine Abneigung gegen den Hof, gegen die große Welt und gegen die Frauen in derselben erfüllte Angelika's Herz. Sie waren [116] es, davon hielt sie sich überzeugt, welche zwischen ihr und ihrem Manne standen; auf sie, auf Eine von ihnen mußten sich die Erinnerungen und das Geheimniß beziehen, die den Freiherrn bedrückten, und die Frage, ob eine der Damen dieser Gesellschaft und welche von ihnen Pauline heiße oder eine Verwandte dieses Namens habe, war stets die erste, die ihr bei jeder neuen Begegnung mit fremden Frauen in den Sinn kam.

Der Baron bemerkte die Veränderung, welche sich in Angelika's Seele vollzogen hatte, aber er fand es nicht gerathen, sich gegen sie darüber zu äußern. An ein Uebel, dem man keine Abhülfe zu bringen im Stande ist, müsse man, meinte er, nicht rühren, und da er sich ohnedem der Hoffnung hingeben durfte, daß die Zeit ihm für seine Reue Linderung bringen, daß er allmählich aufhören werde, daran zu denken, wie Pauline umgekommen sei, und daß Angelika ihn dann gleichmäßiger finden und die alte volle Hingebung sich zwischen ihnen wieder feststellen werde, so war er nur darauf bedacht, seiner jungen Gemahlin so wenig Zeit als möglich für ihr einsames Brüten und Grübeln frei zu lassen.

Die Residenz war damals voll von Fremden, denn der König liebte das Vergnügen und war nichts weniger als schwierig in der Wahl desselben. An einem Hofe aber, an welchem die größte Unsittlichkeit und ein phantastischer Wunderglaube sich die Hand reichten, an dem jeder ernste Gedanke gemieden und jedes Spiel mit dem Geheimnißvollen eifrig aufgesucht wurde, konnte es nicht fehlen, daß ein betäubender, hastiger Lebensgenuß als die höchste Aufgabe der Gesellschaft angesehen wurde. Feste folgten den Festen, kleine, vertraute Zusammenkünfte füllten die Pausen aus, und innerhalb der großen, bunt durch einander wirbelnden Gesellschaft, die sich um den König gebildet hatte, trugen die verschiedenen engeren Zirkel jeder ein besonderes Gepräge, je nach der Person, die in ihnen hervorragte.

[117] Ein solcher kleiner Zirkel, in welchem der Baron seit langen Jahren heimisch war, kam an jedem Dinstage bei einer seiner entfernten Verwandten, der immer noch schönen Frau von Uttbrecht, zusammen. Sie hatte viele Reisen gemacht, sprach fremde Sprachen mit großer Leichtigkeit und galt bei aller Welt für eine ausgezeichnete, geistvolle und dabei höchst liebenswürdige Frau, weil sie ganz ohne eigene Ansichten, ganz ohne bestimmten Charakter und darum im Stande war, sich der Meinung eines Jeden gefällig anzupassen. Freigeistig und devot, leichtfertig und splitterrichterisch, je nach der Stimmung derer, mit welchen sie eben verkehrte, hatte sie sich in den letzten Jahren, wie sie es nannte, einer Beschäftigung mit ernsten Dingen hingegeben, und der große Gedanke von einer nothwendigen Wiedergeburt des Menschen zu seiner eigenen Erlösung und zur Veredlung der ganzen Menschheit, welcher damals angefangen hatte, die Geister edelgesinnter Menschen zu bewegen, war auch in den Sälen der Frau von Uttbrecht auf das Register der beliebten Unterhaltungen gesetzt worden. Da man aber sehr gesellig war und da Frau von Uttbrecht vollends das Alleinsein nicht ertragen konnte, so dachte man sich auch die Selbsterlösung nicht als eine That, die der Mensch an sich allein und allmählich zu vollziehen habe, sondern man verband sich zu Gemeinschaften, man legte einander seine Schwächen und Fehler, so weit man es für gut befand, in schriftlichen Bekenntnissen vor, man vereinte sich, wenn sich eben ein begeistertes Gemüth in dem Kreise befand, zu Gebeten für den Irrenden, und man umarmte sich in gerührter Erhebung, wenn man des überirdischen Glückes gedachte, dessen die befreiten Seelen einst theilhaftig werden müßten. Man war viel zu aufgeklärt, um nicht gegen die Rosenkreuzer und Illuminaten, viel zu gut protestantisch, um nicht gegen die Jesuiten und, wenn keine Katholiken in der Gesellschaft waren, auch gegen den Katholicismus zu eifern. [118] Man glaubte aber an den Mesmerismus, man war, wie der Baron selber, von der geheimnißvollen Wechselwirkung der Menschen auf einander überzeugt, und fast Jeder versicherte, mancherlei Erfahrungen in dem eigenen Leben und in dem Leben seiner Freunde ge macht zu haben, die auf geheimnißvolle Kräfte in der Menschenseele schließen ließen, und vor denen man sich respectvoll einer Prüfung enthielt, da sie, wie man behauptete, keine befriedigenden Erfolge gewähren konnte.

Angelika liebte Frau von Uttbrecht nicht. Die Gefühlserregtheit, die unablässige Beobachtung aller seelischen Zustände, wie dieselbe sie an den Tag legte, kamen ihr zu absichtlich und deßhalb beängstigend vor. Sie war von aller Ueberspannung, von allem Aberglauben frei, und bei dem gesunden Sinne ihres Vaterhauses waren ihr religiöse Zweifel eben so fremd geblieben, als überschwängliche Gefühlsseligkeit und Mysticismus. Man hatte auf Schloß Berka in herzlicher Liebe und Eintracht ein ruhiges Leben geführt, hatte die Pflichten gegen einander, ohne darüber viel nachzudenken, in Freundlichkeit geübt, an jedem Tage das Nothwendige vollbracht, hatte sich daneben an den Werken der großen Dichter, deren hell leuchtendes Doppelgestirn damals strahlend an dem Horizonte Deutschlands aufgegangen war, mit dankbarer Erhebung erfreut, und wenn man sich dann am Ende der Woche sagen konnte, daß man in der Familie das Seinige geleistet habe und daß den Bewohnern der Güter, wie den Dienstleuten des Hauses, das Zukömmliche nicht gefehlt, so war man an den Sonn-und Feiertagen heiter und zufrieden, und mehr oder weniger gesammelt in die Kirche gegangen. Der wöchentliche Gottesdienst hatte einen Theil des gewöhnlichen Familienlebens ausgemacht, wie die würdige Haushaltung, wie die ausgebreitete Gastfreundschaft und die stattliche Repräsentation, die man eben auch als etwas sich von selbst Verstehendes zu betrachten gewohnt war.

[119] Angelika hörte es daher nur mit Widerstreben an, als Frau von Uttbrecht, nachdem man eines Abends, an welchem man ebenfalls bei ihr versammelt war, eine Weile von den gleichgültigsten Dingen gesprochen hatte, plötzlich von der Erbauung zu reden anfing, welche sie in dem einsamen Gebete finde.

Wenn ich dem Heilande alle Falten meines Herzens eröffne, sagte sie, damit er klar hineinschauen kann, wenn ich mir alle meine Fehler deutlich mache und ihn anflehe, mich von ihnen zu erlösen, so erwächst mir daraus eine wahrhaft himmlische Ruhe. Nach solchen Momenten habe ich die beglückendsten Träume. Fast immer sehe ich dann meine gute Mutter vor mir, aber nicht hinfällig und krank, wie sie in den letzten Jahren unter uns geweilt hat, sondern jung und schön, und doch ohne alle Erdenschwere, ohne die starke Farbe, welche in der Sinnenwelt den Dingen anhaftet. Ich sehe sie auch nicht eigentlich mit dem körperlichen Auge. Es ist eine feinere, edlere Art der Wahrnehmung. Der Geist berührt den Geist, und wäre es nicht zu kühn, so würde ich sagen: so müssen die Jünger den Heiland erkannt haben, als er nach seiner Auferstehung wieder unter ihnen zu wandeln begann.

Und spricht sie zu Ihnen? fragte einer der Anwesenden.

Ja, Gottlob! rief Frau von Uttbrecht und hob die schönen, reich beringten Hände andächtig gefaltet empor, während ihre seelenvollen Augen sich dankbar gen Himmel richteten. Ja, Gottlob, sie spricht zu mir, aber ihre Rede ist mir oft im ersten Augenblicke nicht deutlich. Später erst habe ich es bisweilen an meinen Erlebnissen erkannt, daß es Worte der Verkündigung gewesen sind, die sie zu mir geredet hatte. Wenn aber meine Seele sich nicht ganz frei gerungen hat, so vermag ich die Selige nicht zu erschauen, und nur in einer Ahnung, in gewissen unbeschreiblichen Gefühlen kann ich dann empfinden, daß sie auch ungesehen in Liebe neben mir verweilt.

[120] Man pries Frau von Uttbrecht glücklich, solch feiner Empfänglichkeit fähig zu sein. Jeder gab danach seine geheimnißvollen Beobachtungen zum Besten, nur der Baron schwieg, bis man ihn ausdrücklich aufforderte, sich über seine Ansicht von diesen Materien auszusprechen.

Er wich Anfangs einer bestimmten Antwort aus. Ich finde es auffallend, sagte er, daß Sie fast Alle diese besonderen Wahrnehmungen den allgemeinen Wahrnehmungen als etwas davon ganz Verschiedenes oder gar als etwas Uebernatürliches entgegensetzen.

Und sind sie das nicht? Sind sie nicht etwas von unserem gewöhnlichen Leben völlig Getrenntes, etwas durchaus Uebernatürliches? fragte eine der Damen.

Gewiß nicht! erwiederte der Baron. Der Kurzsichtige könnte die Beobachtungen des Fernsichtigen mit dem gleichen Rechte als übernatürliche Wahrnehmungen bezeichnen. Wenn das Wort Uebernatürlich nur bekunden soll, daß ein bestimmtes Etwas über das Maß der Fähigkeit einer bestimmten Menschennatur hinausgeht, so giebt es unzählige übernatürliche Dinge für den Einzelnen. Wollen Sie mit jenem Worte aber andeuten, daß es wahrnehmbare Erscheinungen giebt, welche der Menschennatur im Allgemeinen nicht zugänglich sind, so müssen wir uns vor Allem dahin verständigen, daß es keine allgemeine, keine abstracte Menschennatur giebt, wohl aber Menschen von den verschiedensten Begabungen, denen also auch ein sehr verschiedener Grad der Wahrnehmungen zuzuerkennen sein wird.

Das Gespräch bewegte sich in dieser theoretischen Weise eine Weile fort. Alle Anwesenden betheiligten sich daran, und da man sich zwischen lauter Lehrsätzen und Problemen hielt, ohne einander feste Anhaltspunkte zu bieten, so blieb es jedem überlassen, sich die Lehren auf seine Weise auszudeuten.

Angelika allein hatte nichts zu sagen, nichts mitzutheilen. [121] Der Baron bemerkte das, und weil ein Schweigender in der Mitte einer Gesellschaft von Erzählenden sich in doppeltem Sinne im Nachtheile befindet, so lenkte er aus dem Bereiche der Geisterwelt geschickt in das Alltagsleben ein und hatte bald das Gespräch auf die völlige Umwandelung gebracht, die er genöthigt gewesen sei, in dem von seiner Tante ererbten Hause vorzunehmen. Er wollte seiner Frau damit die Gelegenheit geben, sich geltend zu machen und aus der Vereinsamung hervorzugehen. Weil sie sich aber in einer ihr ganz fremden Atmosphäre befand, fühlte sie sich verwirrt und befangen, und wußte sich nicht gleich zurecht zu setzen. Frau von Uttbrecht gewann dadurch Zeit, die Bemerkung zu machen, sie wundere sich, daß der Baron und seine Frau, die beide doch fein organisirte Menschen wären, es über sich gewonnen hätten, die Heimath einer Gestorbenen so schnell und so gewaltsam zu verändern, und sie damit für die Gestorbene zur Fremde zu machen.

Angelika wurde stutzig. Sie wußte, wie großen Werth ihr Gatte auf das Urtheil ihrer Wirthin legte, und wünschte also nicht, ihr offen zu widersprechen; sie wollte dieselbe auch nicht gern an ihrer feinen Organisation und Empfindung irre werden lassen, und bemerkte also nur freundlich, es sei doch sehr natürlich, daß man es sich bei aller Liebe und Ehrfurcht für seine Vorfahren in den vier Wänden behaglich zu machen suche, in denen man zu leben habe.

O, natürlich ist's gewiß, versetzte Frau von Uttbrecht darauf, indem sie sich langsam fächelte und mit ihren halbgeschlossenen Augen träumerisch umhersah, natürlich ist's gewiß, in so fern als die Natur grausam und unbarmherzig ist. Der Mensch aber, der denkende und empfindende Mensch, der es weiß, daß er selbst sterblich ist, sollte nicht so grausam sein wie die Natur, sollte nicht so unbarmherzig gegen seine Todten sein wie jene. Ich könnte nicht in diesen Räumen leben, wüßte [122] ich, daß meine verklärte Mutter sich hier in ihrem Hause nicht mehr heimisch fühlte.

Der Baron nahm diese Aeußerung nicht gut auf. Unbarmherzigkeit und Egoismus, das sind zwei schlimme Fehler, sagte er, und wir, die wir uns derselben nach Ihrer Meinung jetzt schuldig gemacht haben, müßten versuchen, uns gegen Ihre Anschuldigung zu vertheidigen, wenn ich mich nicht überzeugt hielte, Cousine, daß es mit Ihrem Ausspruche so ernstlich nicht gemeint war.

Sie irren sich, bester Vetter, es war mein völliger, auf innerste Ueberzeugung gegründeter Ernst! entgegnete Frau von Uttbrecht, und ich bin gewiß, daß einst eine Stunde kommen wird, in der Sie mir beipflichten und Ihre Härte selbst bereuen werden.

Aber von welcher Härte sprechen Sie, liebe Cousine? fragte Angelika, mehr und mehr betroffen von dem Ernste, mit welchem Frau von Uttbrecht ihre Behauptung aufrecht erhielt.

Von der Härte, welche Sie und Ihr Herr Gemahl gegen die arme Tante Esther begangen haben, indem Sie dieselbe so gewaltsam der irdischen Fortdauer beraubten, die sie sich in einem richtigen Drange ihrer armen Seele, dort, wo sie gelebt hat, zu sichern gewünscht. Jung und lebensfrisch, wie Sie es sind, beste Angelika, hätten Sie der armen, alten Verwandten wohl die Zeit vergönnen mögen, sich allmählich von dem Orte loszulösen, mit welchem lange Gewohnheit und innige Vorliebe sie verbunden hatten. Wäre mir das Haus der Tante zugefallen, nicht einen Stuhl hätte ich verrücken lassen. Ich hätte mich beschieden, ihr Gast zu sein, bis irgend ein Zeichen es mir kund gegeben hätte, daß ihr Geist sich von dem Hause abgewendet habe und daß mir damit ein freies Schalten in demselben wohl verstattet sei.

Sie sprach das völlig wie einen Vorwurf und einen Tadel [123] aus. Angelika, viel jünger als ihre Wirthin, wagte nicht, ihr entgegen zu treten, und wartete darauf, ob der Baron es nicht für sie thun werde. Indeß zu ihrem größten Erstaunen sagte er:

Es bestimmt zu leugnen, daß die menschliche Seele sich nur allmählich von dem Körper und von der Körperwelt loslöse, möchte unmöglich sein. Und ohne mich zu der Zahl unserer modernen Geisterseher zu rechnen, räume ich ein, daß ein Reich der Mitte, daß ein über den Tod fortgesetzter Zusammenhang der Geschiedenen mit den Lebendigen denkbar ist, aber ....

Das glaubst Du, das glaubst Du, lieber Franz? rief Angelika mit erschreckendem Erstaunen.

Ich habe ganz unleugbare Beweise dafür in meinem Leben gehabt! antwortete er ihr mit großer Sicherheit und Bestimmtheit.

Angelika verstummte, denn sie stellte ihren Mann hoch über sich und war es nicht gewohnt, ihm entgegen zu treten, wo er so bestimmt eine Meinung geäußert hatte. Frau von Uttbrecht aber fragte, ob der Freiherr seine Erfahrungen nicht mittheilen könne.

Unmöglich! versetzte er, und es kam Angelika vor, als überlaufe ihn ein Schauer, denn er zuckte zusammen bei seinen eigenen Worten. Die Anwesenden mußten das auch bemerkt haben; es entstand eine Pause, die Gespräche nahmen eine andere Richtung, und man ging zeitig auseinander, ohne noch einmal auf die vorher angeregten Gegenstände zurückgekommen zu sein.

[124]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Wären Aeußerungen wie diejenigen, welche Angelika bei Frau von Uttbrecht vernommen, in dem Hause ihrer Eltern, in den Tagen ihrer glücklichen Unbefangenheit an sie herangekommen, so würde sie dieselben nicht sonderlich beachtet oder sie als die Erzeugnisse einer thörichten Phantastik von sich abgewiesen haben. Jetzt aber, in einer auf das Romantische und Phantastische gerichteten Umgebung, wirkten sie beängstigend auf sie ein, und als sie vollends aus dem Munde ihres Gatten eine Annahme bestätigen hörte, die sie noch vor Kurzem als Ausgeburt des Aberglaubens verspottet haben würde, war es ihr, als lege sich ein unsichtbares Netz um sie. Sie hätte den Baron um Auskunft, um Erklärung bitten mögen, und wagte nicht, es zu thun. Sie wollte nichts wissen, was sie beirren, nichts hören, was sie an der vorurtheilsfreien Einsicht ihres Gatten zweifeln machen konnte. Sie wollte an keine Wunder glauben, weil ihr dies als eine Folge des Katholicismus erschien, den sie zwar respectirte, da es der Glaube ihres Mannes war, den sie aber für ihr Theil nicht zu bekennen sich innerlich vorgenommen hatte; denn sie war fest entschlossen, ihren protestantischen Glauben und die Aufklärung ihres Vaterhauses in sich zu erhalten. Und doch über lief es sie eiskalt, doch blickte sie ängstlich um sich, als sie bei der Heimkehr den Fuß in das Gemach setzte, in welchem Fräulein Esther sich gewöhnlich aufgehalten hatte, und das jetzt Angelika's Wohnzimmer geworden war.

[125] Sie war froh, daß sie an diesem Abende nicht mehr lange in demselben zu verweilen brauchte, denn es war Zeit sich zur Ruhe zu begeben. Sie war müde und benommen von dem Halblichte und von den starken Wohlgerüchen, welche immer in den Zimmern der Frau von Uttbrecht herrschten, und an die Unterhaltung denkend, die sie bei der Cousine vernommen hatte, schlief sie ein.

Es war mitten in der Nacht, als ein herzzerreißender Schrei von den Lippen ihres Gatten sie erweckte. Sie fuhr auf, rief ihn beim Namen, ergriff seine Hand, aber der Traum mußte ihn sehr fest umfangen, denn er stieß sie von sich und rief mit dem Tone des äußersten Entsetzens: Fort, fort! Klammere Dich nicht so an mich! Komm nicht herauf! – Die starren Augen! Die starren Augen!

Angelika klopfte das Herz in furchtbarer Angst, ihre Glieder bebten. Sie neigte sich zu ihm, sie rief ihn nochmals dringend an, da richtete er sich empor, sah verwirrt umher, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und sagte endlich, als habe er Mühe, sich ihre Anwesenheit zu erklären und sich zu fassen: Habe ich Dich erschreckt? Vergieb! Ich hatte einen bösen Traum!

War es Tante Esther? fragte sie leise.

Nein, entgegnete er ihr, nein! Denke nicht weiter daran, mein Kind. Es war nichts. Die heutige Unterhaltung hat mich nur aufgeregt; man sollte in der Gesellschaft solche Gespräche vermeiden.

Er legte sich darauf abermals zur Ruhe nieder; aber Angelika konnte nicht schlafen, und bei dem Scheine der Lampe sah sie, daß auch der Baron noch lange wach blieb und daß er einmal seine Augen trocknete.

Von ihren Gedanken gepeinigt, lag die junge Frau auf ihrem Lager. Das Haus war todtenstill, ihr Gatte endlich wieder ruhig eingeschlafen. Sie hörte seine leisen Athemzüge, [126] sie konnte das Heben und Senken seiner Brust bemerken. Er sah milder aus, als sie ihn je gesehen hatte, aber sehr traurig. Ihr Auge verweilte mit großer Liebe auf seinem Angesichte. Sie faßte zum ersten Male den Gedanken an die ganze, ihr fremde Vergangenheit ihres Mannes als ein Feststehendes auf; sie hielt sich überzeugt, daß irgend eine traurige Erinnerung aus den Tagen der Vergangenheit ihn noch belaste, und ohne zu wissen, welch einen Schritt sie damit auf dem Wege der Entsagung vorwärts that, beklagte sie es, so jung und unerfahren zu sein, daß sie ihm nicht helfen konnte. Sie sehnte sich nach Jemand, der ihr rathen, ihr sagen möchte, was sie thun müsse, ihrem Manne die frühere Ruhe und seine alte, gleichmäßige Selbstzufriedenheit wieder zu verschaffen, die er neben ihr verloren hatte. Sie hatte schon oftmals den Vorschlag gemacht, den Caplan in die Stadt kommen zu lassen oder auf das Land hinaus zu gehen, damit der Baron seinen gewohnten Gesellschafter nicht länger zu entbehren brauche; aber Beides hatte der Freiherr abgelehnt. Wie des Menschen Ideen und Gedanken aber ihre wunderlichen Wege nehmen, wenn sie sich in das Unbestimmte verlieren, so fiel ihr plötzlich ein, es wäre am Ende gar nicht so schlimm gewesen, wenn Fräulein Esther noch hier im Hause gelebt hätte, wenn sie und der Baron von Anfang an nicht so allein in dem Hause gewesen wären.

Kaum aber hatte sie das gedacht, als sie plötzlich einen starken Lavendelgeruch zu spüren glaubte. Sie richtete sich auf, blickte umher, die Thüren waren geschlossen, die Damastvorhänge vor denselben herabgelassen, es regte sich kein Lüftchen im Zimmer, die Nachtlampe brannte ohne alle Bewegung. Sie legte sich also wieder in die Kissen zurück, und abermals strömte der Lavendelgeruch, den Fräulein Esther vorzugsweise geliebt hatte, und den man noch vielfach in den Schränken und Schubladen [127] bemerken konnte, über Angelika's Antlitz hin. Sie überlegte, woher der Duft jetzt eben kommen könne, und als sie im Zimmer umhersah, bemerkte sie, daß von der großen Bronce-Vase, welche auf dem Kamine stand, der Deckel verschoben war. Das fiel ihr auf, denn sie hatte nie gesehen, daß die Vase zu öffnen sei, sondern sie für eine jener alterthümlichen Zierathen von Bronce gehalten, die eben nur als Zierath dienen. Behutsam stand sie auf, warf ihr Morgengewand über und ging an den Kamin, um den Inhalt der Vase kennen zu lernen. Als sie den Deckel abhob, fand sie auf einer dicken, weich wattirten Unterlage, die mit welken Lavendelblättern überstreut war, ein uraltes, kleines katholisches Gebetbuch, in Sammet gebunden, ein elfenbeinernes Crucifix und einen Rosenkranz von emaillirten Goldkugeln, der an einem kostbaren antiken Betringe befestigt war.

Wie man diese Gegenstände hier habe unbeachtet liegen lassen können, wenn sie Fräulein Esther im Gebrauch gehabt hatte, konnte Angelika sich nicht erklären. Sie trat an die Lampe heran, zu sehen, ob sich vielleicht ein Name oder ein Wappen auf dem Ringe befinde; es war aber nichts der Art vorhanden. Nur in dem Gebetbuche standen unter dem Bilde des Heilandes in kaum leserlicher Schrift, als habe ein Kranker sie mit zitternder Hand geschrieben, die Worte: »Mein Freund in der Noth! Der Stab, der mich hielt, da ich schwankte, die Stütze, an der ich mich erhob, das Licht, dessen Leuchten mir einst die lange Nacht erhellen wird! Möge es zu rechter Stunde in die rechten Hände fallen und Segen bringen, wie es mir Segen gebracht hat! Das ist das kostbarste Vermächtniß, das ich zu hinterlassen habe. Mein Gebet wird bei Dir sein in der Stunde Deiner höchsten Noth, bete auch Du für meine Seele, wenn ich nicht mehr bin.«

Angelika las die Worte wieder und wieder; sie erschütterten sie durch ihre einfache und innerliche Kraft. Sie hatte [128] nie zuvor ein Crucifix und einen Rosenkranz in Händen gehalten. Unwillkürlich legte sie ihre Hände zum Gebet zusammen, und es bewegte ihr das Herz, daß sie mit ihrem Glauben nicht zu ihrem Manne gehörte.

Sie mußte immerfort an Esther denken, und das Bild der Verstorbenen, welches ihr bisher durch seinen kalten Ausdruck so unheimlich gewesen war, übte plötzlich eine solche Anziehungskraft auf Angelika aus, daß sie ein lebhaftes Bedauern darüber fühlte, die Tante nicht gekannt zu haben, daß sie Verlangen trug, von ihr zu hören und zu wissen.

Sie konnte den Morgen kaum erwarten, um dem Baron ihre Entdeckung mitzutheilen. Auch er war überrascht. Es war ihm auffallend, daß er diese werthvollen Gegenstände bei Lebzeiten seiner Tante nie gesehen, daß er nie von ihnen gehört hatte. Angelika fragte, ob es Esther's Handschrift sei; der Baron verneinte es. Er glaubte eher die Handschrift seiner Schwester darin zu erkennen, aber die Züge waren so weit ausgedehnt, die Buchstaben durch das Zittern der Hand entstellt, und wie diese Sachen hierher gekommen waren, wenn sie seiner Schwester angehört, war ihm eben so unklar, da seine Mutter Alles, was Amanda besessen, wie Heiligthümer aufgehoben hatte.

Man ließ also Mamsell Marianne rufen; man befragte sie, und diese kannte die Gegenstände allerdings, aber sie schien selbst überrascht, sie wieder einmal zu sehen, und wußte auch nichts Näheres darüber anzugeben. Mein gnädiges Fräulein, sagte sie, hat sie freilich einmal vor sich liegen gehabt, als ich in das Zimmer getreten bin; das ist aber viele Jahre her, und ich habe die Sachen seitdem niemals wieder zu Gesicht bekommen. Dazu werden der gnädige Herr sich auch erinnern, daß das Fräulein Tante nicht gefragt zu werden liebten, wenn sie nicht von selber sprachen. Benutzt hat mein Fräulein den Rosenkranz[129] und das Crucifix niemals. Sie hat immer nur mit dem kleinen goldenen Crucifix gebetet, das sie schon auf der Brust getragen hat, als ich vor dreißig Jahren zu ihr kam, und das hat sie auch in der Hand gehalten an dem Morgen, an welchem wir sie eingeschlafen gefunden haben.

Aber warum machten Sie mich nicht aufmerksam darauf, daß diese werthvollen Andenken in der Vase lägen? fragte die Baronin.

Mamsell Marianne entgegnete, sie habe das selbst gar nicht gewußt. Ich habe die Vase ja alltäglich beim Abstäuben in der Hand gehabt, obschon sie schwer genug zu rücken ist, fügte sie hinzu, aber ich habe nie gehört, daß sich irgend etwas darin bewegte. Den Deckel aufzumachen, dessen Feder sich schwer öffnete, hatte ich natürlich keinen Grund, eben weil ich sie für leer hielt.

So mußt Du, Liebe, gestern beim Auskleiden, als Du an dem Kamine beschäftigt warst, zufällig die Feder des Schlosses aufgedrückt haben, sagte der Baron gleichmüthig, indem er den Rosenkranz betrachtete und die schöne Arbeit des Betringes mit Kennerblick besah. Der Ursprung dieser Kostbarkeiten blieb trotz alles Untersuchens auch ferner in ein Dunkel gehüllt, das Angelika's Phantasie lebhaft beschäftigte, während der Freiherr bald den Vorgang vergessen zu haben schien. Als Angelika später das Verlangen äußerte, den Fund zu besitzen, bewilligte ihr Gatte ihr denselben ohne Weiteres. Sie legte den Rosenkranz und das Crucifix in einen besonderen Kasten und schloß diesen bei ihren werthvollsten Angedenken ein, denn das Auffallende des Vorganges, weit entfernt, sie zu beunruhigen, gab ihr ein tröstliches Gefühl. Sie kam sich nicht mehr so fremd in dem Hause vor, in welchem der Zufall ihr in einer schweren Stunde so wunderbar günstig gewesen war. Es freute sie, etwas Besonderes erlebt zu haben, das doch wieder mit dem Hause [130] und seiner verstorbenen Bewohnerin in einem nahen und geheimnißvollen Zusammenhange zu stehen schien; und wenn sie bisher eine Scheu vor der Erinnerung an Fräulein Esther getragen hatte, so dachte sie jetzt mit immer wachsender Neigung an die Tante, bis sich die Vorstellung in ihr festsetzte, daß die Selige ihr mit jenem Funde ein Zeichen ihrer Theilnahme, ihrer Wünsche habe geben wollen, daß Esther ihr mit diesem Rosenkranze und diesem Crucifixe die Weisung ertheilt habe, auf welchem Wege für Angelika die volle Uebereinstimmung mit ihrem Gatten, nach welcher sie sich sehnte, zu finden sei.

Mit ihrer Scheu vor Fräulein Esther verschwand auch das geheime Abmahnen, welches sie gegen Mamsell Marianne gehegt hatte, und diese begann, sich allmählich der neuen Herrin des Hauses zu nähern und zu fügen, seit sie von derselben öfter und immer antheilvoller um Auskunft über Fräulein Esther angegangen wurde. Sie kam freilich Anfangs nur auf besonderen Befehl zu der Baronin herab, indeß sie fing doch an, dienstbarer und hülfreicher zu werden, je länger die junge Baronin in dem Hause weilte, und da die Letztere bald nach Neujahr unpäßlich wurde und das Haus und ihr Zimmer nicht verlassen durfte, erwies Mamsell Marianne sich plötzlich als eine so unermüdliche und erfahrene Pflegerin, daß es sich für die Baronin erklärte, wie unschätzbar die treue Dienerin für das oft kränkelnde Fräulein Esther gewesen sein müsse.

Nun war Mamsell Marianne plötzlich wieder an ihrer rechten Stelle. Sie hatte sich alt werden lassen, so lange sie einer alten Dame gedient hatte; jetzt schien sie sich zu verjüngen, um der jungen Baronin nicht unbehülflich zu dünken, und je mehr man ihr Herrschaft über die andere Dienerschaft einräumte und zugestand, um so hingebender bewies sie sich gegen diejenigen, welche sie als ihre Herren erkannte, und denen sich unterzuordnen sie als ihre wahre Ehre ansah.

[131] Die Baronin gewahrte es mit Erstaunen, daß Mamsell Marianne die alten, steifen Hauben ablegte, welche sie auf Befehl von Fräulein Esther die ganzen dreißig Jahre lang getragen, während welcher sie in deren Dienst gestanden hatte; sie konnte es kaum glauben, daß Marianne noch nicht fünfzig Jahre alt sei, und es war auch in der That nicht leicht, in der jetzt so rührigen Aufseherin und Pflegerin die alte, steife, wort- und blicklose Castellanin wiederzuerkennen, als welche sich dieselbe der Baronin bei ihrer ersten Ankunft dargestellt hatte.

Inzwischen hatten die Festlichkeiten des Carnevals in der Residenz ihren Anfang genommen, und da sich der Baron der ihm zusagenden zerstreuenden Geselligkeit desselben nicht gern entziehen wollte, machte er jetzt selbst den Vorschlag, den Caplan zu einem Besuche in der Stadt aufzufordern.

Angelika begrüßte die Ankunft des bewährten Mannes mit Freude. Seine Ruhe und sein Ernst, seine Milde und seine Duldsamkeit hatten ihr bei den früheren Begegnungen Zutrauen zu ihm eingeflößt, und sie konnte nicht umhin, von seiner Anwesenheit sich Gutes für sich und ihren Gatten zu versprechen.

Der Caplan war denn auch noch nicht zwei Tage in der Stadt, als er es bemerkte, wie die Stimmung des Freiherrn verändert und daß die junge Frau nicht glücklich sei; ja, es dünkte ihn bald, der Baron bereue es, seine Gegenwart gefordert zu haben. Er war schon wieder über die Verfassung hinweg, in welcher er sich in den Tagen vor seiner Hochzeit, und nach dem Tode Paulinen's befunden hatte. Er dachte nicht mehr daran, eine neue Lebensrichtung einzuschlagen. Er fühlte kein Bedürfniß mehr, zu sühnen und zu büßen, er hatte, wenn ihn seine bösen Träume auch noch öfter quälten, die Hoffnung gewonnen, vergessen zu können; und wie er in den Stunden seiner Zerknirschung das Alleinsein mit dem alten Freunde gesucht, so vermied er es jetzt geflissentlich. Er fragte [132] auch gar nicht nach dem Ergehen des Knaben, dessen Versorgung ihm doch vor wenig Monaten so sehr am Herzen gelegen hatte; indeß man hatte nicht nöthig, den Freiherrn so lange zu kennen, als dies bei dem Caplan der Fall war, um zu sehen, daß im Grunde sein Inneres nicht geheilt war und daß er sich nur zu übertäuben suchte.

Was ihn von der Baronin entfernte, was dieser den Frieden genommen hatte, war nicht minder leicht zu ergründen. Aber schonend und vorsichtig, klug und erfahren zugleich, hütete der Caplan sich wohl, diese Einsicht, die er gewonnen hatte, irgend kund zu geben. Er ließ den Freiherrn unbehindert seinen Weg verfolgen; er hielt sich bei Angelika auf, so oft sie es begehrte, und war man bei den Mahlzeiten oder in den frühen Abendstunden bei der Baronin zu Dreien zusammen, so wußte er dem Gespräche freundlich die Wendung zu geben, welche die Eheleute von sich selber abzog und es ihnen nicht fühlbar machte, wie weit sie von einander entfernt worden waren.

Eines Abends, als Sturm, Schnee und Hagel das Haus recht winterlich umsausten, erschien der Baron, zu einem Hof-Concerte gekleidet, früher als gewöhnlich bei seiner Gattin. Man hatte die Thüre, um die Baronin gegen den Zugwind zu schützen, mit Schirmen verstellt, auf denen, nach dem Geschmacke jener Tage, langzöpfige Chinesen mit ihren Schönen unter Palmen und wunderlichen Thürmen einherspazierten, während Diener ihnen mit großen Fächern Kühlung zuwehten und buntes, reich gefiedertes Gevögel sich in goldenen Ringen unter den Zweigen der Bäume schaukelte.

Schnell und sich die Hände reibend trat der Baron in Angelika's Zimmer ein. Er fragte nach ihrem Befinden, und auf die Antwort, daß es ihr nicht übel gehe, versetzte er: Nun, wenn Du Dich sonst leidlich fühlst, so kann man Dich heute um die Ruhe und um die freundliche Wärme Deiner Zimmer [133] beneiden, denn es ist ein Wetter, das mir einmal wieder recht lebhaft die nie erloschene Sehnsucht nach dem Süden wachruft.

Er erinnerte darauf den Caplan, wie wenig diesen zu Anfang der Charakter des Südens angemuthet habe, rühmte sich der Einsicht, mit welcher er gleich bei dem Eintritt in Italien die richtige Schätzung des Landes und des Volkes besessen, und kam dadurch auf das Thema von der Gewalt und der Bedeutung der ersten Eindrücke zu sprechen, auf die er, wie seine Zuhörer es wußten, ein großes Gewicht legte. Er pries dabei seine Menschenkenntniß, nannte dieselbe eines der schätzenswerthesten Güter, welche das reife Alter vor der Jugend, der Mann in der Regel vor der Frau voraus habe, und schloß diese Bemerkung mit dem Geständnisse, daß er diese Menschenkenntniß den Besitz Angelika's verdanke; denn Sie, lieber Caplan, fügte er hinzu, Sie können es nicht leugnen, Sie haben die Baronin Anfangs nicht mit dem günstigen Vorurtheile angesehen, wie ich.

Der Caplan lächelte, und mit jener Würde und Sicherheit, die es weiß, daß sie solchen Anschuldigungen die Stirne bieten kann, sagte er: Den Werth der Frau Baronin zu unterschätzen, konnte mir wohl nicht begegnen, mein Bedenken gegen Ihre Wahl lag auf einer anderen Seite, Herr Baron!

Angelika wußte, was damit gemeint sei. Sie wurde verlegen, und wie man in solchen Augenblicken leicht etwas Ungehöriges thut, um nur von sich selber abzukommen, sprach sie lächelnd: Man darf aber doch in keinem Falle den ersten Eindrücken zu viel Bedeutung einräumen, denn hätte ich das gethan, so wäre ich jetzt auch nicht hier.

Nicht hier? fragte der Freiherr; was meinst Du damit, meine Liebe?

Ich meine, daß ich dann nicht Deine Frau geworden sein würde. Denn ich entsinne mich ganz deutlich, daß, als ich [134] Dich, lieber Franz, zuerst gesehen habe, mir Deine Erscheinung zwar sehr imponirte, daß ich aber doch eine Art von Unbehagen, von Scheu, von innerem Abmahnen Dir gegenüber fühlte.

Der Baron wurde ernsthaft. Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, so würde ich Dich gemieden haben! sagte er.

Bester, rief die Baronin erschrocken aus, wie kannst Du das nur denken, wie kannst Du das nur sagen!

Warum nicht? fragte der Baron sehr ernsthaft. Es handelt sich hier, ganz abgesehen von uns, um ein Princip, um eine Erfahrungs- oder Ueberzeugungssache. Der Mensch hat, das ist keine Frage, nichts so sehr zu beachten, auf nichts so zuversichtlich zu bauen, als auf die Stimme seines Innern, auf diesen geheimnißvollen, weisen, ahnungsvollen Rathgeber, der ihn, nach meinen Erfahrungen, fast niemals trügt.

Lieber Mann, rief die junge Frau noch einmal und erhob bittend ihre Hände zu ihm, strafe mich nicht so hart für das thörichte Aussprechen einer kindischen Empfindung!

Ich Dich strafen, entgegnete er, wie käme ich dazu? Wie käme ich dazu eben jetzt, da mich die Sorge erfüllt, daß ich Dir doch noch Unheil bringen könne.

Der Caplan machte eine abwehrende Bewegung mit dem Haupte. Wie oft, gnädiger Herr, sagte er, haben Sie auch schon die gegentheilige Erfahrung an sich selbst zu machen die Veranlassung gehabt, daß der geheime Zug, der Menschen auf einander hinzuweisen oder sie von einander fern zu halten schien, Sie täuschte!

Die habe ich niemals gemacht! versicherte der Baron, der nur auf Widerspruch zu stoßen brauchte, um sich in einer Vorstellung zu befestigen.

Niemals? fragte der Caplan mit Bedeutung.

Niemals! wiederholte der Freiherr sehr bestimmt.

[135] So waren Sie glücklicher, als ich es glaubte, bemerkte der Geistliche gelassen.

Vielleicht war ich nur achtsamer, meinte der Freiherr, denn man hat sich sehr davor zu hüten, nicht irgend eine augenblickliche Aufwallung oder einen sinnlichen Anreiz für jenen wundervollen Zug der Sympathie zu halten, den schon die Alten kannten und verehrten.

Er brach damit plötzlich ab, wendete sich freundlich zu der Baronin und fragte, indem er ihre Hand ergriff: Und was hattest Du denn eigentlich gegen mich, Du Kind?

O, weßhalb willst Du das wissen? versetzte die Baronin. Es hieße ja nur einen Irrthum eingestehen, und seiner Irrthümer hat man sich zu schämen!

Der Caplan wünschte diese Unterhaltung nicht weiter fortsetzen zu lassen, weil er wußte, wie leicht die Eitelkeit des Freiherrn zu kränken und wie sehr er dann geneigt war, das Unschuldigste zu mißdeuten. Er nahm also die letzten Worte Angelika's auf und sagte: In solch scherzhaften Dingen ist das Eingestehen oder Verschweigen eines Irrthums an und für sich etwas ganz Gleichgültiges, bei ernsthaften Anlässen ist es aber ein Anderes. Einen Irrthum vor Anderen eingestehen, heißt erst, ihn förmlich von sich abthun, ihn förmlich überwinden; denn das gesprochene Wort hat eine loslösende und befreiende Kraft. Ein Irrthum, den Sie schweigend und ohne Eingeständniß an einen Andern in sich bekämpfen, bleibt immer noch mit Ihnen im ausschließlichen Zusammenhange, bleibt immer noch Ihr Irrthum. Sobald Sie ihn aber vor einem Andern ausgesprochen haben und dieser Unbetheiligte Ihnen in der Erkenntniß und Beurtheilung Ihres Irrthums beistimmt, so ist eine Rückkehr in denselben Irrthum für Sie nicht mehr leicht möglich, wenn Sie eine solche nicht absichtlich ausführen wollen, was doch zu den Seltenheiten gehört.

[136] Gewiß, sagte der Baron; auf diese Wahrheit von der befreienden Kraft des Wortes gründet sich die Taktik aller der Menschen, welche sich vor Andern ihrer Fehler anklagen, weil sie sich dadurch auf eine bequeme Weise ihres sie drückenden Bewußtseins zu entäußern hoffen.

Alles Vertrauen überhaupt, bemerkte der Geistliche, läßt sich auf die jedem Menschen bewußt oder unbewußt innewohnende Ueberzeugung von der befreienden Kraft des gesprochenen Wortes zurückführen; und als komme ihm das zufällig in den Sinn, fügte er noch hinzu: Darauf beruht ja auch die erlösende Kraft der Beichte in unserer Kirche, welche der Protestantismus ohne alle Kenntniß des menschlichen Herzens, ohne Mitleid für den Schuldbeladenen, den Bedrückten und den Irrenden, einem abstracten Princip, dem Mißtrauen gegen die Gewalt und den Einfluß der Geistlichkeit, zum Opfer gebracht hat.

Er ging aber auch über diese Aeußerung schnell hinweg, denn er wußte, daß ein sicher gestreutes Samenkorn, wenn es auf den rechten Boden fällt, seine Frucht trägt; und es war ihm daher unlieb, daß der Baron sich mit diesen Erörterungen nicht genügen ließ, sondern noch einmal auf den Ausgangspunkt der Unterhaltung zurückkam und nun bestimmt die Frage that: was seine Frau für ein Abmahnen gegen ihn gefühlt habe.

Sie wehrte sich abermals, es zu bekennen, und erst als er mit Bitten und mit scherzendem Zureden in sie drang, sagte sie: Es war, als ich Dich zum ersten Male sah, von irgend welchen eben geschehenen Wundern die Rede, deren Wahrheit Du aufrecht erhieltest; ich konnte mir nun gar nicht denken, daß ein Mann wie Du an Wunder zu glauben vermöge, und ....

Und? fragte der Freiherr.

Und so hielt ich Dich halbwegs für einen Heuchler, ohne begreifen zu können, weßhalb Du heucheln solltest! sagte sie schnell, als wolle sie damit fertig sein.

[137] Sie hatte erwartet, einen Scherz oder einen Tadel zur Antwort zu bekommen, aber keines von beiden traf zu. Der Baron blieb ernsthaft und ruhig und fragte nur, was sie unter dem Worte Wunder verstanden haben wolle.

Nun, zum Beispiel jene auf der Erde wahrnehmbare Fortdauer der Verstorbenen, sagte Angelika, von welcher man auch bei Frau von Uttbrecht als von einer Thatsache zu reden liebt, und an die man doch nicht im Ernste glauben kann.

Du irrst, sprach der Freiherr mit großer Bestimmtheit, und es ist also, wie ich sehe, noch ein wesentlicher Ueberzeugungssatz zwischen uns unaufgeklärt, was mir wirklich leid ist. Ich glaube an die wahrnehmbare Fortdauer der Geschiedenen so gewiß, als ich an die Unsterblichkeit unserer Seele und an unsere persönliche Fortdauer nach dem Tode glaube. Nur ein unlogischer Kopf, so dünkt mich, kann auf den Einfall gerathen, daß eine Wesenheit, die sich von ihrem ersten Keime an in strenger Folgerichtigkeit zur Individualität entwickelt, plötzlich und mit Einem Schlage als Individualität zu sein aufhören könne. Abgesehen aber davon, so hat ja Christus uns die persönliche Fortdauer, ja die Auferstehung des Fleisches verheißen, und der Caplan wird Dir nachweisen können, daß in alter und neuer Zeit bevorzugte Menschen der unwiderleglichsten Offenbarungen, Ermahnungen und Tröstungen durch das Erscheinen Verstorbener gewürdigt worden sind.

An der Unsterblichkeit unserer Seele zweifle ich gewiß nicht! betheuerte Angelika, eingeschüchtert durch den Ernst des Freiherrn. Ihr protestantisches Bewußtsein ließ sich jedoch so leicht nicht zur Ruhe bringen, und wenn auch zaghaft, fragte sie dennoch: was haben aber die Geistererscheinungen mit unserer Unsterblichkeit gemein?

Der Baron blickte sie an, als komme ihm eine solche Frage sehr auffallend vor, dann entgegnete er belehrend: Allmähliches [138] Werden und Vergehen ist das Gesetz aller Organismen. Es tritt nichts plötzlich in die Erscheinung, es verschwindet nichts plötzlich aus ihr; und wie der Mensch im Schooße seiner Mutter allmählich werdend zum sichtbaren Dasein erwächst, so verschwindet er, das ist mir zweifellos, auch nur allmählich von der Erde, von der Stätte, die er geliebt, und aus dem Gesichtskreise derjenigen, in deren Leben er seine eigentliche Heimath gehabt hat. Erst wenn diese Loslösung, die sich je nach den verschiedenen Persönlichkeiten in längerer oder kürzerer Zeit vollzieht, ganz und gar beendet ist, kann vernunftgemäß der Läuterungsproceß der Seele beginnen, den unsere Kirche als ein Dogma aufstellt und der die Seele endlich für die reine Atmosphäre der ewigen Seligkeit vorbereitet.

Er sprach das mit der Bestimmtheit aus, mit welcher ein Mathematiker seine Formel hinstellt. Sicherheit aber hat, wenn wir ihr bei einem Menschen begegnen, dem wir sonst Bedeutung zugestehen, immer etwas Bannendes und Beherrschendes. Er erwartete auch offenbar, Glauben bei Angelika zu finden, und nur, als gebe er noch eine ganz überflüssige Notiz, fügte er hinzu: dieser Glaube von dem allmählichen Verschwinden des Menschen aus dem Bereiche der Sichtbarkeit liegt ja übrigens, wie alle großen und unumstößlichen Wahrheiten, als ein Eingeborenes in dem menschlichen Geiste. Die Spur davon findet sich bei den rohesten wie bei den cultivirtesten Völkern aller Welttheile und aller Zeiten. Von Zoroaster bis zu Plato, von den ältesten jüdischen Traditionen bis zu Origines, von dem wüsten Heidenthume der Wilden bis zu den erhabensten Vorstellungen unserer Kirche geht derselbe Zug, derselbe Glaube an ein vermittelndes Zwischenreich; und selbst Euer Martin Luther, so sehr er aller feineren geistigen Erkenntniß durch seine grobsinnliche Organisation verschlossen war, konnte sich jener Einsicht nicht ganz entziehen, wenn er bei seiner bäuerisch plumpen Natur [139] auch nichts Anderes zu erkennen vermocht, als die Erscheinung eines ihn plagenden Teufels.

Der Baron erhob sich bei den Worten mit der Selbstzufriedenheit eines Professors, der sein Collegium beendet hat, und daß seine Zuhörer beide schwiegen, steigerte seine Genugthuung. Er sah nach der Uhr, es war Zeit für ihn, sich zu entfernen. Er schellte dem Kammerdiener, befahl den Wagen vorfahren zu lassen, und als er dann das Zimmer seiner Frau verließ, die ganz gedankenvoll geworden war, sagte er zu dem Geistlichen gewendet: Sie müssen die Baronin durchaus gewöhnen, lieber Freund, recht scharf über geistige Dinge nachzudenken. Es ist bei ihr – und das liegt in ihrer Jugend, die ein großer Vorzug ist – noch Alles Gefühl, noch Alles Empfindung; aber es kommt ja für sie hoffentlich bald die Zeit, in welcher sie Andern Rechenschaft über ihr Denken geben, Andern ein Führer werden muß, und ich möchte, daß diese Zukunft sie einig mit sich selbst und recht im Einklange mit mir finden möge. Trachte danach, Geliebteste, diesen Standpunkt zu erreichen.

Er umarmte hierauf seine Frau, küßte ihr die Hand, gab auch dem Caplan die Hand, und verfügte sich in bester Laune an den Hof, dem Concerte beizuwohnen.

[140]
8. Capitel
Achtes Capitel

Es war eine eigenthümliche Lage, in welcher der Caplan sich jetzt gegenüber der freiherrlichen Familie befand. Er glich dem Manne, welchen man zu einem Gastmahle eingeladen hat, und der bei seinem Eintritte in das Zimmer an dem Qualm und Rauch, die ihm entgegenströmen, den nahen Ausbruch eines im Verborgenen glimmenden Brandes erkennt. Es galt hier, zu helfen, nicht zu genießen, und Hülfe zu leisten war ja sein Beruf.

Er fand Angelika unzufrieden mit sich selbst, beunruhigt durch die Stimmung ihres Gatten, durch den Einfluß, den Frau von Uttbrecht und ihr Mysticismus über ihn gewonnen hatten, und fand sie selbst auf das lebhafteste beschäftigt durch eine Menge von religiösen und mystischen Eindrücken, welche sie, eben um ihrer Fremdheit willen, bald anzogen, bald abstießen und ihr den Frieden raubten. Sie sehnte sich nach einem Menschen, dem sie ihr Herz erschließen, den sie zu Rathe ziehen konnte. Sich ihrer Mutter zu entdecken, hielt die Liebe für ihren Gatten sie ab. Die Gräfin würde ihre Tochter für unglücklich, ihren Schwiegersohn für schuldig gehalten haben, und unglücklich fühlte die Baronin sich nicht. Sie wußte nur nicht, was sie thun solle, um wieder zu der Ruhe zu gelangen, die sie bis zu ihrem Hochzeitstage stets beseelt, um sich wieder in dem Einklange mit dem Freiherrn zu befinden, von dem sie beide das Heil ihrer Ehe und ihrer Zukunft erhofft hatten. [141] Sie konnte sich nicht recht klar machen, was eigentlich geschehen sei, was zwischen ihr und ihrem Gatten stehe, aber es war anders geworden, als sie es erwartet hatte; es war geworden, wie es nicht hätte sein sollen, wie sie nicht geglaubt hatte, daß es jemals werden könne,

Die Worte des alten, aufgefundenen Gebetbuches tönten immer in ihrem Herzen. Ihr fehlte ein Stab, der sie stützte, ein Licht, das ihr das Dunkel erhellte. Sie mußte oftmals an dasjenige denken, was der Baron, was der Caplan ihr von der befreienden Kraft des Wortes gesagt hatten. Es lag, so fern ihr die Vorstellung sonst gewesen war, jetzt für sie etwas Verlockendes in dem Vertrauen, in der Zurechtweisung und Belehrung, welche man in der Beichte gewährt und empfängt. Sie fühlte bisweilen ein wahrhaftes Verlangen danach, dem Caplan Alles zu sagen, was sie drückte, von ihm Rath zu begehren, und es hätte nur einer Ermuthigung von seiner Seite bedurft, ihr den Mund zu erschließen; aber er gewährte ihr diese nicht. Er wollte reifen lassen, was er emporkeimen sah, und die Frucht nicht vorzeitig brechen, so sehr er sich ihrer erfreute.

Es war nicht lange nach jenem Concert-Abende, als er in den Händen der Baronin ein Kästchen erblickte, das sie mit einer gewissen Hast verschloß und auf die Seite stellte, da er bei ihr erschien. Sie sah, daß er es bemerkt hatte, daß er darüber lächelte, und plötzlich zu einem Entschlusse gelangt, fragte sie ihn ganz unumwunden, ob er den Glauben theile, den sie im Hause der Frau von Uttbrecht häufig aussprechen hören, den Glauben, daß die Gottheit noch in unseren Tagen dem Menschen sichtbare Zeichen gebe, wenn er ihres Beistandes bedürfe oder sich sonst in ungewöhnlichen Lebenslagen befinde.

Gewiß! sagte der Caplan, davon bin ich überzeugt! Es ist kein Wandel in dem Unwandelbaren, und was Gott einst [142] in seinem Erbarmen für die Menschheit gethan hat, das kann und muß sich bei dem gleichen Anlasse immer wiederholen.

Angelika sah ihn ernsthaft an. Sie glauben also an wunderbare Ereignisse, an wunderbare Zeichen? forschte sie weiter.

Unbedenklich! versicherte er ihr. Aber was bewegt Sie zu diesen Fragen, meine gnädige Frau?

Sie antwortete ihm nicht darauf; sie wollte jedoch wissen, ob er je etwas der Art erlebt, ob er irgend eine Erfahrung gemacht habe, welche seine Aussage bestätigen oder einen Beweis für die Lehren von dem geistigen Zusammenhange der Todten mit den Lebenden gewähren könne.

Er zögerte eine Weile, indeß er sah die Spannung, mit welcher sie an seinem Mund hing, und mit feierlichem Ernste sagte er: Es begegnet, des bin ich sicher, nicht eben oftmals, daß die Gottheit es für nöthig findet, dem Menschen durch ein sichtbares Zeichen ihrer Vorsehung und Allgegenwärtigkeit zu Hülfe zu kommen; wo es aber geschieht, da hat man es als die höchste Gnade anzusehen, und wem es begegnet, dem legt es die doppelte Pflicht der eigenen Heiligung und der Werkthätigkeit für Andere auf. Mir ist diese Gnade einst geworden, als ich auf dem Wege war, sie weniger denn jemals zu verdienen.

Die Gehobenheit, mit welcher er sprach, umleuchtete sein edles Antlitz und seine ganze würdige Gestalt, daß Angelika der Raum des Zimmers durch sein bloßes Dasein wie geweiht schien. Es wurde ihr feierlich zu Muthe, als befinde sie sich in der Kirche, und es war nicht Neugierde, sondern ein heißes Verlangen nach Wahrheit, daß sie zu der Bitte antrieb, der Caplan möge ihr, wenn er das könne, mittheilen, was ihm einst widerfahren sei.

Ja, versetzte er nach kurzem Schweigen, das will ich thun. Sie sollen vernehmen, was bisher Niemand von mir gehört hat, und wovon jetzt kein Lebender außer mir noch Zeugniß [143] geben kann. Ich will es thun, so schwer es mir auch ankommt, von den Verirrungen meiner Jugend zu sprechen. Nur im büßenden Gebete hatte ich seit langen Jahren jener Zeiten noch gedacht, und ich hatte nicht gemeint, daß jemals wieder über meine Lippen kommen würde, was ich einst in bitterer Reue dem verschwiegenen Ohre meines Seelsorgers und Beichtvaters anvertraut, um durch ihn Vergebung für eine Sünde zu erlangen, welche für mich, für den geweihten Priester unseres Gottes schwerer als für einen Andern in die Wage des Gerichtes fiel. Aber es erscheint mir als eine Mahnung des Herrn, daß ich veranlaßt werde, noch einmal vor einem Andern mich meiner Schuld zu zeihen. Gott will, ich soll sie nicht begraben in meines Herzens stillem Schrein, ich soll mich zu meiner Schuld bekennen, vor denen, mit denen ich lebe, sie sollen mich kennen in meiner ganzen menschlichen Gebrechlichkeit, damit sie es immerdar empfinden, daß es der Herr ist und nicht ich, der in mir wirkt und schafft, wenn ich sie zu erheben trachte. Und – die Wege des Allweisen sind so unerforschlich! Wer will es sagen, zu welchem Zwecke er jene schmerzlichen Erinnerungen wieder so lebhaft in den Vorgrund meiner Seele drängt? Weshalb mir der Glaube so gebieterisch das Herz erfaßt, ich müsse eben zu Ihnen und eben zu dieser Stunde davon reden? – Er hielt inne, als bedürfe er der Sammlung, und fing dann mit unverkennbarer Selbstüberwindung seine Erzählung also an:

Ich hatte eben die priesterlichen Weihen erhalten, als ich in das freiherrliche Haus, in das Vaterhaus Ihres Herrn Gemahls eintrat. Aus der Abgeschiedenheit des Collegiums, aus der Stille und Zurückgezogenheit, an die ich gewohnt war, sah ich mich in einen viel bewegten, glänzenden Haushalt versetzt. Ich hatte bis dahin nur zu lernen und zu gehorchen gehabt; jetzt sollte ich Lehrer, Führer und Leiter eines lebhaften Jünglings werden, der mir an Jahren nur wenig untergeordnet, an Lebenserfahrungen [144] aller Art mir weit vorauf war. Wollte ich leisten, was man von mir erwartete, so bedurfte es des festen Willens von meiner Seite und des festen Glaubens, daß wir von der Vorsehung an keinen Platz gestellt werden, den auszufüllen über unsere Macht geht. Der Wille und der Glaube fehlten mir nicht; ich arbeitete an mir selbst, ich erzog mich, um ein Erzieher zu werden, und die Familie, der ich diente, war mit mir zufrieden, zufrieden, wie ich selbst es mit mir war. Man bewies mir ein ehrenvolles Vertrauen, die Eltern meines Zöglings behandelten mich wie einen Anverwandten, seine Schwester war für mich selbst wie eine Schwester freundlich. – Er machte eine Pause, und die Baronin glaubte zu bemerken, daß eine Röthe das Antlitz des würdigen Mannes überflog, als er seine Erzählung wieder aufnahm.

Sie haben das Bild von Fräulein Amanda in Ihrem Zimmer, gnädige Frau. So wie der Maler sie dortge schildert hat, so sah sie aus, als ich sie zuerst erblickte, so edel und so ernst, so sanft und so mild. Sie war achtzehn Jahre alt. Man hatte sie den sämmtlichen Unterricht ihres nur um ein Jahr jüngeren Bruders theilen lassen, und man vergönnte mir, auch ihr Lehrer zu werden, aber mehr als das, wir wurden – oder wir glaubten, Freunde zu werden. Um ihr Neues zu bieten, um ihren Antheil zu gewinnen, wurde ich eifriger als je in meinen Studien. Ein leidenschaftliches Verlangen und ein Durst nach Wissen und nach Erkenntniß der Wahrheit bemächtigten sich meiner, ich wollte dem genügen, was Fräulein Amanda von sich selber verlangte, was sie in mir voraussetzte. Es giebt nichts Großes, nichts Heiliges, das uns nicht bewegte, nichts Edles, nach dem wir nicht strebten. Wir fühlten uns frei einander gegenüber, und wir trennten uns wie Freunde und Geschwister sich trennen, als der junge Freiherr seine Reisen antrat, auf denen ich ihn begleiten sollte.

[145] Es war ausgemacht worden, daß ich dem Fräulein schreiben dürfe. Niemand hatte ein Arg daran, am wenigstens wir selber. Ich wußte, daß alle meine Briefe von der Mutter gelesen wurden, ich vermuthete, daß sie auch die Antworten ihrer Tochter an mich las, und doch blühten auf der offenen Heerstraße dieses Briefwechsels die Blumen auf, deren Duft uns den Sinn verwirrte, deren Ranken uns umstrickten.

Der junge Baron und ich, wir blieben zwei Jahre im Auslande. Voll Freude und Zuversicht kehrten wir in die Heimath zurück, aber es war vorüber mit dem friedensvollen Glücke, das ich vor der Reise in dem freiherrlichen Hause genossen. Ich hatte nicht mehr das Herz, dem Fräulein wie sonst zu begegnen, ihr fehlte der Muth, mir zu nahen; wir vermieden einander. Ich fragte mich nicht, was geschehen sei; jeder Athemzug sagte es mir. Die Trennung von ihr hatte eine wilde Leidenschaft in mir angeregt, eine Leidenschaft, die in doppeltem Sinne für mich eine Sünde in sich schloß. In heißen Kämpfen, in brünstigen Gebeten rang ich nach Frieden. Er wollte mir nicht kommen. Ich mußte die Ursache meiner Leiden fliehen. Ich forderte meine Entlassung. Baron Franz bedurfte meiner Begleitung auch ferner in der That nicht mehr.

In den Tagen fand sich ein Bewerber um des Fräuleins Hand. Amanda bewies sich demselben nicht geneigt. Ahnungslos, nur an das Zutrauen denkend, das die Tochter mir gewährte, wandten die Eltern, welche diese Verbindung wünschten, sich an mich. Ich sollte Amanda bestimmen, dem Verlangen ihrer Eltern nachzugeben, und ich beschloß, da ich selbst den Mann hoch schätzte, der das Fräulein zur Frau begehrte, die schwere Pflicht, die man mir auferlegte, als erste Buße über mich zu nehmen. Ich betete auf meinen Knieen um die Kraft der Selbstbeherrschung, und Gott schenkte sie mir. Ich bezwang mein Herz, ich konnte Amanda sagen, was man von ihr verlangte [146] und was zu Gunsten ihres Bewerbers sprach. Ich rieth ihr, dem Wunsche ihrer Eltern nachzukommen; ich rieth ihr, den Weg zu gehen, auf den die Vorsehung sie führen zu wollen schien.

Sie hörte mich an, still aber entsetzt, als spräche ich eine Gotteslästerung aus. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, und die Hände vor der Brust faltend, fragte sie mich mit strafendem Tone: Das verlangen Sie, grade Sie von mir? Das wagen Sie mir als Tugend, als Pflichterfüllung vorzuzeichnen? Und als ich verwirrt und sprachlos vor ihr stand, hob sie ihre gefalteten Hände gegen mich empor und fragte schluchzend: Giebt es denn keinen Ausweg aus dem unheilvollen Labyrinthe, keinen Ausweg als den Meineid, an dem der Mensch zeitlich und ewig zu Grunde gehen muß?

Und wieder schwieg der Caplan. Angelika reichte ihm die Hand; er drückte sie ihr leise und fuhr dann fort: Der Stunde folgte eine Zeit voll schwerer Verblendung, voll großer Noth, voll tiefer Verwirrung. Als Selbstüberwinder, wenn auch herzzerrissen, gingen wir beide daraus hervor. Ich verließ das Haus, Amanda verlangte in ein Kloster einzutreten. Die Zärtlichkeit der Eltern, die Vorsicht des Arztes wollten davon nicht hören, denn ihr Körper war dem Seelenleiden nicht gewachsen; sie verzehrte sich in ihrem Schmerze. – Niemand wußte, was ihr fehle; wir hatten einander ewige Trennung und ewiges Schweigen gelobt. Ich hörte nichts von ihr, als in den seltenen Fällen, in denen Baron Franz mir schrieb und ihrer Erwähnung that. Aber er lebte damals nicht im Vaterhause und hatte auch nur brieflich Nachricht von der Schwester.

Drei Jahre waren so hingegangen, fuhr der Caplan fort; ich kehrte von einer Missionsreise aus dem Innern von Südamerika zurück, als ich von Amanda's Vater die Anfrage erhielt, ob ich mich entschließen könne, seine Frau und Tochter [147] auf einer Reise zu begleiten. Ein furchtbarer Schrecken kam über mich. Ich wußte, wie es stand, da Amanda mich zu sich rief. Ich fuhr Tag und Nacht. Es war früher Morgen, als ich in dem Schlosse eintraf. Alles schlief. Ich befand mich wieder in ihrer Nähe; ich wagte nicht, nach ihr zu fragen. Als man sich im Hause erhoben hatte, ließ die Baronin mich rufen. Ihre ersten Worte bestätigten mir, was ich bereits wußte. Sie werden mein armes Kind verändert finden, sehr verändert, sagte die Baronin, indeß Gott ist ja allmächtig und kann Wunder thun! Die Aerzte vertrösten uns auf die Luft des Südens. Meine Tochter theilt unsere Hoffnungen für ihre Genesung nicht, aber sie wünschte Ihre belehrende Begleitung, und wir waren sicher, daß Sie uns nicht fehlen würden, da wir Ihrer nöthig hatten.

Eine Stunde später führte man mich zu Amanda. Welch ein Wiedersehen war das! – Die Reise wurde nach wenig Tagen angetreten. Noch vor dem Beginne des Herbstes erreichten wir Italien, ließen wir uns in Venedig nieder. Ich war immer bei ihr. Niemand wehrte es uns. Sie war freien Geistes, sie fing an, wieder Muth zu fassen, und es schien eine Weile, als kehre das schwindende Leben wirklich noch einmal in sie zurück, als könne das Leiden sich noch besiegen lassen. Aber diese Hoffnung, schwach wie sie war, stürzte meine Seele in den alten Kampf zurück. Die Angst, die Verzweiflung, welche mich bei dem Gedanken an ihren nahen Tod erfüllt hatten, die auftauchende Möglichkeit, sie gerettet zu sehen, die Frage, was dann aus uns werden solle, machten mich fast sinnlos. Meiner selbst nicht mächtig, brach ich das Gelöbniß des Schweigens, das ich ihr einst gegeben hatte, und bekannte ihr, daß es mir nicht möglich sei, in ihrer Nähe zu weilen, ohne zurückzufallen in die sündhafte Verwirrung, der ich mich einst kaum zu entziehen vermocht hatte.

[148] Er fuhr sich mit den Händen über die Augen. Dann seufzte er und sagte: Sie hielt eine weiße Rose in ihrer Hand in jener Stunde. Die Rose sank entblättert zur Erde nieder, als ich, vernichtet von Amanden's Thränen, um Vergebung flehend, ihre Hand ergriff. Amanda sah trauernd auf mich hin und schwieg, aber sie blieb ruhig und thränenlos. Sie hätten der Rose die paar armen Lebensstunden nicht zerstören sollen! sagte sie dann endlich. Denken Sie an diese Rose, wenn ich nicht mehr sein werde – und das wird nicht lange auf sich warten lassen!

Sie hatte in den letzten Wochen nicht mehr von ihrem Tode gesprochen, ich beschwor sie, diese düstern Vorstellungen zu verbannen; sie wollte nicht, daß ich dieselben düster nannte.

Der Tod ist für uns kein Leid, er ist ein Engel des Friedens für uns, der uns Erlösung bringt! sprach sie. Sie müssen mit mir den Himmel dafür danken, daß er mich bald abberufen wird. Wir haben schöne, schöne Tage hier miteinander gelebt, wir werden uns einst rein und geläutert wiedersehen, um unzertrennlich bei einander zu bleiben. Die Spanne Zeit, die noch dazwischen liegt, was ist sie neben der Ewigkeit, die uns erwartet?

Mein Sinn war verdüstert, meine Leidenschaft band mich an die Erde, ich konnte mich zu ihrer Entsagung nicht erheben. Ich konnte meinem Schmerze, meinen Thränen nicht gebieten, ich weinte bitterlich. Sie sah mich lange an. Weinen Sie nicht, sagte sie, ich werde Sie nicht verlassen, ich werde immer bei Ihnen sein, mein Freund!

Was hilft mir das, wenn ich Sie nicht sehe! rief ich in der Wildheit meines Herzens.

Oh! versetzte sie, und ihr Ton klang mild wie keines andern Menschen Stimme, Sie sollen mich auch sehen, wenn Gott es zuläßt, daß wir den Lebenden erscheinen. Heiligen [149] Sie Ihr Leben! Leben Sie es im Dienste Gottes und vergessen Sie der weißen Rose nicht! Sie soll Ihnen ewig eine Mahnung an die menschliche Schwachheit und ein Zeichen meiner Nähe sein. Sind Sie das zufrieden?

Ich hatte keine Antwort, als meinen stummen Schmerz. Sie ließ mich versprechen, daß ich ihr die Augen schließen und täglich für sie beten, daß ich ihre Mutter nicht verlassen, daß ich über ihren Bruder wachen und ihm ein Bruder bleiben wolle. Sie trug mir auf, ihre Asche nach Richten zu schaffen und weiße Rosen pflanzen zu lassen vor der Thüre der Familien-Gruft.

Von der Stunde ab war ich Herr geworden über mich für alle Zeit, sagte der Erschütterte mit Ergebung.

Im Frühjahr neigte sich ihr Leben zur Ruhe. Der Mai war zu Ende, als sie starb. Ihr Wille geschah. Wir brachten ihr Sterbliches nach der Heimath, ich habe die Rosenbüsche selbst gepflanzt, ich habe auch ihrer Mutter das Auge geschlossen und bin ein Hüter des Grabes geworden, das sie deckt. All mein Wünschen war am Ende, und der Ehrgeiz, das Verlangen nach weltlichem Ansehen und nach weltlicher Macht, die mich sonst zuweilen beseelt, waren damit für immer in mir erloschen. An dem Orte zu weilen, wo sie gelebt hatte, zu wirken, wo ihre Milde gewaltet, das war Alles, was ich begehrte; und mit inbrünstigem Verlangen, mit täglichem Gebet erwartete ich es, ob sie mir kein Zeichen geben würde. – So kam der Jahrestag ihres Todes heran. Ich hatte an seinem Vorabende lange im Gebet gewacht; am Morgen eingeschlummert, weckt mich ein Klopfen an der Thüre. Ich rufe herein, ein Knabe aus dem Dorfe kommt in mein Zimmer, und das Erste, was ich erblicke, ist ein Strauß von weißen Rosen, der mir in seiner Hand entgegenwinkt.

Er schwieg, von seiner Empfindung überwältigt, und blieb [150] lange in seinen Erinnerungen versunken. Dann richtete er sich empor und sagte mit sanfter Rührung: die weiße Rose hat mich seitdem durch mein ganzes Leben begleitet. Im Wachen und im Traume ist sie mir plötzlich entgegengebracht worden, wenn mein Sinn verdüstert war. Sie hat mich ermahnt und erhoben, und es wird sich ja wohl Jemand finden, sie auch mir einst auf den Sarg zu legen und sie auch auf mein Grab zu pflanzen.

Er erhob sich und trat an den Kamin, die Lichter zurecht zu rücken. Mit feuchtem Auge, unfähig, den Empfindungen, die sie bewegten, Worte zu leihen, sah Angelika ihm nach. Sie hatte in den ernsten, stillen Zügen des Caplans diese Vergangenheit nie gelesen; sie wußte jetzt, was ihn an der Arten'schen Familie festgehalten, was ihn bewogen hatte, in Richten zu bleiben, ihn, dem eine größere Wirksamkeit nicht hätte fehlen können, wäre er gegangen, sie auf weiterem Felde zu suchen.

Von einer Vorstellung zu der anderen, von einem Gedanken zu dem anderen schreitend, fragte sie nach langem Schweigen plötzlich: Und wer war der Knabe, woher brachte er Ihnen jene ersten weißen Rosen?

Er war der Sohn einer Witwe, den Fräulein Esther aus der Taufe gehoben hatte und den ich auf ihren Wunsch in einer gewissen Aufsicht hielt.

So war es Fräulein Esther, welche ihnen jene Rosen sendete?

Durchaus nicht! Die Mutter des Knaben, die ich in einer Krankheit hier und da besucht, schickte sie mir als Erstlinge des Jahres.

Und wieder schwieg die Baronin eine Weile; dann sagte sie: Sie erwähnten der Tante Esther, haben Sie dieselbe näher gekannt?

Ja, versetzte der Caplan. Sie hatte für ihre Nichte die [151] größte Zärtlichkeit, und Amanda hing an ihr mehr noch als an der eigenen Mutter. Auch war sie die Einzige, welcher Amanda, ohne daß ich's ahnte, in früher Zeit ihr Geheimniß anvertraut hatte, und fest und treu hat sie es ihr bewahrt.

So wußte Tante Esther also auch von der Verheißung der weißen Rose?

Sie hat nie davon gehört! versicherte der Caplan; ich selbst habe mich davon überzeugt.

Angelika war betroffen. Sie hatte noch während der Erzählung des Caplans mehrmals nach dem Kästchen geblickt, das sie bei seinem Eintreten in der Hand gehabt. Jetzt nahm sie es hervor, schloß es auf, und dem Caplan den Rosenkranz hinreichend, den sie in der Vase in Esther's Zimmer gefunden hatte, fragte sie ihn, ob er denselben vielleicht jemals bei der Tante gesehen habe.

Gott im Himmel, und grade heute! Heute grade, da die Geschichte jener Tage zum ersten Mal über meine Lippen kommt! Heute muß ich dieses Pfand in meinen Händen halten! rief der Caplan und blickte mit Rührung auf die Perlen nieder.

Die Baronin wiederholte die Frage. Sie wollte wissen, von wem die Gegenstände stammten, sie zeigte das Crucifix und das Gebetbuch vor; der Caplan betrachtete beides lange und still.

Daß die Sachen uns so überleben! sagte er nach einer Weile. Amanda hatte das Gebetbuch mit Rosenkranz und Crucifix von einem der armenischen Mönche auf San Lazzaro bei Venedig zum Geschenk erhalten. Sie fand eine große Erhebung in dem Gedan ken, daß schon seit Hunderten von Jahren gläubige Herzen ihr Gebet daran geknüpft, und sie starb mit diesem Rosenkranze in der Hand, mit diesem Crucifix auf ihrer Brust. Die Worte in dem Buche hat sie selbst geschrieben [152] mit letzter Kraft und bebender Hand, als sie mir auftrug, Alles dies nach ihrem Tode ihrer Tante zu senden. Ich würde, hätte ich's nicht mit angesehen, ihre klare, feine Schrift sonst nicht in diesen schwankenden Zügen wieder zu erkennen vermögen. – Er hielt das Buch lange in seiner Hand. Dann legte er es nieder und sagte gedankenvoll: Und grade Sie, Frau Baronin, mußten diese Heiligthümer finden! Grade heute mußte ich dieselben wiedersehen! – O, wie können Sie zweifeln, daß Gott denen, die er seiner Gnade würdigt, wundervolle Zeichen schickt?

Er sprach nicht weiter, die Baronin fragte nicht weiter. Aber sie löste den kleinen Ring von dem Rosenkranze ab und steckte ihn an ihre Hand, die sie dem Caplan reichte. Denken Sie, mein Freund, sagte sie, wenn Sie dieses Zeichen an meiner Hand erblicken, daß zwei edle Herzen, daß Amanda und Esther mir es zugewendet, daß sie mich Ihrer Gunst damit empfohlen haben, und stehen Sie mir bei, wenn ich einmal – sie sprach die Worte mit tiefer Erschütterung –, wie jene geprüften und bewährten Seelen, einen Stab brauche, mich darauf zu stützen, und ein Licht, mir zu leuchten durch das Dunkel!

Ja, das will ich, versetzte der Caplan; aber Sie bedürfen meiner nicht. Wer ihn suchet, den Erlöser, der findet ihn; wer nach seinem Lichte ruft, dem erhellt er den Pfad. Er hat Sie bereits zu sich gerufen; geben Sie sich ihm zu eigen, und sein Friede wird über Sie kommen hier und dort.

Er legte seine Hände segnend auf ihr Haupt und ließ sie zurück in stillem, eifrigem Gebet.

[153]
9. Capitel
Neuntes Capitel

Der Winter entschwand auf diese Weise, ohne daß der Baron an die Rückkehr auf das Land gedachte. Er fand Behagen an der Residenz, an der Folge immer neuer Zerstreuungen, und Alles, was er sich noch vor wenig Monaten von seiner Ehe, von seiner Häuslichkeit auf Schloß Richten versprochen hatte, ja, Schloß Richten selbst trat davor so sehr in den Hintergrund, daß es Angelika oftmals bedünken wollte, als mache es ihn unmuthig, wenn man ihn daran erinnere. Ein Mann, der, wie der Baron sein Leben hindurch auf äußere augenblickliche Erfolge gestellt gewesen, findet sich auf die Länge nicht leicht durch die Ruhe in seiner Ehe und in seinem Hause befriedigt, auch wenn er nicht Zerstreuung bedarf, um Vergessenheit dadurch zu erlangen.

Endlich, als die Mehrzahl der adeligen Gesellschaft in der Residenz sich anschickte, aus ihrem städtischen Winteraufenthalte wieder auf die Landsitze zurückzukehren, wurden auch in dem freiherrlichen Hause die Anstalten zur Abreise getroffen. Indeß der Baron fand immer noch einen Grund, einen Tag und wieder einen Tag zu zögern, und die Ungeduld seiner Gattin, die sich in die Stille ihres Schlosses hinaussehnte, steigerte sich daran bis zu einem krankhaften Verlangen nach der freien Natur. Als dann aber die Stunde der Abreise herankam, bemerkte der Baron, daß seine Gattin sich mit Wehmuth von dem Hause trennte, in das sie mit Widerstreben eingetreten [154] war. Sie fühlte nicht mehr die Zuversicht zum Leben, sie hatte nicht mehr die volle Hoffnung auf Glück, welche sie an ihrem Hochzeitstage beseelte; und seit sie dahin gekommen war, an ihren Brautstand und an ihre Jugend wie an eine glücklichere Vergangenheit zurück zu denken, flößte das ererbte Haus, in welchem Alles von einer Vergangenheit sprach, ihr keine sie befremdende Empfindung mehr ein. Zudem war ihr Gutes und Heilsames in dem Hause widerfahren. Sie hatte tiefer in ihr eigenes Innere blicken und sich an einen Helfer wenden lernen, der stärker war, als sie. Sie hatte in dem Caplan einen väterlichen Freund und Berather gefunden und den Glauben gewonnen, daß die verstorbenen Lieben den Lebenden verbunden und nahe bleiben. Das waren so viele Quellen neuen Hoffens, daß sie Muth für ihre Zukunft daraus schöpfte. Und als sie dann endlich sah, mit wie ungeheuchelter Betrübniß Mamsell Marianne von ihr Abschied nahm, als sie dieser immer noch einmal versprechen mußte, sie holen zu lassen, wenn die Baronin ihrer Pflege bedürfe, so schied sie endlich selbst nur mit Thränen und mit dem festen Vorsatze häufiger Wiederkehr von Tante Esther's Haus und von den Bildern derselben, die so manchen stillen Seufzer von ihren Lippen gehört, so manche heimlich geweinte Thräne aus ihren Augen hatten fließen lassen.

Indeß die Frühlingssonne will im Freien genossen sein, und der Baronin, die von Kindheit an sich in Garten, Feld und Wald bewegt, ging das Herz auf, als die Thore der Residenz endlich hinter ihr lagen und ihr Auge, nicht mehr von den Häuserreihen beschränkt, sich in weiter Ferne ergehen konnte. Je näher sie auf ihrer Reise der Heimath ihres Gatten kamen, um so leichter wurde ihr zu Sinn, ja, sie empfand es in ihrer fröhlichen Erregung kaum, daß die Zufriedenheit ihres Mannes nur eine getheilte war und daß er sich ihrer beginnenden Heiterkeit zwar erfreute, daß die frische, offene Zärtlichkeit, welche sie [155] ihm lange nicht zu zeigen vermocht hatte, ihm zwar Vergnügen bereitete, aber daß er sie im Grunde seines Herzens nicht mit ihr theilte, wie sie es erwartete. Er war nicht mehr derselbe, der er als Bräutigam gewesen war.

Gegen den Abend des sechsten Tages erreichten sie die Grenze der Herrschaft Richten. Der Baron machte Angelika darauf aufmerksam, und da sie ihn liebevoll und gerührt umarmte, bewegte es auch ihn.

Die Schulzen der Dörfer, die Schullehrer mit der ganzen Kinderschaar hatten sich unter einem für den Empfang der Gutsherrschaft errichteten Ehrenbogen aufgestellt, und der greise Pfarrer selbst war herbeigekommen, der jungen Gutsherrin mit ernster und freundlicher Ansprache an das Herz zu legen, was man von ihr für die Güter und ihre Bewohner erwarte und hoffe. Der Baron, obschon seinen Insassen und Untergebenen ein läßlicher Herr, hatte von jeher solche Akte und Feierlichkeiten als herkömmliche Huldigungen mit einer eben so herkömmlichen Herablassung hingenommen, und was sich etwa bei derlei Anlässen in seinem Gemüthe menschlich geregt, damit hatte er bisher leicht fertig zu werden gewußt. Heute war das anders. Er bemerkte die tiefe Bewegung seiner Frau, er sah ihre Freude darüber, daß sie in Richten war, wo sie weit sicherer heimisch zu werden hoffte als in der Residenz; es fiel ihm ein, daß diese Kinder um ihn her, die ihn und Angelika hier an der Grenze seiner Herrschaft willkommen hießen, einst den Sohn zum Herrn haben würden, den er von seiner Gemahlin erwartete, und heute hörte er mit anderem Ohr und anderem Herzen zu als sonst. Er war selbst gerührt, er hielt die Hand seines jungen Weibes fest und zärtlich gefaßt, er dachte seit langer Zeit zum ersten Male wieder daran, welch ein reines Herz, welch einen Schatz von Liebe und Güte er in Angelika besitze, ja, er begriff es kaum, weßhalb er alle diese Monate in einer Umgebung mit [156] ihr zugebracht habe, die ihr nicht erwünscht gewesen und durch die sie ihm selbst entzogen worden war. Er fühlte Lust, ihr dies zu sagen, aber er stand davon ab, weil es geheißen hätte, ihr einen Irrthum einzugestehen. Indeß er versprach sich, diesen Irrthum gut zu machen; er war glücklich, daß dies noch in seiner Macht stand, und in die Zärtlichkeit, mit welcher er Angelika an seine Brust drückte, mischte sich ein stolzes Gefühl, als man bald darauf, nachdem der Wagen das geschmückte Dorf passirt hatte, Schloß Richten auf seiner Höhe vor sich liegen sah.

Die Tage waren schon wieder lang, die Sonne noch nicht untergegangen, und die blasse Sichel des Neumondes schimmerte, von ihr erhellt, silbern und leicht an dem blauen Himmel. Alles war klar und eintönig in der Natur, nichts stach besonders beleuchtet hervor. Das nackte Erdreich der Heide, die brach liegenden Felder, die kahlen Weiden am Bache und die lange Linie des großen, sich weithin erstreckenden Waldes hatten alle denselben röthlich-braunen Ton, über den der bläuliche Nebel sich zu verbreiten anfing, und doch zeichneten sich die Gegenstände in der leichten Luft noch so bestimmt und deutlich, daß das Auge seine Freude daran hatte, daß die sanfte Einförmigkeit der Landschaft den Sinn beruhigte und man es sich gern vorstellen mochte, wie der vorschreitende Frühling hier bald schalten und walten und Alles mit seiner reichen Fülle schmücken und verschönen werde.

Die Baronin war von dem Anblicke des Schlosses überrascht, als hätte sie es nicht zuvor gesehen. Es übertraf an Stattlichkeit noch bei Weitem das Bild, das sie in ihrer Vorstellung davon bewahrt hatte, und daß der Bau in seiner Unregelmäßigkeit die Spur des Bedürfnisses oder der Laune an sich trug, welche die Herren von Arten von Geschlecht zu Geschlecht bewogen hatten, ihn zusetzend umzugestalten, das gab ihm den [157] Charakter des Historischen, gab ihm sein feudales Ansehen, indem es den Glauben an die Selbstherrlichkeit seiner Besitzer verstärkte.

Von der uralten, auf steiler Höhe rechts über dem Schlosse liegenden Stammburg, welche einst die Ebene und den Fluß beherrscht und reichen Zoll von der Schifffahrt auf demselben gezogen hatte, waren nur noch die Hälfte der Außenmauern und die beiden Thürme erhalten, die sich, breit und verbunden mit einer von vielen Fenstern durchbrochenen Zwischenmauer, unverkennbar als ein Bauwerk aus der Zeit der deutschen Ritter darstellten. Diese Burg war aber schon zur Zeit der Reformation verlassen worden, und man konnte es an der Architektur des jetzigen Schlosses noch deutlich wahrnehmen, daß die Herren von Arten, als sie aus ihrer Burg in das Thal hinabstiegen, weder die Macht jener Vorfahren gehabt hatten, welche einst die Burg gegründet, noch den Reichthum, mit welchem der Großvater des jetzigen Besitzers das Schloß im Style der Renaissance vergrößert und verschönert hatte. Die lange Hauptfronte desselben mit dem thurmartigen Aufsatze in der Mitte, den der Vater des Barons sich für seine astronomischen Liebhabereien hatte errichten lassen, daneben die beiden Seitenflügel, welche sich weitgreifend, wie vorgestreckte Arme, zur Rechten und zur Linken ausbreiteten und den großen, mit alten Bäumen umgebenen Rasenplatz umfaßten, machten einen schönen Eindruck.

Hier werde ich glücklich sein! rief die Baronin aus; hier, wo nichts mich von Dir trennt, wo nicht kalte gleichgültige und genußsüchtige Menschen sich zwischen uns stellen! Hier wirst Du mich lehren, was ich thun muß, Dir zu gefallen, Dir zu genügen und Dich zu beglücken! Hier, wo Du und Deine Vorfahren als Kinder spielten, hier ist unsere Heimath, hier gehören wir hin, und hier –

Sie verbarg ihr erglühendes Gesicht verschämt an ihres [158] Gatten Brust, aber ihre Worte ergänzend, fügte er mit gehobener Stimmung hinzu: Hier sollen Deine Kinder, unsere Kinder und Kindeskinder ihre Heimath haben und das Geschlecht aufrecht erhalten, das nun schon über vierhundert Jahre seinen Wohnsitz auf diesem Grunde und Boden hat.

Das walte Gott! sprach Angelika aus vollem, gläubigem Herzen und bog im nächsten Augenblicke den Kopf zum Fenster hinaus, als sie in das zweite Dorf der Herrschaft einfuhren.

Das ist Rothenfeld, sagte der Baron, und wie ein Schleier zog es über seine Mienen.

Es war vorbei mit der frohen Erhebung, die ihn noch eben erfüllte. Er hätte die Augen schließen mögen, um nicht den Weg zu sehen, den er so oft gekommen war; er hätte es nicht sehen mögen, das kleine Haus am Ende des Dorfes, dessen schmuckes Ansehen der Baronin auffiel und dessen geschlossene Laden ihrem Manne das Blut aus den Wangen weichen machten, als Angelika die Frage aufwarf, wem das Haus gehöre und warum es nicht bewohnt sei.

Mein Amme hat darin gelebt! antwortete der Baron, und mit plötzlichem Entschlusse setzte er hinzu: Aber es ist baufällig; ich muß es niederreißen lassen.

Angelika war zu sehr beschäftigt, um dies auffallend zu finden, denn die einzelnen Theile des Schlosses traten immer deutlicher hervor. Der Baron wies ihr die Fenster der Zimmer, die für sie bestimmt waren; die Grenze des Parkes wurde erreicht, und man langte noch zeitig genug im Schlosse an, um die Reihe der Gemächer bei Tageslicht zu durchwandern, um die junge Herrin die Aussicht aus dem Wohnzimmer genießen zu lassen, das der Baron ihr mit den antiken Statuetten ausgeschmückt hatte, um ihr lebhafte Aeußerungen der Freude über ihre neue Heimath und über die Landschaft um sie her zu entlocken.

[159]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Zu einer Wirksamkeit auf ihre Umgebung gehört für eine Frau ein besonderer Sinn. Gaben des Geistes und Güte des Herzens thun es nicht allein. Es ist dazu eine Beobachtung nöthig, welche das Bedürfen der Andern versteht und erräth, und jener selbstlose gute Wille, der das eigene Bedürfen im Verhältnisse zu dem fremden nicht überschätzt. Angelika war von einer Mutter erzogen, welche diese Eigenschaften in hohem Grade besaß und welche es verstand, ihren Gutsinsassen eine hülfreiche Herrin zu sein, wie sie ihren Kindern eine treffliche Mutter war. So hatte Angelika es früh gelernt, für Andere zu sorgen, und jetzt, da sich ihr in Richten ein eigener Wirkungskreis eröffnete, wie ihn ihre Mutter von je gehabt hatte, fing sie erst an, sich recht als Hausfrau und als Herrin zu empfinden.

Die alte Dienerschaft der Familie war ihr zusagender als die Lakaien, welche der Baron für die Dauer ihres Aufenthaltes in der Hauptstadt angenommen hatte; die großen, hellen Säle, die man theilweise in ihrer alterthümlichen Pracht belassen, die wohlerhaltenen, schweren und geschnitzten Eichenmöbeln derselben waren ihr noch lieber als die Zimmer, welche man modisch erneuert, und sie sprach es bald nach ihrer Ankunft in Richten zuversichtlich aus, daß sie sich hier nie einsam fühlen könne. Es sei ihr, als lebten alle die verehrten Vorfahren mit ihr, die hier in ununterbrochener Reihenfolge geschafft und gewaltet, um ihr den Wohnsitz zu bereiten, auf den sie stolz sei und den für [160] die Zukunft zu erhalten und zu schmücken ihr wie ein Priesterdienst erscheine. Sie besaß jenen lebendigen, historischen Sinn, der eine große Stütze für den Menschen, und den ererbter Besitz in bevorzugten Naturen zu entwickeln geeignet ist.

Es verging daher nur kurze Zeit, bis sie die Lebensverhältnisse der Leute kannte, welche ihr dienten, bis sie wußte, was geschehen müsse, sie zufrieden zu stellen, und was im weiteren Kreise in der Herrschaft ihres Mannes für das Wohl ihrer Bewohner noch zu leisten und zu schaffen sei. Es war das nicht Folge neugieriger, gewaltsamer Fragen, nicht absichtliches Erforschen. Weil sie theilnehmend war, kam ihr überall das Vertrauen entgegen, und der Caplan stand ihr mit Rath und Aufschluß überall zur Seite. Die ersten Tage in Richten flogen ihr auf solche Weise wie Stunden schnell dahin, und das schöne Frühlingswetter erhöhte ihr Behagen.

Der Baron, der es seit dem Tode seiner Mutter entbehrt hatte, eine Hausfrau im Schlosse walten zu sehen, hatte Freude an der stillen Thätigkeit seiner jungen Gattin, ja, er gestand ihr, daß sie hier erst recht an ihrem Platze sei, daß sie ihm nie zuvor besser gefallen habe, als hier in seinem Schlosse. Er verließ sie auch wenig, sein Auge folgte ihr überall, aber es kam Angelika bisweilen vor, als ziehe oft plötzlich ein schwermüthiger Ernst durch sein Gesicht, wenn er sie betrachte, als sei es nicht nur seine Liebe für sie, welche ihn in ihrer Nähe festhalte, sondern als bewache er sie und die Personen, welche sie bedienten, mit einer ihr unerklärlichen Achtsamkeit. Sie neckte ihn damit, er ließ es gelten; indessen von Tag zu Tag fiel es der Baronin mehr und mehr auf, daß in dem Betragen ihres Mannes auch hier in Richten ein fortdauernder Wechsel herrschte, daß er oft sehr reizbar, oft noch schwermüthiger war, als in der Stadt, ja, daß er recht eigentlich launenhaft geworden [161] und eine Unruhe über ihn gekommen sei, welche sie früher nicht an ihm wahrgenommen hatte.

Er machte im Hause Anordnungen, für welche sich kein Grund absehen ließ. Er fand die ganze Eintheilung der Zimmer, welche er vor seiner Verheirathung selbst veranlaßt hatte, unzweckmäßig. Bald wurde Dieses geändert, bald Jenes, und man war noch nicht vierzehn Tage im Schlosse, als der Baron seine nach der Terrasse und dem Flusse hinaussehenden Gemächer ein für alle Mal verließ und ein paar andere Zimmer für sich auswählte, welche nach der entgegengesetzten Seite gelegen waren.

Jede Frage, welche Angelika in diesem Betrachte an ihn richtete, verschlimmerte seine Stimmung, so daß sie sich in ihrer Sorge an den Caplan wendete, um von seiner Erfahrung sich Rath zu erholen. Der aber schob die Veränderung, welche mit dem Freiherrn vorgegangen sei, leichthin auf eine Hypochondrie, mit der man Nachsicht haben müsse, und ersuchte die Baronin, es ihren Gatten nicht merken zu lassen, daß man seine gesteigerte Reizbarkeit und seine Unruhe bemerke und beobachte. Geduld und Zeit würden Alles wieder heilen.

Angelika ließ sich die Trostgründe des Caplans gefallen, und der treue, herzenskundige Mann wußte sie so vielfach zu beschäftigen, so zuversichtlich auf bessere Tage hinzuweisen, daß seine Nähe ihr mehr und mehr zum Bedürfniß wurde. Auch der Freiherr schien die Gesellschaft seines alten Freundes jetzt in Richten nicht entbehren zu können. War er allein in seinem Zimmer, so forderte er fast immer die Anwesenheit des Caplans, und selbst wenn er sich bei der Baronin befand, zog er ihn meistens als Dritten hinzu.

Seine Lust an Geselligkeit, an Zerstreuungen schien er in der Residenz völlig gesättigt zu haben, denn er verließ das Schloß sehr selten, und selbst die nothwendigen Besuche in der Nachbarschaft, von denen häufig die Rede war, wurden immer [162] noch hinausgeschoben. Der Baronin fiel es nicht auf, wie einsam und still man in dem sonst so gastlichen Schlosse lebte. Sie war hingenommen von den neuen Verhältnissen, in denen sie sich bewegte, von der Sorge um ihren Gatten, von der Hoffnung auf ihr Kind, und der Verkehr mit den beiden Männern gab ihrem Herzen und ihrem Geiste reiche Nahrung aller Art.

Es waren bald literarische, bald künstlerische Gegenstände, welche die Unterhaltung bildeten, aber vor Allem liebte der Freiherr es jetzt, die großen Grundsätze der sittlichen Weltordnung in den Bereich des Gespräches zu ziehen. Ethische und dogmatische Fragen, die angeborne Sündhaftigkeit des Menschen und die Nothwendigkeit seiner sittlichen Erhebung lagen ihm offenbar sehr am Herzen, während der Gedanke an den Tod, an die Unsterblichkeit und an die Art der Fortdauer, welche dem Menschen gegeben sei, ihn jetzt nicht minder lebhaft als in Berlin, wennschon in weniger phantastischer Weise beschäftigte. Aber auch das Nächstliegende wurde erwogen. Angelika und der Caplan fanden nach solchen Gesprächen den Gutsherrn meist geneigt, Verbesserungen in der Lage seiner Leute zu bewilligen und manchen vorhandenen Mißständen Abhülfe zu bereiten.

Es war seit Monaten festgesetzt worden, daß die gräfliche Familie von Berka zu dem Osterfeste, das diesmal spät im Jahre fiel, ihren ersten Besuch bei der Tochter machen sollte, und man fing bei Zeiten an, sich darauf vorzubereiten. Der Baron, dessen Stimmung sich nicht bessern wollte, ließ seiner Gattin in allen ihren Vorkehrungen freie Hand, ja, er willigte endlich sogar darein, die lange verschobenen Antrittsbesuche zu machen, damit es seinen Schwiegereltern bei ihrer Anwesenheit nicht an Gesellschaft fehlen möge. Indeß er ließ sich zu allen diesen Dingen nur bestimmen, er hatte, wie es schien, für den [163] Augenblick alle Lust und Kraft zu irgend welchem selbstständigen Entschlusse verloren. Wo aber der Hausherr krank, wo das Oberhaupt der Familie selbst der Schonung bedürftig ist, muß die Hausfrau nothwendig an seine Stelle treten, und Angelika fand sich unter des Caplans Beistand schnell und leicht in diese Pflicht.

Je näher die Ankunft der Ihrigen herankam, um so freudiger sah sie ihr entgegen. Sie wünschte, vor ihrer Familie Ehre mit den Besitzungen ihres Mannes einzulegen, als deren Theilnehmerin sie sich jetzt fühlte, und sie hatte eben die lange Reihe der Zimmer mit Wohlgefallen an ihnen durchschritten, als sie sich zu ihrem Manne begab, um ihn zu einer gleichen Besichtigung aufzufordern. Bei dem Freiherrn eintretend, fand sie ihn aber mit dem Caplan in einem Gespräche, das plötzlich abgebrochen wurde. Der Caplan steckte einen Brief in seine Tasche, der Baron wendete sich flüchtig ab, Jener verließ das Zimmer, und voll Bestürzung fragte Angelika, ob etwas Unangenehmes gemeldet, etwas Schlimmes vorgefallen sei?

Der Freiherr versicherte, daß dies nicht der Fall sei; sie ersuchte ihn, ihr zu sagen, wovon er eben jetzt mit dem Caplan gesprochen habe, und dies zu thun, schlug er ihr ab. Weil sie aber grade heiter und guten Muthes war, wollte sie ihren Willen durchsetzen. Sie bat, sie schmeichelte, sie umarmte ihren Mann, es half ihr nicht, und wie man denn, eben wenn man in guter Laune ist, eine abschlägige Antwort oft um so schwerer fühlt, rief sie plötzlich betrübt und gegen ihre Gewohnheit heftig werdend, die Worte aus: Es ist aber wirklich, als sollte ich mich nie mehr recht von Herzen freuen!

Ihr Ton, ihre Mienen waren noch bezeichnender für ihre Traurigkeit, als ihre Worte. Der Freiherr wurde davon gerührt. Er ging an sie heran, nahm ihre beiden Hände, sah ihr lange und prüfend in die Augen, und fragte dann mit [164] einem Ausdruck ernster Trauer: Siehst Du wohl, daß Deine Ahnung Dich nicht betrogen, daß Dein erstes Empfinden bei dem Begegnen mit mir Dich nicht getäuscht hat?

Sie war auf solche Frage nicht vorbereitet, und dieselbe fand sie daher fassungslos. Was mußte seither in dem Herzen des Freiherrn vorgegangen sein, daß er diese Frage an sie richten konnte? Sie hätte ihm mit einem Worte sagen mögen, was sie fühlte, aber das war mit einem Worte nicht auszusprechen. Hatte er denn nicht gesehen, wie sie ihn liebte, nicht gemerkt, wie sie sich um ihn sorgte? Beachtete er denn nur ihr äußeres Thun? Der Gedanke, daß er vielleicht seit langer Zeit zum ersten Male an ihr Empfinden denke, überwältigte sie, und verstummend lehnte sie den Kopf an seine Brust.

Er zog sie an sich und küßte ihre Stirne. Armes Weib! sagte er, ja! Du hättest ein heiteres Loos, einen anderen Mann verdient!

Angelika erschrak vor dieser Gedankenfolge des Barons, und beide Arme um seinen Hals schlingend, rief sie: Franz! Um Gotteswillen, das sage, das denke nicht! Was fehlt mir denn, als nur Dich wieder heiter zu sehen? Was peinigt mich denn, als die Sorge, Dich von einem Kummer beherrscht zu wissen, den Du mich nicht theilen läßt? Ich sehe, daß Dich etwas drückt, daß Du mir etwas verbirgst, daß auf Deinem Leben etwas lastet, und ich darf Niemanden fragen, was es ist, da Du es mir verschweigst. Oft ist es mir, als wisse es ein Jeder außer mir, als könne, als müsse ich es erfahren, es ablesen können von diesen Wänden, es geschrieben finden in den Mienen derer, die mir nahen, und ich verzage dann an mir selbst, an meinem Herzen, an meinem Verstande, an meiner Liebe zu Dir; denn ich meine, die Liebe müsse mich seherisch machen – aber es ist Alles umsonst! Du bist und bleibst unglücklich, seit wir hier sind, und ich ahne nicht, wodurch!

[165] Die Thränen traten ihr in die Augen, der Baron sah finster aus und war sehr bleich geworden. Kaum bemerkte sie das, so fielen ihr die Rathschläge des Caplans ein. Sie nahm sich zusammen, warf scherzend den Kopf zurück, zerdrückte die Thränen in ihren Augen und sagte mit lächelndem Munde: Aber wie komme ich mir denn vor? Ich wollte Dir erzählen, wie glücklich und wie stolz ich bin, die Eltern übermorgen hier in unserem Schlosse zu empfangen, und ich weine, weil Du es mir verweigerst, mir einen Brief zu zeigen, der mich sicherlich nichts angeht. Vergieb mir, geliebter Mann, und sei wieder gut!

Sie reichte ihm ihren Mund zum Kusse, er drückte ihr ernst die Hand. Armes Weib, wiederholte er, Du duldest, was Du nicht verschuldet hast, und wir sprechen von einer himmlischen Gerechtigkeit!

Er wendete sich von ihr und entfernte sich schnell. Rathlos blickte sie ihm nach. Die Ahnung, daß irgend eine schwere Verschuldung das Gewissen ihres Mannes belaste, regte sich wieder in ihr. Aber was konnte es sein? Was war geschehen? Wann war es geschehen?

Sie wollte ihm nacheilen, ihn auf ihren Knieen beschwören, ihr zu vertrauen. Jung, wie sie war, fühlte sie die Kraft, Alles mit dem Manne zu tragen, den sie liebte; indeß die Gewohnheit der Achtung hielt sie ab, ihrem Gatten auszusprechen, daß sie ihm ein Schuldbewußtsein zuerkenne, und selbst dem Caplan wagte sie nicht zu entdecken, was sie beschäftigte und bekümmerte.

Die Nacht verging ihr ohne Ruhe, und da die Jugend vor langen, unausgesetzten Qualen zurückschreckt, fing sie am andern Morgen wieder an, die Gedanken auf die Ankunft der Ihrigen hinzuwenden. Das erschloß ihr das Herz. Sie suchte Gründe hervor, sich zu beweisen, daß sie zu schwarz gesehen [166] habe, sie wollte selbst ihre Sorgen verscheuchen, um den Ihrigen ein heiteres Angesicht zu zeigen.

Am Mittage, als es warm und schön war, trat die Baronin aus dem großen Saale des Erdgeschosses auf die Terrasse hinaus und blieb eine Weile unter der Thüre stehen, sich des Anblicks zu erfreuen. Leer und weit, wie die Terrasse ohne den Schmuck der Orangenbäume sich ausnahm, hatte sie in ihrer Anlage doch etwas Großartiges, das auch in solchem Zustande gefallen und imponiren konnte. Die Hermen mit den Köpfen der griechischen und römischen Dichter standen feierlich auf der Höhe und sahen ernsthaft auf den Beschauer hin, aber rund um sie her waren die Bäume noch kahl, und der Blick schweifte, durch die Freiheit in die Ferne gelockt, bald von den Steingebilden zu dem Lebendigen hinüber, das sich in der Natur zu regen begann.

Während die Baronin die Treppe hinabstieg, hielt sie sich mehrmals damit auf, die Sträuche und Büsche zu beiden Seiten derselben zu betrachten, denn überall färbten die Stengel sich schon röthlich oder grün, überall waren die Knospen geschwellt, daß man meinte, gleich heute müsse der warme Sonnenstrahl sie zum Aufbrechen bringen, gleich heute müßten die Blätter sich entfalten und den ersten wunderbaren Duft des frischen Grüns durch die Lüfte strömen.

Unten an der Buchsbaum-Einfassung der sternförmig sich wie ein Teppich ausbreitenden Beete schimmerten weiße Köpfchen hervor. Die Schneeglöckchen hatten sich in der Frühe herausgemacht, und Angelika bückte sich, die halberblühten zu brechen, um sie zu schnellerem Erschließen in ihre Zimmer mitzunehmen, und sie dann ihrem Gatten zu bringen, wie sie seit ihrer ersten Kindheit alljährlich den kleinen Strauß von Schneeglöckchen der Mutter als Liebesgabe, als erstes Zeichen des Frühlings zu bringen gewohnt gewesen war. Das bewegte ihr im Innersten [167] das Herz, das ohnehin von all dem quellenden Werden um sie her bei dem Gedanken an das junge Leben, das sie ihrem Manne nun bald selbst als Erstlingsgabe ihrer Ehe in die Arme legen werde, in schnelleren Schlägen pochte. Ihre ganze Seele war ein Gebet. Sie war voll Dank gegen den Schöpfer, der ihr Lebensloos bestimmt und geleitet, voll Liebe für die Eltern, voll Sorge und Zärtlichkeit für ihren Gatten und voll der seligsten Freude bei der Hoffnung auf ihr Kind.

Alles, was sie umgab, hatte jetzt dreifachen Werth für sie, Alles, was sie liebte, ward in ihrem Geiste neben einander nur noch enger verbunden durch das ersehnte Kind. Sie sah es schon wachsen und gedeihen und spielen auf diesen Plätzen, unter dem Schatten der Bäume, der hier Geschlecht nach Geschlecht beschirmt; es dünkte ihr unmöglich, daß der Sinn des Vaters sich nicht an seinem Kinde erheitern sollte. Hoffnung und Zuversicht reichten sich in ihrem Herzen die Hand, daß die Freude ihre Schritte beflügelte und sie weiter und weiter am Ufer des Flusses vorwärts ging, mit sich selbst beschäftigt und doch fortgelockt von jedem neuen Anreize, den der Frühling darbot.

Hart am Wasser, wo das dichte Gebüsch den Sonnenstrahlen wehrte, lag am Rande noch eine leichte Eisschicht als Zeichen, daß die Nacht noch kalt gewesen sei. Bedächtige Dohlen hüpften prüfend darüber hin, wendeten die Köpfe mit den klugen Augen vorsichtig nach allen Seiten, tranken kräftig schluckend ein wenig, und schwangen sich dann in die Höhe, um bald darauf an anderer Stelle niederzufallen und das gleiche Treiben zu wiederholen. Aber mitten in dem befreiten Wasser, da, wo die Sonne es erwärmte und vergoldete, schossen schon pfeilschnell die kleinen Fische aus der Tiefe herauf, sich zu sonnen und der neuen Wärme zu genießen, während die neuangekommenen Schwalben mit schnellem Flügelschlage sich bis [168] tief auf die Fluth herabsinken ließen und im Streifzuge über das Wasser wieder die erste Jagd versuchten.

Angelika sah dem Naturleben lange sinnend zu. Mit einem Male schien es ihr, als hinge an der Wurzel einer Weide, die sich weithin in das Wasser erstreckte, etwas, das sich hin und her bewegte, ohne doch von der Stelle zu kommen. Sie betrachtete es genauer, es dünkte sie ein Stück Zeug zu sein, das sich von dem Wasser aufblähte, und bald kam es ihr vor, als sähe sie unter der Hülle und unter dem Wasser die Formen einer menschlichen Gestalt. Sie ging erschrocken vorwärts nach der Brücke, wo der Gärtner beschäftigt war, und machte ihn aufmerksam. Er blickte hin, erschrak gleichfalls, und sagte, es werde wohl irgend ein alter Lumpen sein, den man, Gott weiß wo, in das Wasser geworfen und den der aufgehende Strom bis hierher mit sich geführt habe. Dabei versuchte er aber, indem er sich nach der anderen Seite wendete, die Baronin zum Mitgehen und zum Verlassen des Platzes zu bewegen; indeß diese ließ sich so leicht nicht bestimmen, wo sie ihrem Auge trauen zu können glaubte. Sie hieß den Gärtner, ihr zu folgen; es waren inzwischen auch ein paar der Frauen, welche die Wege für die erwartete Ankunft der Gäste reinigten und harkten, bis an das Ufer angelangt, und als die Baronin mit dem Gärtner zum zweiten Male die Stelle am Flusse erreichte, hatten schon die Frauen sich hinabgebückt, und zogen mühsam den Leichnam eines Weibes aus dem Wasser, der kaum noch menschliche Züge verrieth.

Um Gottes willen, gnädige Frau Baronin, kommen Sie fort von hier, das ist nichts für Sie! rief der Gärtner dringend.

Aber Angelika, obschon sie vor Entsetzen schauderte, meinte sich überwinden zu müssen.

Ist hier denn Jemand ertrunken? fragte sie.

Der Gärtner verneinte es. Wer weiß, von wo die Leiche [169] herabgekommen ist! sagte er, und auch die Frauen schwiegen vorsichtig. Aber ein kleines Mädchen, die Tochter eines Gartenarbeiters, das von der anderen Seite neugierig herbeigelaufen war, als es den ungewöhnlichen Vorgang bemerkte, sagte ganz verwundert: Kennt Er denn die Pauline nicht mehr, Herr Weißhold? Das ist ja die Pauline aus Rothenfeld, die sich ins Wasser gestürzt hat, den Morgen, wie der Herr Baron zur Hochzeit gefahren ist!

Unsinn, Unsinn! rief der Gärtner und schob das Kind mit heftigem Stoße auf die Seite.

Aber die Baronin, welche keine Sylbe von den Worten der Kleinen verloren hatte, hielt sie zurück, und bleich, mit erstarrenden Zügen fragte sie: Aus Rothenfeld ist diese Todte?

Ja wohl, aus dem Hause, das jetzt eingerissen wird, versetzte das Kind mit aller Bestimmtheit, welche Kinder in ihre Rede zu legen wissen, wenn man dieselbe bezweifelt. Ja wohl, es ist die Mamsell aus Rothenfeld.

Und Pauline heißt sie? wiederholte die Baronin, aber es waren die letzten Worte, welche sie sagen konnte. Sie griff mit der Hand nach dem Gärtner, als suche sie eine Stütze, und sank ohne Laut besinnungslos zusammen.

Man trug die Ohnmächtige in das Schloß; der Schrecken, die Aufregung waren allgemein. In wenigen Minuten wußte die ganze Dienerschaft, was vorgegangen war. Die Sorge um die junge Herrin, das Mitleid mit ihr ließen sich vernehmen, wo zwei Menschen beisammenstanden. Ein reitender Bote ward zum Arzte in die nächste Stadt geschickt, man spannte den Wagen an, der jenem folgen sollte. Die Kammerfrau und der Caplan waren um die Leidende beschäftigt, der Baron stand, ein Bild der Vernichtung, an ihrem Lager.

Es währte lange, ehe ein leiser Seufzer den Geängstigten verrieth, daß Angelika dem Leben wiedergegeben sei. Als sie [170] erwachte, fielen ihre ersten Blicke auf den Baron. Er hatte sich zu ihr geneigt und küßte, niederknieend, leise ihre Hände. Sie wehrte es ihm nicht, aber ihr Auge ruhte mit einem Ausdruck der Trauer auf ihm, der ihm das Herz durchbohrte. Er wagte kaum zu fragen, wie sie sich fühle, denn ihre Klage wäre eine Anklage für ihn gewesen, und gleichsam um sie zu beruhigen, sagte er ihr, daß nach dem Arzte gesendet sei und daß er sicher nicht auf sich warten lassen werde.

Sie bewegte leise verneinend das Haupt: Ich bedarf des Arztes nicht, entgegnete sie. Das ist der Arzt, den wir brauchen, und er wird uns nicht verlassen! – Sie reichte dabei dem Caplan die Hand, er legte sie in die ihres Gatten, so blieben sie eine Weile schweigend beisammen. Es war ein Unabänderliches geschehen, man mußte versuchen, zu sich selber zu kommen, und die Baronin war es, welche sich zuerst ermannte. Sie hatte kein Urtheil über die Zeit, welche seit ihrer Ohnmacht verflossen war, und fragte danach. Man sagte ihr, daß es Mittag sei.

Morgen um diese Stunde werden sie kommen! meinte sie, ihrer Eltern gedenkend. Dann richtete sie sich auf und verlangte, sich zu erheben. Der Baron wünschte sie davon zurück zu halten, auch der Caplan und ihre Kammerfrau machten Einwendungen, sie wollte nicht darauf hören.

Ich muß wohl sein, wenn meine Eltern kommen, sagte sie, und ich habe auch keine Schmerzen. Laßt nicht mehr davon die Rede sein; aber ich habe Ruhe nöthig, ich möchte allein bleiben für einige Stunden.

Man fügte sich ihrem Wunsche. Als der Caplan und ihre Kammerfrau sich entfernt hatten, trat der Baron an sie heran, um ihr die Hand zu geben und ihr zuzusprechen, ehe er sie verließ; aber sie nahm die dargebotene Hand nicht an.

Es hat keinen Segen gebracht, sagte sie, daß wir uns die [171] Hände reichten, und wenn es wieder geschieht, so muß es in einem anderen Sinne und in einem anderen Geiste sein. Auf dem alten Wege kann ich nicht weiter gehen ....

Höre mich, Angelika, bat der Baron.

Nein, jetzt nicht! versetzte sie mit großer Festigkeit. Ueberlege auch Du, was uns beiden frommt. Ich hatte mir geschworen, mich ganz und überall Deiner Führung zu überlassen, als ich Dir Treue gelobte. Den ersten Eid kann ich nicht mehr halten, den zweiten werde ich halten, und Gott wird mir helfen und mir sagen, auf welche Weise ich es thun, auf welche Weise ich Dir meine Treue bezeugen soll. Laß mich mit mir und meinem Gott allein! –

Der Baron blieb vor ihr stehen; es überkam ihn die Ahnung, daß in dieser jungen Frau eine Stärke des Willens und des Charakters verborgen liege, die er nicht in ihr vermuthet hatte, und in die widersprechenden Gefühle, die ihn erschütterten, in das Entsetzen, welches das Auftauchen der Leiche in ihm hervorgerufen, in den Schmerz und in die Sorge, welche die Ohnmacht seiner Gattin ihm verursacht hatte, in das Bangen vor der Zukunft seiner Ehe, in das Widerstreben endlich, mit dem er in diesem Augenblicke an das Eintreffen der gräflichen Familie gedachte, mischten sich eine Scheu und ein Widerwille gegen die Herrschaft, welche Angelika über ihn erlangen zu wollen schien.

Bedenke, was Du thust, sagte er nachdrücklich; bedenke, daß Verzeihen und Trösten die schönsten Vorrechte des Weibes sind, und daß man Geschehenes zum Guten wenden muß, da es unmöglich ist, es ungeschehen zu machen! Hilf mir in dem Zwiespalt, der mich bedrängt, und es wird mich glücklich machen, es Dir zu danken!

Er war bewegt, als er das aussprach; in Angelika's Mienen regte sich kein Zug. Ja, Gott gebe, daß ich uns [172] helfen kann, so Dir wie mir, sagte sie seufzend, ihre Augen mit dem Ausdrucke tiefer Traurigkeit auf ihn gerichtet, aber keine Thräne milderte ihren Ernst. Das peinigte den Baron. Er versuchte, sie zum Sprechen zu bringen, ihr Erklärungen zu geben – es war umsonst, sie wollte ihn nicht hören, ehe sie sich gesammelt hatte, und er mußte endlich darein willigen, von ihr zu gehen, so ungern er sie sich selber überließ. Er fürchtete Angelika, das konnte er sich nicht verbergen, und eine Frau, welche er auch nur einen Augenblick gefürchtet hat, die liebt ein Mann wie der Baron nicht mehr.

Als Angelika sich allein in ihrem Zimmer fand, rang sich ein Aufschrei der Verzweiflung und des Jammers aus ihrer Brust hervor. Sie hätte beten mögen, aber sie vermochte es nicht. Das Herz in der Brust war ihr wie gelähmt. Sie hing an dem Baron stärker, leidenschaftlicher, als es ihr gegeben war, dies äußern zu können. Sie war sein Weib geworden in der reinsten Hingebung, mit dem Gefühle des Glückes, und er hatte sie an sein Herz geschlossen, einer Anderen, Paulinen's gedenkend, die eben in jenem Augenblicke, der Heirath des Barons fluchend, sich den Tod gegeben hatte!

Diese Vorstellung erdrückte die Baronin. Sie fühlte sich entwürdigt und mißhandelt, ihre Ehe wurde ihr dem eigenen Gatten gegenüber zu einer Schmach. Der Baron, zu dem sie einst mit verehrendem Vertrauen emporgesehen hatte, stand als ein Schuldbeladener vor ihr, und wie ihr Herz sie auch drängte und mahnte, sich dem Vater ihres Kindes zuzuwenden, wie es sie auch zog, Hülfe gegen all das Elend bei ihm selbst zu suchen, ein unüberwindliches Entsetzen hielt sie davon zurück. Wohin sie das Auge richtete, woran sie auch dachte, Paulinen's Schatten stieg überall vor ihr empor. Jetzt begriff sie es, warum der Baron die Zim mer gewechselt hatte, warum er es nicht hatte ertragen können, auf den Fluß hinab zu schauen. [173] Bangte es doch ihr selbst am hellen Tage in ihrem eigenen Zimmer, daß sie nicht wagte, an das Fenster zu treten, aus Furcht, zu sehen, was sie nicht glaubte ertragen zu können. Das Alleinsein ängstigte sie, aber sie konnte sich nicht entschließen, ihre Bedienung zurück zu rufen. Es wußte ja ein Jeder, was in diesem Hause vorgegangen, und auf welche Weise, über wessen Leiche sie als Herrin in dasselbe eingezogen war.

Beten, beten! rief sie immerfort, indeß das Gebet wollte ihrem Herzen nicht entströmen, sie vermochte ihren Geist nicht aus seiner Niedergeschlagenheit zu erheben. Sie kam sich selbst als eine schwere Sünderin vor, und doch wollte sie beten, nicht nur für sich, sondern auch für ihren Gatten und die Todte. Sie fühlte, als habe sie eine ihr unerreichbare Höhe zu erklimmen, sie sehnte sich nach einer hülfreichen Hand, sie empor zu führen, ihr das Thor des Himmels zu öffnen, in den sie ihre Gebete zu schicken wünschte; da fiel ihr Auge auf Amanda's Betring, den sie am Finger trug, und wie ein Labsal ertönten die Worte: »Mein Freund in der Noth, der Stab, der mich hielt, da ich schwankte, die Stütze, an der ich mich erhob, das Licht, dessen Leuchten mir die lange Nacht erhellen wird!« in ihrem Herzen plötzlich wieder.

Du sollst mein Beispiel sein; Du Heilige und Reine! rief sie aus. Selbstüberwindung und Entsagung! das ist's. – Sie sank auf ihre Kniee nieder, und ein heißes Gebet um Hülfe und Erlösung befreite ihr das Herz.

Sie blieb lange allein in ihrem Zimmer. Als sie dann aus demselben hervorkam, begab sie sich graden Weges zu dem Baron. Er ging ihr schweren Herzens entgegen, weil er nicht wußte, was er von ihr zu erwarten habe, und weil er Mitleid mit ihr fühlte. Auf seine Frage nach ihrem Ergehen sagte sie: Trage keine Sorge um mich, es ist mir besser, als in den Tagen angstvoller Ungewißheit. Ich weiß jetzt, was mein Beruf [174] ist, und so gewiß als ich Dich liebe, ich werde trachten, ihn nach besten Kräften zu erfüllen.

Sie reichte ihm die Hand zum Zeichen ihres Versprechens; und da sie nicht weniger gerührt war, als er selbst, schloß er sie in seine Arme. Sie wehrte ihm das nicht, ja, es wollte ihn bedünken, als sei ihre Hingebung weicher und freier als seit langer Zeit. Er leitete sie zu einem Sessel und knieete an ihrer Seite nieder, sie sanft umfassend. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, und da sie in sein ernstes Antlitz, in seine Augen blickte, die so fragend und schmerzlich auf sie gerichtet waren, fing sie noch einmal zu weinen an.

Siehst Du es wohl, daß Du ein besseres Loos, einen andern Mann verdient hättest, als eben mich? wiederholte er in der Erinnerung an ihr gestriges Gespräch.

Sie schüttelte leise das Haupt. Mir fehlte nichts als Dein Vertrauen, Dein volles, ganzes Vertrauen! betheuerte sie. O! wenn Du es gewußt hättest, wie bitter es mir oftmals ankam, mich als eine Fremde in Deinem Leben zu fühlen, während ich doch Dein Weib war! Wenn Du ahnen könntest – – Sie brach plötzlich ab und fragte leise: Wer war die Todte? wer war sie? das muß ich wissen.

Es kam dem Freiherrn hart an, das erste Wort zu sprechen, aber da er es gethan hatte, erleichterte es ihm das Herz. Er erzählte ihr Alles, Alles, was er einst dem geistlichen Freunde gestanden hatte. Angelika hörte schweigend zu. Die Dämmerung brach allmählig herein, des Freiherrn Mittheilungen wurden dadurch begünstigt. Er konnte nicht sehen, welche Wirkung sie auf seine Gattin übten. Mit lebhaften Worten schilderte er ihr den Zustand, den Zwiespalt, in welchem er sich in den Tagen vor seiner Hochzeit befunden hatte.

Was ich in jenen Augenblicken auch an Dir verschuldet, wie sehr meine Verirrung Dich auch gepeinigt haben mag, [175] sagte er, mein Leiden war noch unerträglicher. Ich konnte meine Gedanken nicht sondern, ich war, ein Verzweifelnder, umhergerissen zwischen den widersprechendsten Empfindungen. Wenn ich Dich sah, in Deiner Liebe, in Deiner Unschuld und in Deinem Vertrauen, so rief es in mir: Du bist ein Mörder und verdienst sie nicht! Wenn der Schmerz um Pauline mir das Herz vergiftete, so lockte es mich in Deine Nähe, und ich dachte: ihre Liebe wird dich erlösen, bei ihr wohnt Friede, bei ihr werde ich vergessen, an ihr werde ich sühnen, was ich dort verschuldet habe. Ich war meiner selbst nicht mächtig! Nur daß ich unglücklich war und daß ich Dich glücklich zu machen wünschte, das stand fest in mir. – Da, an dem Abende vor unserer Hochzeit, als man im grauen Saale den Kaffee eingenommen hatte, kam man auf die körperliche Erscheinung der Verstorbenen zu sprechen. Man wußte nicht, was man mir that, als man meine Ansicht darüber zu hören verlangte. Ich vermochte mich nicht zu überwinden, nicht auf die Scherze Deines Bruders einzugehen, als er mich neckend anrief, aber unwillkürlich sah ich nach der Stelle, auf die er zeigte, und als man die Thüre öffnete, als das Licht in den Saal einströmte, da sah ich unwiderleglich und völlig klar Pauline auf dem Hintergrunde dieses Lichtes vor mir, das Auge finster und klagend auf mich gerichtet.

Er hielt inne, und mit leisem, melancholischem Tone fuhr er nach längerem Schweigen fort: So habe ich sie gesehen, fast alltäglich in der Einsamkeit meiner Zimmer, so hat sie sich oft emporgerichtet zwischen mir und Dir. Nur unter dem Menschengewühl, nur in der völligen Zerstreuung war ich sicher vor ihr. Keine innere Kraft schützte mich gegen sie. Das war es, was mich in der Residenz von Dir entfernte, was mich die Gesellschaft als eine Befreiung suchen ließ; das war es, was mich hier bestimmte, die Zimmer zu verlassen, die mich mit dem [176] Blicke auf den Strom an ihren Untergang erinnerten; das ist es, was mich zur Verzweiflung bringt. Ich habe sie mehr geliebt, als ich es ahnte und wußte; ich liebe Dich, Angelika, Dich, Du reines, edles Weib! mehr, als Du es ermessen kannst. Ich kann sie nicht vergessen, Dich nicht entbehren; sie habe ich in den Tod getrieben, Dein Leben habe ich vergällt! – Ich hatte immer gemeint, einen starken Geist zu haben, ich habe mich über mich selbst getäuscht. Schwach, wie ich mich fühle, möchte ich mich im Glauben erheben und sühnen und büßen; aber der Glaube versagt sich mir. Was bleibt mir übrig? Sage selbst – was bleibt mir übrig?

Angelika hörte den Ton seiner tiefen, verzweifelnden Verzagtheit, sie sah in dem letzten Scheine des Dämmerlichtes, der durch die Fenster drang, die Versunkenheit, in der ihr Gatte das Haupt auf seine Hände fallen ließ, und Alles vergessend, außer dem Leiden des Mannes, dem sie Treue gelobt für gute und für böse Stunden, rief sie: Dir bleibt die Barmherzigkeit Gottes, die büßende und sühnende Reue, und die Liebe! – Ja, die Liebe! wiederholte sie, und schloß ihn an ihre Brust, die Liebe, die mit Dir leiden und büßen und sühnen will, was Du verschuldet hast, um ihretwillen. Komm, richte Dich auf! Ich bin bei Dir, Franz! ich will bei Dir sein in jedem Augenblicke, und mit Dir beten um Beruhigung und Frieden, und Gott wird uns helfen. Er hat mir den Weg gezeigt! Nicht umsonst ist die Mahnung Deiner Schwester an mich erklungen, nicht umsonst ist Amanda's Angedenken in meine Hand gelegt worden. Ihr Wort hat mich heute aufgerichtet, es soll uns überall gegenwärtig sein. Wir haben einander! wir haben in dem Caplan einen treuen Freund und Führer, und unser Erlöser ist ja auch für uns gestorben. In seinem Namen reiche mir aufs Neue Deine Hand, in seinem Namen laß uns vorwärts [177] gehen. Komm, komm, mein Freund! komm, und richte Dich auf!

Sie schlossen einander in die Arme, der Baron sah zu ihr wie zu einer Heiligen empor. Er knieete vor ihr nieder, er küßte ihre Hände voll inbrünstigen Dankes, er gelobte sich ihrer Führung für alle Zukunft an. So innig verbunden waren sie einander nie gewesen. Angelika erhob sich zuerst. Sie hing sich an ihres Gatten Arm, und ihn mit sich fortziehend, führte sie ihn in das erleuchtete Nebengemach, in welchem das helle Licht ihnen zu Hülfe kam, die Aufregung ihrer Herzen allmählich zu besiegen und sich äußerlich in das Geleise des alltäglichen Lebens zurückzufinden, während die Feier der verwichenen Stunde noch in ihrem Herzen nachzitterte.

[178]
11. Capitel
Elftes Capitel

Am folgenden Morgen, ganz in der Frühe, begrub man Pauline, fern von den anderen Todten in einer Ecke an der Mauer, auf dem Kirchhofe von Neudorf. Am Vormittage fuhr der große Reisewagen der gräflich Berka'schen Familie auf den Hof des freiherrlichen Schlosses.

Die Baronin weinte vor Freude, als sie die Eltern wiedersah; aber man fand, daß sie wohl aussehe, daß sie etwas über ihre Jahre Ernstes und eine gebietende Haltung gewonnen habe. Mit großer Genugthuung führte sie ihre Eltern in dem Schlosse, in dem Parke umher, und sie verweilte am Mittage mit ihren Gästen lange auf der Terrasse, damit den Leuten aus dem Dorfe, wenn sie die Eltern ihrer Herrschaft sehen wollten, die Zeit und die Gelegenheit dazu nicht fehle.

Man hatte in dem chinesischen Häuschen am oberen Ende der Terrasse ein Frühstück aufgetragen. Die Diener in ihrer Gala-Livrée standen bereit, es umher zu geben, während die Herrschaften noch auf und nieder gingen. Sie waren schön anzusehen, die vier hohen, stolzen, heiteren Gestalten. Der Graf und der Baron in ihren Sammetröcken, die goldbesetzten dreieckigen Hüte auf den wohlfrisirten Köpfen, die feinen, blanken Gala-Degen an der Seite; die Baronin an dem Arme der Mutter so freundlich plaudernd, die Mutter so voll Zärtlichkeit für ihre Tochter. Die seidenen Schleppkleider schimmerten in so hellen Farben, die kleinen Federhüte saßen so fröhlich auf [179] den hochgetragenen Häuptern. Sie wußten die Fächer so schön zu handhaben, daß die Flittern in der Sonne glänzten. Es sah an ihnen Alles anders aus, als an anderen Leuten, und selbst das kleine Schooßhündchen der Baronin und der dicke Mops der Gräfin gingen hinter den Frauen so bedächtig einher, als wären sie eigens dazu angelernt.

Die Gräfin lobte ihre Tochter, daß sie die Rücksicht für die Leute nehme, ihnen ihre Eltern gleich zu zeigen. Der Graf sagte seinem Schwiegersohne, er müsse seinen Leuten wohl ein guter Herr sein, daß sie so begierig wären, seine Schwiegereltern kennen zu lernen. Es kam allmählich das halbe Dorf zusammen. Die Leute standen unten am Parke, nicht weit vom Flusse. Näher ließ der Gärtner sie nicht heran.

Sollt's Einer denken, sagte er zum Kämmerer, wie die gnädige Frau hier gestern erst gelegen hat, und was gestern hier passirt ist!

Der Kämmerer zuckte die Schultern. Ihre Schuld war's nicht, meinte er; und was soll sie machen? Es hängt Keiner gern seinen Schandfleck vor die Thüre.

Das ist schon wahr! rief die Gärtnersfrau; aber daß sie so vergnügt aussehen allesammt, der gnädige Herr sowohl als unsere gnädige Frau, die doch sonst so gut ist! Keine ruhige Stunde könnt' ich auf der Welt mehr haben, hätt' ich so etwas auf dem Gewissen!

Es ist ja kein vornehm Fräulein gewesen, sagte der Jäger und lachte spöttisch und bitter; 's war ja nur des Jägers Kind! Was macht das solch 'nem Herrn, und gar der gnädigen Frau! Die wird froh sein, daß sie die Pauline los ist. Ob Unsereiner umkommt oder lebt, wen kümmert das?

Der Gärtner hieß ihn still sein. Der Jäger ging mit einem Fluche davon. Sie sagten, er habe selber ein Auge auf die Pauline gehabt, ehe der Baron sie genommen.

[180] Es kommt Ihnen doch einmal zu Haus und Dach! wandte Einer ein, der des Jägers Freund war.

Verbrennt Euch den Mund nicht! warnte drohend der Gärtner. Seine Frau aber meinte, so reich und so vornehm zu sein und Alles vollauf zu haben, ohne daß man seine Finger rühre, das sei doch das wahre Glück.

Und auch der Graf und seine Frau priesen in ihrem Innern das Loos ihrer Kinder, wennschon es ihnen als ein ganz natürliches erschien. Der Graf dachte, daß er sich nicht getäuscht habe, als er seiner Tochter die Herrschaft in der Ehe vorausgesagt, die Gräfin gestand sich mit Genugthuung, daß die Besorgniß, welche sie für Angelika's Zukunft bei deren Abreise aus der Heimath gehegt hatte, eine ungegründete gewesen sei. Die Anhänglichkeit, die Zärtlichkeit der Eheleute ließ nichts zu wünschen übrig, der Baron zeigte eine wahre Anbetung für seine Frau. Man sah es ihm allerdings noch an, daß seine Gesundheit gelitten hatte, aber er und Angelika versicherten beide, daß er sich auf dem Wege völliger Genesung befinde, und seine freundliche Zuvorkommenheit, seine sichtliche Zufriedenheit bestätigten die Aussage.

Man machte und empfing viele Besuche, das alte Leben kehrte nach Schloß Richten wieder zurück. Daß die Baronin sich Abends bisweilen früher als die Anderen in ihre Zimmer verfügte, daß sie am Morgen stets eine Stunde mit dem Caplan allein blieb, war dabei nicht auffallend. Eine Herrschaft wie Richten legt ihren Besitzern mancherlei Sorgen und Verpflichtungen auf; das wußten Angelika's Eltern, und sie freuten sich daran, wie sehr die junge Herrin ihrem Berufe entsprach, wie ruhig und klar sie aussah, wenn sie von der Arbeit kam, wie achtungsvoll und väterlich zugleich der Freund des Hauses, der Caplan, der offenbar ihr Helfer und ihr Beistand war, sich gegen sie bezeigte. Nur Eines machte die Eltern Angelika's[181] besorgt: es war die Hinneigung zum Katholicismus, welche man an ihr zu bemerken glaubte. Aber man mochte dies nicht gegen sie aussprechen, um nicht in ihr wach zu rufen und zum Bewußtsein zu bringen, was man zu verhindern wünschte, und Graf und Gräfin Berka verließen nach einem vierzehntägigen Besuche ihre Tochter mit dem festen Glauben, daß das Glück derselben ein wohlbegründetes sei und auch ein dauerndes zu bleiben verspreche.

Der Baron begleitete seine Schwiegereltern zu Pferde bis an die Grenze seiner Besitzungen. Es war seit langer Zeit das erste Mal, daß er ein Pferd bestieg. Angelika stand in ihrem Zimmer am Fenster und sah ihnen nach; der Caplan war bei ihr. Als der letzte Wagen um die Ecke gebogen war, wendete sie sich zu dem Geistlichen in das Zimmer zurück.

Das ist vollbracht, sagte sie, nun helfen Sie mir weiter! Sie setzte sich dabei nieder, als wenn sie müde, sehr müde sei.

Gott hat bis hieher geholfen, Gott wird weiter helfen! ermuthigte der Caplan.

Ja, das hat er und das wird er! rief die Baronin. Und ernte ich nicht schon jetzt die Früchte der Selbstüberwindung in der Ruhe, die aus meines Gatten Mienen zu mir spricht? Fühle ich nicht schon jetzt die Befreiung, die mir geworden ist, seit ich Ihnen mein ganzes Herz enthüllte, seit Sie mir klar gemacht haben, auf welchem Leidenspfade Gott mich suchen gekommen ist, und daß er den züchtigt mit seiner strengen Hand, den er einst zu sich zu rufen und zu erlösen gedenkt durch seine Gnade?

Der Caplan hörte ihr ernst und schweigend zu. Es ist ein großes Glück, sagte er endlich, einen Irrenden auf den rechten Pfad zu leiten. Man nennt dies Christenpflicht, und sollte es eine Gnade Gottes heißen, die uns zu Theil wird. Ich danke ihm, daß er sie mir vergönnt hat. Und nun ich [182] Sie, meine Freundin, auf dem Wege sehe, der Sie zu Ihrem Ziele führen wird, nun lassen Sie uns darauf sinnen, wie wir dem Freiherrn zu der völligen Beruhigung verhelfen, deren er benöthigt ist. Seine Phantasie ist immer noch erregt, er bedarf der Ableitung von dem, was ihn gepeinigt hat, er bedarf einer neuen Idee, die ihn beschäftigt. Die Erinnerung an die Unglückliche muß ihm von außen her lebendig vor Augen gehalten werden, um ihre Schrecken für seinen Geist zu verlieren. In seiner inneren Zerrissenheit und Verzagtheit hat er das kleine Haus abbrechen lassen, welches sie einst bewohnte. Das war nicht wohlgethan. Es hätte erhalten, aber einer anderen Bestimmung gewidmet werden müssen. Man hätte dort ....

Eine Capelle gründen sollen, rief die Baronin, und das müßte man noch thun! Dort eine Capelle zu erbauen, das würde dem Sinne des Barons entsprechen, würde seine Thätigkeit in Anspruch nehmen ....

Der Caplan unterbrach sie. Sie vergessen, gnädige Frau, daß die Provinz nicht mehr zu den katholischen gehört, daß wir uns in einer protestantischen Provinz, unter einem protestantischen Volke, in ecclesia pressa, befinden. Die Freiherren von Arten haben sich deßhalb, seit die Reformation die Gotteshäuser unserer Kirche hier in der Provinz zerstörte, stets nur mit einer Capelle in ihrem Schlosse genügen lassen, um keinen Anstoß zu erregen.

Anstoß? fragte Angelika, die jung genug war, alle Hindernisse und Bedenken gering zu schätzen, wo es von ihr auf eine geistige Befriedigung abgesehen war. Haben die Leute doch ihren Gottesdienst, ihre Kirchen nach ihrer Lehre und nach ihrem Glauben. Wer kann uns hindern, Gott anzubeten nach unserer Weise und ihm eine Capelle zu erbauen, in der wir ihm dienen können nach unserer Ueberzeugung?

Wir? fragte der Caplan. Sie sind nicht katholisch, Frau [183] Baronin, und mich will bedünken, als würden ihre Eltern, als würden der Herr Graf und die Frau Gräfin einem Wechsel Ihres Glaubensbekenntnisses nicht ruhigen Herzens zuzusehen vermögen.

Angelika zögerte zu antworten. Dann sagte sie: Was Sie mir einwenden, ist richtig, mein verehrter Freund! Meine Mutter und mein Vater haben Andeutungen gegen mich fallen lassen, die mir, wennschon sehr vorsichtig, ihre Besorgniß in dem Punkte verriethen. Aber die Schicksale der Menschen sind verschieden. Gott hat meiner Eltern Leben so geführt, daß sie nicht Gelegenheit hatten, ihre Unzulänglichkeit und die Schwäche unserer Natur kennen zu lernen. Sie hatten ihm nur zu danken für seine Huld und Gnade, und ich will hoffen, daß er es ihnen so vergönnen werde, bis er sie einst abruft. Mir ist das nicht zu Theil geworden.

Sie machte eine Pause, ihre Lippen zitterten leise von unterdrücktem Schmerze; aber sie überwand sich und fuhr gefaßt und ruhig also zu sprechen fort: Gott hat mich einem von mir sehr geliebten Manne zur Gattin gegeben, dessen Leben nicht frei von Irrthum und von Schuld geblieben, dessen Sinn vom Glauben zum Aberglauben abgeirrt, dessen Gewissen schwer belastet ist, und der fast die Kraft verloren hatte zu der Umkehr, die ihm Genesung seines Herzens bringen soll. Er bedarf meiner, ich muß Eins mit ihm werden auch im Glauben, denn Mann und Weib sollen Eins sein; und schwach und sündhaft, wie wir Irrenden es sind, haben wir nach meiner festesten Ueberzeugung eines sichtbaren Vermittlers, einer sichtbaren Kirche, haben wir der Zeichen und Symbole nöthig, uns täglich daran zu mahnen, was zu thun uns obliegt. Daß Sie, Hochwürden, das tiefste Innere unserer Herzen kennen, Sie, dessen Verschwiegenheit unverbrüchlich ist; Sie, den kein anderes Interesse an uns bindet, als die Liebe, deren Verkünder Sie [184] sind, daß Sie uns rathen, uns zurechtweisen, das ist ein Bedürfniß für uns. Es ist ein Bedürfniß für uns, körperlich und geistig uns zu demüthigen, uns Bußen aufzuerlegen, denn das zerknirschte Herz verlangt seine Strafe, um sich mit dem Bewußtsein, gelitten zu haben, weil es leiden machte, wieder erheben zu können. Und daß ich weiß, durch sichtbare Zeichen weiß und es erfahren habe, wie die edelsten der Frauen unseres Hauses, wie meines Gatten früh verklärte Schwester und die fromme Tante Esther mir im Geiste nahe, wie sie meine Fürbitterinnen und Helferinnen sind bei dem Werke der Bekehrung, das mir an mir selbst und an meinem Gatten zu vollziehen obliegt, das ist mein Trost und meine Hoffnung. Ich ....

In dem Augenblicke hörte man das Pferd des Freiherrn in dem Hofe. Angelika trat an das Fenster, grüßte ihren Gatten freundlich mit der Hand, und sich dann zu dem Geistlichen wendend, sagte sie schneller, als sie vorhin gesprochen: Ich gehöre zu meinem Manne, ich gehöre in dieses Haus. Die Freiherren von Arten sind katholisch und sollen es bleiben durch alle Zeit, denn der Katholicismus bietet uns die göttliche, durch den Priester vermittelte Hülfe in unserer Sündhaftigkeit, in unserem Streben nach Erhebung viel erfaßlicher und tröstlicher, als ich es bisher gekannt habe. Der Mensch hat des sichtbaren Helfers nöthig, um zu seinem unsichtbaren Helfer und Erlöser durchzudringen. In wenig Tagen hoffe ich mein Glaubensbekenntniß in Ihre Hände ablegen zu können und so Gott will, werden mein Mann und ich vereint in nicht ferner Zeit unsere Gebete um Vergebung an derselben Stelle zum Himmel emporschicken, an welcher so Schweres verschuldet und gelitten worden ist.

Das walte Gott! sagte der Caplan. Angelika knieete vor ihm nieder, er segnete sie. Die Saat, die er behutsam und liebevoll aus fester Ueberzeugung ausgestreut, war durch die [185] Gunst der Verhältnisse weit schneller und weit vollständiger zur Reife gekommen, als er es hatte hoffen und erwarten können. Er fühlte sich dadurch erhoben, stark und mächtig. Er genoß den Lohn für die Beschränkung, in welcher er sein Leben zugebracht hatte, er empfand den Segen der einst Geliebten, die er in seinem Herzen als Heilige und als seinen Schutzgeist ehrte, als sein unverlierbares Glück.

Der Baron fand Angelika noch auf ihren Knieen. Bei seinem Eintritte erhob sie sich und warf sich an seine Brust.

Du Theurer! rief sie, ich danke Dir, daß Du meinen Eltern so gute, schöne, herzerquickende Stunden in unserem Hause bereitet hast. Und nun wir Eins sind, nun wir einander ganz und ungetheilt besitzen, nun laß uns vorwärts gehen auf dem Wege, den unser Freund, sie reichte dem Caplan ihre Hand, uns führen wird. Er hat es ausgesprochen: Es giebt nichts, was nicht durch thätige Reue zu sühnen wäre, nichts, wofür die Kirche aus dem reichen Schatze ihrer Gnade nicht die Vergebung spenden könne. Wir wollen sie erringen, erringen mit einander, und ....

Wie verdiene ich Dich? rief der Baron, und schloß sie mit Zärtlichkeit und Freude an sein Herz. Wie verdiene ich Dich?

Sehen Sie den Besitz dieses schönen Herzens, sagte der Caplan mit feierlichem Ernste, als ein Geschenk des Himmels, als ein Pfand der Gnade an, und überlassen Sie sich ihm, damit Sie und Ihr Haus sich im wahren und im neuen Sinne auferbauen.

Das will, das werde ich! betheuerte der Baron, und sein Auge leuchtete heller, sein Kopf hob sich freier und leichter, als es seit langer Zeit geschehen war.

Und nicht nur im Innern wollen wir uns auferbauen, rief Angelika, auch ein äußeres Zeichen unserer inneren Bekehrung, ein Zeichen der Reue, der Buße, der Versöhnung [186] muß errichtet und hingestellt werden für alle Zeit. Daran hängt mein Herz, darauf richten sich meine schönsten Hoffnungen. Versprich mir, daß Du mir gewähren willst, was ich von Dir erbitte.

Sie strahlte in wahrer Begeisterung bei den Worten. Der Freiherr blickte sie mit Bewunderung an. Sage, was Du begehrst, Geliebte! es soll Alles, Alles geschehen! sprach er zärtlich und bestimmt,

Angelika's Mienen wurden ernsthaft, und ruhiger als vorher sagte sie: Du hast das Haus in Rothenfeld zerstören und niederreißen lassen, als Du noch glaubtest, Dir selbst entfliehen zu können. Nun Du einkehrst in Dich selber, nun wir gemeinsam die Einkehr in das Vaterhaus im Himmel suchen, richte dort in Rothenfeld eine Capelle auf, in der wir uns erinnern mögen, daß der Mensch ein Sünder, und daß Gott dem Sünder gnädig ist. Dort will ich mit Dir knieen, mit Dir beten, und dort wollen wir einst bei einander ruhen, wenn der Herr uns abruft!

Es lag etwas Unwiderstehliches in ihren Worten, in ihrer ganzen Erscheinung, denn Selbstüberwindung und Liebe haben eine verklärende Gewalt. Sie umleuchten den Menschen wie ein Heiligenschein. Der Freiherr war hingerissen von der Seelengröße, von der Liebe seiner Frau, der Caplan selbst war durch sie gerührt. So verschieden die drei Menschen waren, so verschieden sie auch in diesem Augenblicke empfanden, sie fühlten sich eng verbunden in einer gemeinsamen Idee, und grade die Hindernisse und Schwierigkeiten, welche der Gründung einer katholischen Capelle mitten in dem protestantischen Lande im Wege stehen konnten, reizten den Baron zunächst. Es begann mit diesem Plane ein neues Leben für ihn, weil sich ihm mit demselben wenigstens für einige Zeit eine lebhafte und vielseitige Thätigkeit darbot.

[187] Die Bedenken der Behörden, die bittenden Einwendungen seines protestantischen Pastors regten seine angeborne Herrschsucht auf, und es galt endlich, vor Allem dem Zorne und der Betrübniß seiner Schwiegereltern zu widerstehen, die von einem Religionswechsel ihrer Tochter nicht reden hören wollten. Aber alle diese Hindernisse führten Mann und Frau nur näher zu einander und steigerten den Eifer der Neubekehrten. Angelika war eine starke enthusiastische Natur. Sie wuchs mit jedem Tage mächtiger zur Selbstbestimmung heran, sie stand bald neben ihrem Gatten, als wäre sie ihm gleich an Jahren und Erfahrung, und ihr fester Sinn fing an, ihn zu beherrschen, ohne daß er es gewahrte, ohne daß sie sich dessen klar bewußt war.

In Thätigkeit, in Liebe, in religiösen Uebungen kam der Herbst heran, und mit ihm der Jahrestag ihrer Hochzeit, der von dem Freiherrn und von Angelika zu einer dreifachen Feier ausersehen war.

Der Baron hatte die Wochen vor demselben theils in der Hauptstadt, theils in der Kreisstadt der angrenzenden katholischen Provinz, in welcher der Fürstbischof residirte, zugebracht. Er kehrte mit der frohen Nachricht heim, daß der Bau der Capelle zugestanden sei und daß der Fürstbischof selbst sich habe bereit finden lassen, der Weihung des Platzes und der Grundsteinlegung beizuwohnen. Weil man es wußte, wie wenig die Gutsleute dem Capellenbaue geneigt waren, hatte der Freiherr für die Einsenkung des Grundsteins einen Maurer mit seinen Gehülfen aus der Stadt nach Richten beordert.

Der Freiherr hatte viel zu melden von seinen Mühen und Erlebnissen, der Caplan wies mit Freude die Documente vor, welche man in das Fundament der Capelle zu versenken beabsichtigte. Es waren die Geschlechtstafeln der Herren von Arten und eine Chronik über das Geschlecht, die er während [188] des Sommers ausgearbeitet hatte. Man beschäftigte sich lange damit, Angelika war von ganzer Seele dabei.

Und hast Du mir nichts Neues mitzutheilen? fragte er endlich die Baronin, nachdem die Männer ihre Angelegenheiten durchgesprochen hatten.

Nichts als diesen Brief und die Versicherung, daß ich ruhig bin in meinem Gewissen wie in meinem Herzen.

Sie reichte ihm den Brief; er war von dem Grafen, ihrem Vater, und von ihrer Mutter geschrieben. Die Mutter beschwor die Tochter noch einmal mit den dringendsten Bitten und Vorstellungen, nicht abzufallen von dem rechten Glauben. Was die Mutterliebe Zärtliches, was die religiöse Ueberzeugung Eifriges und Flehendes einem Kinde sagen konnten, war in dem Briefe enthalten. Der Graf hatte nichts als seinen Zorn. Er drohte der Tochter mit völliger Verstoßung, er erklärte, ihr soweit als möglich ihr Erbe entziehen zu wollen, wenn sie sich beikommen lasse, sich von dem protestantischen Bekenntnisse abzuwenden. Er wolle seine Enkel nicht als Pfaffenknechte sehen, schrieb er; er habe das Vermögen seines Hauses davor zu wahren, daß es durch sie nicht etwa einmal ein Raub der ultramontanen Kirche werde. Er sei ein Protestant, er könne nur eine Protestantin seine Tochter nennen, die Katholikin sei sein Kind nicht mehr.

Der Freiherr las das Schreiben und blickte Angelika voll Besorgniß an. Er wußte, mit welcher Liebe sie an ihren Eltern gehangen hatte, und war also bekümmert um den Eindruck, welchen das Schreiben auf sie gemacht haben würde. Aber sie ließ seiner Sorge keinen Raum.

Sei ohne Furcht für mich, sagte sie. Es steht geschrieben, das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen. Meine Eltern haben mich Dir gegeben, daß ich Dir folge in Deine irdische, vergängliche Heimath, wie sollte ich anstehen, [189] Dir in die wahre, ewige Heimath zu folgen? Und habe ich nicht Vater, nicht Mutter mehr auf dieser Welt – ihre Stimme zitterte, in ihren Augen perlten Thränen –, so habe ich Dich und habe unsern Heiland, und werde, so Gott will, auch bald das Kind haben, es zu ihm hinzuführen. Ich bin nicht allein, nicht verzagt; ich bin glücklicher, als ich je zu werden glauben konnte.

[190]
12. Capitel
Zwölftes Capitel

Am Morgen des Hochzeitstages schien die Herbstsonne hell über das Thal und über Schloß Richten. Es waren viele Gäste im Hause. Der Fürstbischof war gekommen, von seinen Vicaren begleitet, und auch die beiden Agnaten des Freiherrn waren gekommen, der Feier beizuwohnen. Es waren zwei alte, unvermählte Herren. Das Geschlecht stand in diesem Augenblicke nur auf sechs Augen, die Geburt eines Erben wurde sehr ersehnt.

Angelika war die Heldin des Festes. Liebe, Verehrung, Freundschaft und Theilnahme umgaben sie, wohin sie blickte. Ganz früh in der Stille ihres Gemaches hatte sie eine lange Unterredung mit dem Caplan gehabt. Er hatte ihr, nachdem sie ihm gedankt für die Belehrung und die Stütze, die er ihr gewährt, für die tragende Freundschaft, die er ihrem Manne bewiesen, einen peinlichen Auftrag auszurichten. Er sollte ihr die Absichten ihres Gatten in Bezug auf Paul, den Sohn Paulinen's, mittheilen und ihr die Erfüllung der Wünsche des Barons an das Herz legen. Der Freiherr wünschte den Knaben unter seinen Augen im Schlosse erziehen, ihn ebenfalls zum Katholicismus übertreten zu lassen, und ihn der Kirche zu weihen.

Bereitwillig, wie sich Angelika seither den Bedürfnissen und Verlangnissen ihres Mannes gezeigt hatte, lehnte sie doch diesen Vorschlag gleich und sehr entschieden ab. Es dürfe, sagte sie, im [191] Hause ihres Gatten nicht ein Zeugniß seines Fehltrittes, ein Zeugniß seiner Schuld erhalten bleiben, das in seinen rechtmäßigen Kindern die unbedingte Verehrung für den Vater beeinträchtigen könne. Sie bat den Caplan, ihren Mann dahin zu bestimmen, daß für des Knaben Zukunft gewissenhaft gesorgt und seine Erziehung einem bewährten Manne übergeben werde; aber sie wies jede Gemeinschaft mit dem Kinde ein für alle Mal von sich ab, und der Caplan, der ohnehin ihrer Ansicht gewesen war, versprach ihr, die Zustimmung des Freiherrn für ihre Wünsche zu gewinnen, noch ehe man zu der heiligen Handlung schreiten werde.

Die Capelle des Schlosses war auf das reichste mit Blumen geschmückt. Die Decken, welche die verstorbene Mutter und die Schwester des Freiherrn mit eigener Hand gearbeitet hatten, zierten den Altar. Trotz des hellen Tages brannten die Kerzen auf den silbernen Leuchtern, als um zehn Uhr der Bischof, gefolgt von seinen beiden Vicaren, in die Capelle eintrat. Gleich darauf führte der Freiherr seine Gattin herein. Sie war weiß gekleidet und trug einen Strauß von weißen Rosen vor der Brust. Amanda's Rosenkranz und Crucifix hingen an ihrem Arme. Sie hatte das Gebetbuch, das ihr zu ihrer Erweckung geholfen hatte, in der Hand.

In tiefer Andacht verrichtete sie ihr Gebet. der Caplan, als Hausgeistlicher, las die Messe, der Fürstbischof selbst fungirte bei den Ceremonien in Bezug auf die Neubekehrte, welche, ernst und bleich, das schönste Bild einer jungfräulichen Mutter, die geweihte Kerze aus der Hand des Bischofs empfing. Sie erhielt die Firmung, das Chrisma, die weiße Stirnbinde, welche das heilige Tauföl vor der entweihenden Berührung der Hände bewahrt, wurde ihr umgelegt, der Caplan dankte in einer Rede, welche für den Freiherrn und seine Frau noch eine besondere, nur ihnen verständliche Bedeutung hatte, dem Herrn des Himmels und der Erde für die Gnade, welche dem freiherrlichen [192] Hause durch die Bekehrung der Freifrau widerfahren sei, und Angelika's Lippen bebten nur leise, als sie sich mit einem Eide von ihren bisherigen Glaubensgenossen für immer schied.

Aufgelöst in begeisterter Erhebung, empfing sie gemeinsam mit dem Freiherrn die Absolution und das Abendmahl, und als sie sich so weit gesammelt hatten, um Herr über ihre Haltung zu werden, begab man sich nach Rothenfeld, um den Grundstein zu dem Gotteshause zu legen und einzuweihen.

Alles war schon am Tage vorher dafür vorbereitet worden. Die Maurer hatten ihr Werk gethan, der Platz war vom Schloßgärtner mit jungen Bäumen abgesteckt, mit Blumen verziert. Aber die Gutsleute und die Bauern hielten sich fern. Sie sahen, wie der Zug in den vier Wagen durch das Dorf fuhr. Neugierig standen einige Frauen und die herzu gelaufenen Kinder, und starrten das bischöfliche Kreuz und den Bischof in seinem Ornate und die Vicare und den Caplan und den Meßner und die Chorknaben an, welche hier auf offener Straße die silbernen Weihrauchfässer schwangen und die lateinischen Gesänge und Gebete ertönen ließen. Es war Niemandem in den Dörfern wohl dabei zu Muthe.

Der Freiherr und seine Frau und der Caplan kamen den Leuten in der fremden Umgebung auch wie Fremde vor, und dem Freiherrn selber gefielen an dem Tage die Blicke nicht, mit denen man an ihm vorüberging. Aber er hatte nicht viel Zeit, daran zu denken; die Anerkennung, welche die geistlichen Herrschaften ihm zollten, die sichtliche religiöse Befriedigung Angelika's und die innere Genugthuung, welche er bei diesem Acte der Selbstherrlichkeit empfand, nahmen ihn völlig dahin.

Man speiste nach der Grundsteinlegung in dem großen Saale des Schlosses, der nur bei besonderen Festen geöffnet wurde. Noch während der Tafel mußte die Baronin sich erheben. [193] Sie befand sich übel, ihre Stunde war gekommen, ihr höchster Wunsch erfüllte sich früher, als sie geglaubt hatte.

An demselben Tage, an welchem sie in die Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen ward, an dem sie sich im Glauben ihrem Manne neu verbunden hatte und der Grundstein zu der Kirche gelegt worden war, gebar sie ihm den Sohn, den er ersehnt hatte.

Jetzt ist der letzte Schmerz von mir genommen! rief der Baron am Lager seiner Gattin niederknieend; jetzt sehe ich, daß mir verziehen ist! Ich bin neu geboren durch Dich und Deine Liebe, ich bin erlöst durch Dich! Dieses Kind ist mir das Pfand dafür – und Renatus Salvator soll er uns heißen!

Noch ehe der Bischof Schloß Richten verließ, ward an dem Neugebornen das Sacrament der heiligen Taufe vollzogen, und mit stolzer Freude blickte der Freiherr auf den Sohn, auf den Erben seiner Güter und seines Namens nieder.

Was konnte ihm neben diesem Kinde, neben dem jungen Freiherrn von Arten-Richten, neben dem Erstgebornen seiner Angelika jetzt noch der Knabe sein, der fern von ihm mit fremdem Namen aufwuchs und an dessen Mutter er nicht mehr zu denken hoffte?

Das Kind, welches hinter den goldenen Fenstern des stolzen Schlosses spielen, das hier seine Heimath und seine Zukunft haben sollte, schlummerte in seiner Wiege, wohl gebettet, wohl versorgt. Der Knabe Paul hatte seinen eigenen Weg zu suchen in der Welt, die nirgends eine Heimathstätte, nirgends ein Vaterhaus für ihn umschloß.

Die Bekehrung und der Uebertritt der Baronin von Arten bildeten, nachdem man dieselben erfahren hatte, eine Weile den Gegenstand der Unterhaltung in den Kreisen, welchen die Familien von Berka und von Arten angehörten; aber die Zeit war zu bewegt, die Menschen waren zu mächtig von den großen [194] Ereignissen, welche sich jenseit des Rheines immer deutlicher und entschiedener entwickelten, erschüttert und hingenommen, als daß die Vorgänge in einer einzelnen Familie, wie angesehen dieselbe auch in ihrer Heimath sein mochte, nicht darüber hätten in den Hintergrund treten und bald vergessen werden sollen.

Was man in der nächsten Umgebung, auf den Gütern des Freiherrn davon dachte, wie die Gutsleute die Bekehrung der Baronin und den beabsichtigten Kapellenbau ansahen, darüber erfuhr man im Schlosse nichts Gewisses, und man kümmerte sich auch zuerst nicht viel darum. Allerdings hieß es, daß der protestantische Pfarrer in Neudorf, dessen Patron der Freiherr war, gegen seine vorgesetzte Behörde des beklagenswerthen Ereignisses Erwähnung gethan und die Weisung erhalten habe, nur um so eifriger für das Seelenheil der ihm anvertrauten Gemeinde zu sorgen; aber wenn er sich dessen auch gegen seine benachbarten Amtsbrüder und gegen den Amtmann, der seinen Wohnsitz in Rothenfeld hatte, vielleicht auch gegen den Schulzen berühmte, so fand sich doch Niemand, der sich berufen gehalten hätte, diese Nachricht auf das Schloß zu bringen; und von den Tagen, in welchen Eisenbahnen und pfeilschnelle Telegraphen die Vorgänge aus den entlegensten Gegenden in die Zeitungen und mittelst derselben durch die ganze Welt verbreiten, war man damals noch weit entfernt. Die Zeitungen beschäftigten sich in jenen Tagen fast ausschließlich mit den Angelegenheiten der Potentaten, mit den eigentlichen Staatsactionen. Sie erschienen nur ein Paar Mal in der Woche, wurden von der Post nur ein Mal in der Woche nach der Kreisstadt befördert, aus welcher der reitende Bote des Freiherrn sie nach Richten abholte, und hatte man sie im Schlosse gelesen, so wanderten die kleinen Löschpapierblätter durch die Wohlgeneigtheit des Gutsherrn zu dem Pfarrer und zu dem Amtmann, kamen danach in die Hände des Schullehrers, [195] des Schulzen und des Krügers, um endlich in das Schloß zurückzukehren, wo sie, nach Jahrgängen wohl geordnet, in dem Nebenzimmer des prächtigen Bibliotheksaales unter andern zurückgestellten Drucksachen ihre Ruhestätte fanden. Mochte man also auf den Gütern denken, was man wollte: im Schlosse ging Alles seinen ruhigen und würdigen Gang, seit die Gemüthsverfassung des Barons sich wieder gefestigt, und die Baronin ihr Kindbett überstanden hatte.

Der Winter, welcher im verwichenen Jahre die Eheleute ohne inneren Einklang in dem Hause von Fräulein Esther gefunden hatte, sah sie diesmal in jener Vereinigung und Lebensweise, welche der Baron für sich gehofft hatte, als er die Zusage von Angelika's Hand erhalten; und die Besitzesfreude, welche sich in ihm und in seiner Frau geregt, als sie in der Erwartung eines Erben von der Residenz auf ihre Güter zurückgekehrt waren, hatte jetzt, da der Knabe trefflich gedieh, erst ihre volle Kraft für beide Eltern gewonnen, eine Kraft, die sie zu rüstigem Schaffen, zum Säen, Bauen und Erhalten antrieb.

Alles, was man bisher geplant und gewünscht hatte, nahm man jetzt in Angriff und wollte man schnell vollenden. Man bedurfte jener Entsagung nicht, mit welcher der Besitzlose sein Tagewerk bewältigt, weil seine Vernunft ihm sagt, daß die Leistung eine für das Allgemeine und darum auch für ihn selber geforderte sei, wennschon er vielleicht nicht dazu berufen ist, ihre Frucht ausgiebig zu genießen. Man befand sich in der glücklichen Lage, mit dem Herzen schaffen, sich und den Seinen da eine Genugthuung, einen Erfolg, eine Glücksvermehrung sichern zu können, wo der weniger Begünstigte eine Pflicht erfüllt; und bei Allem, was man vornahm, erhöhte der Gedanke, daß es Renatus und seinen Kindern einst zu Gute kommen werde, den Eifer und den Aufwand, mit welchem man zu Werke ging.

[196] Vor Allem war es natürlich die Gründung des Gotteshauses, welche der Baronin am Herzen lag, und da man an der Schwelle des Winters den Bau nicht mehr hatte in Angriff nehmen können, so beschäftigte man sich an den langen Abenden nur noch mehr mit den Planen für denselben. Dem Freiherrn erwuchs daraus eine vielseitige Anregung und Beschäftigung. Kunstliebend und prachtliebend wie er war, wollte er nicht nur einen dauerhaften Bau hinstellen, sondern zugleich in dieser Kapelle etwas Ansehnliches und Schönes schaffen, und auch die Baronin wünschte, daß das katholische Gotteshaus, welches man auf den Gütern begründete, schon in seiner äußeren Erscheinung jenen zugleich Ehrfurcht erweckenden und freundlich entgegenkommenden Charakter an sich tragen sollte, welchen sie in dem Geiste des Katholicismus für sich so beglückend kennen gelernt hatte. Man zog Baumeister, Bildhauer und Maler zu Rathe, ließ Zeichnungen und Kupferstiche kommen, änderte bald Dies, bald Jenes an dem ersten Plane, bis über dem vielen Sehen und Vergleichen des Bedeutendsten und Schönsten der erste Entwurf, welcher auf eine hübsche Kapelle, auf ein mäßiges Gotteshaus angelegt gewesen war, mehr und mehr zusammenzuschrumpfen und den Erbauern kleinlich zu dünken begann.

Erst hatte man sich gesagt, daß man, weil man keinen Thurm zu errichten beabsichtigte, die Kapelle mit einer würdigen Fronte ausstatten, daß man ihr eine angemessene Größe geben, sie mit einigen Säulen und einer Statue von außen schmücken müsse, und daß man ihr innen die Zierde eines guten Bildes über dem Altare nicht versagen dürfe. Nach einiger Zeit kam man zu der Ansicht, daß mit diesen Ornamenten auch ein größerer Bau ansehnlich zu verzieren sein würde, und da die Baronin sich an dem Gedanken zu erfreuen schien, so überraschte der Freiherr sie am Weihnachtsabende, an welchem sie die Trennung von ihren Eltern schmerzlicher als sonst empfinden mußte, [197] mit dem Anerbieten, den ersten Bauplan völlig aufzugeben und statt der Anfangs beabsichtigten Kapelle lieber gleich eine Kirche zu errichten, deren Thurm weithin sichtbar und durch Jahrhunderte ein Zeuge für die Bedeutung des Geschlechtes werden sollte, das ihn aufgerichtet hatte. Freilich mußte man sich daran erinnern, daß eine Kirche eine Gemeinde fordere und daß eine solche unter den protestantischen Landleuten nicht vorhanden sei. Aber da man es überhaupt nicht auf ein gemeinnütziges Werk, sondern lediglich und ausschließlich auf eine Selbstbefriedigung abgesehen hatte, so ließ man sich durch den Gedanken an die einsame Kirche nicht abschrecken. Die Baronin sah im Gegentheil eine Hoffnung aus dem Baue empor keimen, der sie sich als Neubekehrte willig überließ, und sie wurde nicht müde, es sich vorzustellen, wie das goldene Kreuz des Thurmes, einst zum Ernste mahnend, über der Gegend leuchten und wie die zur Messe rufenden Glockenklänge dann heimathlich und ladend durch das Land ertönen würden.

Natürlich galt es nun, sich mit dem Architekten in ein neues Einvernehmen zu setzen. Es mußten ein neuer Plan, neue Kostenanschläge gemacht werden, und diese letzteren stiegen nach dem neuen Entwurfe fast um das Sechsfache; aber bei den Mitteln, über welche der Freiherr gebot, brauchte man davor eben nicht zu erschrecken. Wenn man die Summe auf die sechs Jahre vertheilte, welche der Architekt zur Vollendung des Baues gefordert hatte, so war es kaum nöthig, sich irgend welche wesentliche Beschränkungen aufzulegen, und der Freiherr hob dies gegen Angelika ganz besonders hervor, weil er eben in diesem Augenblicke eine Veranlassung zu ausgedehnter Gastfreiheit zu haben glaubte.

Es war zu Ende des Januar, an einem scharfen, kalten Winterabende, als man dem Baron unter den Zeitungen und Postsachen, welche der Bote aus der Stadt abgeholt hatte, einen [198] Brief überbrachte, dessen Handschrift und Wappen er zu kennen schien. Auf der Adresse stand die Weisung, daß der Brief durch einen Expressen nach Schloß Richten zu bestellen sei, und der Baron mußte die Schreiberin des Briefes – denn derselbe stammte offenbar von einer Frauenhand – werth und in Ehren halten, weil es ihn so unmuthig machte, daß man trotz der ausdrücklichen Anweisung zu besonderer Beförderung, derselben nicht Folge geleistet und den Brief mehr als vierundzwanzig Stunden hatte liegen lassen. Er stampfte ärgerlich mit dem Fuße, und noch ehe er das Siegel eröffnete, schellte er seinem Schreiber, gab ihm in kurzen Worten den Befehl, den Postmeister sofort bei seiner Behörde zu belangen, und rief, als der Schreiber sich entfernte, ihm noch ausdrücklich nach, es dem Postmeister anzuzeigen, daß man eine Klage gegen ihn eingereicht habe. Er war es eben nicht gewohnt, auf Unpünktlichkeit und Versäumniß zu stoßen, wo er zu befehlen hatte.

Dann ließ er sich an dem kleinen Marmortische nieder, welcher vor dem Kamine stand, erbrach das Schreiben, und Angelika, welche, mit einer Filetarbeit beschäftigt, an der entgegengesetzten Seite des Tisches saß, bemerkte an den Mienen ihres Gatten, daß der Inhalt des Briefes ihm nahe ging und offenbar seine ganze Theilnahme in Anspruch nahm. Er schüttelte während des Lesens ein paar Mal leise das Haupt, seufzte danach und reichte endlich, nachdem er ihn beendet hatte, den Brief mit dem Ausrufe: Die arme Frau! der Baronin hin.

Von wem sprichst Du? fragte Angelika.

Von der Herzogin, entgegnete der Baron; aber lies nur selbst, denn die ruhige, würdevolle Fassung ihres Briefes wird Dir, ich weiß es, den gleichen Eindruck machen, wie mir.

Der Brief war in französischer Sprache geschrieben.

»Mein theurer Baron!« hieß es in demselben: »Trotz der langen Zeit, welche seit unseren letzten Spaziergängen in [199] den friedlichen Gärten meines schattigen Vaudricour verflossen ist, haben wir sicherlich beide nicht aufgehört, mit jener Freundschaft und jener Achtung an einander zu denken, welche zu den unschätzbaren Gütern gehören, die kein äußeres Ereigniß uns zu rauben vermag; und Sie werden, wenn Sie sich meiner erinnerten, sicherlich nicht geglaubt haben, daß ich in einem Lande geblieben sein könne, welches in den Grundvesten seiner religiösen, seiner politischen und seiner moralischen Existenz so gewaltig erschüttert, so völlig vernichtet worden ist, wie mein unglückliches Vaterland.

Ich habe Frankreich seit fast zwei Jahren verlassen, habe, weil ich den Ereignissen, welche nicht ermangeln können, sich in Frankreich zu vollziehen, nahe zu bleiben wünschte, zuerst in Coblenz, dann in Hannover und in Dresden gelebt. Aber die Zeit des Wartens, wie kurz oder lang sie sein mag, ist immer traurig und schwer zu tragen, und wennschon ich überzeugt bin, daß von Deutschland her unserem unglücklichen Könige jetzt endlich Hülfe und Befreiung, unserem Vaterlande Erlösung aus den Händen jener Rotte von gottlosen Empörern kommen wird und muß, welche es nicht scheuen, ihre Hand zerstörend an das Heiligste zu legen, so macht das Zögern mit dieser Hülfe mich doch sorgenvoll und oftmals so verzagt, daß ich mich nach der Nähe eines Freundes sehne, dessen Theilnahme mich trösten, dessen gleiche Weltanschauung mich im Hoffen und Ausharren ermuthigen kann.

Graf Veuilletot, der das Vergnügen gehabt hat, Sie im vorigen Jahre zu sehen, sagte mir in Dresden, daß Sie sich in Berlin niedergelassen, daß Sie sich verheirathet und an der Seite Ihrer jungen und edeln Gattin ein seltenes Glück gefunden hätten. Das gab mir zuerst den Gedanken, Sie und Ihre Nähe aufzusuchen und mit Ihrem Rathe nach irgend einem Asyle auszuspähen, in welchem ich mit meinem Bruder – denn[200] der Marquis hat mich natürlich nicht verlassen – die Zeit bis zur Herstellung der Ordnung und Gesetzlichkeit in Frankreich, in einsamer Zurückgezogenheit erwarten kann.

Ich verließ also Dresden, um Sie wieder zu sehen. In Berlin erfuhr ich aber, daß Sie, des Stadtlebens bald müde geworden, Ihren Aufenthalt wieder auf Ihren Gütern genommen hätten, und wie sehr es mich auch schmerzte, Sie nicht in der Residenz zu finden, so freute ich mich doch an dem Gedanken, daß die Baronin trotz ihrer Jugend zu jenen Ausnahmenaturen gehöre, welche das zurückgezogene Leben an der Seite eines verehrten Gatten den Zerstreuungen und dem Geräusche der großen Welt vorzuziehen wissen.

Eine solche Frau wird einer Verwandten, einer alten Freundin ihres Mannes seine Freundschaft, wird einer aus ihrer Heimath Vertriebenen das Weilen in der Stille seines Schlosses nicht mißgönnen. Eine Frau wie die Baronin wird es fühlen, wie man sich nach einem langen Wanderleben auf ein Ausruhen unter einem friedlichen Dache sehnt, und ich frage daher ohne Weiteres bei Ihnen an, mein theurer Freund und Vetter, ob Sie mir und dem Marquis Ihre Gastfreundschaft gewähren wollen, bis wir in Ihrer Nähe in ländlicher Stille eine zeitweilige Heimath für uns gefunden haben werden. – Freilich bin ich nicht mehr die lebensfrohe Margarethe, die Sie einst in Vaudricour gekannt haben! Das Unglück hat mich schnell und früh gealtert, aber ich bringe Ihnen doch ein Herz mit, das noch nicht verlernt hat, sich an fremdem Glücke zu erfreuen.

Alles, wonach ich jetzt verlange, ist Ruhe! Deßhalb sende ich Ihnen meinen Brief durch einen Expressen und erwarte Ihre Antwort sobald als möglich. Haben Sie ein Obdach für mich und meinen Bruder, und ist die Baronin nicht unwillig, die Verwandten ihres Gatten kennen zu lernen, so [201] folgen wir Ihrer Zusage auf dem Fuße, und wie Sorge und Kummer und Jahre mich auch verändert haben mögen, so werden Sie hoffentlich in mir stets wieder erkennen Ihre Freundin und Cousine

Margarethe, Herzogin von Duras,

geborene von Lauzun.«


Angelika faltete den Brief, nachdem sie ihn gelesen hatte, wieder zusammen, steckte ihn in sein Couvert und sagte, indem sie ihn dem Freiherrn hinreichte: Welch ein Schicksal, heimathlos zu werden mit einem der schönsten Namen Frankreichs!

Und heimathlos zu werden, fügte der Freiherr hinzu, wenn man in dem anmuthigsten der Schlösser, unter dem sonnig milden Himmel des südlichen Frankreichs gelebt hat! Ich vermag mir die Herzogin in ihrer jetzigen Lage kaum vorzustellen, so sehr ist ihr Bild in meiner Erinnerung mit der ganzen edelen und schönen Umgebung verschmolzen, in welcher ich sie sonst gesehen habe.

Er öffnete den Brief noch einmal, sah nochmals nach dem Datum desselben und bemerkte darauf: Wer mir es gesagt hätte, daß ich Margarethe von Duras hier in Richten als eine Flüchtige, als eine Heimathlose aufzunehmen haben würde; oder wer es unserm Urgroßvater hätte prophezeien wollen, daß eine Enkelin seiner Erdmuth, deren Verbindung mit den Duras ihn so sehr erfreute, einst nach Deutschland kommen würde, um Schutz zu suchen unter dem Dache ihres mütterlichen Geschlechtes!

Er versank in Schweigen, auch die Baronin war innerlich bewegt. Sie kannte die Herzogin nicht, aber sie hatte von ihr bisweilen sprechen hören, wenn der Baron sich seiner ersten Reisen erinnerte oder wenn gelegentlich von den Familienbeziehungen des Arten'schen Geschlechtes die Rede gewesen war. Sie wußte, daß eine Großtante ihres Mannes einen Herzog von Duras geheirathet, der einst in außerordentlicher Mission [202] an einem der deutschen Höfe gelebt und das schöne Freifräulein in einem deutschen Badeorte kennen gelernt hatte. Ihr Nachkomme, der Herzog Edmund, hatte ein Fräulein von Lauzun geheirathet, war kurz nach seiner Hochzeit gestorben und hatte die Herzogin Margarethe als eine junge und kinderlose Wittwe zurückgelassen, die klug genug gewesen war, die Vorzüge ihrer Stellung zu würdigen und sie vorsichtig zu benutzen.

Als Baron Franz seine erste Reise gemacht hatte und auf dieser nach Frankreich gelangt war, hatte er von seinem Vater die Weisung erhalten, sich dort auch der verschwägerten herzoglichen Familie vorzustellen, und da man von beiden Seiten gern bereit war, eine Verwandtschaft anzuerkennen, von der man keinerlei unbequeme Ansprüche zu befahren hatte, während das verwandtschaftliche Verhältniß mancherlei Erleichterungen für den Verkehr darbot, so hatte die Herzogin sich den jungen deutschen Vetter gern gefallen lassen, ohne zu berechnen, in wie fernem Grade er zu ihr gehörte. Der Baron aber war entzückt gewesen, bei seiner Cousine eine so freundliche Aufnahme zu finden, ohne daran zu denken, daß mit dem Tode des jungen kinderlosen Herzogs der Zusammenhang der Herren von Arten mit den Herzogen von Duras eigentlich völlig erloschen war. Er hatte danach in seiner ersten Jugend einige sehr genußreiche Wochen in dem Schlosse der Herzogin zugebracht, man hatte sich auch später, als er abermals nach Paris gekommen war, in der Hauptstadt und am Hofe wiedergesehen und gelegentlich einen Brief mit einander gewechselt. Aber dieser Verkehr war allmählich seltener geworden und hatte endlich völlig aufgehört, obschon der Freiherr sich stets mit Vergnügen und mit Antheil der Herzogin erinnerte. Er liebte es, zu erzählen, wie sie fast immer Vaudricour bewohnt habe, wie selten sie nach Paris gekommen sei, obschon ihr, einer Duras-Lauzun, die beste Aufnahme und eine einflußreiche Stellung sicher gewesen wären, [203] und wie sie es verstanden habe, ihr Schloß zu dem Sammelplatze alles dessen zu machen, was damals in Frankreich auf Jugend und Geist, auf Rang und Bildung Anspruch erheben dürfen.

Auch jetzt wieder war es eine Erinnerung an die Vergangenheit, welcher der Freiherr zuerst Worte gab. Die Herzogin war neunzehn Jahre, sagte er, als ich sie zum ersten Male sah, und schon damals geizte man nach dem Ruhme, ein Gast der Herrin von Vaudricour zu sein. Ich weiß ....

War die Herzogin schön? unterbrach ihn die Baronin.

Nein! entgegnete der Freiherr, aber sie war mehr als das, sie hatte in ihrer ganzen Erscheinung den Adel ihrer Geburt und die sichere Anmuth, welche dieser ihr verlieh. Sie war eine Fürstin im vollsten Sinne des Wortes.

Und Du bist Willens, sie zu uns einzuladen? fragte Angelika.

Der Freiherr schien durch diese Frage überrascht. Es fiel ihm etwas auf im Tone seiner Frau, aber er wollte das nicht beachten, und erwiderte nur: Hast Du für möglich gehalten, es nicht zu thun?

Nein! versetzte Angelika. Ihr Schicksal würde ihr einen bestimmten Anspruch an unsere Gastlichkeit geben, auch wenn sie keine Verwandte unseres Hauses wäre; aber die Schilderung, welche Du mir stets von ihr und ihrem Vaudricour gemacht hast, beunruhigt mich, mein theurer Franz! Ich fürchte, Deine Verwandte wird erwarten, was sie hier nicht finden kann, und wie warm und bereitwillig wir sie auch willkommen heißen, wir werden ihr den leichten Frohsinn ihres Volkes und den schönen Himmel ihrer Heimath nicht ersetzen können.

Der Freiherr lächelte. Deine Jugend macht Dich den Verlauf der Zeit vergessen, sagte er. Die Herzogin ist nicht mehr die junge Chatelaine von Vaudricour, und die Zeit war ernsthaft genug, auch ihre Heiterkeit in Ernst zu verwandeln. [204] Ich höre in jedem Worte ihres Briefes den Ton einer tiefen Traurigkeit, und wer sollte diese in ihrer Lage nicht empfinden? Laß uns darauf denken, Beste, wie wir ihr beweisen, daß wir sie schätzen und ihr Unglück ehren! Ich möchte, sie würde es recht gewahr, daß sie hier in ihrer Familie von Freunden und Gesinnungsgenossen empfangen wird, und ich werde Dir es danken, wenn Du ihr hier bei uns vergiltst, was sie mir einst in ihrer Heimath gewährt hat! fügte er abschließend hinzu.

Angelika versprach, ihr Bestes mit Freuden zu thun. Ein Aufruf an ihre Großmuth war immer sicher, eine gute Statt bei ihr zu finden, und man kam daher überein, daß der Freiherr, um die Versäumniß des Posthalters möglichst auszugleichen, noch an diesem Abende einen Boten mit dem Antwortschreiben nach der Poststation senden solle, damit der Brief dann so schnell als möglich seine Weiterbeförderung finde. Der Freiherr, welcher in allen Dingen sich großer Pünktlichkeit befleißigte, rechnete es genau aus, wann die Herzogin auf diese Weise seine Antwort erhalten könne. Er gestand ihr die schickliche Zeit zum Aufbruch zu, er gab ihr auf das Genaueste den Weg, die Stationen, die Orte an, welche sie zu passiren hatte und an welchen sie übernachten sollte, er schrieb an die Gasthofsbesitzer, bei denen er abzusteigen gewohnt war, um für seine Cousine, die Frau Herzogin von Duras, das Quartier im Voraus zu bestellen, meldete ihr, daß sie für die letzte Tagereise an den geeigneten Orten Relaispferde aus seinen Stallungen finden werde, und schließlich bat er sie mit einnehmender Wendung, sie möge sich von dem Augenblicke ab, in welchem sie die Residenz verlasse, als seinen Gast und überhaupt als ein Familienmitglied ansehen, so lange sie ihm die Ehre erzeige, unter seinem Dache zu verweilen.

Mit einer Empfindung, die aus Rührung und Selbstzufriedenheit gemischt war, durchflog er den Brief und las ihn [205] dann Angelika vor, die auf seinen Wunsch noch einige Worte herzlicher Einladung dazu schrieb und sich im Voraus der Freundschaft ihres künftigen Gastes empfahl.

Beide, der Freiherr sowohl als Angelika, empfanden, indem sie einer Flüchtigen ihr Haus anboten, das Glück, welches sie in ihren wohlbegründeten und unangetasteten Verhältnissen besaßen. In das Mitleid, welches die gegenwärtige Lage der erwarteten Gäste ihnen einflößte, mischte sich unmerklich eine gewisse Eitelkeit, der es erwünscht war, eine Herzogin zur Verwandten zu haben und diese Verwandte beschützen zu können, und der zornige Widerwille gegen diejenigen, welche in Frankreich die Herrschaft des Königs gebrochen und einen Theil des Adels dahin gebracht hatten, seinen Besitzungen und seinem Vaterlande den Rücken zu kehren, war von dem Freiherrn und von Angelika niemals mit so viel persönlicher Bitterkeit empfunden worden, als jetzt. Je mehr man aber mit der Welt unzufrieden war, um so besser war man mit sich selbst zufrieden, und in diesem Wohlgefühle war man sehr geneigt, sich von der Anwesenheit der Gäste die mannigfachsten Genugthuungen zu versprechen.

[206]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel

Entschlüsse, welche man unter dem Einflusse einer augenblicklichen Gefühlserregung faßt, sind bei den meisten Menschen wie ein Rausch, dem eine abspannende Ernüchterung folgt, und nachdem man am andern Morgen die Zimmer ausgewählt und eingerichtet hatte, welche die Herzogin mit ihrem Bruder bewohnen solle, begann sich in dem Baron wie in Angelika, ohne daß sie es einander eingestanden, eine gewisse Besorgniß in Bezug auf die am verwichenen Abende mit so froher Zuversicht erwarteten Hausgenossen zu regen.

Der Baron, welcher die Herzogin seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte, dachte unwillkürlich an die Veränderung, die durch einen solchen Zeitraum in ihrem wie in seinem Aeußern hervorgebracht sein mußte, und ihm bangte vor dem Spiegel, welchen ihr Altwerden ihm entgegen halten konnte. Er erinnerte sich mit Vergnügen an den heitern Ton leichter Galanterie, in welchem er mit ihr zu verkehren pflegte, aber er mußte sich sagen, daß Angelika für denselben kein Verständniß besitze, daß ihr derselbe mißfallen habe, wo immer sie ihm begegnet war. Er hingegen dachte noch gern an jenes Federballspiel des Geistes und des Witzes, in welchem die französische Gesellschaft Meister gewesen war; er fand noch jetzt Vergnügen daran, und es fiel ihm plötzlich auf, daß er einen Theil seiner Fähigkeiten zu brauchen aufgehört, daß er an jener Liebenswürdigkeit, die man sonst an ihm bewundert, Abbruch gelitten habe, seit er sich der [207] Führung des Caplans und der ernsten Richtung seiner jungen Frau überlassen hatte. Er ward dadurch verstimmt, denn er mochte sich nicht eingestehen, daß er die große Welt und ihre erheiternde Gesellschaft vermisse, und während er sich selbst in seiner jetzigen Gestalt wie ein Fremder erschien, that es ihm weh, sich auch die Herzogin als eine gebrochene und gewandelte Frau denken zu müssen.

Von dem Marquis hatte er nun vollends keine Vorstellung. Er war vor fünfzehn Jahren ein hübscher junger Mensch gewesen, mit aller Keckheit und Frühreife eines Provençalen, ein wenig prahlerisch, ziemlich unbesonnen und sehr verliebt; und obschon der Baron trotz seiner Hinwendung zur Kirche in seinen Urtheilen nachsichtig genug gegen diejenigen zu sein pflegte, welche auf dem von ihm neuerdings verlassenen Wege gingen, so war ihm doch die Aussicht, einen jüngeren Mann von leichten Sitten, dem mancherlei Vorzüge nicht fehlen konnten, zum Hausgenossen zu bekommen, nicht eben erwünscht. Freilich zweifelte er durchaus nicht an der Tugend seiner Gattin, aber an der weiblichen Natur und Kraft im Allgemeinen. Weil er oft genug den Widerstand weiblicher Strenge besiegt hatte, machten seine eigenen Erfolge ihn vor den Erfolgen Anderer bange, und er litt jetzt unter dem Gedanken an früheres Glück, unter dem allgemeinen Mißgeschick der Lebemänner.

Nicht minder bedenklich als ihr Gatte fühlte sich Angelika. Sie war zur Eifersucht geneigt, war sich dessen bewußt, und der Blick, der sich ihr in die Vergangenheit ihres Mannes eröffnet, war nicht danach angethan, ihr dieselbe werth zu machen. Sie hatte sich in die Anschauungen eingelebt, daß Gott sie mit ihrem Gatten zusammengeführt habe, damit er sich mit ihr vereint zu einem reinen und heiligen Leben erhebe und in einer makellosen und würdigen Zukunft seine Jugendsünden und die Fehltritte seines Mannesalters sühne. Sie hatte sich der Hoffnung [208] hingegeben, daß er selbst jetzt mit Widerstreben in seine Vergangenheit zurückblicke, daß er abgeschlossen habe mit den Tagen, welche vor ihrer Ehe mit ihm lagen, und sie fand nun plötzlich, daß dem nicht so sei, sondern daß er sich ihrer und aller ihrer kleinen Einzelheiten mit einer Wärme erinnerte, welche eine noch ungebrochene Jugendlichkeit und Schnellkraft der Empfindung voraussetzen ließen.

Das beunruhigte Angelika. Sie fing an, es sich zum Vorwurfe zu machen, daß sie so schnell und so ohne weitere Ueberlegung in die Aufnahme der fremden Frau gewilligt hatte. Es fiel ihr ein, wie natürlich es gewesen wäre, der Herzogin das Haus in der Residenz wenigstens für die Dauer des Winters zum Aufenthalte anzubieten. Dann hätte man sie später zu einem Besuche in Richten auffordern, hätte sich gegenseitig kennen lernen mögen; und wenn es sich auf solche Art erwiesen, daß man zu einander passe, so wäre es ja dann noch immer an der Zeit gewesen, sie zu einem verlängerten Aufenthalte einzuladen, den man ihr jetzt in gewissem Sinne wie eine Wohlthat zugestand. Indeß Angelika verschwieg dem Freiherrn ihre Bedenken. Auch er hielt zurück, was sich Zweifelndes in ihm regte, und nur an den Caplan wendete sich die Baronin, um von ihm zu erfahren, was er von der Herzogin dachte und wußte.

Alles, was er von ihr berichten konnte, stammte aber aus der Zeit, in welcher der Caplan noch Reisebegleiter des jungen Freiherrn gewesen war. Er rühmte an der Herzogin ihre sichere Haltung bei völliger Freiheit des Betragens, ihre zuvorkommende Rücksichtnahme auf Andere bei einer entschiedenen Neigung zur Selbstbestimmung und bei einer gewissen Herrschsucht, welche mit ihrer Fröhlichkeit in Widerspruch zu stehen geschienen hätten. Er erzählte mit Wohlgefallen, wie einnehmend sie gewesen sei und wie sehr sie es verstanden habe, ihre Gäste an sich zu[209] fesseln, obschon sie ihnen volle Freiheit gegönnt. Das klang Alles äußerst bestechend, machte aber der Baronin doch kein sonderliches Vergnügen, und auch der Caplan schien nicht grade erfreut über die Aussicht auf den bevorstehenden Besuch.

Er kannte noch besser als sie selbst den leicht beweglichen Sinn des Freiherrn und die Ansprüche, welche Angelika an die Gesinnungstreue der Menschen machte. Er dachte des schweren Zerwürfnisses, welches zwischen den Eheleuten Statt gefunden und das kaum noch Zeit gehabt hatte, auszuheilen; und obgleich er sich sagte, daß es sein Bedenkliches habe, wenn zwei sehr ungleiche Charaktere lange ausschließlich auf einander angewiesen blieben, und daß die Gegenwart zwischen ihnen stehender Personen oftmals einen Zusammenstoß verhindere, der sonst nicht wohl ausbleiben könne, so war es ihm, wenn er an das freiherrliche Ehepaar gedachte, doch zweifelhaft, ob eben die Herzogin dazu geeignet und wie weit ihr Bruder dazu gemacht sein würde, diese wohlthätige Wirkung auszuüben.

Indeß auch er behielt seine Besorgniß vorsichtig für sich und da sowohl der Freiherr als Angelika hülfreichen Herzens waren, so schämten beide sich innerlich der halben Abgeneigtheit gegen die erwarteten Gäste, Ja, sie zeigten sich eben deßhalb doppelt bemüht, es an keiner Vorsorge und Rücksicht für sie fehlen zu lassen, und für ihren Empfang und Aufenthalt Alles in einer Weise vorzubereiten, welche den eigenen Wohlstand und Rang, den Geschmack der Hausfrau, die dankbare Erinnerung des Barons und zugleich die Verehrung und den Antheil ausdrücken sollte, welche man für die unglücklichen und sich selbst getreuen Standesgenossen hegte. Man war alltäglich mit der Vorsorge für sie beschäftigt. Der Baron und Angelika wußten immer noch irgend eine kleine Bequemlichkeit, eine Zierath in die Gemächer zu schaffen, die man schon jetzt als die Zimmer der Herzogin bezeichnete, bis man sich an dem Tage, an welchem [210] die Fremden zu erwarten standen, sagen durfte, daß man jetzt das Mögliche mit bestem Willen für sie gethan habe.

Die ganze Woche hindurch hatte es sehr scharf gefroren, am Morgen war nach langer Zeit wieder einmal Schnee gefallen, und gegen den Abend hatte ein scharfer Nordwind, der eisig über die Felder und durch die Wälder hinsauste, die Wolken verjagt, so daß die Sterne an dem Himmel flimmerten und man trotz der Dunkelheit es aus den Fenstern sehen konnte, wie die weiße Fläche sich weithin ausbreitete und die mächtige Linden-Allee, welche zum Schlosse führte, ihre gewaltigen beschneiten Aeste zum Himmel erhob.

Draußen wurde der Wind immer heftiger. Bald zog er in langsamem Stöhnen über die Gegend hin, bald rang sich aus dem Stöhnen ein plötzlicher Sturmstoß hervor, unter dessen Wucht die Aeste der Bäume knarrten, die Wetterfahnen auf dem Schlosse sich kreischend auf ihren Stangen herumdrehten, und die Krähen, welche sich zur Nachtruhe darauf niedergelassen hatten, erschreckt aufflogen und krächzend eine neue Ruhestätte suchten. Einmal schlug eine Thüre zu, die man in dem Seitenflügel des Schlosses, in dem sich die Wirthschaftsräume befanden, offen gelassen hatte; dann hörte man, wie mühsam bei dem Froste das Rad am Ziehbrunnen sich bewegte und wie der Ruß in den Kaminen und Schloten leise klingend herniederrieselte.

Es mochte sieben Uhr sein. Um diese Zeit konnte die Herzogin eintreffen, und schon seit einer halben Stunde hatte man am Anfange der Allee die Pechtonnen angezündet, deren Feuer dem Gaste ein erstes Willkommen in die Ferne zurufen und die Nähe der befreundeten Wohnung anzeigen sollten. Unten in der Halle und auf den Treppen und Gängen war Alles festlich erleuchtet. Die Dienerschaft hatte ihre Galalivreen angelegt, Windlichter standen bereit, um bei dem ersten Peitschenknalle des Kutschers der Herzogin entgegengebracht zu werden, [211] und oben in ihrem Wohnzimmer ging die Baronin auf und nieder, hier in müßiger Unruhe ein Buch zurecht legend, dort ein Bild grade richtend, bis sie sich ermüdet an dem Kamine niederließ, von dem sie sich bald wieder erhob, um an das Fenster zu treten und in die dunkle Nacht hinauszuschauen.

Der Baron hingegen saß ruhig lesend an dem Tische, der mitten in dem Zimmer stand. Nur von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf Angelika, wenn sie eben an ihm vorüberkam, und sah nach der Uhr hinüber, die in großem, vielschnörkligem Gehäuse auf dem Simse des Kamines stand, hell von den Kerzen der schweren Armleuchter beschienen.

Das verdroß Angelika, denn die Aufgeregte fühlte sich durch die Ruhe ihres Mannes getadelt, und als sie wieder eine Weile am Fenster gestanden hatte, wendete sie sich um und sagte: Ich fürchte, wir jagen der Herzogin einen Schreck mit unserm Freudenfeuer ein. Der Sturm erstickt es wieder und wieder, und der Qualm allein wird ihr entgegenkommen. Ich gäbe viel darum, wenn sie einen freundlicheren Abend für ihre Ankunft getroffen hätte.

Ja! versetzte der Freiherr, das Wetter ist sehr rauh! und nach der Fensterseite blickend, fügte er hinzu: Die Feuer scheinen aber doch eben jetzt erträglich zu brennen! Dann wendete er sich gelassen zu seinem Buche.

Indeß Angelika mochte des Schweigens müde sein, denn sie bemerkte: fremd, wie der Norden der Herzogin sei, müsse dieselbe doppelt widerwärtig von der Kälte berührt werden. Der Freiherr entgegnete, daß auch in der Provence heftige Winterstürme wütheten, und daß die Herzogin doch bereits zwei deutsche Winter durchlebt habe. Und wieder herrschte eine Weile das frühere Schweigen, und wieder ging Angelika auf und nieder, bis sie nicht ohne einen Anflug von übler Laune die Frage aufwarf: ob der Freiherr sich etwa vorgenommen [212] habe, das Buch, mit welchem er sich beschäftige, noch vor der Ankunft ihres Gastes zu beenden.

Nein, o nein! antwortete der Freiherr, indem er sich erhob und das Buch zusammenlegte; ich liebe es nur nicht, mich unnöthig in den Zustand eines Wartenden zu versetzen.

Als ob man das in seiner Gewalt hätte! wendete Angelika ein.

Ich wüßte wirklich nicht, meinte der Baron, was so völlig von uns selber abhängt, nichts, was uns so schmählich um die Zeit betrügt, als jenes Warten, das mit seiner Ungeduld das Herankommen eines bevorstehenden Ereignisses beschleunigen möchte. Man verwandelt auf diese Art einen Zustand, in welchem wir uns nothwendig leidend verhalten müssen, in einen gewisser Maßen thätigen, und man wird durch diese fruchtlose Anstrengung, die sich von Minute zu Minute steigert, so gequält, daß man dem erwarteten Ereigniß oder der erwarteten Person, eben um deßhalb meist überreizt oder abgespannt, also jedenfalls nicht in wünschenswerther Verfassung entgegentritt.

Kann es denn Jemanden verletzen, fragte Angelika, ungeduldig und lebhaft erwartet worden zu sein?

Gewiß, meine Beste! denn es ist nicht angenehm, zu erfahren, wie man seinen Wirthen ein Unbehagen verursacht habe, und noch weniger angenehm, es gleich zum Willkommen betheuern zu müssen, daß man die Schuld der verzögerten Ankunft nicht trage. In allen Lebensverhältnissen sind ein gemächliches Gehenlassen und eine gewisse anspruchslose Gleichgültigkeit vortreffliche Unterlagen für ein behagliches Zusammenleben.

Soll das eine Anmahnung für mich sein? fragte die Baronin.

Ja! entgegnete er, eine Anmahnung für Dich, an die Du mich erinnern sollst, wenn Du sie mir nöthig findest; denn in rechter Weise Gastfreundschaft zu üben, ist eine schwere [213] Kunst, ist eine Selbstprüfung, der nur wenige Familien gewachsen sind. Und ich würde angestanden haben ....

Angelika blickte betroffen zu ihm empor, aber es blieb ihnen keine weitere Zeit für diese Erörterungen.

Das sind sie! rief der Baron, als fern im Dorfe ein Hund anschlug.

In demselben Augenblicke meldete ein Diener, daß die Herrschaften kämen, man könne bereits das Licht in den Wagenlaternen blinken sehen.

Angelika trat an das Fenster, es war im Hofe plötzlich lebendig geworden. Das Bellen der Hunde, das Zurückschlagen der großen eisernen Gitterthüren, die Stimme des Haushofmeisters ließen sich vernehmen. Im unteren Corridore öffnete man hier und dort ein Zimmer; der Kammerdiener des Barons hatte ihm den Hut und den pelzverbrämten Sammetrock herbeigeholt und stand wartend an der Thüre.

Angelika und ihr Gatte sahen zum Fenster hinaus. Er hatte den Arm um ihren Leib geschlungen, ihre Hand ruhte auf seiner Schulter und sie sprachen beide nicht. Endlich hörte man das Knallen der Peitschen; der Vorreiter, den man den Gästen des Schneefalles wegen bis zur nächsten Station entgegengesandt hatte, ritt in den Hof, und der Baron trat in das Zimmer zurück, um seinen Pelz anzulegen und der Herzogin entgegen zu gehen.

Da faßte Angelika schnell seine Hand. Franz, sagte sie, mich überfällt plötzlich eine kindische Angst!

Vor der Herzogin? fragte der Baron lächelnd und wollte dem Diener folgen, der sich eben entfernt hatte.

O, lache nicht! rief sie, so wie jetzt, ist mir in meinem Leben nicht gewesen, und könnte ich mit den schwersten Opfern es verhindern, daß die Fremden mit uns leben, ich wollte diese Opfer bringen! – Die Thränen kamen ihr dabei in die Augen und ihre Aufregung war unverkennbar.

[214] Der Freiherr war erschrocken, aber es war keine Zeit zu verlieren.

Ich beschwöre Dich, Kind, verbanne diese Gedanken! bat er dringend. Komm, gieb mir die Hand; sind wir doch Eins, waren wir doch Eins in der Ueberzeugung, daß wir der befreundeten fürstlichen Frau hier eine Zufluchtsstätte bereiten müßten – woher also diese Aufregung? Woher dieses thörichte, thörichte Bangen, Du liebes, zaghaftes Weib?

Er nahm sie in seine Arme, er küßte sie, und er liebte Angelika, weil sie ihn oft schwach gesehen hatte, stets am meisten, wenn sie sich hülfsbedürftig an ihn lehnte. Weine nicht, sei schön und heiter, bat er, als er dann eilig von ihr ging. Aber die Heiterkeit wollte ihr nicht kommen, und bangen Herzens schaute sie in den Hof hinunter, in welchen eben jetzt die Kutsche einfuhr.

Wenn jetzt ein Stern herniederschießt, sagte sie, plötzlich in die Höhe blickend, so soll mir das ein Zeichen sein, daß ich guten Muthes sein darf und daß es Freunde sind, die mir nahen!

Sie schaute empor, zur Rechten, zur Linken – es blieb Alles dunkel. Das bedrückte ihr das Herz, und eben wollte sie sich vom Fenster entfernen, um die Herzogin zu empfangen, da wandte sie den Kopf noch einmal zurück, und hell und strahlend schoß ein Lichtstreifen vom Zenith quer zum Horizont hinab. Gottlob! rief Angelika, und mit hellem Auge und freudiger Bewegung eilte sie auf die Herzogin zu, welche eben jetzt am Arme des Barons in das Zimmer eintrat.

[215]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel

Mitternacht war vorüber, als Angelika selbst die Herzogin nach ihren Gemächern geleitete und von dieser mit einer Umarmung entlassen wurde.

Nun, Angelika, fragte der Freiherr, als seine Gattin zu ihm zurückkehrte, wie gefällt Dir unser Gast?

Wie kann von Gefallen die Rede sein, rief die Baronin mit einer ihr ungewöhnlichen Lebhaftigkeit aus, wo man sich wie von einem Zauber umfangen fühlt? Ich hatte mir die Herzogin nach Deinen und des Caplans Schilderungen nicht schön gedacht, und schön ist sie auch nicht, wenigstens nicht in dem Sinne, den die Menge mit dem Worte verbindet; aber ich meine, wenn man einmal in diese sanften, blauen Augen geblickt hat, so kann man nicht mehr aufhören, sich nach ihnen hinzuwenden; sie sind so klug und dabei so mild, daß es mir leid that, wenn sie die Lider senkte und der dunkle Vorhang ihrer Wimpern mir die hellen, freundlichen Sterne entzog.

Der Freiherr lächelte. Du wirst dichterisch begeistert, meinte er, und ich habe Dich in der That noch nie für Jemanden so schnell und so entschieden günstig eingenommen gesehen. Uebrigens hat die Herzogin sich wirklich gut erhalten. Das ist ein Vorzug dieser feinen, kleinen Gestalten und der hellen Blondinen. Ihr Haar ist noch schön, selbst unter dem Puder, und der Contrast desselben mit den schwarzen Wimpern, der ihre Physiognomie reizend machte, als sie jung war, wirkt noch anziehend.

[216] Und wie kleidet sie sich, wie spricht sie! rief Angelika mit der früheren Erregung. Es ist Alles Harmonie an ihr! Das schöne, weiche Haar, welches an ihrer Stirne herabfällt, und das weiche, graue Schleppkleid und ihr leises, sanftes Sprechen, Alles stimmt zusammen. Dieser Frau muß sich das Herz der Menschen öffnen, wie dem Frühlingslichte; diese Frau werde ich lieben, das fühle ich.

Der Freiherr hörte das mit Verwunderung. Er selbst war bewegt worden durch das Wiedersehen Margarethen's. Ihre edle Bildung, ihre einfache Würde hatten ihm jetzt in ihrem Unglücke einen erhöhten Eindruck gemacht, aber er war weltgewohnter, hatte in sich doch immer den Vergleich zwischen der jetzigen und der früheren Erscheinung seiner Freundin zu machen, und da er überhaupt in seinen Urtheilen zurückhaltend war, wenn nicht eine leidenschaftliche Erregung seinen Sinn bewegte, so machte die außerordentliche Bewunderung, welche Angelika für die ihr noch fremde Frau an den Tag legte, eine entgegengesetzte Wirkung auf ihn. Er hätte nicht sagen können, weßhalb ihm die Begeisterung Angelika's mißfiel, aber er glaubte sie bekämpfen oder ihr doch wenigstens Schranken setzen zu müssen, und während er die Baronin bisher stets für die Herzogin zu gewinnen und einzunehmen gesucht hatte, erinnerte er sie jetzt daran, daß es nicht weise sei, in ein neues Verhältniß mit hochgespannten Erwartungen einzutreten, weil man damit nicht nur sich selbst Enttäuschungen vorbereite, sondern auch demjenigen Unrecht thue, von dem man Außerordentliches erwarte, ohne zu wissen, in wie weit er gewillt und fähig sei, ein solches zu leisten.

Diese Mahnung betrübte die Baronin. Du weißt, sagte sie mit einem Anfluge von Empfindlichkeit, wie gern ich bereit bin, mich Deiner mir überlegenen Erfahrung unterzuordnen; aber mich dünkt, bisweilen wäre es großmüthiger von Dir, [217] mich den Irrthümern meines Alters zu überlassen. Es ist ein solches Glück, eine recht volle, große Bewunderung zu fühlen, und daß die Herzogin mir Gutes bringt, dafür habe ich ein Zeichen.

Der Freiherr wollte wissen, worin dieses Zeichen bestehe; Angelika verweigerte neckend, es zu sagen, da sie bemerkt hatte, daß ihre nicht absichtslose Erwähnung des Altersunterschiedes zwischen ihr und ihrem Manne diesem nicht angenehm gewesen war, und als er dann, ebenfalls scherzend, mit Bitten in sie drang, legte sie die Arme über einander, blickte ihm in die Augen und sagte: O, frage mich nicht!

Sie hatte dabei Bewegung und Ton der Herzogin nachgeahmt, und das stand ihr vortrefflich, denn Frauen von ernstem Sinne, die immer nur in der Wahrheit leben, immer nur sie selbst sind, bekommen leicht etwas Strenges in ihrer Physiognomie und Haltung, und das war Angelika's Fall. Sie verschmähte den Schein in jedem Betrachte, und doch ist der schöne Schein die eigentliche Form, in welcher der Mensch sein Wesen kund zu geben hat, wenn es nachhaltig wohlthuend und in jedem Augenblicke erfreulich auf Andere wirken soll. Auch das Höchste und Erhabenste kann der schönen, der durch Bildung und Achtsamkeit zur Natur gewordenen Form nicht entbehren, und es entzückte den Freiherrn, als er plötzlich gewahr wurde, daß Angelika, bestochen von der Anmuth der Herzogin, sich selber nicht mehr genügte, daß sie in neuer Weise ihm zu gefallen bemüht war, weil sie selbst ein lebhaftes Wohlgefallen empfunden hatte.

Er sagte ihr verbindlich, daß die kleine Coquetterie sie reizend mache, sie versicherte, daß er das Vergnügen, sie reizend zu finden, der Herzogin verdanke, und von Wort zu Wort, von Scherz zu Scherz fortgetragen, fanden die Eheleute sich in eine Art der Unterhaltung und in eine geistreiche Heiterkeit versetzt, [218] wie sie nie zuvor zwischen ihnen Statt gefunden hatte. Als Braut war Angelika zu schüchtern dafür gewesen, und nach ihrer Verheirathung zu kummervoll. Dann hatte die Richtung auf das Religiöse sie gefangen genommen, und obschon der Baron sich in diese Richtung hineinziehen lassen, ja, zu Zeiten selbst Trost und Beruhigung aus ihr geschöpft hatte, so waren doch die alte Gewohnheit und Neigung des Welt- und Lebemannes nicht in ihm erloschen, und der Gedanke, daß Angelika zu ernst, zu streng, zu unjugendlich sei, war in ihm häufig aufgestiegen.

Er kam sich selbst verjüngt vor, und er schien auch Angelika jünger und liebenswürdiger, als sonst, da er sich in dem ihm natürlichen Tone freier Heiterkeit bewegen durfte, so daß er ihr aussprach, wie ihr Frohsinn ihn nicht nur um seinetwillen, sondern auch um ihres Knaben wegen freue.

Ich habe wirklich oftmals besorgt, sagte er, Deine ausschließliche Hinwendung auf das Ernste und Erhabene könne unserem armen Renatus, wenn er uns heranwächst, sein junges Leben trüben; und wenn ich mir vorstellte, daß mein Sohn, daß ein Arten ohne Freiheit, ohne Heiterkeit, ohne ein wenig Uebermuth und Tollheit, ohne die es nun einmal bei Unsereinem nichts werden kann, erzogen werden sollte, so habe ich wohl bisweilen den sündhaften Wunsch gehegt, Du möchtest unbedeutender und harmloser sein, und daran gedacht, den Caplan zu entfernen, wie hart mir das auch angekommen wäre. Denn ....

Denn Renatus geht Dir über Alles, schaltete Angelika ein, welche in der Stimmung war, selbst solche Aeußerungen ihres Mannes, da sie mit lachender Lippe und zärtlichem Auge gesprochen wurden, unbefangen aufzunehmen.

Ja, wiederholte der Baron, Renatus geht mir über Alles. Ist er nicht der Träger unseres Hauses und Dein Sohn?

[219] Sie waren damit in das Nebengemach gegangen, in welchem das Kind in seiner Wiege schlief, und als die Wärterin die Gardine zurückschlug, damit die Eltern, wie sie es an jedem Abende thaten, den Kleinen noch einmal betrachten konnten, neigte sich die Mutter zu ihm hernieder, küßte sein Händchen, das auf der seidenen Decke lag, und sagte: Also Dir und Deinem Vater, Du lieber Engel, ist die gute Herzogin auch zu Hülfe gekommen! Nun, dafür wollen wir sie aber auch von Herzen lieben!

Sie hatte auch das wieder mit jenem ihr neuen Tone scherzender Coquetterie gesprochen, und sie gefiel sich darin selber. Noch ehe sie sich in das Schlafgemach zurückzog, gab sie ihrer Kammerfrau die Weisung, ihr für den Morgenanzug verschiedene Zierathen und Bänder zu beliebiger Auswahl bereit zu legen. Auch das war eine Neuerung. Die Huldigung und die Bewunderung, welche die Männer in der Residenz und am Hofe ihr gezollt, hatten sie völlig kalt gelassen, die bloße Erscheinung der Herzogin regte sie auf; denn sie gehörte zu jenen Frauen, die weniger durch die Neigung für den Mann als durch die Nebenbuhlerschaft mit ihrem eigenen Geschlechte in Bewegung gesetzt und geleitet werden, weil sie nicht einem Andern, sondern sich selbst genügen wollen, und die nicht lieben können ohne rückblickenden Vergleich auf sich, ja, die oft, ohne es zu wissen, sogar auf die Bewunderung eifersüchtig sind, welche sie einer Andern zollen.

Ueber dem Antheile, den man an der Herzogin nahm, hatte man ihres Bruders beinahe vergessen, obschon sich in dem Marquis das Bestreben, zu gefallen und die Aufmerksamkeit und Theilnahme der Andern auf sich zu ziehen, unverkennbar kund gab. Gelang ihm dies, so war er lebhaft und voll guter Laune, beschäftigte man sich nicht mit ihm, so versank er in eine Zerstreutheit, in eine Gleichgültigkeit, die es klar verriethen, [220] daß er wohl die Rücksicht auf Andere, aber nie die eigene Befriedigung aus den Augen setzen könne.

Er war dreißig Jahre alt und sah noch jünger aus. Seine mittelgroße Gestalt war leicht und fein, sein Schritt vorsichtig wie der eines Hofmannes, und auf eine Laufbahn am Hofe hatte er es ursprünglich auch wohl abgesehen. Er sah ein wenig bleich, ein wenig ermüdet aus, aber er trug den Degen, den kleinen Haarbeutel und den seidenen Strumpf mit so viel Zierlichkeit, er scherzte und bewegte sich so heiter, daß man Mühe hatte, an seine Kränklichkeit zu glauben, von welcher die Herzogin stets sprach, oder ihre Sorgfalt für ihn so nothwendig zu glauben, als sie dieselbe darzustellen liebte.

Seine Befriedigung und sein augenblickliches Behagen waren ihm unverkennbar das Wichtigste auf der Welt. Selbst der politische Zustand seines Vaterlandes schien ihm bisher nicht viel Kummer gemacht zu haben. Er hatte, als der jüngste von mehreren Brüdern, kein Vermögen; die Herzogin hatte für ihn gesorgt, und er überließ ihr diese Sorge auch jetzt und für die Zukunft. Freilich war es eine selbstsüchtige Liebe, welche sie für den Bruder hegte, denn sie wünschte sich in ihm einen Gesellschafter zu erhalten, der ihr angehörte und ihr doch völlige Freiheit ließ; aber sie mußte es wenigstens verstanden haben, ihm die Bande leicht und die Abhängigkeit lieb zu machen, in denen sie ihn gefesselt hielt.

Er war ausgewandert, weil die Herzogin es so gewollt hatte, und diese war umsichtig genug gewesen, die Auswanderung rechtzeitig vorzubereiten. Bald nach dem Ausbruche der Revolution hatte sie bedeutende Capitalien flüssig gemacht und in sicheren Händen außer Landes niedergelegt. Weil man aber nach der Flucht aus Frankreich auf eine schnelle Rückkehr in die Heimath gerechnet, so hatte die Herzogin Anfangs auch in Deutschland das ihr gewohnte breite und fürstliche Leben fortgeführt, und der Augenblick war denn, da man an die Heimkehr [221] nicht denken konnte, schnell genug gekommen, in welchem es sich absehen ließ, wann sie mit ihrem Bruder sich mittellos, wie so viele ihrer französischen Standesgenossen, aller Noth der Verbannung und Entbehrung anheimgegeben finden würde.

Da hatte sie zum ersten Male eine große Verzagtheit überfallen, und in ihren eigenen Verhältnissen und Verbindungen umherschauend, hatten ihre Gedanken sich auf den Freiherrn von Arten gerichtet. Daß sie bei diesem Manne sich keiner abschlägigen Antwort versehen durfte, wenn sie im Namen ihrer Stammesverwandtschaft seine Gastlichkeit und seinen Beistand in Anspruch nahm, davon hielt sie sich überzeugt, und ihre Erwartung hatte sie nicht getäuscht, ja, sie hatte dieselbe bei ihrem Empfange noch weit hinaus übertroffen gefunden. Nur in Einem Betrachte hatte die Herzogin sich geirrt: sie hatte die Bedeutung der Baronin unterschätzt und, nachdem sie dieselbe mit scharfem Blicke schnell erkannt, sich nicht der Hingebung versehen, welche Angelika ihr seit der Stunde ihrer Ankunft entgegenbrachte.

Die Baronin hatte den guten Geschmack, ihren Gästen nicht gleich in den ersten Tagen die Bekanntschaft der benachbarten Adelsfamilien, mit denen man, seit der Baron verheirathet war, ohnehin nur geringen Verkehr unterhalten hatte, anzubieten, oder besondere Zerstreuungen und Unterhaltungen für sie vorzubereiten. Denn wem man das Gute, das man besitzt, alles auf einmal und gleich bei seiner Ankunft darbringt, dem giebt man damit unwillkürlich zu verstehen, daß man ein langes Verweilen nicht von ihm erwarte; wem man aber die Zeit läßt, sich erst heimisch in dem Hause zu machen, dessen Gast er sein soll, wen man vor allen Dingen erst sich zu einem Hausgenossen einleben läßt, dem gewährt man die Möglichkeit, sich allmählich anzueignen, was ihm von dem Nächstliegenden wünschenswerth ist, und sich selbst nach demjenigen umzuschauen, was ihn von fern her lockend oder angenehm bedünkt.

[222] Das Leben im Schlosse gewann nun auf diese Weise plötzlich einen neuen Mittelpunkt und das Alltägliche in demselben eine veränderte Bedeutung, weil man es mit dem Hinblicke auf die Gäste ansah und bedachte, und weil durch das Zusammensein einer größeren Menschenzahl dem schöpferischen Walten des Zufalls mehr Raum geboten wurde, als bisher. Der Freiherr und seine Gattin und der Caplan kannten einander so genau, Jeder wußte mit nie irrender Zuversicht, was er im gegebenen Falle von dem Anderen zu erwarten hatte. Was man besaß, hatte man genossen, und da man sich außerdem in der Lage befand, der Sorgen für des Lebens Nothdurft enthoben zu sein, so hatte man in der letzten Zeit im Schlosse, wenn nicht von Außen sich Anregungen boten, in einem Zustande der Ruhe gelebt, dessen Vorzüge man zwar zu würdigen wußte, der aber in seiner Einförmigkeit doch auch seine Gefahren barg.

Bei Personen von Bildung, wie die Schloßherrschaft und ihre Gäste, bei Menschen, die sich selbst zu achten verstanden, konnte es natürlich nicht leicht und nicht schnell zu jenen Mittheilungen über die eigenen Angelegenheiten kommen, welche bei Leuten, denen der Sinn für das Allgemeine abgeht, den eigentlichen Boden des gegenseitigen Antheilnehmens ausmachen. Aber da man die gleichen Ansichten über den Kampf hatte, der in Frankreich von dem Bürgerstande gegen den Adel und das von diesem getragene und ihn schützende Königthum ausgefochten wurde, da von dem Siege des Letzteren die Erhaltung der eigenen Vorrechte abhing, während durch seinen Sturz die eigene bisherige Existenz in Frage gestellt ward, so besaß man in diesen gemeinsamen Sorgen und Befürchtungen die erste sichere Annäherung und Verständigung, wenngleich der Freiherr und seine Gattin noch keinen Anlaß gefunden hatten, an eine ihnen und ihrem Vaterlande drohende Gefahr zu glauben.

[223]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel

Neben diesen Befürchtungen und Hoffnungen für die Monarchien und den Adel im Allgemeinen war es der Kirchenbau, welcher bald ein Gegenstand gemeinsamer Berathungen wurde, und auch in Bezug auf diesen fehlte es an Sorgen und an Hoffnungen nicht. Denn wie schon die erste Absicht dieses Unternehmens in der Herrschaft nicht mit gutem Auge angesehen worden war, so war die Abneigung gegen dasselbe nur gestiegen, seit man die Vorkehrungen dafür zu treffen angefangen hatte.

Seit mehr als einem Menschenalter und darüber hinaus waren in Richten keine Bauten ausgeführt worden, zu denen man genöthigt gewesen wäre, Fremde herbeizurufen. Die protestantische Kirche in Neudorf stand fest gegründet und wohl gefügt seit mehr als hundertundfünfzig Jahren, der Schloßbau war, so wie er sich gegenwärtig darstellte, auch schon vor der Geburt seines jetzigen Besitzers vollendet worden, und was man sonst an Baulichkeiten für das Beamtenpersonal, an Wirthschaftsgebäuden und an gelegentlichen Reparaturen nöthig gehabt, das hatte der in Rothenfeld ansässige Maurer theils allein und nach eigener Einsicht mit den Gutsleuten, theils unter Anleitung und Aufsicht des Meisters aus der Kreisstadt mit dessen Arbeitern ausgeführt. Nun sollte endlich wieder einmal ein bedeutendes Bauwerk in Angriff genommen werden, und die Leute hatten sich, so wenig sie sich auch der Gründung einer katholischen[224] Kirche erfreuten, doch der Hoffnung hingegeben, daß dabei ein Gewinn für sie nicht fehlen könne, wenn sie der Herrschaft auch zu bestimmten Tagesleistungen, deren Zahl nicht gering war, verpflichtet waren.

Aber gleich bei der Grundsteinlegung in Rothenfeld hatten sie die Erfahrung gemacht, daß es nicht bei dem guten Alten bleiben solle. Denn es waren Briefe nach auswärts geschrieben worden, und nach den Antworten, welche auf diese Briefe gekommen waren, hatte nicht der Maurer aus Rothenfeld, der das doch gewiß verstand, sondern der Meister aus der Kreisstadt die Arbeit verrichten müssen.

Die Mißstimmung war seitdem eine allgemeine gewesen. Sogar diejenigen, welche bei dem Baue selbst nichts zu leisten hatten, fanden eine angenehme Beschäftigung darin, die Betheiligten in dem Gedanken der Ehrenkränkung und in der Erbitterung über dieselbe zu bestärken und zu befestigen. Sie wollten doch wissen, wie die Betroffenen sich dabei benehmen würden, wenn ihnen so etwas geboten werde, denn in dem Aufstacheln und Hetzen, in dem eifrigen Zusprechen und in dem schlauen Besänftigen war eine Thätigkeit verborgen, durch die man sich unterhielt und in welcher man für seine Freunde und für die Gutsherrschaft zugleich, zu einer wichtigen Person wurde, ohne daß man selbst Kosten hatte oder Gefahr dabei lief; und sich ohne alle Gefahr zu einer wichtigen Person zu machen, ist den meisten Menschen ein Vergnügen.

Den Winter hindurch lag das Alles, wie die Saat in der Erde, still und verborgen. Als aber das Frühjahr heraufzog und man daran denken konnte, an den Bau zu gehen, dessen Beginn die Baronin kaum zu erwarten vermochte, änderte sich die Sache.

Es war im Anfang des Maimonats, als der fremde Baumeister in Schloß Richten erwartet wurde. Man hatte ihm einen Wagen bis in die nächste Stadt entgegengesendet, im [225] Schlosse waren zwei Zimmer für ihn hergerichtet worden, und obschon man wußte, daß der Baron den Bau einem jungen Manne übertragen hatte, dessen Vater, einen tüchtigen Maler er zur Zeit seiner ersten Reisen in Italien kennen gelernt, und der dann später auch in Richten die Eltern und die Schwester des Barons gemalt hatte, so fand man dennoch, daß um eines bloßen Baumeisters, und noch dazu um eines so jungen Menschen willen, viel zu viel Aufhebens gemacht werde.

Als dann an dem festgesetzten Tage der Wagen, welcher den Architekten brachte, durch Neudorf fuhr, bemerkte die Pfarrerin, die den ganzen Nachmittag, als ob es Sonntag wäre, mit dem Strickzeug am Fenster gesessen hatte, daß der junge Herr sich das Verdeck der Kalesche habe zurückschlagen lassen.

Er macht's wie der Herr Baron, wenn er von Reisen kommt, sagte sie spöttisch lächelnd. Er gönnt uns das Vergnügen, gleich sein Antlitz anzuschauen! Ach! und er ist so höflich, gleich zu grüßen! bemerkte sie in demselben Tone, während sie jedoch nicht unterließ, mit der freundlichsten Miene zu danken und dabei die rechte Hand, wie die gute Sitte es mit sich brachte, an die unterste Krampe des Fensters zu legen, als stehe sie auf dem Punkte, es zu öffnen und den Vorüberfahrenden zur Einkehr aufzufordern.

Der Pfarrer, der sich nicht leicht von seinem Stuhle vor dem Studirtische fortlocken ließ, hob sich doch von seinem Sitze empor und hatte offenbar die Absicht, auf die Bemerkung seiner Frau an das Fenster zu treten. Aber das Gefühl seiner Würde trug es über seine Neugier schnell davon, und ruhig sitzen bleibend sagte er: Was läßt sich denn Anderes als Selbstverblendung erwarten von einem jungen Manne, der durch die Gnade Gottes in einer rechtschaffenen protestantischen Familie geboren worden ist und sich dazu hergiebt, dem Ball Tempel zu erbauen! Ich hoffe, er wird nicht die Stirne haben, sich in [226] ein ehrbares protestantisches Pfarrhaus einzuführen. Ich mag nichts zu schaffen haben mit solchen Abtrünnigen.

Man wird ihn aber doch im Schlosse treffen, wenn man an den Feiertagen zur Mittagstafel eingeladen wird! wendete die Pfarrerin ein, die stets überlegt und vorsichtig an die Zukunft dachte und dabei nicht abgeneigt war, von dem Architekten auch einmal etwas Neues aus der Welt zu vernehmen.

Dann wird man ihn nach Gebühr zu behandeln wissen, erwiderte der Pfarrer, und schlimm genug, daß er nicht der einzige Abtrünnige ist, dem man jetzt auf dem Schlosse zu begegnen hat!

Mann! Aber um Gottes willen, lieber Mann! rief die Pfarrerin, der solche Aeußerungen ihres gestrengen Eheherrn immer die Kälte durch alle Glieder jagten, und die sich vorsichtig umsah, ob nicht etwa die Thüre nach der Küche offen sei. Bedenke doch, daß unseres Gotthold's ganze Zukunft von der Herrschaft abhängt, und daß ....

Mag er durch die Lande gehen, wie ich vielleicht es auch noch thun werde, und wie mancher Bessere als ich, wie ja auch der fromme Paul Gerhard es einst gethan hat. Besser Hunger und Durst und Frost und Hitze tragen, als abfallen von der heiligen reinen Lehre, auf die wir getauft sind und die zu verkünden wir geschworen haben!

Er stand bei diesen Worten endlich von seinem Platze auf, und ging in der Stube auf und nieder, in so ernste Gedanken versenkt, daß die gutmüthige und ängstliche Frau, die zu ihrem Gatten wie zu dem Urquell aller Weisheit emporschaute und zu ihm als zu einem Muster gewissenhafter Redlichkeit aufsehen durfte, ihn nicht mehr unterbrach, und schweigend überlegte, wie es hier noch werden, und was ihr und ihrem Manne und ihrem Sohne noch für Unglück beschieden sein könne.

Während dessen fuhr der junge Mann, welcher, ohne es zu wissen, den Anlaß zu dem Kummer der Pfarrerin gegeben [227] hatte, in fröhlichster Stimmung durch das Dorf. Er freute sich des Sonnenscheins und der Wärme, er sah die weißen Wölkchen an dem hellen Himmel mit dem träumerischen Wohlgefallen eines Kindes über sich hingleiten, er warf, als er durch Rothenfeld kam, einen freundlichen Gruß nach dem Amtshause hinüber, aus dessen offenem Fenster die hübsche Schwester des jungen Amtmannes neugierig nach dem Fremden hinausguckte, und er gewahrte dann mit Behagen, wie das Schloß sich immer deutlicher vor seinen Augen entfaltete.

Seine Gedanken gewannen dadurch eine bestimmte Richtung, das hindämmernde Wohlgefühl machte ernsteren Ueberlegungen Platz. Er erkannte, nach den Zeichnungen, die man an ihm übersendet hatte, die Stelle, welche für den Kirchenbau bestimmt war, und die Ueberzeugung, die er schon brieflich mehrfach ausgesprochen, daß der geweihte Ort nicht der rechte Platz sei, daß die Kirche von dem Punkte aus lange nicht die Wirkung machen würde, die sie haben könnte, wenn man sie auf der kleinen Höhe aufrichtete, welche sich am Ende des Parkes, fast dem Schlosse gegenüber, erhob, stellte sich ihm jetzt als eine Gewißheit dar.

Dazu sah er, daß man ihm auch über das Terrain nicht mit der nöthigen Sachkenntniß berichtet habe. Der Boden in Rothenfeld war keineswegs so trocken, als man ihn geschildert hatte und wie er sich an der Oberfläche zeigte. Ueberall, selbst ganz in der Nähe des Bauplatzes, kamen Quellen zum Vorschein, und wenn man auch bei der Grundsteinlegung für die Kapelle nicht auf Wasser gestoßen war, so konnte es nicht fehlen, daß man jetzt, da man für den Kirchenbau ein ganz anderes Fundament zu legen und deßhalb viel tiefer zu graben hatte, nothwendig auf Wasser kommen mußte, das zu beseitigen jedenfalls Schwierigkeiten und unnöthige und bedeutende Kosten veranlassen konnte.

Wer es mit einer Arbeit, einem Gewerbe oder Geschäfte zu thun hat, das seiner Natur nach die beständige Anwendung [228] des streng urtheilenden Verstandes erfordert und in dem sich das Abweichen von dem Gesetze und der Regel stets augenblicklich und ersichtlich rächt, der gewöhnt sich, die Unterordnung unter das Vernünftige und Zweckmäßige, deren er sich zu befleißigen hat, auch bei anderen Menschen vorauszusetzen. Er wird, wie groß sein Gemüthsleben und sein Schönheitssinn daneben auch sein mögen, vor allen Dingen ein praktischer Mensch, und kann es sich nicht erklären, daß Andere sich mit launenhafter persönlicher Willkür gegen das von der Vernunft und Nothwendigkeit Gebotene auflehnen mögen. So hatte denn Herbert das Schloß noch nicht erreicht, als es bei ihm feststand, daß man die Kirche nicht in Rothenfeld, sondern auf der Höhe in Richten erbauen müsse. Er erwog daher im Geiste nur die Aenderungen, welche sein Entwurf durch die ihm unerläßlich dünkende Verlegung der Kirche zu erleiden haben würde, und fuhr mit dem heiteren Bewußtsein, dem Baron zweckmäßige und darum willkommene Vorschläge machen zu können, in den Schloßhof ein.

Der Diener, welcher ihm sein Zimmer anwies, bemerkte ihm, daß man um ein Uhr speise, daß die Herrschaft ihn zur Tafel erwarte, und es blieb Herbert daher nur eben die Zeit, sich für sein erstes Erscheinen in der Familie des Freiherrn angemessen umzukleiden. Er war achtundzwanzig Jahre alt und ein schlanker braunäugiger Mann, voll heiterer Sicherheit im Betragen. Er war im Wohlstande aufgewachsen, hatte zu seiner künstlerischen Ausbildung Italien, England und Frankreich bereist und war, da er ein hübsches Vermögen durch seinen Vater für sich er worben wußte, durchaus darauf gestellt, seinen Platz in der Welt nach seinem Sinne auszufüllen und zu behaupten.

Verschiedene Bauten, die er trotz seiner Jugend in seiner Vaterstadt und in deren Umgebung bereits ausgeführt, hatten ihm einen guten Namen gemacht, so daß sein Vater ihn mit Fug und Recht dem Freiherrn hatte empfehlen können, als [229] dieser bei dem alten Freunde um einen Architekten für seinen Kapellenbau nachgefragt. Man hatte sich dann schriftlich in Verbindung gesetzt, und Bauherr und Architekt waren mit dem gegenseitigen Verhalten so wohl zufrieden gewesen, daß Herbert sich der bevorstehenden persönlichen Bekanntschaft mit dem Freiherrn, von dem er, seit er denken konnte, hatte sprechen und Gutes sagen hören, lebhaft erfreute. Er war bereits selbstständig und Weltmann genug, um sich von der Begegnung mit vornehmen Leuten keine besondere Vorstellung zu machen, und doch noch in dem Alter, in welchem die Aussicht, mit einem gebildeten Edelmanne täglich zu verkehren und für eine längere Zeit der Hausgenosse der schönen Schloßherrin zu werden, ihn reizte und beschäftigte. So ging er denn nicht ohne Achtsamsamkeit daran, sich für die bevorstehende Zusammenkunft zu kleiden. Sein ungepudertes Haar wallte ihm frei um den Nacken, das erbsenfarbene Beinkleid und die niedrigen Klappstiefel zeigten, wie gut er gewachsen sei, der braune, weit vom Halse abfallende Frack ließ mit seinen langen schmalen Schößen den ganzen Vorderkörper frei, die Weste schlug in breiten, spitzen Rabatten auf der Brust zurück, das weiße Halstuch, das große Jabot, die dunkle Camee in demselben und die Uhrkette mit den vielen Berloques würden von jedem Incroyable in Paris als tadellos befunden worden sein. Auch gestand Herbert es sich mit unschuldiger Selbstgefälligkeit, daß er sich wohl sehen lassen dürfe.

Herzlich guten Muthes folgte er dem Diener, der ihn zur Tafel rufen kam, und es gefiel ihm, daß er auf diese Weise nicht erst jenes Examen des gesellschaftlichen Verkehrs zu bestehen haben sollte, welches vornehme Herren mit Jedem anzustellen sich für verpflichtet halten, dessen Kräfte sie irgendwie in ihrem Dienste verwenden, dessen Arbeit sie bezahlen.

[230]
16. Capitel
Sechzehntes Capitel

Die breite Stiege hinauf geleitete der voranschreitende Diener den jungen Baumeister über den weiten Flur und durch ein Vorgemach nach dem Zimmer der Baronin, dann öffnete er ihm die Thüre desselben, um ihn eintreten zu lassen.

Der Baron stand auf, als er Herbert erblickte, ging ihm freundlich entgegen und sagte, indem er ihm die Hand reichte: Willkommen, lieber junger Mann, und doppelt willkommen, denn ich begrüße in Ihnen den Sohn eines werthen Jugendgefährten und zugleich den Mitarbeiter an einem Werke, dessen Ausführung mir und der Baronin eine Gewissenssache ist. Je eifriger Sie sich daran halten, es seiner Vollendung entgegen zu führen, um so mehr werden die Baronin und ich es Ihnen danken. – Er führte ihn damit Angelika zu, die ihn ebenfalls willkommen hieß; aber ihren Worten und ihren Mienen fehlte der Ausdruck der Freundlichkeit, die der Baron ihm bewiesen hatte, und wie ein erkältender Hauch fuhr ihm der Gedanke durch den Sinn: dieser Frau mißfalle ich!

Wie dies geschehen könne, da er kaum noch ein Wort gesprochen und da er gewohnt war, durch seine Erscheinung sonst ein günstiges Vorurtheil für sich zu erwecken, das begriff er allerdings nicht; indeß er war sicher, sich in seiner Voraussetzung nicht zu irren. Der beobachtende Blick, mit welchem Angelika ihn betrachtete, dünkte ihm mit einem spottenden Zuge um ihre Lippen in Verbindung zu stehen, und obschon er sich [231] es nicht leugnen konnte, daß sie schön sei, fühlte er sich dennoch von ihr eher abgestoßen, als angezogen. Die heitere Zuversicht, mit der er ihr genaht war, ging ihm dadurch verloren; er sagte sich, daß man mit dieser Frau auf seiner Hut sein müsse, und er nahm sich vor, ihrem adeligen Stolze sein unabhängiges bürgerliches Wesen und sein freies Künstlerbewußtsein mit fester Entschiedenheit entgegenzusetzen.

Der Baron fragte ihn nach seinem Vater, erinnerte daran, wie dieser, als er aus Italien zurückgekehrt, hier im Schlosse die Eltern und die Schwester des Freiherrn gemalt und dieselben Zimmer bewohnt habe, welche man Herbert jetzt angewiesen hatte. Er machte ihn dabei auf die erwähnten vortrefflichen Portraits aufmerksam, welche an den Wänden hingen; und da der Sohn Gelegenheit fand, des Vaters Arbeit von Herzen zu bewundern, würde er bei der Zuvorkommenheit, mit welcher der Baron ihn behandelte, sich sehr behaglich gefühlt haben, hätte nur die Baronin aufhören wollen, ihn zu betrachten, oder sich entschließen mögen, an dem Gespräche irgend einen Antheil zu nehmen.

Es war ihm daher wirklich eine Erleichterung, als endlich ein leises Lächeln über ihre Mienen flog und sie, gegen ihren Gatten gewendet, die Frage that, ob Monsieur Herbert geraden Weges von Paris komme.

Der junge Mann, den es schon verdroß, daß die Baronin diese Frage, die ihm auffallen mußte, da er alle seine Briefe an den Baron aus seiner Vaterstadt geschrieben hatte, nicht an ihn selber richtete, übernahm eben deßhalb die Antwort selbst und sagte ihr, daß er schon über Jahr und Tag wieder in der Heimath gewesen sei.

So kleidet man sich also auch bei uns schon nach der neuen Sitte der revolutionären Franzosen! bemerkte sie weiter, und der Ausdruck ihres Mißfallens trat nun deutlich und bestimmt hervor.

Herbert mußte ihn beachten, aber eben, weil er das that, entgegnete er: Die Mode, gnädige Frau Baronin, ist bei uns [232] von den aus Frankreich entflohenen Edelleuten eingeführt worden, welche in dieser bürgerlichen Tracht über die Grenze zu uns gekommen sind. Und wenn sie es dann nachher auch für gut befunden haben, den Haarbeutel und den seidenen Strumpf wieder anzulegen, so sind für uns geringere Leute, für uns, die wir arbeiten müssen, das unfrisirte Haar und der Stiefel weit angemessener, als der Zopf und die Escarpins, die uns sogar zu Sclaven des Friseurs und der Witterung machen.

Er hatte das absichtlich mit ziemlicher Schärfe gesprochen und erwartete daher, eine Antwort zu erhalten, welche möglicher Weise jeden Zusammenhang zwischen ihm und den Herrschaften für immer zerstören konnte. Indeß die Baronin hatte Rücksichtnehmen von Jugend auf gelernt und war stolz genug, bei den Personen, welche sie nicht als Ihresgleichen ansah, nur dasjenige zu hören und zu verstehen, was ihr genehm war. Sie war als echte Aristokratin bisweilen nachsichtig aus Hochmuth und, wo es ihr paßte, trotz ihrer Jugend duldsam aus Berechnung. Da sie nun obenein bemerkte, daß ihr Gatte mit dem Empfange, welchen sie dem Architekten bereitete, unzufrieden war, und da sie selbst es bedauern mochte, einen jungen Mann, auf dessen gute Dienste sie sich Rechnung gemacht hatte, gegen sich aufgebracht zu haben, so lenkte sie nun plötzlich ein und meinte: Sie haben Recht, mein Herr, und ich habe mich geirrt. Verzeihen Sie, daß ich Ihren besonderen Fall nicht bedacht und Ihnen meine Ueberraschung über die neue Mode, die ich zum ersten Male in der Wirklichkeit vor Augen sehe, ausgesprochen habe. Ich leugne es nicht, ich hege gegen diese Kleidung eine gewisse Abneigung, seit man uns neulich aus der Hauptstadt die Bilder der Männer zur Ansicht geschickt hat, welche sich in Paris als Vaterlandsfreuude und als Helden geberden, während sie doch Empörer und Rebellen sind. Zudem lebt eine verehrte Freundin, eine Verwandte von uns, die Frau Herzogin [233] von Duras, in unserem Hause, welche genöthigt gewesen ist, aus ihrem unglücklichen Vaterlande zu entfliehen, und ich stellte mir vor, wie unangenehm der Anblick einer Kleidung sie berühren müsse, die in ihren und auch in meinen Augen, zu einem Symbol der – der Zustände geworden ist, vor denen Gott uns gnädig bewahren wolle.

Sie hatte die letzte Wendung offenbar beschönigend gewählt, denn der Ton ihrer Stimme verrieth, daß sie einen stärkeren und härteren Ausdruck zurückhalte, und weit davon entfernt, eine versöhnliche Wirkung auf Herbert hervorzubringen, erhöhte die Art von herablassender Schonung, die sie ihm angedeihen ließ, nur das Mißfallen, das Angelika ihm einflößte. Er war fest entschlossen, dieser Frau nicht nachzugeben, und er schickte sich eben zu einer, wie es ihm schien, gebührenden Antwort an, als der Freiherr den unangenehmen kleinen Vorfall damit zu beenden versuchte, daß er ihn in das Scherzhafte zog.

Es wird also, sagte er lächelnd, unserem jungen Baumeister, wenn er sich anders Deiner Zustimmung und der Gnade der Frau Herzogin erfreuen will, nichts Anderes übrig bleiben, als ein habit habillé anzulegen, wenn er ein solches mit sich führt, und sich die Dienste meines Kammerdieners gefallen zu lassen.

Wenn die Gunst der Frau Baronin und der Frau Herzogin einzig durch einen solchen Kleidungswechsel zu erlangen ist, so bin ich leider in der übeln Lage, auf diese Gnade verzichten zu müssen, entgegnete der junge Mann gleichfalls im Tone des Scherzes, obschon er sich zu einem solchen nicht aufgelegt fühlte. Mit dem habit habillé, mit dem Puder und dem Zopfe habe ich ein für alle Mal gebrochen.

Die Baronin entschloß sich, diese Erklärung mit anscheinender Heiterkeit hinzunehmen und dem jungen Manne zu wiederholen, daß er für sich und von seinem Standpunkte aus sicherlich das Rechte thue. Aber er mißfiel ihr mehr und mehr, ja, er [234] mißfiel ihr ganz besonders deßhalb, weil sie sich's eingestehen mußte, daß er ein schöner Mann und in dem Vollbesitze derjenigen Vorzüge sei, welche sie sich gewöhnt hatte, als ein besonderes Erbtheil des Adels zu betrachten. Seine Haltung war vornehm, seine Redeweise besser, als die der meisten ihrer Standesgenossen, welche das Deutsche nur fehlerhaft zu sprechen wußten, und sie hatte im Grunde an ihm nichts auszusetzen, als daß er, der gekommen war, ihrem Hause bezahlte Dienste zu leisten, sich ihr als einen Ebenbürtigen und Freien gegenüber stellte. Und wie Herbert Anfangs sich gesagt hatte: dieser Frau mißfalle ich! so sagte er sich jetzt, daß ihm niemals eine Frau so sehr mißfallen habe, als Angelika.

Es war gut für alle Theile, daß die Herzogin und ihr Bruder sich zu ihnen fanden und der Diener die Meldung machte, daß die Mahlzeit aufgetragen sei. Der Baron stellte Herbert seinen Gästen und dem Caplan vor, der sich inzwischen auch zu ihnen gesellt hatte, und wenn die Herzogin und der Marquis auch nicht sonderlich auf den jungen Baumeister achteten, so lag doch wenigstens nicht die abweisende Kälte in ihrer Begrüßung, mit der Angelika ihn aufgenommen hatte.

Beide, die Herzogin sowohl als der Marquis, waren es durch die Erfahrungen der letzten Jahre gewohnt worden, ihre Haltung nach den Umständen einzurichten, sich in der Fremde, in der sie lebten, mancherlei Annährungen und Ansprüche gefallen zu lassen, und zeitweise, wenn es sein mußte, auf eine Ausschließlichkeit zu verzichten, die sich in ihrer jetzigen Lage nicht wohl behaupten ließ. Dadurch machte sich die Unterhaltung leichter. Der Freiherr hatte obenein die Absicht, zu vergüten, was seine Gattin dem jungen Manne zu Leide gethan; sie selbst fand sich genöthigt, ihm bei Tische die hausfrauliche Zuvorkommenheit zu beweisen, die ihr zur Gewohnheit geworden war, bis Herbert allmählich der Zurückhaltung zu [235] vergessen begann, welche er zu behaupten sich vorgenommen hatte. Der Baron kam absichtlich in Gegenwart der Herzogin noch einmal auf den Vater des Baumeisters zurück, welchen auch der Caplan in hohen Ehren hielt; das schloß dem jungen Manne das Herz auf, und noch während man bei Tafel war, fing man an, von der Angelegenheit zu sprechen, für welche man Herbert hergerufen hatte.

Darauf hatte er aber nur gewartet, denn wo ein Sachverständiger vor Laien von seinem Fache sprechen kann, ist er der Meister und der Herr, ist er dem Vornehmsten ebenbürtig, wenn nicht überlegen; und so erklärte der junge Mann denn ganz unumwunden, daß Alles, was er im Vorüberfahren gesehen, ihn in seiner bereits früher geäußerten Ueberzeugung bestärkt hätte, und daß man einen großen Fehler begehen würde, wenn man die Kirche auf dem Platze erbaute, auf welchem man den Grundstein für die ursprünglich beabsichtigte Capelle eingeweiht habe. Er entwickelte darauf mit einer Klarheit, die jeden Vorurtheilslosen für ihn einnehmen mußte, alle die Uebelstände, mit denen ein Bau in Rothenfeld zu kämpfen haben würde, und stellte dagegen die Vorzüge auf, welche die Verlegung der Kirche nach der Höhe darbieten konnte. Er hielt den Herrschaften die größere Bequemlichkeit für sie selbst, er hielt ihnen auch die harmonische Wirkung vor, welche die Kirche machen mußte, wenn man sie auf dem Hügel jenseit des Parkes aufführte, wo sie dann von der Westseite des Schlosses einen eben so schönen Anblick gewähren konnte, als ihn auf der Ostseite die Burgruine darbot. Er sprach von den bedeutend größeren Ausgaben, welche ein so ungünstiger Boden, wie der in Rothenfeld, erheischen würde, und weil er von der Richtigkeit seiner Angaben zweifellos überzeugt war, meinte er in dem Schweigen der Anderen ein Zeichen dafür zu finden, daß er sie ihres Irrthums überführt und des Besseren belehrt habe.

[236] Aber Herbert verstand und kannte sein Fach doch noch besser, als er die Menschen kannte, obschon er sich vielfach und von früh auf in den verschiedensten Lagen zu bewegen gelernt hatte. Er wußte noch nicht, daß diejenigen, welche von Kindheit auf das Befehlen gewohnt sind, es nicht lieben, sich eines Irrthums überführen zu lassen, und er bedachte nicht, daß es einen Jeden schmerzlich ist, einen Plan, auf dessen Verwirklichung er seinen Sinn lange Zeit hindurch gerichtet hat, plötzlich und für immer aufgeben zu sollen. Er sah, daß der Freiherr ihm Gehör schenkte, er merkte an den Fragen, welche bald dieser, bald der Caplan während seiner Auseinandersetzungen an ihn richteten, daß seine Gründe ihnen einleuchteten und sie bedenklich machten, und er glaubte also auf dem besten Wege zu dem von ihm ins Auge gefaßten Ziele zu sein, als der Baron ihm nachdenklich einräumte, daß die Sache allerdings noch einmal gründlich erwogen werden müsse und daß die frühzeitige Ankunft Herbert's ihm also doppelt erwünscht sei.

Da nahm Angelika, die bis dahin schweigend zugehört hatte, plötzlich das Wort. Ich weiß nicht, Bester, sagte sie zu dem Baron gewendet, wie in diesem Falle noch von Ueberlegung und Erwägung die Rede sein kann. Mich dünkt, davon dürfe man nur sprechen, wo man noch eine freie Wahl hat und wo es sich um die Befriedigung eines persönlichen Bedürfnisses handelt. Wo man aber ein Gelübde zu erfüllen hat, ist ja eine Erwägung und Abänderung, wie mir scheint unmöglich!

Der Ton, mit welchem sie diese Behauptung aussprach, war so scharf, daß er Herbert auffiel, und sein früheres Mißtrauen gegen sie schnell wieder wach rief. Wie kommt diese junge Frau dazu, dem älteren Gatten in solcher Weise zu entgegnen? fragte er sich unwillkürlich, und sein Erstaunen wuchs, als nicht der Freiherr, sondern der Caplan die Antwort übernahm.

Sie haben sicher Recht, Frau Baronin, sagte der Geistliche [237] mit der vermittelnden Weise, welche aus seiner innersten Natur hervorging, Sie haben Recht, daß allzu ängstliche Erwägung überall die That verhindert und daß man am wenigsten in den Fällen zaghaft sein sollte, wo man ein Großes und Heiliges vollbringen will. Muth und Begeisterung helfen über manche Schwierigkeit hinweg, aber ....

Muth und Begeisterung, fiel der Freiherr ihm in die Rede, als finde er es jetzt, da der Caplan vorangegangen, leichter, seine Meinung auszusprechen, Muth und Begeisterung sind etwas sehr Erhabenes, und es ist eine schöne Eigenschaft der Frauen, daß sie derselben in so hohem Grade fähig sind. Indeß oftmals – und dieses Mal, beste Angelika, befindest Du Dich wohl in solchem Falle – haben die Frauen es leichter als wir, ihren Muth und ihre Begeisterung zu behaupten, weil die Unkenntniß der technischen und materiellen Hindernisse ihnen das Muthigbleiben sehr erleichtert.

Das mag wohl wahr sein, versetzte die Baronin anscheinend gelassen, aber von einem Muthe und einer Begeisterung, welche den Menschen über die Schranken verständiger Erwägung fortreißen könnten, ist ja in unserm Falle, wie mich dünkt, nicht die Rede. Wir haben, ich muß das wiederholen, ein Gelöbniß, eine heilige Pflicht zu erfüllen; das ist eben so unabweislich, und unabweislicher, als sein Wort einzulösen, wenn man es in einer Ehrensache einmal verpfändet hat.

Gewiß, rief der Freiherr, auch handelt es sich nicht um den Bau, sondern nur um den zweckmäßigsten Platz für denselben.

Und der Caplan, welcher eben so wie der Freiherr von Anfang an aus doppelten Gründen gegen den Kirchenbau in Rothenfeld und ganz besonders gegen den Bau auf der Stätte von Paulinen's Hause gewesen war, ergriff diese Gelegenheit, sich lebhaft zu Gunsten der Bauverlegung auszusprechen. Da der Baron es aber weder jetzt noch früher bekennen mochte, daß es [238] ihm quälend dünke, künftig zum Gottesdienst nach Rothenfeld zu fahren, welches er jetzt geflissentlich vermied, und da der Caplan mit seinen oft wiederholten Ermahnungen, nicht eben dort die Stätte weihen zu lassen, bei der Baronin nie Gehör gefunden hatte, so bewegte die ganze Berathung sich in halben Andeutungen, welche den Architekten die wahre Lage der Sache nicht erkennen und ihn sowohl als die Herzogin und den Marquis doch vermuthen ließen, man müsse hierbei irgend etwas im Sinne haben, was man verbergen wolle. Das machte Herbert ungeduldig, und weil er ohnehin entschlossen war, seine Stellung zu behaupten, so sagte er plötzlich: Es giebt nur Einen Fall, in welchem der Platz in Rothenfeld nicht aufgegeben werden müßte!

Und welcher wäre das? fragte die Baronin.

Wenn sich eben dort dasjenige ereignet hätte, welches die Herrschaften zu dem Gelöbniß des Kirchenbaues bestimmt hat! antwortete er.

Des Freiherrn ganze Züge veränderten sich plötzlich, und die Baronin, deren Gesicht von einer flammenden Röthe überzogen wurde, sagte mit unverkennbarer Selbstüberwindung: Sie haben das Richtige getroffen, mein Herr! und Sie werden es also begreifen, daß hier von bloßen Schönheits- und Zweckmäßigkeits-Rücksichten nicht die Rede sein darf. – Sie hielt danach inne, als müsse sie sich erholen, als habe sie Alles geleistet, was in ihren Kräften gestanden. Die ganze Tischgesellschaft verstummte. Der Freiherr schien in unbegreiflicher Weise verletzt, auch dem Caplan konnte man es ansehen, daß die gewissensstrenge Aeußerung der jungen Herrin ihm wenigstens in diesem Augenblicke nicht angemessen däuchte, und trotz ihrer Weltgewandtheit wagte die Herzogin selbst es nicht, die Unterhaltung mit einem gleichgültigen Worte wieder in Gang zu bringen, weil eben die Gemüthsbewegung der Eheleute gar zu unverkennbar war. Es hatte sie schon oft bedünken wollen, [239] als habe die große Gewalt Angelika's über den Baron noch andere Gründe, als die Macht, welche ihre Schönheit und ihre übrigen Vorzüge ihr über ihren Gatten natürlich sichern mußten, und klug und herzenskundig begriff die Herzogin, daß sie eben jetzt vor dem Punkte stehe, der ihr in dem Leben ihrer Gastfreunde bisher ein Räthsel geblieben war.

Während sie noch mit sich zu Rathe ging, ob es klüger sei, ihnen in der augenblicklichen Verlegenheit zu Hülfe zu kommen oder nicht, hatte die Baronin ihren Entschluß bereits gefaßt, und sich gegen ihren Gatten wendend, sagte sie, indem sie ihm die Hand reichte und in völlig verändertem Tone zu ihm sprach: Gewiß, Bester, Du wirst mich noch böse machen und es dahin bringen, daß man mich für eigensinnig hält. Aber Du weißt es ja, wie meine ganze Seele an der Erfüllung unseres Gelöbnisses hängt, und wie sehnlich ich danach verlange, mich dereinst im Gebet in unserer Kirche vor dem Allmächtigen zu demüthigen, der auch mich zu finden gewußt hat. Ich werde nicht eher ruhig sein, bis dort die ewige Lampe über dem Altare brennt und die Messen dort gelesen werden. Wie kannst Du Deine Stirn denn verdüstern lassen durch den Hinweis auf eine Mehrausgabe, die nicht unerschwinglich, und auf Schwierigkeiten und Mühen, die nicht unbesiegbar sein können? Und auch Sie, Hochwürden, fügte sie hinzu, wie können Sie mich grade in diesem Falle im Stiche lassen?

Sie hob mit diesen freundlich gesprochenen Worten die Tafel auf. Der Baron, sehr zufrieden, von dem Gespräche loszukommen, begab sich mit dem Marquis in das Billardzimmer und lud Herbert ein, ihnen dahin zu folgen. Indeß diesem war die Lust an der freiherrlichen Gesellschaft vergangen. Er sprach davon, das schöne Wetter benutzen zu wollen, und der Baron schlug ihm darauf vor, einen Ritt durch die Gegend zu machen, was Herbert dankbar annahm.

[240]
17. Capitel
Siebzehntes Capitel

Mehrere Tage waren in Verhandlungen und Berathungen vergangen, ohne daß man zu einem Abschlusse gelangt wäre. Da saßen an einem Nachmittage, als man sich eben auch wieder von der Tafel erhoben hatte und die Herren ihr Billard spielten, die Damen allein in dem Wohnzimmer der Gräfin. Sie hatten dem Fenster gegenüber Platz genommen und eine Weile über das zeitige Beginnen des Frühlings gesprochen, welches dem kleinen Renatus, den seine Wärterin unten auf der Terrasse im warmen Sonnenscheine umhertrug, so wohl zu Statten komme. Indeß die Unterhaltung wollte nicht gedeihen. Es währte nicht lange, so saß Angelika schweigend an dem Stickrahmen, auf welchem sie eine Altardecke für die Kirche arbeitete. Die Herzogin parfilirte ein Stück golddurchwirkten Seidenzeuges und legte die ausgezogenen Fäden so vorsichtig und gleichmäßig neben einander, als gälte es wirklich eine Arbeit und nicht einen müßigen Zeitvertreib. Dabei sah sie unter ihren dunklen Wimpern von Zeit zu Zeit nach Angelika hinüber, als erwarte sie, daß diese zu sprechen beginnen werde. Endlich, da sie bemerkte, daß die junge Frau leise seufzend den Kopf emporhob, sagte sie mit heiterem Tone: Was haben Sie, Beste? Sie seufzen! Und unseres Volkes Sprüchwort sagt: »Ein Herz, das seufzt, hat nicht, was es wünscht!« Mich dünkt, das Seufzen sollten Sie uns alten Frauen überlassen!

[241] Es war das erste Mal, daß die Herzogin sich im Gespräche als eine alte Frau bezeichnete, und sie hatte in der That nicht Grund dazu. Angelika würde ihr dies in jedem anderen Augenblicke auch gesagt haben, sie war aber so verstimmt, daß sie sich unfähig fühlte, auf den Ton des Scherzes einzugehen, den die Herzogin angeschlagen hatte.

Ach, sagte sie, ich wollte, ich wäre älter, als ich bin!

Das ist ein Wunsch, den wenig junge Frauen mit Ihnen theilen werden, meinte die Herzogin lächelnd, und es müssen besondere Verhältnisse obwalten, wenn ein solcher Wunsch nicht Sünde sein soll, die – sie hielt inne und nahm ihren Goldbrocat wieder in die Hand.

Ihr plötzliches Abbrechen und Verstummen that seine beabsichtigte Wirkung. Sie hatte stets gefühlt, daß Angelika, die an den Umgang mit ihrer Mutter gewohnt gewesen war und diesen jetzt entbehren mußte, sich nicht selbst zu genügen vermochte; indeß sie wollte sich ihr nicht zur Vertrauten anbieten, denn sie wußte, daß man nur das schätzt, was man sich selbst erworben hat, oder doch erworben zu haben meint.

Während die Herzogin sich also wieder an das Parfiliren machte, ließ die Baronin ihre Nadel ruhen, und mit ihren ernsten Augen die Herzogin anblickend, fragte sie: Sie brachen so plötzlich in Ihrer Rede ab, meine theure Herzogin, weßhalb vollendeten Sie nicht?

Weil ich mir das Recht nicht zuerkenne, Ihnen einen Vorwurf zu machen, liebe Angelika! – und auch Angelika hatte die Herzogin sie nie zuvor genannt.

O, ich versichere Sie, es kann mir Niemand härtere Vorwürfe machen, als ich selbst! Aber ich habe so wenig Menschenkenntniß!

Worauf beziehen Sie das? fragte Jene verwundert, denn sie war auf nichts weniger als auf diese Wendung gefaßt gewesen.

[242] Ich hätte es mir denken können, sagte die Baronin, daß von einem Manne, der selbst kein eigentlich religiöses Empfinden hat, der, wie dieser junge Architekt, nicht einmal unserer Kirche angehört, für unsere Zwecke nicht das richtige Verständniß zu erwarten sei, und ich hätte es von dem Baron verlangen müssen, daß er einen anderen Baumeister, einen Katholiken für unsern Bau gewählt. Ich kann nicht sagen, wie dieser junge Mann mir mißfällt. Sein selbstbestimmtes, herausforderndes Wesen, sein Beharren auf seiner Meinung, sein ganzer Ton, ja, selbst seine Kleidung und sein Blick beleidigen mich, so daß ich im Stande wäre, aus bloßem Widerwillen gegen seine Anmaßung auf meinem Vorsatze zu beharren, selbst wenn unser Gelübde uns in dieser Beziehung nicht zur Beharrlichkeit verpflichtete.

Sie hatte das sehr lebhaft ausgesprochen; die Herzogin wußte nicht recht, was sie von Angelika's Worten denken sollte, und weil sie noch nicht entschlossen war, ob sie dies der Baronin sagen sollte oder nicht, schüttelte sie nur leise ihr Haupt.

Angelika fragte, was der Herzogin auffallend oder bedenklich an ihrer Aeußerung erschienen sei.

Auffallend ist mir nichts in Ihren Worten erschienen, bedenklich Manches, entgegnete die Herzogin mit feinem Lächeln, und ihr anmuthig mit dem Finger drohend, sagte sie scherzend: Seien Sie auf Ihrer Hut, liebe Freundin!

Auf meiner Hut? Und weßhalb? Wogegen?

Gegen Ihr allzu zorniges Herz! bedeutete die Französin, noch immer im Tone des Scherzes, obschon eine plötzlich auftauchende Idee sie zu beschäftigen und ihre Phantasie zu erregen begann.

Gegen mein Herz? Was hat denn das Alles mit meinem Herzen zu schaffen? fragte Angelika, die sich in ihrer Strenge durch den leichten Ton und den Blick der Herzogin verletzt fühlte.

[243] Aber die Herzogin legte ihre Hand freundlich auf Angelika's Arm, und mit plötzlichem Entschlusse zu einem gewissen Ernste übergehend, sprach sie: Ich habe Sie heute nicht umsonst daran erinnert, daß ich im Vergleich zu Ihnen eine alte Frau bin, meine theure Angelika, und daß ich also das traurige Vorrecht mannigfacher Erfahrung vor Ihnen voraus besitze. Ich habe viel geirrt, viel gefehlt, viel geliebt und viel gelitten! Ich habe viel verloren und nur Eines gewonnen – ich habe sehen gelernt, wo ich mit dem Herzen sehe!

Sie bog sich bei den Worten zu der Baronin hinüber, und sie zärtlich anblickend, sagte sie: Wenn der gute Wille, zu vermitteln, auszugleichen und zu rathen, Ihnen und meinem theuren Vetter, denen ich so tausendfach verpflichtet bin, für Dank gelten kann, so bin ich dankbar! Sie haben Recht, theure Angelika! Sie sind sehr jung und – ich fühle das – Sie haben nie geliebt, Sie sind nicht glücklich, armes Kind! Darum seien Sie auf Ihrer Hut! Ein so heftiger Zorn, wie Sie ihn gegen den Architekten fühlen, ist oft die Knospe, in welcher ganz andere Empfindungen sich verbergen. Denken Sie daran!

Sie küßte die Baronin auf die Stirn und verließ das Zimmer.

Angelika aber blieb zurück, ohne recht zu wissen, was ihr geschehen war. Alle ihre Vorstellungen, alle ihre Gedanken waren unklar und drängten sich wirr durch einander. Sie fragte sich, was sie denn gesagt habe, um die Herzogin zu solchen Aeußerungen zu ermächtigen. Sie besann sich, ob sie jemals etwas über ihre Erlebnisse ausgesprochen oder von wem die Herzogin etwas über jene Vorgänge erfahren haben könne, welche ihren Uebertritt zur katholischen Kirche veranlaßt hatten. Indeß sie fand keinen Anhalt zu einem Vorwurfe gegen sich, keinen Anhalt für den Rath und die Ermahnung, welche ihr [244] geworden war. Daneben klangen ihr immer wieder die Worte in den Ohren: »Sie sind nicht glücklich, Sie haben nie geliebt!« und ein plötzlicher, bitterer Schmerz in ihrer Seele gab diesen Worten Recht.

Ja, sie hatte im Grunde nie geliebt. Das Wohlgefallen, die Bewunderung, die dankbare Zärtlichkeit und die erwachende Sinnlichkeit, welche sie ihrem Gatten gegenüber gefühlt und die sie in ihrer Unschuld damals für Liebe gehalten hatte, das Alles hatte den Namen der Liebe nicht verdient. Jetzt wußte sie es lange schon, daß sie wohl einer anderen Liebe fähig gewesen wäre. Aber der Gedanke, daß in ihrem Herzen, in der Brust der verheiratheten Frau noch einmal jene große, starke Liebe, wie sie die Dichter schilderten und deren Darstellung sie immer bis zu Thränen rührte und entzückte, erwachen, für einen Andern erwachen könne – dieser Gedanke hatte ihr völlig fern gelegen, und sie erschrak vor der Vorstellung, welche die Herzogin in ihr heraufbeschwor.

Sie tröstete sich damit, daß es ein Scherz der Herzogin gewesen und daß sie eine Thörin sei, demselben irgend eine Bedeutung einzuräumen. Sie wollte darüber lachen, sich darüber erzürnen, sie wollte sich verspotten, und mußte sich doch immer wieder fragen, wie die Herzogin denn auf den Einfall gerathen sei, ihr eben Herbert gegenüber eine solche Warnung zu ertheilen. Sie fühlte sich aufgeregt und wußte sich ihr Empfinden nicht zu deuten. Eine schmerzliche Sehnsucht wachte in ihr auf und unwillkürlich drängten sich ihr die Worte auf die Lippen: Wenn ich meine Jugend wieder hätte!

Da fiel ihr Auge auf das Bild Amanda's und auf Amanden's Ring, den sie am Finger trug, und sie richtete sich empor. War es denn nicht Gottes Fügung gewesen, die sie zu dem Baron geführt hatte? War es nicht Gottes Fügung gewesen, die sie und ihn der heiligen Mutter Kirche wiedergegeben? [245] Wie durfte sie sich unglücklich fühlen, während sie das Werkzeug einer höheren Macht gewesen war, deren Einwirkung sie ja unablässig anerkannt und empfunden hatte! Und war es vielleicht der Wille dieser höchsten Fügung, daß eben jetzt in jenem jungen Manne, in Herbert eine Versuchung an sie herantrat? Wollte der Himmel sie prüfen, sie kämpfen, sie unterliegen oder siegen lassen?

Wie sehr sie sich dagegen sträubte, immerfort sah sie ihn vor sich, hoch aufgerichtet, stolz und schön und trotzig. Und was hatte er denn im Grunde genommen verbrochen? Er hatte eine Meinung geäußert, die abzugeben er als Fachmann verpflichtet war. Man bezahlte ihm sein bestes Wissen, er mußte es also für diejenigen nutzen, denen zu dienen er sich anheischig gemacht hatte. Sie aber hatte ihm gleich Anfangs mit Herbigkeit widersprochen, ihn beleidigend behandelt, nur weil ihr seine Tracht unangenehme Vorstellungen erweckt, oder weil sie gefürchtet hatte, in ihren Gästen durch dieselbe unangenehme Erinnerungen erzeugt zu sehen. Sie fing an, sich vor sich selbst zu schämen. Sie gestand sich's ein, daß sie dem Architekten ein Unrecht zu vergüten habe. Aber mitten in der Ueberlegung, wie sie das anstellen solle, mitten in der Frage, was sie thun und ihm sagen und wie er das aufnehmen und dabei aussehen würde, erfaßte sie der Gedanke: Woher kommt es, daß du dich so viel mit ihm beschäftigst? Ist das nicht schon jenes Gefühl, das jetzt Sünde für dich ist? Beginnt die Prüfung, welche der Himmel dir auferlegt hat, schon jetzt? – Und sie schlug an ihre Brust und gelobte sich, fest und stark zu bleiben und es der Herzogin nie zu vergessen, daß dieselbe sie wie eine Mutter treu gewarnt. Jetzt wußte sie es, jetzt wußte sie es zuversichtlich, daß die Sterne ihr nicht gelogen, als sie ihr in der Herzogin eine Freundin verheißen hatten!

[246]
18. Capitel
Achtzehntes Capitel

In den Augenblicken, in welchen Angelika sich also mit ihrem Gewissen berieth und zweifelnd und bange auf ihr ganzes Dasein blickte, fühlte sich die Frau, welche die Baronin geneigt war als ihre mütterliche Freundin zu verehren, so heiter, wie sie es in Richten noch nicht gewesen war. Denn ein Zufall hatte ihr ganz plötzlich dargeboten, was sie bisher vergebens gesucht hatte: eine Handhabe zur Herrschaft über ihre jetzige Umgebung, eine Beschäftigung für ihre leere Zeit.

Das kühle und doch einschmeichelnde Wesen der Herzogin war zum Herrschen geschaffen, und sie hatte wie jeder Mensch das Bedürfniß, die Fähigkeiten zu brauchen, welche sie besaß. Während ihres Wanderlebens hatte der Wechsel ihrer Verhältnisse sie zerstreut, die Sorge sie gelegentlich gefangen genommen. Nun hatte das aufgehört, die Tage in dem Schlosse erschienen ihr sehr lang, und sie mußte sich doch sagen, daß es für sie gerathen sei, sich in demselben möglichst festzusetzen. Indeß sie hatte bisher keinen Boden für die Ausführung dieser Absicht entdecken können, so auffallend Vieles ihr in der Ehe ihrer Gastfreunde auch erschien. Sie sah den Freiherrn, den sie als einen Lebemann gekannt, völlig unter der Herrschaft einer jungen Frau, die sich kaum die Mühe gab, ihm zu gefallen oder ihre Vorzüge geltend zu machen. Sie hörte Angelika häufig von ihrem und ihres Gatten Gelöbnisse reden, und neulich, als sich bei der Tafel das Gespräch zufällig darauf gerichtet, [247] hatte der Baron, der in seinem früheren Leben sich in mancher Verlegenheit befunden und ihr ruhig Stand gehalten, seine Fassung ganz und gar verloren. Nicht er, nein, Angelika hatte es übernommen, die unangenehme Scene zu beenden. Die junge Baronin fühlte sich also offenbar den Ereignissen, dem Geschehenen gegenüber freier als ihr Gatte, und unwiderleglich hatte sich an jenem Mittag in der Herzogin die Gewißheit festgesetzt, wie irgend ein Unrecht gegen das, was Angelika die Heiligkeit der Ehe nannte, den Anlaß zu dem Gelöbniß und der Baronin die Herrschaft über ihren Mann gegeben hatte.

Die Herzogin hatte sich des Lachens kaum erwehren können, als dieser Gedanke sich ihr aufgedrängt. Der Baron erschien ihr gegenüber der religiös-pedantischen Sittenstrenge seiner jungen Gemahlin beklagenswerth und komisch zugleich. Wie viele Kirchen hätte er gründen müssen, dachte sie, wenn er jede Gunst, deren er genossen, mit einem ähnlichen Gelöbnisse hätte bezahlen sollen. Wäre er noch der Alte gewesen, hätte in seinem Hause der Ton geherrscht, nach welchem er und die Herzogin in Frankreich einst mit einander verkehrt, so würde sie nicht angestanden haben, ihm augenblicklich dieses scherzende Wort zu sagen. Aber sie befanden sich in Deutschland, Angelika war, wie die Herzogin es nannte, eine fromme deutsche Schwärmerin, und die Fremde hatte die Sitten und den Brauch des Hauses schon aus Rücksichten der Klugheit so lange zu schonen – bis es ihr gelang, sie allmählich nach ihrem Bedürfnisse und nach ihrem Geschmacke umzuwandeln, wozu sie sehr entschlossen war. Noch ehe man sich an jenem Tage von der Tafel erhob, hatte sie beschlossen, dem Baron zu Hülfe zu kommen und ihren alten Freund, den liebenswürdigen frohen Genossen mancher schönen Tage und Stunden, aus der Knechtschaft seines Ehejoches zu befreien.

Sie war noch immer mit sich zu Rathe gegangen, wie [248] dies zu machen sei, bis in dem stillen Beisammensein mit der Baronin die widerwilligen Aeußerungen, welche diese über den Baumeister aussprach, die Herzogin auf den Einfall brachten, gleich jetzt einmal die junge Frau an einen Scherz zu gewöhnen; denn nur als einen solchen hatte sie ihre Warnung vor Herbert ausgesprochen. Erst die Bestürzung und das Erschrecken Angelika's erinnerten die achtsame Französin daran, wie viel damit gethan sei, wenn man einen Menschen in seinem Glauben an sich selbst erschüttert, wie schnell man in der Regel an das Ziel gelangt, wenn man die Personen, auf die man wirken will, selbst zu Werkzeugen und zu unbewußten Gehülfen für dasjenige macht, was mit ihnen und an ihnen gethan werden soll.

Noch während sie Angelika umarmte und küßte, hatte sie, über dieselbe in das Freie hinausschauend, bemerkt, daß der Baron den Billardsaal bereits verlassen und sich auf die Terrasse hinaus begeben hatte. In der Nähe der Baronin war für den Augenblick nichts mehr zu thun. Die Herzogin drängte es also, den Freiherrn zu sehen und zu erfahren, in wie weit bei ihm ihre Voraussetzungen berechtigt sein möchten.

Leichten Schrittes eilte sie durch die Gemächer, durch den langen Corridor, stieg dann die Treppe, welche aus dem Seitenflügel auf die Terrasse führte, hinunter, als käme sie graden Weges aus ihren Zimmern, und trat an den Baron mit der Frage heran, wo ihr Bruder sei.

Der Baron, welcher seinen Knaben auf dem Arme hatte, gab ihr Bescheid und wollte das Kind der Wärterin reichen, aber die Herzogin hinderte ihn daran. Nicht doch, nicht doch, rief sie ihm zu, Sie sehen prächtig mit dem Kinde aus, lieber Freund! Der schöne kleine René kleidet Sie vortrefflich! – Sie kam mit diesen Worten, leicht auf ihren kleinen Absatzschuhen einherschreitend, an den Freiherrn heran, nahm ihm [249] den Kleinen ab, drückte ihn an das Herz und meinte: Es ist sonderbar, ich liebe die Kinder, ich liebe sie sehr, und doch habe ich es nie bedauert, kinderlos zu sein!

Ein Beispiel Ihres widerspruchsvollen Geistes! meinte der Baron.

Durchaus nicht, mein Lieber! Es ist nur ein Beweis dafür, daß ich mich und mein Herz wohl kannte. Ich war nicht edel, nicht tugendhaft genug, um glücklich zu werden durch eine Selbstverleugnung ohne Ende, um mein Leben lang immer eine gute Mutter zu sein!

Und doch erzogen Sie nach dem frühen Tode Ihrer Mutter den Marquis! wandte der Freiherr ein.

O, das war etwas Anderes, das war nur ein Bruder; das verpflichtete zu nichts, den konnte man aufgeben wie jeden Anderen, wenn man seiner überdrüssig war! Aber ein Kind, das bleibt, das ist unser eigen, das hat unabweisliche Forderungen an uns und ist eine bindende Fessel; gewiß eine süße, aber auch eine schwere Fessel – gerade wie die Ehe! rief sie und fügte lachend hinzu: Ihnen darf man das freilich nicht mehr sagen, denn Sie sind auch tugendhaft und ernsthaft geworden, sehr tugendhaft, sehr ernsthaft, und ich allein bin die Alte geblieben, das alte Kind einer jüngeren und fröhlicheren Zeit! – Sie wiegte dabei den Knaben tändelnd in ihren Armen und reichte ihn danach der Wärterin. Geh', geh', du reizendes, kleines Memento mori, sagte sie, und erinnere uns nicht mit deinen hellen Augen daran, daß du den Frühling noch schauen wirst, wenn uns längst sein grüner Teppich deckt!

Dann nahm sie den Arm des Barons, der sie mit Ueberraschung betrachtete, und fing an, langsam mit ihm auf der Terrasse umher zu wandeln, während sie das schwarze Spitzencapuchon ihres Entredeux über die Frisur zog, daß die Kanten [250] auf ihr leichtgepudertes Gelock herniederfielen. Sie rühmte die anmuthige Lage des Schlosses, die gute Luft dieser Gegend und pries ihr Wohlbefinden in derselben. Sie sprach von ihrer Heimath, von ihren gemeinsamen Erinnerungen und Bekannten, und schien es lange gar nicht zu bemerken, daß sie allein die Unterhaltung führte. Auch der Baron beachtete es nicht; er hatte seine eigenen Gedanken.

Wie er so neben ihr einherging in aller seiner Stattlichkeit, die kleine, feine Gestalt am Arme führend, war es ihm, als komme mit der Berührung dieses Armes, der sich so weich und leicht dem seinen anschmiegte, ihm eine langvergangene Zeit zurück, eine Zeit, in der er voll Feuer, voll Hoffnung, voll jugendlicher Wünsche und zugleich mit einer Freiheit in das Leben getreten war, die ihm – wie er sich dagegen auch sträubte – jetzt noch reizend und begehrenswerth erschien. Er sehnte sich nach den Empfindungen der Leichtlebigkeit, die er in der letzten Zeit in sich zu bekämpfen gestrebt, und er konnte nicht anders, er mußte in seinem Innern der Herzogin darin Recht geben: die Ehe, wie nothwendig ihre strenge Beschränkung auch sein mochte, war eine Fessel, die wohl drücken konnte.

Was denken Sie? fragte die Herzogin ihn endlich.

Der Baron nahm sich zusammen. Ich freue mich daran, wie wenig Gewalt die Zeit über Sie und Ihren Geist gehabt hat! gab er ihr zur Antwort. Sie sind noch heute ganz dieselbe, die Sie in Vaudricour gewesen sind!

Und Sie, Cousin?

Können Sie mich das fragen? erwiderte er, und die Herzogin hütete sich, ihm schnell eine Entgegnung darauf zu machen. Sie schritt jetzt nur, als sei sie des Auf- und Niedergehens müde, die breite Treppe der Terrasse hinunter und wendete sich dann einer der Alleen zu, welche vom Schlosse aus den ganzen Park in langen Linien durchschnitten.

[251] Die Bäume waren noch blätterlos, aber die Knospen hatten sich bereits stark gefärbt und begannen zu platzen und sich zu entfalten, daß es wie ein farbiger Duft hier bräunlich roth, dort gelblich, und daneben auf den anderen Gipfeln wie ein leichter, grüner Schleier anzusehen war. Die Sonne schien warm, nur hie und da wehte ein leichter, kühler Hauch durch die Luft, und wohin das Auge sich wendete, verkündete der helle frische Rasen das neue Werden der Natur.

Die Herzogin ging wie in stillem Genießen versenkt langsam fort und fort. Erst als sie sich eine Strecke vom Schlosse entfernt hatten, hob sie den Kopf zu ihrem Begleiter empor, sah ihm mit ihren sanften Augen, aus welchen der Frohsinn ganz entschwunden schien, prüfend in das Antlitz und sagte: Sie haben Recht, mein Freund; und einem Manne, der so viel Philosophie besitzt, wie Sie, kann man das wohl aussprechen, ohne ihn damit zu verletzen: Sie sind allerdings älter geworden, als Ihre Jahre, welche auch die meinen sind, es nöthig machen. Ich komme mir jünger vor, als Sie, aber mich dünkt, Sie tragen daran selbst die Schuld!

Von einem Anderen die Bestätigung eines Gedankens zu erhalten, der uns nicht angenehm ist und den man sich wegleugnen möchte, ist immer eine sehr peinliche Sache. Aber der Freiherr wollte sich nicht weniger philosophisch zeigen, als die Herzogin ihn nannte, und er fragte sie deshalb mit anscheinendem Gleichmuthe, in wie fern er nach ihrer Ansicht die Schuld an seiner Wandlung tragen könne.

Ich weiß nicht, meinte die Herzogin, ob ich mich irre. Es ist indeß mit uns Menschen wie mit den Pflanzen. Jedwede fordert ihr eigenes Erdreich, ihre eigene ihr angemessene Wärme und Behandlung, und auch wir sind nicht überall hin zu versetzen, nicht für jede Umgebung gemacht. Ich meine, Sie hätten sich nicht aus der großen Welt zurückziehen sollen.

[252] Der Baron zuckte die Achseln. Ich war ihrer müde geworden, meinte er, und die Baronin ....

Die Baronin ist ein Engel, fiel die Herzogin ihm in die Rede, ein Engel an Güte und an Tugend! Sie besitzt in der That alle die Vorzüge, welche ein Mann wie Sie von einer Frau nur fordern kann, aber – denn eine alte Freundin darf ja wohl aufrichtig zu Ihnen sprechen? ....

Aber, rief der Freiherr in einem Tone, der nicht eben ermuthigend klang, den jedoch die Herzogin nicht zu beachten für gut fand.

Aber, sagte sie, mich dünkt, für Sie, eben für Sie, Cousin, war sie vielleicht nicht die glücklichste Wahl. Sie sind lebhaft, lebenslustig, beweglich, ein wenig eitel und ziemlich egoistisch. Solche Männer sind in der Regel nicht darauf gestellt, immerfort das Gleiche zu empfinden. Solche Männer wollen auch bewundert werden, wollen etwas zu erringen haben, und an dem Vollendeten bleibt ihm nichts zu erringen, nichts zu thun übrig, als fortdauernd zu bewundern und zu verehren. Die Baronin ist vielleicht zu gut für Sie!

Sie sprach das in einer Weise, die es ihm anheimstellte, ob er ihre Worte ernsthaft oder scherzhaft nehmen wollte. Auch zögerte der Baron, ihr zu antworten, und erst nach einer kleinen Pause erwiederte er: In gewissem Sinne könnten Sie Recht haben. Die Verehrung ist nicht immer ein Beförderer der Liebe, und Nachsicht finden, Nachsicht gewähren, Verzeihen und Verzeihung erhalten, kann sehr süß sein, kann die Herzen sehr nahe zusammenführen, sie sehr dauernd verbinden!

Er hatte das mit einer gewissen inneren Bewegung gesagt. Die Herzogin wußte jetzt, woran sie war; aber sie wollte auch hier nicht absichtlich, nicht zudringlich erscheinen, und sie beherzigte bei sich, daß man um zu herrschen nicht eilig sein, [253] daß man verstehen müsse, zu warten, um sicher vorwärts zu kommen. Mit jenem spielenden Lächeln, das selten von ihren Lippen wich und das ihren feinen Zügen so wohl anstand, ging sie völlig wieder zum Scherze über. Nun, rief sie, in diesem Falle, mein Cousin, sind Sie durch reichliche Erfahrung competent! Zum Verzeihen haben Sie uns immerdar Anlaß gegeben und – ich rühme Ihnen das nach – Sie waren liebenswürdig, wenn man Ihnen Nachsicht zeigte!

Und bedurften Sie der Nachsicht weniger als ich, theure Herzogin? fragte der Baron, dem mit diesem Lächeln und diesem Tone seiner Begleiterin eine Vergangenheit wach wurde, deren zu gedenken er bisher der Herzogin gegenüber nicht gewagt hatte. Die Treue ....

Treue! Wer spricht davon? Ich habe das Wort nie leiden mögen.

Weil Sie sich nie entschlossen, es zu einer Wahrheit zu machen!

Als ob es Ihnen Vortheil gebracht hätte, wäre ich treu gewesen wie die Heldinnen der Fabliaux! Treu sein, heißt beschränkt sein, Nichts weiter! In Einem Menschen sein ganzes Leben lang die ganze Welt sehen, das heißt ja sich Augen und Ohren verbinden und Herz und Geist ertödten! Treue ist ein halber Selbstmord. Warum denn von Treue sprechen in einer Welt, in welcher Alles wechselt ....

Und Alles eigentlich so schön ist! unterbrach sie der Baron, der sich mehr und mehr erheiterte. Der Frühling hat seine Blüthen, der Sommer seine Blumen und seine heiße Gluth ....

Und der Herbst? fragte sie, indem sie ihm mit einem langen Blicke, dessen Wirkung sie früher oft genug erprobt, in die Augen schaute, und der Herbst?

O, rief der Freiherr, der Herbst hat seine klare, heitere Wärme, der Herbst hat oft das Licht des Frühjahres und den [254] Duft des Sommers, und darüber hinaus die süße, erquickende Traube des Weines, dessen Feuer beständig ist und dessen Werth sich steigert mit der Zeit.

Er hatte den Arm der Herzogin fester an sich gezogen, und – war es der magische Glanz des hellen Sonnenlichtes, das seinen glühenden Schein über das Gesicht der Herzogin ergoß, oder war es der Reflex des dunkelrothen, kleinen Fächers, mit dem sie ihre Augen überschattete – sie kam dem Baron noch jung vor und er fand sie noch reizend. Freilich sah er die Fältchen in ihren Augenwinkeln, aber sie erhöhten nur die Freundlichkeit ihres Blickes. Er sah auch die feinen Furchen auf ihrer Stirn und die tieferen Züge, welche die Leidenschaft und die Jahre um ihren Mund gezogen hatten, aber er sah sie nur mit dem Bedauern, daß auch diese einst so anmuthvolle Bildung der Vergänglichkeit zum Raube fallen müsse, und obschon weit davon entfernt, jetzt noch ein Gefühl der Liebe für die Herzogin zu fühlen, wie er es einst vorübergehend auch für sie gehegt, hatte er sie doch nie höher gehalten, als eben in dieser Stunde.

Sie war ihm werth, unschätzbar werth! Er sprach ihr das aus. Er gestand ihr, daß er in diesem Augenblicke, in welchem er finde, was er so lange entbehrt, erst inne werde, wie schwer er einen Menschen, eine Freundin vermißt habe, die seine Erinnerungen mit ihm theile, die durch Menschenkenntniß, durch Welterfahrung ihm nahe stehe, die in sich selbst die Schwäche des Herzens und der menschlichen Natur erfahren habe, die ihm helfen könne, den zu ernsten Sinn Angelika's zu erheitern, ihr Lust an den Freuden ihres Alters zu geben. Und, so schloß er, ich bin glücklich, theure Herzogin, daß ich in Ihnen, meine Freundin, jene Jugend des Geistes und des Herzens wiedergefunden habe, die auch mir noch nicht entschwunden ist, und die in meiner Angelika zu beleben mir sicherlich [255] gelingen wird, wenn Sie, theure Margarethe, mir die Hand dazu bieten!

Er hielt ihr die Hand hin, sie reichte ihm die kleine zierliche Rechte, deren reichberingte Finger blendend aus dem schwarzen Halbhandschuh von Filet hervorsahen, und er führte sie an seine Lippen. Sie gefielen einander gar wohl in dieser Lage, denn sie betrachteten einander mit den Augen früherer Tage, und in den neuen Freundschaftsbund schlossen sie stillschweigend die einstige kurze Liebe mit ein.

Wie segne ich die Stunde, sagte der Baron, in welcher Sie sich entschlossen, uns hier aufzusuchen!

Machen Sie mir den Aufenthalt durch Ihre Freundschaft nicht zu werth, das Exil wird mir zu schwer und zu hart danach erscheinen!

O, rief der Freiherr, das muß feststehen zwischen uns, Cousine, daß Sie uns nicht verlassen, bis wir selbst Sie nach Vaudricour zurückgeleiten können! Ihr Wort darauf!

Was hilft Ihnen das Versprechen einer Treulosen, die obenein wetterwendisch ist wie alle alten Frauen? meinte sie mit guter Laune, während sie umlenkte, um den Rückweg nach dem Schlosse anzutreten.

Nun denn, so appellire ich an die Vergangenheit, um mir die Zukunft zu sichern, meinte der Baron. Wir haben es uns einst versprochen, Freunde zu bleiben und einander nicht zu fehlen, wo wir einander nützen können. Denken Sie noch daran, Margarethe?

Ich denke daran, erwiederte sie anscheinend gerührt, denn ich erinnerte mich dieses Versprechens in der Stunde der Sorge, und ich kam zu Ihnen.

Wohlan denn, Herzogin, an der Seite meiner jungen Frau fehlte mir immer meine alte Freundin Margarethe. Ich verlange von ihr, daß sie nicht von mir geht, ehe ich sie entbehren kann! Wird sie mir das versagen?

[256] Nein, o nein, gewiß nicht, mein alter theurer Freund, mein lieber Vetter, rief die Herzogin, als überwältigten sie das Zartgefühl und die Großmuth des Barons, aber gewähren auch Sie mir eine Bitte!

Befehlen Sie, theure Freundin! Ihnen einen Wunsch zu erfüllen, wird mich glücklich machen!

Nun denn, Baron, gönnen Sie es mir, die Vermittlerin zwischen Ihnen und den Wünschen unserer lieben Angelika zu machen. Die fromme Seele hat ihr Herz einmal an den Bau der Kirche in Rothenfeld gehängt, geben Sie ihr darin nach. Sie wünschen die Gute ein wenig leichtlebiger, ein wenig fügsamer zu finden; gehen Sie ihr mit gutem Beispiele voran und fordern Sie Nachgiebigkeit um Nachgiebigkeit.

Wie gern, meinte der Baron, nur daß wir eines schönen Effectes entbehren, wenn wir den Vortheil nicht benutzen, welchen der Bau auf der Höhe uns bieten würde.

O, Cousin, das ist Monsieur Herbert's Sache! Sie rühmen sein Genie, seine Erfindungsgabe; er wird einen anderen Vorschlag machen, er wird da oben eine Capelle, ein Kreuz errichten, und wenn die gute Angelika sich in ihrem heiligen Eifer genug gethan hat, nun, so wird sie allmählich auch ihren Sinn mehr den Freuden des Lebens und ihres Alters zuwenden und das beschämende Gefühl von unseren Häuptern nehmen, daß wir jünger, o, weit jünger sind, als unsere liebe junge Schwärmerin.

Sie lachte und wandte ihr Haupt ab; ihr Nacken und ihr Ohr waren noch zierlich und sehr hübsch. Wie haben Sie es gemacht, Cousine, so jung zu bleiben? fragte der Baron.

Ich habe meine Freiheit nicht darangegeben, nachdem ich sie durch den Tod des Herzogs einmal wiedergewonnen hatte, entgegnete sie.

[257] Der Baron antwortete ihr nicht darauf, aber sie glaubte ihn seufzen zu hören.

Am Abende erklärte der Freiherr seiner jungen Gattin, daß er sich hinsichtlich des Baues ihren Ansichten und Wünschen füge. Sie war davon gerührt und überrascht. Aber sie ahnte nicht, daß sie die Gewährung ihres Verlangens einer fremden Frau verdankte, die wohl wußte, was sie damit gethan, als sie dem Freiherrn seinen und seiner Gattin Lebenswege als zwei von einander abweichende Pfade bezeichnet hatte.

[258]
Zweites Buch
1. Capitel
[259] [261]Erstes Capitel

In dem grünen Parke von Schloß Richten hatten die zahmen Rehe und Hirsche sich bereits gewöhnt, das Brod aus den Händen des kleinen Renatus zu nehmen, wenn die Wärterin ihn an das Gitter des Geheges führte, und in Rothenfeld stieg die Kirche schon stattlich aus der Tiefe hervor, als die Kriegstrommel durch das Land rasselte, weil der Feldzug, mit welchem man dem bedrängten Könige von Frankreich zu Hülfe kommen wollte, nun eine beschlossene Sache war.

Ueberall im Lande gab es Truppenmärsche, in allen Häusern hatte man Einquartierung; auch das große, schön gelegene Haus des Juweliers Flies war natürlich nicht davon verschont. Angenehme Gäste waren diese, von Werbern aus allen vier Weltgegenden zusammengebrachten Truppen, diese Söldlinge, welche nur mit Gewalt bei der Fahne erhalten werden konnten, eben nicht, und der Kriegsrath Weißenbach hatte es von dem Juwelier Flies als einen Freundschaftsdienst gefordert, daß dieser die auf das Haus gewiesenen Gemeinen in sein Quartier nahm und dem Kriegsrathe die beiden Offiziere überließ, mit denen doch ein Verkehr und ein anderes Auskommen möglich war.

Der Kriegsrath, dem der Caplan vor einigen Jahren auf den Vorschlag des Juweliers den Sohn Paulinen's übergeben hatte, stand aber auch mit seinem Hausherrn immer auf dem besten Fuße. Herr Weißenbach war ein Mann, der seine [261] Ruhe liebte, der seine festen Gewohnheiten hatte und der für das Muster eines ruhigen und fleißigen Beamten galt. An jedem Morgen ging er um die bestimmte Stunde in sein Bureau, an jedem Mittage kehrte er um die gleiche Stunde heim, und eben so regelmäßig pflegte er dann in den Laden des Juweliers zu treten, der schon lange neben seinem Gold- und Juwelenhandel ansehnliche Bankgeschäfte machte und von dem Gouverneur der Provinz, wie von dem hohen Adel mit mannigfachen Geld-Operationen beauftragt wurde. Dadurch war er meist wohl unterrichtet über alles, was in den Familien des Adels und des Bürgerstandes vorging. Der Kriegsrath seinerseits, obschon er sehr gewissenhaft über seinen Amtseid dachte, wußte doch immer Dies und Jenes von den Maßregeln der Regierung zu erzählen, was er freilich nur als Muthmaßungen bezeichnete, was aber dem scharfsichtigen und gut zusammenreimenden Kaufmanne gelegentlich doch zu Nutz und Frommen gereichte, und da man auf diese Weise für einander zugleich unterhaltend und förderlich war, so liebten beide Männer es, alltäglich ein Viertelstündchen zu sammen zu verplaudern. Sie sprachen daneben vor Fremden auch günstig von einander, und befestigten und steigerten auf diese Weise gegenseitig ihren guten Ruf und ihren Credit, ohne daß sie deshalb einen eigentlichen gesellschaftlichen Verkehr unterhalten hätten. Denn die Flies'sche Familie zu sich einzuladen, fand die Kriegsräthin nicht passend; aber sie verschmähte es deßhalb nicht, sie hier und da einmal allein zu besuchen, von ihr jeden Dienst zu fordern und anzunehmen, welchen dieselbe zu leisten nur irgend geneigt und im Stande schien, und beide Theile glaubten nicht, sich damit etwas zu vergeben. Der Kriegsrath, wie weit er auch von der höchsten Stufe der Macht entfernt war, fühlte sich doch als einen Theil der Beamtenwelt, die in des Königs Namen das Land regierte, und der Juwelier, welcher seinen[262] Schwerpunkt in seinem wachsenden Vermögen hatte, gönnte dem Kriegsrath seinen Beamtenstolz und sein gemessenes feierliches Wesen. Konnte er doch berechnen, wie weit diese Vornehmheit ungefähr zu gehen vermochte!

Selbst die bewegten Zeiten änderten in diesem gegenseitigen Verhältnisse nichts. Denn wie abweichend der Hausherr und sein Miether auch über die Dinge dachten, welche in Amerika geschehen waren und in Frankreich eben jetzt geschahen, so waren beide doch vorsichtig genug, die obwaltende Meinungsverschiedenheit nicht scharf hervorzuheben oder auch nur ernst zu berühren. Der Kriegsrath wünschte es mit einem Manne nicht zu verderben, der nachzusehen wußte, wenn die Quartalszahlungen einmal etwas auf sich warten ließen. Auch um Paul's willen mußte man mit Herrn Flies in gutem Vernehmen zu bleiben suchen, und dieser Letztere hielt beharrlich an der Erfahrung fest, daß man jeden Menschen einmal brauchen könne und also Niemanden unnöthig von sich weisen dürfe.

Herr Flies hatte seiner Zeit mit dem Kriegsrathe das Abkommen wegen des Knaben mit jener Schnelligkeit betrieben, mit welcher er alle seine Geschäfte abzumachen liebte, und er hatte dabei eine doppelte Absicht gehabt. Einmal hatte er gewünscht, sich dem Freiherrn von Arten gefällig zu erzeigen, der ihm ein guter Kunde war, und zweitens hatte er geglaubt, es könne ihm in jedem Betrachte nur vortheilhaft sein, wenn die Einnahmen seines Miethers sich um eine Summe steigerten, welche durch ihn ausgezahlt werden sollte und die mehr als den Betrag des Miethzinses ausmachte. Aber erst, als sie das Kind bereits im Hause hatte, war die Kriegsräthin auf die Frage gekommen, in welcher Weise sie dasselbe vor den Leuten aufzuführen haben werde. Eingestehen, daß sie den Bastard eines Edelmannes bei sich aufnehme, das mochte sie nicht gern, und ein Kind von solcher Herkunft für den Sohn [263] eines seiner Verwandten auszugeben, verweigerte der Kriegsrath. Man gelangte also zu dem Auskunftsmittel, den Knaben als eine Waise darzustellen, deren man sich angenommen habe, und damit schienen die Schwierigkeiten nach allen Seiten auf einmal gelöst.

Man hatte eine Form, in welcher man den kleinen Paul den zahlreichen Bekannten und Freunden des Hauses vorstellen konnte, es war gerechtfertigt, wenn man den Knaben in allen Dingen sparsam hielt, es gab für die Großmuth und Herzensgüte der Pflegeeltern ein schönes Zeugniß, und es erzog, wie die Kriegsräthin sagte, ihren Pflegling auf die einfachste Weise zu der Fügsamkeit, die für ihn am angemessensten schien, weil seines Gleichen doch in der Regel keinen glatten Lebensweg zu haben pflegten.

Die Kriegsräthin war überhaupt eine gescheite und daneben eine hübsche Frau, die freilich nicht in allen Dingen mit ihrem älteren Manne zusammenstimmte. Er war ein wenig trocken und pedantisch; sie nannte sich gefühlvoll und poetisch. Er liebte die Arbeit, sie die Muße; er hielt auf seine Gewohnheiten, sie sehnte sich nach Wechsel und nach Neuem; ihm genügten sein Amt und seine Lebenslage, sie besaß den Ehrgeiz, für ihren Mann ein höheres Amt, für sich eine glänzendere gesellschaftliche Stellung zu begehren, und sie war der Meinung, daß eine hübsche, gescheite Frau ihrem Manne vielfach nützen könne. Es war ja nicht das Verdienst allein, daß man im Staate belohnte, nicht allein die Kenntnisse und die Tüchtigkeit, welche den Beamten vorwärts brachten. Vornehme Verwandtschaften und einflußreiche Bekanntschaften fielen ganz anders in die Wagschale, und Frau Weißenbach, welche sich eine Pflicht und eine Ehrensache daraus machte, ihrem Manne solche Bekanntschaften zu vermitteln, hatte sich eben deshalb auch so schnell bereit erklärt, das Kind des angesehenen Freiherrn von [264] Arten bei sich aufzunehmen. Denn auf die förderliche Gunst eines Mannes, dem man ein Geheimniß bewahrte, meinte sie rechnen zu dürfen.

Wenn man aber mit einflußreichen Leuten in Berührung zu kommen wünschte, so mußte man, wie die Kriegsräthin behauptete, einen gewissen äußern Anstand zeigen, weil sich mit einer Familie einzulassen, von welcher man in jedem Augenblicke irgend einer Anforderung gewärtig sein muß, der Angesehene und Vielvermögende, der wie jeder Andere um seiner selbst willen aufgesucht sein mag, überall Bedenken trägt; und der äußere Anstand war auch gar so schwer nicht zu behaupten. Eine gute Einrichtung, wenn sie einmal angeschafft ist, hält lange vor, und eine gebildete Frau weiß ihre Kleidung so zu tragen, daß alles an ihr einen besonderen Anstrich erhält. Es war auch gar nicht nöthig, daß der Kriegsrath sich viel in der Gesellschaft zeigte und sich aus seiner Ruhe störte. Sah man die Frau nur im Theater, wenn die Schauspielertruppe sich am Orte aufhielt, traf man sie nur in dem Kaffeegarten, in welchem die angesehenen und gebildeten Familien der Stadt sich zusammenfanden, so konnte der Mann in Gottes Namen bei seiner Arbeit bleiben. Hier und da ein Abendbrod zu geben, oder einige Personen zum Spiel bei sich zu sehen, das konnte man leicht ermöglichen. Man schränkte sich dafür in der Familie ein wenig ein, und ließen die Ausgaben und Einnahmen sich dennoch einmal nicht in das Gleiche setzen, so verstand Laura es vortrefflich, den mahnenden Handwerkern mit dem Hinweise auf ihres Mannes einflußreiche Stellung Geduld zu predigen, und sie auf die mancherlei Lieferungen zu vertrösten, welche er zu vergeben hatte und von denen hier und da eine oder die andere ihnen auch zu Theil ward.

Auf solche Art geschah es, daß die Kriegsräthin ihre Handwerker und diese die Weißenbach'sche Familie lobten, daß [265] Herr Weißenbach mit seiner Laura sehr zufrieden war, daß Laura mit heiterer Sicherheit ihre sämmtlichen Angelegenheiten leitete und daß man die Familie Weißenbach durchaus als eine sehr achtungswerthe bezeichnete. Wem die Menschen aber, sei es mit Grund oder ohne Grund, einmal wohlwollen, dem legen sie das Gute doppelt und dreifach als ein solches aus, und Frau Weißenbach hatte selbst nicht voraussehen können, welch ein Gewinn ihr durch die Aufnahme von Paul erwachsen sollte, da man einmal günstig für sie gestimmt war.

Die Leute, welche sich nur an die materiellen Verhältnisse hielten, meinten, daß verständige Personen sich nur dann die Sorge für eine Waise aufladen, wenn ihnen dies ein Leichtes sei. Die weichen Seelen rühmten das liebevolle Herz der Kriegsräthin, welches sich in der Hingebung an ihren Gatten noch nicht genug zu thun wisse, und kam dem Kriegsrath inzwischen doch einmal die Frage, wie seine Laura es nur anfange, mit seinen Mitteln so weit auszureichen, so wußte diese, seit Paul in ihrem Hause war, Alles auf die für ihn bezahlte Pension zu übertragen und es deutlich zu beweisen, was sich leisten und bestreiten lasse, wenn neben der ausreichenden Summe für das Unerläßliche noch eine sichere Einnahme zur Beschaffung des Ueberflüssigen und Angenehmen vorhanden sei. – Es machten sich also, wie gesagt, die Dinge alle ganz vortrefflich, und Jedermann war recht zufrieden, bis auf den Knaben, der in dem Weißenbach'schen Hause seine Heimath haben sollte und der es deutlich genug empfand, daß er von der Kriegsräthin, die sich seine Mutter nannte, nur geduldet, nicht geliebt ward; daß sie ihn entfernte, wenn sie konnte; daß sie ihn ängstlich bewachte, wenn man mit ihm sprach, und daß sie ihn zum Schweigen verwies, sobald er von seiner wahren Mutter und von seinen Erinnerungen zu reden begann.

Dieses Letztere währte jedoch gar nicht lange, denn er [266] hatte des Neuen in der Stadt so viel zu sehen, daß es die alten Eindrücke zurückdrängte, und nachdem der Knabe in den ersten Wochen täglich nach seiner Mutter verlangt hatte, sprach er bald gar nicht mehr von ihr und schien es nach Jahr und Tag völlig vergessen zu haben, daß er je eine andere Heimath gehabt hatte. Aber mit seinen ersten Erinnerungen hatte Paul auch seine kindliche Fröhlichkeit verloren. Er war ein ernsthafter, still beobachtender Knabe geworden, der sich in den Willen und die Weise der Personen, von denen er abhängig war, früh zu schicken lernte.

Morgens, wenn der Kriegsrath sich in sein Bureau verfügte, und der alte, reiche Herr Präsident der schönen Laura seine alltägliche Morgenvisite machte, ging Paul bald ganz von selbst hinaus. Er hatte es ja auch schon so oft gesehen, wie der alte Herr der Pflegemutter zärtlich die vollen, weißen Hände küßte und ihr mit zierlicher Armbewegung und gespitzten Fingern den frischen Strauß oder die gefüllte Bonbonnière überreichte, in der neben dem Zuckerwerk wohl auch ein zierlich gefaltetes Briefchen oder ein kleines, werthvolles Geschenk sich verbargen. Abends hingegen, wenn die Herren Offiziere und die geputzten Damen mit den hohen Flatteusen auf dem Kopfe zum Spiele kamen, dann sollte Paul freilich in der Gesellschaft bleiben, aber er mußte es dann stets aufs Neue rühmen hören, wie gut, wie großmüthig seine Pflegemutter, und wie sie zu beklagen sei, daß ihr Pflegesohn nicht freundlicher, nicht fröhlicher, daß er, trotz seiner schönen Augen und seines lebhaften Gesichtes, ein so verschlossener, ein so wenig liebenswürdiger Knabe sei.

Er war herzlich froh, wenn er endlich die Weisung erhielt, das Zimmer zu verlassen, wenn er aus den lichten Räumen sich über den Corridor in die letzte Stube der Wohnung flüchten konnte, in welcher der Kriegsrath, zwischen Actenstößen vergraben, [267] bei seiner Arbeit saß, oder wenn er hinuntergehen durfte zu dem Hauswirthe in die große Stube, welche an den Laden anstieß.

Unten bei Herrn Flies, da kamen Morgens keine besonderen Besuche zu der Hausfrau und Abends war keine Gesellschaft zum Spiele dort. Da hieß man ihn nicht reden und nicht schweigen, da ließ man ihn nicht hart an, ohne daß er wußte, was er verbrochen habe, da küßte und lobte man ihn nicht vor Fremden, ohne daß er einsah, womit er dies verdient hätte. Herr Flies saß auch Abends niemals so, wie der Kriegsrath, ganz allein in einer stillen, dunkeln Arbeitsstube.

Freilich hatte Herr Flies auch vollauf zu thun von früh bis spät, aber sein Thun war lustiger, als das des Kriegsrathes, es war nicht einsam und nicht immer dasselbe. Denn vorn im Laden, der nach der Straße hinaussah, da standen die spiegelhellen Silbervasen, auf denen allerlei Figuren: Menschen, Thiere und Pflanzen nachgebildet waren, vor dem Fenster. Da führte der silberne Mohr mit goldenem Schurz den schneeweißen Elephanten an goldener Kette, da ringelten sich goldene Schlangen um silberne Palmbäume, da gab es in kostbaren Geschmeiden die rothen Korallen und die schimmernden Perlen, welche man, wie ihm Herr Flies sagte, aus der Tiefe des Meeres hervorholte, und daneben funkelte der rothe Rubin und leuchtete der blaue Saphir über dem strahlenwerfenden Diamanten und dem glänzenden Smaragd, die man in jenen Gegenden finden konnte, in denen die Schlange sich um den Palmbaum ringelte und der Neger und der Elephant und der Hindu und der Löwe zu Hause waren, die Paul am Fuße eines großen Tafelaufsatzes zu bewundern liebte.

Alles gefiel ihm in dem Laden. Er hatte immerfort etwas zu betrachten. Er hörte es gern, wenn Herr Flies den Käufern die Schönheit seiner Waaren rühmte, er sah ihm gern zu, [268] wenn er das eingenommene Geld im Zählen so blitzschnell aus der Rechten in die Linke gleiten ließ, um es dann in gleichmäßigen Haufen neben einander aufzustapeln, oder wenn die Leute kamen, denen man Geld zu zahlen hatte, und der Cassirer es im Comptoir mit nie fehlender Sicherheit in richtigem Betrage auf den Zahltisch hinschießen machte. Die Handlungsgehülfen an den Stehpulten hinter den hölzernen Gittern, welche in den großen, schweren Büchern schrieben, der Hausknecht, der Päcke von Waaren nach der Post trug oder Säcke voll harter, blanker Thaler in das Haus brachte, das alles beschäftigte des Knaben Phantasie, das alles liebte er zu sehen. Mehr aber noch als alles das liebte er Seba, und Seba war es werth, daß man sie liebte.

Sie war das einzige Kind des Juweliers. Seinen größten Schatz nannte sie der Vater, einen wahren Edelstein nannte sie die Mutter, die schöne Seba Flies, die schöne Jüdin hieß man sie in der Stadt. Des Vaters namhaftes Vermögen war für sie erworben; was Liebe gewähren, Geld erkaufen konnte, Pflege und Unterricht aller Art waren ihr zu Theil geworden. In der Liebe ihrer Eltern hatte sich ihr Herz entfaltet, durch Bildung ihr Geist sich entwickelt, sie wußte, was sie werth war, und gerade darum lasteten die Verhältnisse, in denen sie geboren war und lebte, so schwer auf ihr.

Was half es ihr, daß sie weit schöner war, als die meisten der reichen Bürger- und Kaufmannstöchter und selbst als die Edelfrauen und Fräulein, welche in ihres Vaters Laden den Schmuck für ihre Feste und den Trauring für ihre Hochzeit kauften? Was half es ihr, daß sie nur zu sprechen, nur zu wollen brauchte, um die Edelsteine zu besitzen, welche ihr begehrenswerth erschienen? Keiner der Männer, für welche jene Frauen sich schmückten, war für die Jüdin vorhanden, keines von all den Festen, auf denen Jene sich vergnügten, öffnete [269] seine Thüren für Seba, und sich zu schmücken und zu putzen für die Gesellschaft ihrer Stammes- und Standesgenossen machte ihr keine Freude. Die Verachtung, die Zurücksetzung, welche auf den Juden lasteten, drückten sie. Mit unerbittlicher Klarheit sah sie die Schwächen und Widrigkeiten, welche den von der Allgemeinheit ausgeschlossenen Juden anhafteten, und schon oftmals war ihr der Gedanke durch die Seele gegangen, daß Bildung und Erziehung zum Schönen und zum Edeln für denjenigen keine Wohlthat sein könnten, dem es nicht vergönnt sei, sich frei und gleichberechtigt unter den Gebildeten zu bewegen.

Eine heimliche Unzufriedenheit, die auszusprechen schon die Zärtlichkeit und Liebe für ihre Eltern sie abgehalten haben würde, arbeitete, seit sie herangewachsen war, in ihrem Innern fort, und ihre phantastische Hoffnung auf einen Wechsel ihrer Lebensverhältnisse, auf eine Aenderung der allgemeinen Zustände sog ihre Nahrung aus der großen gesellschaftlichen Umgestaltung, die sich jenseit des Rheines durch die Revolution vollzog und auf welche auch ihr Vater sein Auge und seine Erwartungen gerichtet hielt. Denn, wie Herr Flies auch gelegentlich zu schweigen wußte, wenn man sich mit Entrüstung über die Revolutionäre in Frankreich äußerte, welche weder vor göttlichen noch vor menschlichen Gesetzen Achtung hegten – in seines Herzens Innerem dachte er anders, und er hatte dessen vor seiner Familie und vor seinen Freunden auch kein Hehl.

[270]
2. Capitel
Zweites Capitel

Im Flies'schen Hause erregten der bevorstehende Krieg gegen Frankreich und das Einrücken der Truppen, welche bestimmt waren, der revolutionären Bewegung in Frankreich wo möglich ein baldiges Ende zu machen, also keine Freude, denn man hatte allen Grund, der Sache den Sieg zu wünschen, die zu bekämpfen das Heer entsendet wurde, und es war dem Juwelier recht erwünscht, daß der Kriegsrath die Offiziere bei sich ins Quartier nahm. Brauchte Herr Flies es nun doch nicht mit anzuhören, wie verächtlich die jungen Edelleute von den Franzosen sprachen, wie sie die in Paris verkündigte Anerkennung der Menschenrechte verspotteten und mit welchen Schmähungen sie die Namen der großen Männer begleiteten, welche in Frankreich die Aufhebung aller Privilegien und Standesvorrechte ausgesprochen hatten!

Es waren aber schöne junge Männer, vornehme Offiziere, die oben bei der Kriegsräthin die großen Vorderstuben bewohnten. Sie gingen täglich vielmals durch das Haus und grüßten dabei Seba immer sehr verbindlich. Nur auf einige Tage hatte man die Einquartierung angemeldet, aber sie blieb und blieb, und wie man überall auch vom Kriege und von seinen Schrecken sprach, die Offiziere schienen ihn wie eine Vergnügung anzusehen. Das Leben, das man jetzt im Orte führte, war auch lustig genug. Die Offiziere stolzirten prächtig durch die Straßen, wurden gehegt und gepflegt, ritten und fuhren umher und saßen [271] und scherzten mit den Frauen und Mädchen, die sich gar keine besseren Gesellschafter wünschen konnten, und sich schmückten, als wären es lauter Feiertage. Auch die Kriegsräthin trug jetzt immer ihre guten Kleider und war von früh bis spät in bester Laune, wenn die Offiziere, so nannte sie den Hauptmann und den Grafen, bei ihr im Zimmer waren. Abends gab es noch häufiger Besuch als sonst, man spielte oftmals, man tanzte auch bisweilen, und selbst der Kriegsrath schloß sich jetzt von der Gesellschaft selten aus, denn des Grafen Onkel war der Kriegs-Minister, von dessen Gunst und Meinung des Kriegsrathes ganze Zukunft abhing. Am Morgen fuhren die beiden jungen Edelleute die Kriegsräthin bisweilen spazieren, und nach einer solchen Ausfahrt war es, daß die schöne Laura eines Tages mit dem Grafen in den Laden des Juweliers hineinkam, als Seba dem Vater eben eine Schnur werthvoller Perlen wiederbrachte, die er ihr aufzureihen gegeben hatte.

Herr Flies fragte, womit er dienen könne, weil er annahm, der Graf wünsche irgend einen Kauf zu machen; aber die Kriegsräthin sagte, sie komme nur, um Paul zu suchen, der doch gewiß hier unten bei seiner Seba sein werde. Sie lächelte dabei sehr freundlich, und auch Seba lachte, denn der Knabe hatte wirklich wieder bei ihr unter den Wallnußbäumen im Garten gespielt, unter deren jungem Laube es am Mittage sehr schattig war.

Die Kriegsräthin ging über den Hof in den Garten hinaus, den Knaben zu holen, Seba begleitete sie und der Graf folgte ihnen nach. Madame Flies saß draußen und pflückte Rosenblätter und Lavendelblüthen zum Aufbewahren in einen Topf. Paul half ihr dabei, und obschon die Kriegsräthin ihm sagte, daß er hinaufkommen solle und daß sie gehen müsse, weil es bald Mittag sei, ließ sie sich doch auf der Bank unter den Bäumen nieder und schickte Paul ins Gartenhaus, für den Herrn Grafen einen Stuhl zu holen.

[272] Der Graf fand den Garten äußerst angenehm. Er rühmte den Rasen und den Schatten und die Blumen, er sagte, daß es in seines Vaters Park nicht frischer sei, und er fragte die Kriegsräthin, weßhalb sie ihre Gäste bei diesem schönen Wetter nicht lieber in dem Gartenhause als oben in ihren Zimmern bewirthe?

Wir haben die Benutzung des Gartens nicht, Herr Graf, bedeutete die Kriegsräthin.

Er steht ja immer zu Ihrer Verfügung, verehrte Frau Kriegsräthin! versicherte dienstbeflissen und zuvorkommend die Hausfrau.

Die Eine dankte, die Andere meinte, es bedürfe des Dankes nicht, und dabei überhörten sie beide, was der Graf zu Seba sagte. Es mußte aber etwas Angenehmes und nichts Gewöhnliches sein, denn Seba ward roth, obschon sie lächelte, und blickte den Grafen an, nachdem sie sich hatte abwenden wollen. Es lohnte auch der Mühe ihn anzusehen, denn er war schön, der schlanke junge Mann mit seiner zuversichtlichen Miene und den stolz geschwellten Lippen.

Die Kriegsräthin und der Graf blieben nicht lange im Garten, und doch war es Seba, da Jene sich entfernten, als hätte sie viel erlebt, als sei etwas ganz Besonderes geschehen. Sie überlegte, was der Graf zu ihr gesprochen, was sie ihm geantwortet habe. Sie hätte wissen mögen, wie sie ihm erschienen sei und ob ihre Redeweise, ihr Betragen, ihre Haltung die richtigen gewesen wären. Sie war so unsicher über sich selbst, sie genügte sich plötzlich nicht. Das war ihr sonst niemals geschehen.

Am Nachmittage kam Paul herunter.

Seba, sagte er, sieh' mich doch einmal an!

Wozu das? fragte sie.

Ich will nur sehen, ob Du schön bist!

[273] Wie kommst Du darauf? entgegnete sie.

Der Graf hat es gesagt! versetzte Paul, weit entfernt, zu ahnen, was er seiner Freundin damit that.

Sie hätte sich den Anschein geben mögen, als achte sie nicht auf des Knaben Worte, aber sie konnte das Wohlgefühl, das sie durchströmte, nicht verbergen. Sie umfaßte Paul, sie drückte ihn an ihr Herz, sie küßte ihn wieder und wieder. So lieb wie heute hatte sie ihn nie gehabt.

Sie sang und lachte, wo sie ging und stand. Nie zuvor war sie an einem Tage so oftmals an den Spiegel getreten, nie zuvor hatte ihre Schönheit sie so erfreut. Noch spät am Abend, ehe sie sich zur Ruhe legte, schlang sie bald dieses, bald jenes Band durch ihre Locken, hing sie bald dieses, bald jenes Geschmeide um Hals und Arme. Sie wollte erproben, was ihr am besten stände, um es morgen anzulegen, und sie dachte mit einer Wonne an den nächsten Morgen, an den nächsten Tag, daß sie den Schlaf darüber lange gar nicht finden konnte.

Morgen, sagte sie sich, als die Nebelgebilde des Traumes ihren Sinn zu umfangen begannen, morgen! Was wird morgen sein? – Und der Traum bemächtigte sich der heimlichen Gedanken und Hoffnungen, die sich in ihr regten, und spann sie aus und stellte sie ihr dar, und machte ihr deutlich, was sie fühlte; denn der Traum ist der verführerische Gefährte der aufdämmernden Liebe, der schneller und kühner als sie, ihr stets voraus ist und sie verlockt, ihm in Gebiete zu folgen, in die ihr Ahnen und Wünschen sich noch nicht gewagt hat, und von denen sie nicht mehr zurückkehrt, wenn sie sich erst darin verloren hat.

Und Seba hatte sich am folgenden Tage nicht vergebens geschmückt, und die Mutter hatte nicht vergebens der Kriegsräthin den Garten zur Verfügung gestellt, denn sie begann ihn fleißig mit ihren Gästen zu benutzen. Morgens spazierte sie [274] mit dem Hauptmanne in den Alleen umher, Mittags suchte man unter seinen Bäumen den Schatten auf, Abends kam man noch hinunter, die Kühlung zu genießen, und der Graf war immer dabei.

Das ging Tag für Tag so fort. Die Kriegsräthin und Madame Flies wurden immer bessere Freundinnen, da sie sich näher kennen lernten, und Jene betheuerte, daß sie es sich gar nicht vergeben könne, so manche Jahre mit Madame Flies und mit der guten Seba unter einem Dache gelebt zu haben, ohne zu begreifen, welche Hausgenossen sie an ihnen besitze. Sie mochte sich von Seba kaum noch trennen. Sie versicherte, daß sie dieselbe wie eine jüngere Schwester, wie eine Tochter liebe; sie erzählte im Vertrauen, wie der Hauptmann und vor Allen der Graf die schöne Seba bewunderten, und es war im Grunde gar nicht nöthig, daß sie ihr das sagte, denn der Graf hatte es Seba oft genug ausgesprochen und wiederholt, und Seba dachte schon lange an nichts mehr, als an ihn.

Dem Vater kam das Alles nicht gelegen. Er kannte die Edelleute und er kannte auch die Kriegsräthin. Er glaubte nicht an die plötzlichen Wandlungen und war klug genug, wo eine solche sich vor seinen Augen vollzog, nach der Ursache des Wunders zu fragen. Hier aber reichten der Name des Grafen und die sichtliche Bewunderung, welche derselbe für Seba an den Tag legte, vollkommen hin, dem Juwelier die Gefälligkeit der Kriegsräthin zu erklären, und weder diese noch der Graf wurden ihm dadurch lieber. Er hätte der ganzen Sache gern ein Ende gemacht; indeß Seba hatte solche Freude an der Geselligkeit, in welche sie durch die Kriegsräthin gezogen ward, und sie war ja klug genug, die Kluft zu ermessen, welche die Tochter ihres Vaters von einem Grafen Berka trennte. Mochte sie also die kurze Freude genießen, sich von einem Grafen bewundert zu sehen, da es ja obenein möglich war, daß sich aus [275] den gegenwärtigen Verhältnissen zu der Weißenbach'schen Familie für Seba ein Umgang entwickelte, wie sie ihn sich lange ersehnt hatte, wie sie und ihre Eltern ihn wohl auch beanspruchen durften.

Aber nicht Seba allein war befriedigt durch die Besuche, welche sie bei der Kriegsräthin machte, auch Paul, ihr kleiner Freund, hatte seine Lust daran, denn sie sah gar zu schön aus, wenn sie Abends in ihren weißen Kleidern zur Gesellschaft herauf kam.

Einmal, am Geburtstage der Kriegsräthin, hatte man noch mehr Gäste geladen als gewöhnlich, und zum ersten Male waren auch Herr Flies und seine Frau dabei. Seba hatte rothe Korallen durch ihr schwarzes Haar geschlungen, und man lachte und scherzte und tanzte, und unter all den schönen Mädchen und Frauen war Seba bei Weitem die Schönste. Das sah Paul ganz deutlich, das sagte auch Jedermann, und das sagte ihr auch der Graf, dem die Uniform so straff saß, dem die Lebenslust aus seinen blauen Augen lachte und der heute gar nicht von Seba's Seite wich.

Paul konnte das nicht leiden. Er konnte den Grafen überhaupt nicht leiden, denn Seba beachtete den Knaben nicht, wenn Jener in ihrer Nähe war, ja, sie schien Paul überhaupt beinahe vergessen zu haben. Nachdenklich stand der Kleine in der Ecke und sah dem Grafen nach, wie dieser Seba in seinem Arme hielt und wie die beiden sich leise und sanft in den weichen Schwingungen des Schleifers durch den Saal bewegten. Niemand kümmerte sich um Paul, und Niemand wußte, wie sonderbar fremd ihm heute der Saal erschien, den man mit Guirlanden und Kränzen aufgeputzt hatte und der wie nie zuvor voll Menschen war. Die Hitze, der Geruch der Blumen, das Blinken der Uniformen, das Drehen und Wenden der Tanzenden verwirrten ihm den Blick und den Sinn, und doch[276] mußte er immerfort nach Seba und nach dem Grafen Berka hinsehen, mußte er immerfort den Namen Graf Berka, Graf Berka in sich wiederholen. Seit Monaten hatte er diesen Namen täglich nennen hören, und nun mit einem Male, wie er neben dem Gewühl der Tanzenden, unter dem Klange der Musik, unter all dem Sprechen und Tönen und Duften so in seiner Ecke stand, meinte er, den Namen Berka habe er schon lange gekannt. Indeß er wußte nicht, wo er ihn gehört hatte, und er wußte auch nicht, was ihm dabei einfiel. Aber es tauchte etwas vor ihm auf, es kam ihm vor, als habe er einmal etwas gewußt, als sei einmal etwas geschehen, woran er lange nicht mehr gedacht habe, und immer wieder kam er dabei auf den Namen Berka zurück, den er doch nicht liebte.

Er war froh, als der Tanz zu Ende war und das Drehen um ihn her ihn nicht mehr quälte. Er sah, wie Seba in das Cabinet ging, welches an den Saal anstieß, und er folgte ihr nach. Sie hatte auf einem Sessel neben dem Ecktische Platz genommen, die Kriegsräthin, die ganz entzückt von ihr zu sein schien, hielt sie bei der Hand und der Graf saß an ihrer Seite. Das Cabinet war voll Menschen, denn man hatte im Saale die Fenster geöffnet, weil die Nacht trotz der frühen Jahreszeit so heiß war. Wein wurde umhergegeben und mit den Gläsern angeklungen. Auf das Wohl der Kriegsräthin tranken sie, und auf das Wohl der schönen Frauen und auf Sieg und baldige Heimkehr für die Truppen, vor Allem aber auf ein frohes Wiedersehen.

Sie sprachen oft Alle durch einander, daß Paul gar nicht recht verstehen konnte, was sie meinten. Einer freute sich darauf, in Frankreich Ruhe zu schaffen, ein Anderer auf das unruhige Kriegsleben, das ihnen bevorstand und in jedem Augenblicke beginnen konnte, und Graf Berka erzählte lachend, wie man ihn von Hause nur mit Thränen habe scheiden lassen, als gäbe es aus dem Kriege keine Wiederkehr.

[277] Ja, sagte der Hauptmann, auch bei uns gab es, als wir aus der Garnison aufbrachen, eine Rührung, die uns hätte eitel machen können!

Und dazu, meinte Graf Berka, haben Sie sich noch das Vergnügen gegönnt, vorher in der ganzen Provinz umher zu reisen, um die Abschiedsthränen Ihrer sämmtlichen Frau Tanten und Ihrer sämmtlichen Cousinen einzuernten, wobei Sie gewiß nicht zu kurz gekommen sind!

Paul wußte nicht, was das heißen sollte und weßhalb das Alle so komisch fanden, denn ihm gefiel die Rede nicht, weil Seba darüber nicht lachte, wie die Andern. Sie hatte ihre Augen auf den Grafen gerichtet, und ihre Augen waren so ernst und still. Der Knabe wurde traurig und immer trauriger. Er kam sich so vergessen, so verlassen vor, daß er's endlich nicht mehr ertragen konnte. Er trat hervor aus seiner Ecke, ging an Seba heran und lehnte sich mit seinen Armen auf ihren Schooß.

Und er hörte immerfort, wie sie sprachen und lachten und lachten und sprachen, immer schneller, immer lauter, Alle durch einander; und dabei mußte er immerfort nachsinnen und wußte noch nicht worüber, und immerfort an etwas denken, und wußte doch nicht woran. Er ward müde und betäubt von all dem Treiben. Nur bisweilen schlug ein einzelnes Wort, wie ein Ton aus der Ferne, stärker, vernehmlicher an sein Ohr, und mit einem Male hörte er, daß der Hauptmann sagte: Graf Berka, Sie sind doch gewiß auch noch bei Ihrem Schwager, bei dem Baron von Arten in Richten gewesen?

Da fuhr der Knabe auf, als falle ihm ein, was er bis dahin vergebens gesucht hatte, und sich emporrichtend, rief er laut und deutlich, daß Jedermann es hören mußte: Das ist Schloß Richten, das gehört dem Baron von Arten, der Baron [278] von Arten ist mein Vater – und meine Mutter liegt im Teich! ....

Alles verstummte, Alles sah nach dem Knaben hin. Sein Aufschrei, der ganze Vorgang waren wie ein Blitzstrahl in die Gesellschaft gefahren. Paul hatte, erschreckt von seinem eignen Thun, seine Arme um Seba's Hals geschlungen, die, noch mehr verwirrt als die Uebrigen, ihn fortzuführen suchte. Seba's Mutter und die Kriegsräthin und der Kriegsrath folgten ihnen nach, die Betroffenheit war allgemein.

Man fragte, was es mit dem Kinde auf sich habe, das man bis dahin bereitwillig für eine Waise gehalten hatte. Man drang in den Juwelier, der inzwischen herbeigekommen war, um eine Erklärung, man wendete sich an den Grafen, neugierig, zu sehen, wie er den Vorfall aufgenommen habe; und obschon Herr Flies und der Kriegsrath, der bald zurückgekehrt war, die Sache so gut es gehen wollte in das Gleiche zu bringen suchten, war die Heiterkeit der Gesellschaft doch ins Stocken gerathen. Die Verstimmung des jungen Grafen war gar zu unverkennbar, und wie sehr er sich auch mühte, sie zu verbergen, es gelang ihm nicht; denn auch in ihm waren Erinnerungen aufgestiegen, Erinnerungen, die er gern gemieden hätte.

Er stand mit einem Male deutlich vor ihm, der klare Herbstmorgen, an welchem er sich vor Jahren mit dem Freiherrn auf der Terrasse von Schloß Richten befunden hatte, um zur Hochzeit nach Berka zu fahren. Er erinnerte sich ganz genau, wie man in jener Stunde unten am Flusse nach einer Ertrunkenen gesucht hatte. Eine Menge von kleinen Thatsachen, welche sich auf das damalige Verhalten seines Schwagers, auf die ersten Monate von Angelika's Ehe, auf manche ihrer brieflichen Aeußerungen in jener Zeit, auf ihren Uebertritt zum Katholicismus und auf das Zerwürfniß mit ihrer Familie bezogen und an die er bisher immer nur wie an unzusammenhängende [279] Ereignisse gedacht hatte, fingen an, sich in seinem Geiste zu einem Ganzen zu gestalten, von dem er seinen Sinn nicht abwenden konnte. Er übersah dasselbe nicht vollständig, nicht ganz klar, aber es erfüllte ihn mit Mitleid für die Schwester, es weckte seine Sehnsucht nach ihr auf, und er dachte mit erhöhtem Zorn an ihren Gatten.

Jetzt wußte er es plötzlich, was ihn so bekannt und doch so befremdlich aus Paul's Augen angesehen hatte und weßhalb der Knabe ihm so unheimlich gewesen war. Er begriff nicht, daß ihm die Aehnlichkeit mit dem Freiherrn nicht gleich deutlich gewesen sei. Es waren seine Augen, seine hohe, gewölbte Stirn, sein festgeformter Mund. Selbst den Nacken und den Kopf trug der Knabe so stolz wie der Freiherr, und weil der Graf seinen Schwager in diesem Augenblicke haßte, so haßte er auch dessen Bastardsohn.

Indeß dem Grafen vor allen Anderen mußte daran gelegen sein, über den peinlichen Eindruck fortzukommen, die Scene vergessen zu machen, welche man eben erlebt hatte, und seine Keckheit und sein Leichtsinn kamen ihm dabei zu Hülfe. Er lachte über sein Erschrecken, über die Bestürzung der Gesellschaft, und wie er die Worte des Kindes verlachte und verspottete, so lachte er mit seinen Cameraden auch über die Familie des Kriegsraths, in welcher man den Knaben so geheimnißvoll erzog. Was war ihm denn auch diese ganze Gesellschaft? Was focht es ihn an, was man in derselben vermuthete und meinte? Er hatte oft genug mit seinen Cameraden Epigramme über diesen Kriegsrath gemacht, der in seiner rechtschaffenen Beschränktheit die ganze Welt für rechtschaffen und für eben so blind hielt, als er selber war. Es belustigte den Grafen in diesem Augenblicke, daß die Kriegsräthin ihm den Weg zu Seba gebahnt hatte, und daß sie so zufrieden und glücklich die Galanterien und Betheuerungen des Hauptmanns annahm, den [280] er ihr als Lockspeise dargeboten hatte, um sich selber von ihr frei zu machen. Sie war ihm lächerlich, diese Kriegsräthin, und sie war ihm komisch, diese Madame Flies, die sich gar viel damit wußte, daß die vornehmen Cavaliere ihre Seba so schön fanden, daß ein Graf Berka mit ihrer Tochter, an deren Erziehung man nichts gespart hatte, die feinsten und erhabensten Unterhaltungen führte.

Auch über den klugen Kopf, über den Vater, mußte er lachen, der Allem und Jedem vorsichtig mißtraute, und dessen Vertrauen in die Tochter doch so groß war, als habe das schöne Kind nicht ein Weiberherz mit aller seiner mädchenhaften Sehnsucht und aller seiner thörichten Schwäche in der Brust.

Er hätte auch gern über Seba lachen mögen, die eben jetzt in das Zimmer zurückkehrte und deren Augen ihn suchten, ihn allein; aber über sie vermochte er niemals zu lachen – und sie war doch nichts als eine Jüdin und er war der Graf von Berka, der schöne Gerhard von Berka – eben er!

Er ging ihr entgegen, sie mit einem Scherze anzureden, doch konnte er das Wort nicht dazu finden. Sie sah ihn so fragend und so ängstlich an, daß er Mitleid mit ihr fühlte. Es war ihr gar so ernst mit ihrer Liebe, heiliger tiefer Ernst, das wußte er.

Süßes Herz, sagte er, von ihrem Blicke überwältigt, und nahm sie bei der Hand. Mehr bedurfte sie nicht. Sie meinte, er müsse verstehen, was eben jetzt in ihrer Seele vorging, und seine Zärtlichkeit wolle ihre Sorge beschwichtigen. Sie lächelte ihm freundlich zu, und leise den Druck seiner Hand erwiedernd, sprach sie: O, ich bin nicht traurig, sorge nicht!

Ihr Ton drang ihm zu Herzen; es war ihm lieb, daß man aufs Neue zum Tanzen rief, daß er sie in seine Arme schließen, sie nahe haben konnte. Er tanzte nur mit ihr; er hätte sie keinem Andern gegönnt.

[281] Es war spät in der Nacht, als man sich trennte, aber schlafen konnte Seba nicht. Wort für Wort wiederholte sie sich die Liebesschwüre, welche der Graf ihr seit Wochen gethan und heute leidenschaftlicher als jemals wiederholt hatte. Jede Stunde, jede Minute, die sie mit ihm durchlebt, wußte sie sich vorzustellen. Sie erinnerte sich, daß er sich einmal im Vergleiche zu seinem ältesten Bruder, dem Erben seines reichen Stammbesitzes, einen Mittellosen genannt hatte, und sie freute sich ihres Reichthums um seinetwillen. Sie hielt sich alle die Schranken und die Hindernisse vor, welche sie von dem Grafen trennten, um sie im nächsten Augenblicke mit den Schwingen der Liebeshoffnung spielend zu überfliegen. Vom Wahrscheinlichen zum Unwahrscheinlichsten war für sie der Weg nicht weit, und zwischen Hoffen und Wünschen, Fürchten, Sorgen und Verzagen blieb nur Eines in ihr fest bestehen, ihre Liebe für den Grafen, ihr Vertrauen zu seinen Schwüren und zu seinem Versprechen, daß er um sie werben und sie heimführen wolle, aller Welt zum Trotze.

Mitten aus ihren wachen Träumen schreckte sie empor. Die Trommeln rasselten durch die Gassen und auf den Plätzen, an den verschiedenen Häusern wurden die Thürglocken heftig gezogen, Alles gerieth in Aufregung, der Generalmarsch wirbelte durch die graue Morgenfrühe, die Regimenter hatten die lang erwartete Marschordre erhalten.

In allen Häusern war man wach. Die Thüren und Portale wurden geöffnet, die Soldaten mußten zum Appel.

Damit hatte nun Seba freilich nichts zu thun, aber sie stand am Fenster und sah hinab auf die Straße, wie sie herauskamen, die Soldaten, hüben und drüben aus den Häusern, und wie sie fortzogen, eilig, eilig, mit Sack und Pack.

Auch in ihrem Hause rüsteten sie sich, und im Stalle sattelte man die Pferde. Der Hauptmann, welcher im Zwischenstocke [282] wohnte, war schon fort. Nun kam es von oben die Treppe hinunter. Den Tritt kannte sie. Es mußte an ihrer Thüre vorüber.

Der Graf hatte nie ihr Zimmer betreten, indeß er wußte, wo es lag. Sie lauschte bange. Sie meinte, heute müsse er stehen bleiben, heute müsse er zaudern an ihrer Thüre; aber mit dem gleichmäßigen Schritt der Ruhe ging er vorüber, und sie eilte an das Fenster, um ihm nachzuschauen, um zu sehen wie er aufstieg und ob er nicht den Kopf hinwende nach der Stätte, an der sie weilte. Auch diese Hoffnung täuschte sie, und müde und traurig blickte sie nach dem Himmel empor, der zwischen den Reihen der Häuser, grau und kaum noch lichtdurchhaucht, herniedersah. Die Sterne waren untergegangen und die Sonne wollte noch nicht kommen. Wenn Gerhard mich vergessen könnte! seufzte sie.

Die Eltern hatten sich wieder zur Ruhe gelegt, Seba blieb am Fenster sitzen. Schlafen hätte sie doch nicht können; sie wollte seine Rückkehr abwarten, denn heute war er noch da, heute konnte sie ihn doch noch sehen.

Arglos wie ein Kind hatte sie sich dem Zauber hingegeben, den der Graf auf sie geübt. Seine Schönheit, sein fröhlich gebieterisches Wesen hatten sie entzückt. Er war ihr nicht genaht, wie mancher ihrer Glaubensgenossen, mit vorsichtiger Bewerbung, die ihr Zeit zum Ueberlegen ließ. Wie ein Göttersohn, wie die biblischen Könige der Magd aus ihrem Volke, so war er Seba erschienen, gebieterisch Liebe fordernd, weil er sie begehrte, und sie hatte ihm ihr Herz zu eigen und ihren Verstand gefangen gegeben und sich nicht gefragt: Wird er dir halten, was er dir gelobt, und wie kann das enden zwischen dir und ihm?

Aber jetzt, da die Trennungsstunde vor der Thüre stand, jetzt drängte sich mit dieser Frage der Zweifel an sie heran, [283] und bange stand sie am Fenster und sah in die dunkle Nacht hinaus, nach der Seite hin, von wo die Sonne kommen mußte. Die Dunkelheit beängstigte sie.

Der Tag dämmerte bereits, als die Truppen vom Appel wiederkehrten. Seba zog den Vorhang am Fenster zu; es sollte Niemand sehen, daß sie wachte, daß sie nach ihm ausschaute. Nur verstohlen gönnte sie es sich, auf den Geliebten hinzusehen. Sein Brauner tanzte leicht die Straße hinab, leicht und gewandt schwang der Graf sich aus dem Sattel. Als der Reitknecht ihm den Zügel abnahm, hob der Graf den Kopf empor zu ihrem Fenster.

Ob er es ahnt, daß ich hier warte und nach ihm spähe? fragte sie sich. Sie trug das größte Verlangen, ihm irgend ein Zeichen zu geben, daß sie wache, seiner denke; sie hatte ihm so viel zu sagen, sie sehnte sich so sehr nach einem letzten vertrauten Worte mit ihm, aber sie konnte sich nicht entschließen, sie zögerte. Da pochte es leise und vorsichtig an ihr Zimmer. Erschreckt, erfreut, eilte sie nach der Thüre und blieb doch auf halbem Wege regungslos stehen.

Es klopfte noch einmal. Seba, öffne, ich bin's! flüsterte eine Stimme, die ihr das Herz bewegte.

Sie faltete die Hände über ihre Brust; sie hoffte er werde vorübergehen, und doch lauschte sie ängstlich und sehnsüchtig auf noch einen Ton, auf noch ein Wort von außen, und sie ließen nicht lange auf sich warten.

Seba, bat es noch einmal, Seba, ich bin es!

Sie konnte dem Tone nicht widerstehen. Sie trat an die Thüre, öffnete, und mit dem Ausrufe: Wie habe ich Dich erwartet und ersehnt! reichte sie ihm ihre Hände entgegen.

Aber er breitete nicht wie sonst, wenn sie sich im Garten oder bei der Kriegsräthin allein gesehen hatten, die Arme aus, sie zu umfangen, und fast spöttisch sagte er: Erwartung und [284] Sehnsucht haben Dich, wie es scheint, doch ruhig schlafen lassen. Ich bin schon lange an Deiner Thüre.

Schlafen lassen? wiederholte sie schmerzlich; wie könnte ich schlafen in dieser Nacht! Ich stand am Fenster und wartete auf Dich; ich sah Dich kommen und, fügte sie leise hinzu, das Auge schüchtern senkend, ich hörte Dich gleich!

Du hörtest mich, und Du öffnetest mir nicht, da Du doch wußtest, daß wir scheiden müssen?

Seba war ihrer selbst nicht Herr. Die Kälte des Grafen und der sonderbare Ausdruck seiner Mienen verwirrten sie. Sie konnte es sich nicht deuten, weßhalb er gekommen war, wenn er ihr nicht wie sonst die zärtlichen Worte seiner Liebe aussprechen oder ihr sagen wollte, was er für sie auf dem Herzen hatte. Nur sein Blick ruhte auf ihr unverwandt, und es dünkte sie, als freue, als weide er sich an ihrer Verwirrung und an ihrer Pein. Es wurde ihr immer beklommener um das Herz; endlich konnte sie die Stille nicht ertragen, es nicht ertragen, daß Gerhard so gebieterisch ihr gegenüber stand.

Ach, rief sie, als müsse sie wider ihren Willen ihm die Wahrheit sagen, ich fürchtete mich, ich wagte es nicht!

Seba! rief er vorwurfsvoll, als kränke ihn das Wort, während doch ein Strahl unheimlicher Freude über sein Gesicht flog, daß es ihr trotz seiner Schönheit wie verwandelt erschien. Aber er faßte sich schnell, und mit dem kühlen spöttischen Lächeln, das ihr so quälend war, fügte er hinzu: Du bist sehr vorsichtig und klug, liebe Seba, das rechte Kind Deines Volkes! Aber Du hast Recht, und vielleicht habe grade ich Dir am meisten dafür zu danken, daß Du überlegen konntest, wo mich meine Liebe und mein Verlangen unbesonnen hinrissen! Ich will auch gehen!

Jedes seiner Worte fiel schwer auf sie hernieder. Sie wollte sprechen, sich vertheidigen, er ließ sie nicht dazu kommen. [285] Lebe denn wohl, sagte er, die Zeit drängt, und mögest Du bald den Mann finden, dem Du mehr vertraust als mir! Nur von Liebe hättest Du nicht sprechen sollen, Kind, einem Manne nicht sprechen sollen, der bereit war, Dir Alles zu opfern, und dessen letztes Wort Dein Name sein wird! Deine Kälte, Dein ruhig überlegender Verstand bringen auch mich zum Ueberlegen! Lebe denn wohl – und laß uns scheiden! Du hast Recht!

Er wandte sich von ihr, sie warf sich ihm zu Füßen. Nicht über diese Schwelle, rief sie, indem sie seine Hände erfaßte, nicht über diese Schwelle, ehe Du mich nicht gehört, mir nicht verziehen hast! – Er that, als wolle er sich von ihr frei machen, sie hing sich nur fester an ihn. Nicht Dir mißtraute ich, rief sie, nicht Dir!

Sie war außer sich, sie konnte vor Weinen und vor Erregung nichts weiter sprechen. Reizender hatte er sie nie gesehen, solcher Leidenschaft hatte er das schöne junge Geschöpf nicht für fähig gehalten. Dieser Flamme, dieser hingebenden Liebe gegenüber bedurfte es seines berechneten Schürens nicht.

Er schwor sich ihr zu mit den heiligsten Eiden, er war nahe daran zu glauben, was er ihr sagte und gelobte und beschwor, und der Tag mit seinem Leben war schon emporgekommen, als sie endlich schieden.

[286]
3. Capitel
Drittes Capitel

Der Abmarsch der Truppen, die, erst zu einem Feldzuge gegen Rußland zusammengezogen und dann als Reserven für den Krieg in Frankreich bestimmt, den ganzen Winter und das halbe Frühjahr hindurch in der Stadt gewesen waren, verursachte an dem entscheidenden Tage viel Handel und Verkehr. Herr Flies hatte in seinem Comptoir mit Wechselgeschäften vollauf zu thun, die Mutter, welche sonst derlei Hülfe schon seit Jahren nicht mehr zu leisten brauchte, hatte heute wieder einmal den Verkauf im Laden übernehmen müssen, denn manch ein Ring und manch ein Andenken wurden noch erhandelt.

Die Hausthüre stand nicht still, die Thürklingel kam nicht viel zur Ruhe. Auch auf der Treppe war beständige Bewegung. Seba sah den Grafen mehrmals gehen und wiederkehren. Jetzt wird er kommen, jetzt ist er da, jetzt muß es sein! sagte sie sich, jedes Mal zusammenschreckend, wenn er sich ihrem Zimmer näherte, aber wieder ging er vorüber, und das angstvolle Hoffen und das Horchen und das Sinnen und das Grübeln begannen auf's Neue.

Draußen schien die Sonne strahlend hell, aber Seba vermochte sich nicht daran zu erfreuen. Es war ihr, als leuchte die Sonne heute so unerbittlich in ihr Herz, daß es sich ihr in der Brust krampfhaft zusammenzog. Sie hätte die Augen gern von sich selber abgewendet.

Den ganzen Morgen blieb sie mit sich allein, nicht Vater, nicht Mutter fragten heut' nach ihr. Erst um elf Uhr, als [287] die Kinder aus der Schule heimkehrten, kam Paul zu ihr und verlangte bei ihr zu bleiben, da die Kriegsräthin ausgegangen sei, den Abmarsch der Soldaten anzusehen.

Ja, entgegnete Seba, bleibe bei mir! Aber er verlor beinahe die Lust dazu, denn ihr Gesicht war traurig, und noch ehe sie ihm ein anderes Wort gesagt hatte, trat der Graf zu ihnen ein. Ohne des Knaben Anwesenheit zu beachten, fiel Seba dem Grafen um den Hals, indeß auch dieser sah nicht so heiter und so selbstzufrieden aus, als sonst.

Er umarmte Seba, er küßte sie, und küßte sie immer wieder. Er sprach leise mit ihr, daß Paul es nicht verstand, und endlich riß er sich aus Seba's Armen los, und Seba weinte bitterlich und laut.

Als der Graf schon auf der Schwelle stand, schrie Seba auf. Es schnitt dem Knaben durch das Herz. Gerhard, rief sie, Gerhard, so kannst Du von mir gehen?

Sie eilte ihm nach, sie klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn ewig halten, und küßte ihn unter Thränen. Er war erschüttert, er bat sie, sich zu beruhigen, sich zu fassen, auf ihn zu bauen. Indeß sein Wort war eilig, sein Ton war kälter als sein Wort, und zum ersten Male glaubte sie ihm nicht.

Da, als er sich entfernen wollte, faßte sie seine Hand, und mit einer Kraft, die aus dem Tiefsten ihres Herzens kam, sagte sie: Gerhard, Du weißt es, ich liebe Dich sehr, sehr, und – fügte sie klanglos und bebend hinzu – es ist furchtbar, aber mir ist heute, als fühlten wir beide jetzt nicht dasselbe! Wenn Du mich vergessen, mich verlassen könntest! O, nur das nicht, nur das nicht! rief sie flehend aus, indem sie ihre Hände ängstlich wie zum Gebet faltete.

Der Graf blickte sie an, es zuckte durch sein Antlitz, er drückte sie noch einmal an sein Herz, und ohne ein Wort zu sprechen, eilte er von dannen.

[288] Seba blieb mitten in dem kleinen Gemache stehen. Sie hörte, wie er fortging, die Treppe hinunter, wie er die Hausthüre öffnete, sie hörte den Vater und die Mutter mit ihm sprechen, sie hörte den Hufschlag seines Pferdes, und hörte denselben weiter und weiter verhallen. Horchend, als hinge ihr Leben an dem Schalle, hatte sie die Augen geschlossen, die Arme hingen ihr schlaff herab.

Das mißfiel dem Knaben. Er ging zu ihr, ergriff und schüttelte ihren Arm und sagte: Seba, mach' doch die Augen auf! Der Graf ist ja fort!

Sie folgte dem Worte unwillkürlich, und wie sie um sich her blickte, wie sie sich mit dem Knaben allein fand, dessen dunkle Augen unverwandt in ihren Mienen zu lesen suchten, da faßte sie mit beiden Händen nach ihrem Herzen und entfloh aus dem Gemache. Sie konnte an dieser Stätte nicht mehr bleiben, sie konnte das Geräusch und das Pferdegetrappel und das Rollen der Wagen nicht aushalten, die sich von der Straße vernehmen ließen, sie konnte die Sonne und das Licht des Tages nicht ertragen.

Paul hingegen sah zum Fenster hinaus, und das bunte Leben und Treiben belustigte ihn; es war kaum durchzukommen vor dem Hause. Die Packpferde, welche die Zelte und die Betten und die sonstigen Bequemlichkeiten der jungen Officiere trugen, die schweren Feld-Equipagen, welche den älteren Officieren nachgefahren wurden, die Fourgons und alles, was zum Train gehörte, kam zum Vorschein und machte sich breit, aber von den Truppen war noch nichts zu sehen.

Seit dem frühen Morgen standen die Soldaten auf dem Paradeplatze, von unbarmherziger Disciplin zusammengehalten, daß kein Glied sich regte, keine Miene sich verzog, wie auch die Sonne ihnen senkrecht auf den Scheitel brannte und die [289] Zunge ihnen am Gaumen klebte. Aber nur die Gemeinen hatten es so übel, die Herren Officiere waren besser daran.

Schöne Frauen trippelten auf ihren Absatzschuhen unter den Bäumen umher, welche den Platz umgaben, und manches zärtliche Wort ward noch gewechselt, mancher heimlich geleistete Eidschwur heimlich wiederholt; denn sie hatten recht fröhlich und recht vertraut mit einander verkehrt, die fremden Herren Officiere und die Frauen und Mädchen der Stadt, und sie hatten deß kaum ein Hehl.

Die Officiere rechneten es sich zur Ehre an, eine so schöne Begleitung zu haben, die Frauen waren stolz auf ihre vornehmen und prächtigen Verehrer. Wie zu einem Spiele zogen die jungen Herren aus, wie zu einer Lustreise gingen sie in den Krieg gegen die elende Rotte von Empörern jenseits des deutschen Rheines. Sie erbaten und erhielten Aufträge für Paris, das auch diese Herresabtheilung früher oder später zu erreichen hoffte.

Die Kriegsräthin schärfte es ihrem Freunde, dem Hauptmanne, noch besonders ein, den Grafen Berka an den goldenen Chignonkamm zu erinnern, den er ihr aus Paris mitzubringen versprochen hatte, und sie that sicherlich wohl mit dieser Mahnung, denn der Graf, der auf der anderen Seite des Platzes eben vor seiner Schwadron hielt, sah nicht danach aus, als ob er an solchen Auftrag in diesem Augenblicke dächte.

Er hatte die Kriegsräthin gar nicht bemerkt, als sie dem Vorüberreitenden ihren Gruß zugewinkt, er bemerkte überhaupt nicht viel von dem, was um ihn vorging. Nur zwei Augen sah er – zwei große, dunkle Augen schwebten ihm vor der Seele, die sich thränenschwer zu ihm erhoben, und zwei Arme streckten sich flehend gegen ihn aus, und er hörte den bangen Aufschrei eines verzweifelnden Herzens.

Er hätte sie gern vergessen mögen, diese Augen und diesen [290] Ton! Er hätte lachen mögen über die Scherze seiner Cameraden, die ihn fragten, warum er keine Begleitung habe und wie es mit der Wette von neulich stehe. Aber so leicht sein Sinn auch war, das Lachen und Scherzen gelang ihm heute nicht, und seine Gedanken wollten ihm nicht gehorchen. Sie kehrten, wie er sich auch vorwärts wendete, in jenes stille Gemach zurück, zurück zu eines armen Weibes Schmerz!

Er athmete erst auf, als er die Stadt verlassen hatte, als das Thor schon lange hinter ihm lag und die Landstraße sich vor ihm in weiter Ferne aufthat. Seine Cameraden hatten ihn nie so finster und so still gesehen, und finster sah heute manche Stirne aus, still war es heut' in manchem Hause.

Die ganze Stadt kam ihren Bewohnern nach dem Abzuge der Truppen recht verödet vor. Mit den Festtagskleidern, die man zu Ehren der kriegerischen Gäste getragen, legte man bald auch die Leichtlebigkeit ab, in der man sich die Zeit her bewegt hatte. Die Rührigsten schienen müde zu sein und ruhten unwillkürlich aus, ohne Freude an der Ruhe zu haben. Die Einen hatten mehr Kräfte, die Anderen mehr Zeit und mehr Geld aufgewendet, als sie gemerkt und gewollt, und in gar vielen Häusern, in denen man noch vor wenigen Tagen fröhlich, als ob die Heiterkeit gar kein Ende haben könnte, beisammen gewesen war, weilten jetzt die Frauen einsam in ihren Stuben, ohne Lust, ihre Freundinnen aufzusuchen, und ohne Neigung, sich es vom Gesichte ablesen zu lassen, wie ihnen eigentlich an diesem Aschermittwoch nach dem militärischen Carneval zu Muthe war.

Die Zeit wurde den Frauen lang, nun sie nicht mehr so heiter unterhalten wurden, aber Seba wurde die Zeit nicht lang, wenn schon die Tage und die Stunden auf ihr lasteten, daß sie fast davon erdrückt ward. Finster und schweigend saß sie in ihrer Stube oder auf dem gewohnten Platze der Mutter [291] gegenüber, die Lippen zusammengepreßt, den Kopf brennend und schwer von einem Denken, das ohne Ausweg sich mit zermalmender Schärfe immerfort im Kreise drehte, von zagender Hoffnung, von zweifelndem Vertrauen und schwerem Bangen umhergetrieben.

Im Hause und in des Vaters Geschäften ging Alles den gewohnten Gang. Die Eltern sahen es wohl, daß Seba niedergeschlagen war, aber sie hofften, da nun des Grafen Besuche und Galanterien ein Ende hatten, werde sie ihn bald vergessen und sich mit ihrem guten Verstande den ganzen kleinen Liebeshandel aus dem Sinne schlagen. Man dachte darauf, sie einmal durch eine schon lange geplante Reise zu zerstreuen, und der Vater ergriff jetzt doppelt gern jede Gelegenheit, seine Tochter mit Fremden in Berührung zu bringen, von deren Unterhaltung er sich ein Vergnügen für sie versprechen konnte.

Eines Morgens, es war nur wenige Wochen nach dem Abmarsch der Truppen, kam gegen den Mittag hin der Architekt zu ihm, der nun schon seit Jahr und Tag im Orte wohnte. Denn seit Herbert den Kirchenbau in Richten übernommen hatte, waren ihm auch andere Bauten in der Provinz übertragen worden, und in jedem Betrachte noch frei und ledig, hatte er sich aus seiner rheinischen Heimath in diese entlegene Provinz übergesiedelt, um seine mannigfachen Arbeiten auf diese Weise sicher leiten und beaufsichtigen zu können.

Weil nun der Freiherr von Arten seine Geldgeschäfte alle dem Herrn Flies überantwortete, war Herbert mit demselben bereits hier und da im Auftrage des Freiherrn in Berührung gekommen, und einem Auftrage des Barons galt auch sein heutiger Besuch.

Es war nämlich neuerdings in Richten mehrmals von einem mittelaltrigen Waschgeräthe gesprochen worden, welches die Herzogin in Vaudricour hatte zurücklassen müssen und dessen [292] Verlust sie stets beklagte. Der Freiherr hatte es, da es ein Familien-Erb stück und ein hochgehaltenes Meisterwerk aus dem fünfzehnten Jahrhundert war, seiner Zeit in Vaudricour bewundert, und der Marquis bei der Unterhaltung eine ungefähre Zeichnung davon entworfen, die von dem Architekten vervollkommnet und unter dem Beirathe der Herzogin so lange umgemodelt worden war, bis sie zu ihrer Freude einen völlig richtigen Abriß des ihr werthen Gegenstandes vor sich zu haben erklärte. Aber eben das Betrachten der Zeichnung machte an jenem Abende das Bedauern der Herzogin über den Verlust und die wahrscheinliche Zerstörung des schönen Geräthes erst recht lebhaft. Auch die Baronin äußerte ihr Wohlgefallen an den edeln Formen und den sinnreichen Verzierungen, und so entstand in dem Freiherrn, der es liebte, den Personen seiner Umgebung Freude und eine Ueberraschung zu bereiten, der Gedanke, heimlich zwei solcher Waschgeräthschaften anfertigen zu lassen: das eine für die Herzogin, das andere, bei welchem an die Stelle des Duras'schen Wappens das Arten'sche angebracht werden sollte, für die Baronin. Aber das Arten'sche Wappen ließ sich seiner Gestalt nach nicht so leicht als das Duras'sche in die auf dasselbe berechneten Formen der Geräthschaften einfügen, und eben deßhalb hatte der Baron, der nicht leicht einen Einfall aufzugeben pflegte, von dem er sich eine Genugthuung versprach, sich schriftlich an Herbert gewendet, und ihn um eine genaue Besprechung der Arbeit mit dem Juwelier gebeten.

Der Auftrag war in künstlerischer Hinsicht anziehend und in seinem Geldwerthe sehr bedeutend. Die beiden Sachverständigen ließen sich also Zeit bei ihrer Unterredung und Madame Flies kam, ihren Mann an die Mittagsstunde zu erinnern, ehe man noch zu einem völligen Abschlusse über die Arbeit gelangt war. Abbrechen mochte man die Unterhaltung nicht, und da man sie eben so gut bei Tische beenden konnte, thaten die gastfreien [293] Eltern, deren Haus in letzter Zeit sich noch häufiger als früher unerwarteten Gästen aus den verschiedensten Lebenskreisen geöffnet hatte, dem Architekten den Vorschlag, ihre Mahlzeit zu theilen.

Der Baumeister hatte Madame Flies und Seba noch nicht gesehen. Die Schönheit der Tochter zog ihn an, die etwas dringliche Gastlichkeit der Mutter fiel ihm komisch auf, ohne ihm jedoch unangenehm zu werden, und da sich ohnehin beim Essen und bei einem guten Glase Wein manches Ungefüge schneller fügt, so war man bald mit den Verabredungen über die Gefäße und Geräthschaften im Klaren. Herbert versuchte es also, Seba, welche an diesem Tage sich grade wieder doppelt unglücklich fühlte, weil die wöchentliche Post ihr noch immer keine Kunde von dem Geliebten gebracht hatte, in eine lebhaftere Unterhaltung zu ziehen, aber Herr Flies kam ihm mit einer Frage nach dem näheren Ergehen der freiherrlichen Familie und nach dem Leben der Herrschaften auf Schloß Richten unwillkürlich hindernd in den Weg.

Herbert wußte davon gar Mancherlei zu melden. Er schilderte die glänzende Geselligkeit, welche dort herrschte, und den heiteren Ton, der durch die Herzogin in Richten eingeführt sei. Weil sie selbst sich in der Gegend und unter dem dortigen Adel wohlbefand, hatten sich auf ihren Rath in den benachbarten Städtchen verschiedene ihrer ebenfalls flüchtigen Landsleute niedergelassen, und diese ganze ausländische Gesellschaft hatte, wie Herbert erzählte, allmählich Richten und den Salon der Herzogin zu ihrem Mittelpunkte gemacht.

Sie sprechen von dem Salon der Frau Herzogin, bemerkte Seba's Mutter, als ob sie die Herrin von Schloß Richten wäre!

Nun, meinte Herbert lächelnd, in gewissem Sinne ist sie das in der That. Sie bestimmt und befiehlt dort ziemlich unumschränkt, und wenn der heimische Adel jetzt viel mehr als [294] vor zwei, drei Jahren nach Richten eingeladen und in Richten gesehen wird, so geschieht dies, glaube ich, gleichfalls nur auf den Antrieb der Frau Herzogin, damit die französische Einwanderung dort nicht gar zu auffallend erscheine, und das Hofhalten der Herzogin ein wenig verdeckt werde.

Herr Flies schüttelte mißbilligend das Haupt. Wäre es nicht eine so gute Sache, daß die Franzosen den verrotteten Zuständen in Frankreich zu Leibe gehen, und solch ein Glück für die ganze Welt, wenn sie in ihrem Lande eine vernünftige Staatsform begründeten, deren Rückwirkung auch auf uns nicht ausbleiben würde, sagte er, so möchte man wirklich wünschen, die deutsche Coalition könnte diese ganze Emigranten-Gesellschaft wieder über den Rhein zurückführen, nur damit wir sie los würden, und zwar je eher, je lieber!

Herbert bemerkte, daß die Emigranten-Gesellschaft, welche sich im Schlosse zusammenfinde, den Freiherrn gewiß große Summen kosten müsse, denn man führe jetzt dort ein wahrhaft fürstliches Leben.

Ja, versetzte der Juwelier in seiner kurzen und stets bestimmten Weise, der Herr Baron von Arten braucht jetzt viel, sehr viel.

Und was sagt die Frau Baronin dazu? fragte Madame Flies, die sich nach Frauenweise augenblicklich in die Lage der Hausfrau versetzte, deren Rechte ihr bedroht erschienen.

Die Frau Baronin ist schwer zu beurtheilen, antwortete Herbert zurückhaltend, und sowohl der Juwelier als seine Frau bemerkten, daß er eine nähere Erklärung vermeiden wolle. Indeß Herr Flies mußte Gründe haben, das Gegentheil zu wünschen, und den Architekten bei dem Gegenstande festhaltend, rief er: Warum schwer zu beurtheilen? Die Berka's sind solide Leute, Leute, die, so viel ich von ihnen weiß, auf ihre Art still, man könnte sagen, bürgerlich in Berka leben. Einer Frau, die so [295] erzogen ist, kann, glaube ich, der Train nicht recht gefallen, der jetzt in Richten geführt wird. Das französische Wesen ist nebenher auch nicht der Berka's Sache. Wir haben das ja, bemerkte er, sich gegen Frau und Tochter wendend, an dem jungen Grafen hier gesehen. Und für Herbert fügte er erklärend hinzu: Wir hatten hier im Hause den zweiten Bruder der Frau Baronin, den jüngsten Grafen Berka, im Quartier. Einen schönen Menschen! Etwas obenaus, wie all die jungen Herren, aber sonst ein artiger junger Mann!

Seba hätte vergehen mögen. – Ihr Vater, ihr guter vertrauensvoller Vater, rühmte den Grafen!

Herbert jedoch legte, wie es schien, auf dieses Lob des jungen Edelmannes kein Gewicht. Ja, ich kenne ihn, sagte er flüchtig: er ist ein schöner Officier. Schön, sehr schön ist seine Schwester auch, aber sie besitzen beide den Adelstolz und Hochmuth, der ja, wie ich höre, hier zu Lande von den Berka's sprüchwörtlich sein soll.

Nun, doch mit Ausnahme, doch sehr mit Ausnahme, wendete die Mutter wohl- und selbstgefällig ein. Von dem Herrn Grafen Felix, dem Majoratsherrn, der manchmal bei uns im Laden gewesen ist, und von den alten Herrschaften mag das wahr sein, aber von dem jüngsten Herrn Grafen, der oben bei dem Kriegsrath im Quartier war, konnte man das nicht sagen. Er ist viel bei uns aus- und eingegangen; ein liebenswürdiger junger Mann und, wie mein Mann schon sagte, wirklich gar nicht stolz, im Gegentheil, man hätte sagen können ....

Laß es gut sein, fiel der Vater ihr in die Rede, und ein bitteres Lächeln spielte um seinen fein geschnittenen Mund. Man kennt diese Herablassung der Herren Edelleute, und vielleicht haben der Herr Architekt auch schon gelegentlich etwas davon erfahren oder bekommen noch einmal davon zu reden. Ich habe Dir und Seba Euer Vergnügen an der Gesellschaft des Herrn [296] Grafen und der anderen jungen Herren nicht stören mögen – warum sollte ich das auch? Aber es ist gut, daß Ihr nicht nöthig gehabt habt, ihn auf die Probe zu stellen und zu sehen, ob er je vergessen hat, wer er ist und wer wir sind.

Und dem Vater gegenüber saß seine Tochter, saß die arme Seba, die jedes dieser Worte wie ein Dolchstoß traf.

Sie haben Recht, Herr Flies, mein Mann ist der Graf Berka auch nicht! rief der Architekt. Ich habe ihn vor Wochen, als ich hier in einem Speisehause zufällig mit Bekannten in seiner Nähe saß, in einer Weise von den Frauen und von seinen Eroberungen reden, und in der Weinlaune Wetten über den von ihm zu erreichenden Besitz eines jungen Mädchens eingehen hören, wie nur ein ganz frecher Wüstling sie zu machen vermag! Ob er daneben – Herbert hielt inne, eine plötzliche Ideenverbindung machte ihn verstummen. Auch die Eltern wurden achtsam, denn Seba wechselte die Farbe und fuhr matt mit ihren Händen nach der Brust.

Sie ertrug es nicht länger. Der Tag, das Licht, das Leben ängstigte sie heute wieder so, wie an jenem Morgen. Das Dasein that ihr wehe. Es faßte nach ihrem Herzen, nach ihrem Hirn, von allen Seiten drang es auf sie ein – spottende Blicke, höhnisches Lachen und die ganze eigene Unseligkeit!

Sie wollte fliehen, das Zimmer verlassen, aber die Glieder versagten sich dem Dienste, der Kopf schwindelte ihr. Sie stand auf, und sich mühsam aufrecht erhaltend, eilte sie davon.

[297]
4. Capitel
Viertes Capitel

Es waren durch alle die Jahre hindurch immer sehr gemischte Empfindungen, mit denen Herbert nach Schloß Richten kam. Seine Bauarbeit versprach ein schönes Gelingen, aber sie schritt nicht so schnell vorwärts, als er es wünschte, weil die Schwierigkeiten alle zugetroffen waren, auf welche er gleich Anfangs aufmerksam gemacht hatte, und weil man ihm von Seiten der Gutsherrschaft nicht immer mit den zugesagten Arbeitskräften und Mitteln zur Seite stand, da sich die Kosten des Baues, wie Herbert es gleichfalls vorausgesagt hatte, eben durch die Ungunst des Terrains weit bedeutender gesteigert hatten, als der Freiherr es erwartet haben mochte. Indeß derselbe beschwerte sich darüber in keiner Weise; die wachsende Geldausgabe regte in ihm vielmehr nur das Verlangen an, nun auch etwas vollständig Gelungenes und Bedeutendes zu schaffen, und da er bei Beginn des Unternehmens von dem Baumeister einmal auf die gute Wirkung hingewiesen worden war, welche ein Bauwerk, vom Schlosse und von der Terrasse aus gesehen, auf der Höhe machen würde, so kam er immer wieder darauf zurück, dort oben irgend ein Monument als Aussichtspunkt zu errichten, bis er endlich auf den Gedanken gerieth, da man nun die Kirche in Rothenfeld erbaute, die zuerst beabsichtigte Capelle auf der Höhe im Parke aufzuführen. Es war dabei von ihm nur auf einen kleinen, aber mit seinem Kreuze weithin sichtbaren Bau abgesehen; dennoch stieß der [298] Freiherr auch in diesem Falle auf ein abmahnendes Widerstreben bei Angelika.

Ob die Baronin nicht zu übersehen vermochte, welchen den Gesammteindruck krönenden Abschluß man mit dem Capellenbau erzielen könnte, ob es richtige ökonomische Bedenken waren, oder ob irgend ein anderer Grund sie bestimmte, sich gegen den Plan auszusprechen, das konnte Herbert nicht ergründen. Er konnte überhaupt über diese Frau und namentlich über ihr Verhalten gegen ihn selbst durch all die Jahre nicht in das Reine kommen. Wenn er sich zu ihr hingezogen, von ihrer Theilnahme, ihrer Güte und Schönheit gefesselt, ja beherrscht fühlte, so stieß sie ihn im nächsten Augenblicke wieder einmal gewaltsam ab, und grade diese Ungleichheit ihres Betragens trug dazu bei, seine Phantasie mit ihrem Bilde zu beschäftigen. Er konnte ihr nur zürnen, wenn sie ihm gegenüberstand, wenn ihr kaltes Wort, ihr stolzer Blick ihn einmal trafen; war er fern von ihr, so erschien sie ihm stets in dem sanften Schimmer ihrer Schönheit, er freute sich darauf, sie bald einmal wiederzusehen, er hatte eine Genugthuung daran, etwas für ihren Dienst zu übernehmen, und wenn er sie auch fortdauernd im Vollbesitze aller Glücksgüter sah, ertappte er sich oft darauf, daß er sie in seinem Geiste immer nur die arme Baronin nannte, und daß er ihrer mit Hingebung gedachte, weil sie ihm, er wußte selber kaum weßhalb, beklagenswerth erschien.

Anders verhielt es sich mit dem Baron. Er war völlig wieder der frühere, selbstgewisse Herr geworden, und hatte es kein Hehl, daß er diese günstige Stimmung der Gesellschaft seiner Freundin, der Herzogin, verdanke, deren leichtlebiger Gleichmuth ihn zur rechten Zeit daran erinnert habe, welche Quellen der Zufriedenheit jedweder Mensch besitze, der weise genug sei, sich den Sinn frei zu erhalten, sich nicht von Zufällen beunruhigen und sich nicht vor der Zeit altern zu lassen. [299] Mit den Erinnerungen und Gewissensbissen der Vergangenheit hatte er vollkommen abgeschlossen, ja, er begriff es, Dank dem Zuspruche der Herzogin, kaum noch, wie sie ihn jemals in so sinnverwirrender Weise hatten peinigen können. War es denn seine Schuld, daß der gewaltsame Starrsinn Paulinen's sie verhindert hatte, sich nach hergebrachter Weise in das Vernünftige und Nothwendige zu fügen, daß sie ihrer Leidenschaftlichkeit mehr als der Vernunft Gehör gegeben? Oder was konnte er dafür, daß ein unglücklicher Zufall seiner Gattin ein Geheimniß enthüllt hatte, welches ihr besser verborgen geblieben wäre?

Er hatte Stunden, in denen er mit seiner Gattin um ihres Ernstes willen recht unzufrieden war, und wenn er auch von dieser Unzufriedenheit, welche sich nicht nur auf Angelika, sondern auch auf den Caplan erstreckte, der sich mehr und mehr von der im Schlosse herrschenden Geselligkeit zurückzog, nicht viel merken ließ, so kamen doch die Augenblicke immer häufiger, in denen die Herzogin ihm das Geständniß derselben abzulocken wußte. Das gute Einvernehmen zwischen den beiden alten Freunden knüpfte sich dadurch fest und fester, und, wie Herbert es bezeichnet hatte, die Herzogin bestimmte und leitete das Leben im Schlosse fast ausschließlich.

Es war ein herrlicher Sommertag, an welchem der Baumeister nach jenem Mittage im Flies'schen Hause wieder in Richten eintraf. Die Fenster des unteren Geschosses, welche bis zum Boden herniedergingen, waren geöffnet, die Luft regte sich nicht, die Wolken schwebten wie flüssiges, durchsichtiges Silber an dem blauen Himmel. Ueberall hörte man Vogelsang, überall spielten aufsteigend und sich in sich selber drehend zahllose Mückenschwärme im warmen Sonnenscheine. Oben auf der First des alten Thurmes sah die junge Storchfamilie nach den heranfliegenden Alten aus, und aus dem fetten Grün des Rasens wuchsen, von der Wärme gelockt, die Butterblumen, [300] die Campanula, die Scabiosen und eine Fülle farbiger Gräser hervor. Aus den Volièren auf der Terrasse tönte das Gezwitscher und das Singen ihrer gefiederten Bewohner, und die großen Windspiele des Barons sprangen in langen Sätzen neben einander her, ohne auf den kleinen Mops der Herzogin zu achten, der ruhig in der warmen Sonne da lag, leise und träge mit den großen, schwarzen Augen blinzelnd, wenn eines der Windspiele in raschem Sprunge über ihn fortsetzte.

Wie immer hatte Herbert an der herrschaftlichen Tafel gespeist und seine kurze geschäftliche Unterhaltung mit dem Freiherrn gehabt, ehe dieser sich zurückzog. Nun war die Zeit der Mittagsruhe vorüber, die Wärme fing an nachzulassen, und der Kaffee sollte deßhalb im Freien eingenommen werden. Eine chinesische Strohmatte war auf dem Boden ausgebreitet, um gegen die Feuchtigkeit zu schützen, welche von dem Gewitterregen des frühen Morgens etwa noch im Erdreiche zurückgeblieben sein konnte.

Die Herzogin, welche nur selten einmal geneigt war, sich Bewegung zu machen, saß ruhig im Sessel und drehte die kleine emaillirte Tabacksdose mit dem Bilde der Königin Marie Antoinette in der Hand, während die Diener mit den silbernen Theebrettern herbeikamen, um den Kaffee in kleinen Tassen von Sèvres-Porzellan herumzugeben. Sie war heller gekleidet als gewöhnlich, und als der Freiherr ihr die Bemerkung machte, daß ihr dies vortheilhafter stehe, meinte sie, man müsse es dem Wetter nachthun, das jetzt so freundlich sei, und es sei ihr hier ja auch so heiter, so völlig heimisch zu Sinne, daß sie es aus Dankbarkeit darauf angelegt habe, ihm zu gefallen.

Der Baron machte ihr das Compliment, welches diese Aeußerung verlangte, man begann zu scherzen, und obschon Herbert dieses Mal nur wenige Wochen von Richten entfernt gewesen war, fiel es ihm doch wieder auf, wie das Leben und [301] das Behaben seiner Bewohner sich immer mehr verändert hatten, seit er zum ersten Male dorthin gekommen war.

Damals hatte der Freiherr doch mit seiner Gattin und mit dem Caplan seine Muttersprache geredet, jetzt sprach er, wo dies irgend thunlich war, das Deutsche nicht, während der Marquis, der sichtlich bemüht war, es zu erlernen, Herbert's Anwesenheit, mit welchem er fast gleichen Alters war, zur Uebung in der ihm neuen und fremden Sprache zu benutzen liebte. Sie waren auf diese Weise in eine Art von näherer Bekanntschaft gerathen und auch an dem Nachmittage auf der Terrasse plaudernd umhergeschlendert, bis ein Zufall sie in das geöffnete Billardzimmer führte, in welchem man die Rapiere, die Fleurets und überhaupt die Geräthschaften bewahrte, deren man zu körperlichen Uebungen bedurfte. Der Marquis, welcher ein Meister in denselben war, forderte den Architekten auf, ein paar Gänge zu machen, und nachdem man sich damit genug gethan hatte, nahm der bewegliche Franzose schnell ein Racket in die Hand, Herbert zum Federballspiele einladend.

Jeder Müßige nimmt, ohne es zu wollen, an der Beschäftigung Theil, welche er vor seinem Auge ausüben sieht, und bald hatte die Sicherheit der Spielenden die Zuschauer so lebhaft gefesselt, daß deren Unterhaltung sich nur noch auf sie bezog.

Herbert schlägt den Ball so sicher, wie er den Zirkel und das Richtmaß führt, bemerkte der Freiherr, indem er dem Diener seine geleerte Tasse reichte.

Ja, meinte die Herzogin, welche kurzsichtig war und das Glas vor die Augen genommen hatte, er ist Meister in dem Spiele, er übertrifft selbst den Marquis, den man sonst dafür bewunderte und der es, ich kenne diese kleine Eitelkeit an ihm, auch sicher nur in Vorschlag gebracht hat, um die gewohnte Bewunderung zu ernten.

Kaum irgend eine andere Uebung ist so geeignet, die [302] Schönheit und Anmuth der Gestalt zu zeigen, als eben dieses Spiel, hob der Freiherr nach einer Weile, in welcher man ihnen schweigend zugesehen hatte, wieder an, und Herbert ist in der That ein ungewöhnlich wohlgestalteter Mann. Sehen Sie, wie schlank der Oberkörper an den Hüften einsetzt und wie frei der kräftige Nacken sich auf den breiten Schultern bewegt. Er gleicht seinem Vater ungemein, der selbst in Italien, in dem Lande der schönen Mannesgestalten, noch durch seine Wohlgestalt Aufsehen erregte. Dazu hat er viel Verstand und ein schickliches Betragen.

Gewiß, bekräftigte die Herzogin, die sich seit langer Zeit darin gefiel, Herbert's Beschützerin zu machen und seine Vorzüge an das Licht zu bringen. Finden Sie nicht, liebe Angelika, daß er wirklich die Tournüre eines Mannes aus unserer Gesellschaft besitzt? Und er hat mehr Geist, mehr Herz, mehr Schwung, als Mancher der Unserigen.

Die Baronin hatte bis dahin schweigend da gesessen und offenbar der ganzen Unterhaltung nicht zugehört; denn erst, als man ihr die Frage wiederholte, fuhr sie wie aus tiefem Sinnen auf und bejahte sie flüchtig.

Die Herzogin wollte wissen, was sie beschäftigt hätte; sie vermochte es aber nicht zu sagen. Sie meinte, das Werden des Frühjahres und die Herrlichkeiten des Sommers hätten sie stets gerührt, und ergriffen sie dieses Mal so gewaltig, daß sie sich versucht fühle, eine Ahnung darin zu erkennen. Man redete ihr das aus, der Baron pries ihr gutes Aussehen, ihre blühende Farbe, und die Herzogin rief: Es ist zu viel Gesundheit, zu viel Lebensfülle, lieber Freund, die unsere Angelika so schwermüthig machen. Gewiß, meine Theure, Sie dürfen um meinetwillen Ihre Jahre nicht vergessen, Sie haben starke Spaziergänge, Sie haben Bewegung nöthig.

Ich promenire täglich! versicherte die Baronin.

[303] Ja, Sie promeniren, so viel als meine Bequemlichkeit es zuläßt und begehrt, meinte die Herzogin. Aber fragen Sie Ihren Mann, wie leichtfüßig ich war, wie schnell zu Pferde, wie schnell zu jedem Spiel, als ich Ihr Alter hatte! Allons, meine schöne Cousine, dort ist ein Mittel, Ihre Schwermuth los zu werden. Schnell ein Racket, meine Herren, die Frau Baronin wünscht von der Partie zu sein.

Die Spielenden wendeten sich bei dem Anrufe zu ihnen, der Marquis, welcher sich alle die Jahre hindurch vergebens bemüht hatte, der kalten Deutschen, wie er die Baronin nannte, eine wirkliche Theilnahme abzugewinnen, eilte in den Saal, das Racket zu holen, und obschon widerstrebend, ließ Angelika sich endlich von den Bitten der beiden jungen Männer und von dem Zureden des Freiherrn bestimmen, sich als Dritte zu den Spielenden zu gesellen.

Es war lange her, daß sie sich einem solchen Vergnügen überlassen hatte. Die lebhafte Bewegung, der fröhliche Zuruf des Marquis erheiterten sie, die große Geschicklichkeit und die vollendete Anmuth Herbert's reizten sie, es ihm gleich zu thun, und der Beifall der Herzogin, das zustimmende Lachen ihres Mannes regten ihren Ehrgeiz auf. Sie wollte der Herzogin beweisen, daß auch eine Deutsche der Sicherheit und Grazie nicht entbehre, und wie sie sich in dem leichten, wallenden Gewande hinbewegte, wie die blaßblauen Bänder von ihrem schlanken Leibe niederflossen und vom Lufthauche bewegt in ihren blonden Locken spielten, sah sie so schön aus, daß ihr aus dem entzückten Auge Herbert's, der sich mit der Freude eines Künstlers und mit der heißen Seele eines jungen Mannes an ihrer Schönheit ergötzte, ein gewisses fröhliches Siegesgefühl durch das Herz zog.

Sie vergaß es, wie schwermüthig sie sich eben erst gefühlt hatte, sie vergaß, daß es ein Sterben gäbe, so voll Leben klopfte es in ihren Adern.

[304] Immer rascher flogen die Bälle von Einem zum Andern, immer lebhafter wurden die Wendungen, mit denen man ihnen begegnen mußte; da, als die Lust der Spielenden ihnen Allen Flügel geliehen zu haben schien, rief plötzlich die Herzogin, daß nun die Reihe der Vergnügungen auch an sie käme und daß man sie über das Ballspiel nicht vergessen möge.

Sie war gewohnt, seit sie in Richten lebte, Nachmittags ihr Whist zu spielen. Der Baron und der Marquis machten dann ihre Partner, und wie dieser sich auch dagegen sträubte, wie jener auch für die Jugend sprach, da die Fröhlichkeit seiner Gattin ihm Freude gewährte, die Herzogin bestand mit scherzendem Eigensinne auf ihrem Willen. Der Spieltisch wurde in einem der Zimmer aufgestellt, der Baron führte sie hinein, und als der Marquis mit komischem Seufzer sein Racket aus der Hand legte, wollten auch die Baronin und Herbert ihr Spiel beenden, aber die Herzogin gab das nicht zu. Sie behauptete, auf ihre Kartenpartie verzichten zu müssen, wenn Angelika sich dadurch in ihrer Unterhaltung und im Genusse des schönen Tages stören lasse, und da auch der Baron seine Frau aufforderte noch im Freien zu bleiben, so gab sie nach.

Indeß sie war durch die Unterbrechung, wie sie meinte, aus dem rechten Zuge gekommen, und das mußte auch bei Herbert der Fall sein, denn nun sie ohne den Marquis und ohne ihre Zuschauer auf einander angewiesen waren, wollte es mit dem Spiele nicht mehr gehen. Die Baronin schlug nicht weit genug, der Ball verfehlte sein Ziel, sie fing ihn auch nicht immer so sicher, obschon Herbert sein Bestes that, und nach verschiedenen Versuchen, sich wieder in den früheren Gang zu bringen, reichte sie das Netz und ihren Ball dem Architekten hin, weil sie zu müde sei, das Spiel noch fortzuführen.

Sie wollte sich niedersetzen, Herbert warnte sie davor, da sie sich erhitzt hatte, und nachdem sie eine Weile in mannigfach [305] wechselndem Gespräche auf und nieder gegangen waren, kam Herbert, als sie die Höhe im Lichte der sinkenden Sonne vor sich liegen sahen, natürlich auf den Capellenbau zu sprechen. Da dem Baumeister die Ausführung seines Planes vor allen Dingen am Herzen lag, so erbat er sich von der Baronin die Gunst, sie durch den Park noch einmal auf die Höhe und an den für die Capelle bestimmten Platz hinaufgeleiten zu dürfen, weil er es seiner Beredtsamkeit zutraute, sie für das Vorhaben an Ort und Stelle gewinnen zu können. Sie zeigte sich jedoch Anfangs nicht geneigt dazu; da er aber seine Bitte wiederholte und der Freiherr selbst schon bei der Mahlzeit diese Besichtigung vorgeschlagen hatte, so willigte sie ein, und sie machten sich auf den Weg.

Wie sie nun so durch den Garten hinschritten, ging Herbert gleich daran, der Baronin die Sache noch einmal vorzutragen, und sein Plan war so wohl erwogen, er setzte ihn so beredt und mit so viel Schönheitsgefühl auseinander, daß es fast unmöglich war, sich nicht dafür einnehmen zu lassen. Auch begriff Angelika ihn gar wohl, das verriethen die Zwischenfragen, welche sie that. Da aber jedes Verstehen und jedes Verstandenwerden eine Befriedigung in sich tragen, so wurde, je weiter man kam, sein Erklären wärmer, ihr Eingehen auf dasselbe lebhafter, und mit der geistigen Erregung der Beiden steigerte sich die Schnelligkeit ihres Ganges, bis Angelika, als man sich etwa auf der halben Höhe des Hügels befand, plötzlich stehen blieb und tief aufathmend eine kurze Rast verlangte.

Sie lehnte sich an den Stamm einer jungen Birke, und wie die lang herniederhangenden Zweige derselben, an denen die warmen, duftigen Blätter mit ihrem hellfunkelnden Grün sich wie geflügelt an ihren Stengeln wiegten, das rosige, vom raschen Gange leicht gefärbte Antlitz der Baronin umspielten, gestand sich Herbert, daß er niemals eine schönere Frau gesehen[306] habe. Er hätte es ihr gern sagen mögen, der Ausruf der Freude drängte sich ihm auf die Lippen; indeß er hielt ihn vor der hochgebornen Frau zurück, aber er hätte in dem Augenblicke viel darum gegeben, ihr aussprechen zu dürfen, wie ihr Anblick ihm das Herz entzücke.

Es mußte davon etwas in seinen Mienen zu lesen sein, denn Angelika lächelte ohne zu wissen weßhalb. Wie ihm ihre Schönheit wieder einmal so beseligend aufgefallen war, so fiel es ihr in demselben Momente plötzlich ein, daß sie ohne Begleitung mit ihm fortgegangen sei, und sie sagte, diesem Gedanken folgend: Kommen Sie, wir sind weit vom Schlosse und haben noch eine Strecke zu steigen. Es könnte dunkel werden, wenn wir uns nicht beeilen!

Er ahnte ihre Befangenheit, wie sie seine Bewunderung errathen hatte, und das brachte sie ihm näher. Er fragte, ob sie ihm erlauben wolle, ihr seinen Arm anzubieten? Sie wagte nicht, seinen Beistand auszuschlagen, eben weil sie besorgte, er könne darin entweder eine Geringschätzung sehen. die sie dem jungen, von ihrem Manne hochgeschätzten und liebenswürdigen Künstler nicht anthun mochte, oder er könne etwa gar auf den Einfall gerathen, daß sie das Alleinsein mit ihm unsicher mache, und diese Möglichkeit widerstrebte ihr noch mehr. Sie gab ihm also den Arm, und wie er nun das schöne Weib an seiner Seite fühlte, wie ihr Schritt mit dem seinen rhythmisch zusammenfiel, ihr flatterndes Haar, da er sich zu ihr wendete, seine Wange, ihre Schulter die seine berührte, da vergaß er Alles, außer dem Vollgefühle seiner Jugend und seiner Kraft. Die Luft, das Licht, der Duft, welcher aus der frisch aufquellenden Erde und aus den tausend Blätterknospen strömte, der Vogelsang, der von allen Enden sich hören ließ, und die eigene Lebensfülle und der Wiederschein des Himmels aus Angelika's strahlenden Augen machten ihn von Herzen froh. Er ging schneller und [307] schneller, aber Angelika beschwerte sich nicht darüber, denn auch ihr war der Fuß beflügelt und die Brust erweitert. Es schien ihr, als hebe er sie mit sich empor, es freute sie, sich von seiner Kraft getragen zu fühlen und gleichen Schritt mit seiner Rüstigkeit halten zu können.

Sie hatten schon lange nicht mehr mit einander gesprochen, als sie die Höhe erreichten, und doch war ihnen beiden ganz anders zu Muthe, als da sie ihren Weg begonnen und als in dem Augenblicke, in welchem sie gerastet hatten. Sie befanden sich nun auf dem Punkte, auf den Herbert sie zu führen verlangt hatte. Die Sonne war schon im Sinken, oben auf der Höhe wehte die Luft frischer. Die Baronin blieb eine Weile in Betrachtung versunken stehen. Sie dachte nicht daran, daß ihr Arm noch auf dem Arme des jungen Mannes ruhe, und er hütete sich, sie daran zu erinnern. Mit dem Weben der Natur, mit dem Hinblick in die Ferne war eine Reihe von Gedanken in ihm rege geworden, und der schwungvollen Freude folgte ihre Schwester, die Wehmuth. Es war ohnehin das erste Mal, daß er Angelika in allen den Jahren wahrhaft heiter und jugendlich froh gesehen hatte, und daß dieser Frohsinn so schnell entschwand, daß sich über ihr Antlitz schon wieder der Schleier der Melancholie herniedersenkte, das vermehrte seine elegische Bewegtheit.

Wir sind an der Stelle, hier müßte die Capelle stehen! sagte er endlich, aber er konnte sich nicht überwinden, ihr hier die früheren Erklärungen zu wiederholen. Es kam ihm Alles so gering vor neben dem, was er empfand, was auch Angelika – er zweifelte nicht daran – empfinden mußte, denn auch sie stand in sich versunken da. Als sie emporblickte, schaute sie ihn an, es däuchte ihr, als sähe er traurig aus. Sie machte sich von ihm los, aber sie wagte die Frage nicht, weßhalb er nicht mehr heiter sei, und er ließ ihr dazu auch nicht die Zeit. [308] Daß wir so vergänglich sind! rief er aus, wir und der Frühling und die Jugend und die Schönheit! So vergänglich, während das Unbeseelte dauert!

Sie mochte diesen Ausruf nicht erwartet haben, und er bewegte sie; aber sie nahm sich zusammen und entgegnete: Und doch wollen wir hier einen Bau errichten, der Dauer haben soll!

Ja, rief er, indem er in die Ferne hinabwies, wo die Mauern der Kirche mächtig emporstiegen, ja, Dauer, Dauer so lange als möglich! Seit Jahren weilt mein Sinn an diesen Orten, noch Jahre lang wird er sich hierher wenden! All mein Können und Wissen ist diesen Stätten geweiht! Und wenn dann der Tag kommen wird, an welchem das goldene Kreuz drüben von dem Thurme und hier von der Höhe in die Ferne leuchtet, wenn diese Bauten vollendet sein werden, dann – werde ich gehen, um nicht wiederzukehren, dann ist meines Weilens hier nicht mehr! –

Es war der Gedanke an das Untergehen des Meisters in seiner Arbeit, es war die alte Klage, daß der Mensch vergänglicher ist als das von ihm Geschaffene, welche ihm durch den Sinn zog, und in der Jugend überrascht uns die grausame Nothwendigkeit des Untergehens, des Sterbenmüssens immer wieder auf das Neue.

Er hielt inne, nachdem er gesprochen hatte, faßte Angelika's Hand und fuhr fort: Aber früh und spät, Sommer und Winter wird Ihr klares Auge sich hierher richten, wenn Sie an Ihr Fenster treten; hier werden Sie knieen im Gebet! O, möge nie die Stunde kommen, in welcher Sie hier Trost suchen müßten in dem Kummer Ihres Herzens – denn der Schönheit soll der Schmerz nicht nahen!

Angelika war wie verzaubert. Das hatte sie nicht erwartet. Einen Ton des Herzens, wie er aus den Worten dieses Mannes erklang, hatte sie nie vernommen, und er erweckte in ihrer [309] Seele ein Etwas, das noch nie in ihr so klar gesprochen hatte. Glück und Erschrecken, Freude und Pein, ein stolzes Aufjauchzen, eine herzbeklemmende Angst bestürmten sie auf einmal. Es kam ihr vor, als fühle sie eben jetzt zum ersten Male, daß sie lebe und welcher Seligkeit sie fähig sei. Es zog sie mit süßer, mächtiger Gewalt zu Herbert, und doch scheute sie diese Gewalt. Sie sehnte sich, seinen Blick zu genießen, und wendete sich von ihm ab; und wie sie sich von ihm wendete, da sah sie hinunter in das Thal, und weithin zogen sie sich, die langen Windungen des schnellen, tiefen Flusses, der so hell und so heiter dahinschoß durch das Land, und sie waren eben so hingeflossen über Paulinen's Leichnam und hatten ihn an das Ufer gespült, an das Ufer hier unten im Park, vor ihren eigenen Augen!

Schrecklicher, furchtbarer als jemals stand das Bild jener Stunde vor ihrem Geiste, und heute zum ersten Male mischte sich in ihr Entsetzen und in ihre Verzweiflung über jenes Ereigniß eine zornige Empörung gegen ihren Gatten, eine Auflehnung gegen ihr Geschick, gegen die Vorsehung.

Warum war er in ihr Leben getreten, der ältere Mann mit der schuldbefleckten Vergangenheit, dem die Herzogin im Grunde mehr galt und näher stand als sie? Warum hatte der Himmel es ihr auferlegt, ein Verbrechen büßen zu helfen, das sie nicht begangen und das denjenigen, der es verübt hatte, jetzt lange nicht mehr so schwer bedrückte, als sie, die Schuldlose? Warum hatte Gott ihr das Glück versagt, die reine, die erste, heiße Liebe eines edeln Jünglings zu genießen und freien Herzens die Empfindung zu fühlen, die jetzt plötzlich wie ein belebendes Feuer ihr ganzes Wesen durchglühte?

Es war das Alles kein langsames Denken, keine Folge von Ueberlegungen; es war jenes plötzliche, allumfassende Erkennen, das in einzelnen, entscheidenden Momenten dem Menschen gegeben ist und das ihm eine Art von Allwissenheit verleiht. [310] Ueber sich hinausgehoben durch die Erregung des Augenblickes, überblickt er dann sein ganzes Dasein in dem weitesten Zusammenhange und begreift seine Zukunft mit einer seherischen Klarheit, die ihm das Ziel und das Ende derselben, die ihm sein künftiges Schicksal wie in einem untrüglichen Spiegelbilde darstellt.

Angelika schauerte schweigend zusammen vor der Fluth der Gedanken und Empfindungen, welche sie überfiel. Mit einem unterdrückten Ausrufe des Schmerzes ließ sie sich, ihr Gesicht in ihre Hände verbergend, auf die Steinbank niedersinken, und unaufhaltsame Thränen entströmten ihren Augen.

Wie außer sich warf der junge Mann sich ihr zu Füßen. Um Gottes willen, rief er, was ist geschehen? Reden Sie, reden Sie! Was habe ich gethan? Was habe ich denn gesagt?

Er hatte ihre Hände ergriffen. Sie wollte ihn nicht sehen lassen, daß sie weinte, und wendete das Antlitz von ihm, indem sie sich erhob. Aber der Ausdruck des Schmerzes in ihren Zügen nahm ihm alle Herrschaft über sich. Er schlang seine Arme um sie, und fragte, das Schicksal anklagend: Muß sie, muß dieser Engel weinen? –

Das war mehr, als sie ertragen konnte, denn es sprach sympathetisch ihre eigenen Gedanken aus. Sie ließ ihr Haupt auf seine Schulter niedersinken und weinte an seinem Herzen heißer, schmerzlicher, als sie je zuvor geweint. Er hielt sie umfangen, er wußte selber nicht, wie ihm geschah. Er fühlte sich wie berauscht, aber er wagte es nicht, den Kuß auf ihr Haupt zu drücken, das seine Lippen berührten, ihr Unglück machte sie ihm heilig!

Als sie sich endlich emporrichtete, war sie erschöpft und bleich. Die Sonne war nun völlig untergesunken, die Dämmerung spannte leise webend ihre duftigen Schleier über die Gegend aus. Langsam begann die Mondessichel, die im Nebel des Abends schwamm, aus ihm heraufzusteigen, sich aus dem[311] Purpur seiner Dünste zu erheben und zum reinen, hellen Lichte zu verklären. Kein Laut regte sich, kein Vogel sang, selbst das leise Zittern und Flüstern des Laubes hatte aufgehört. Die Einsamkeit, die Stille waren vollkommen, es ward dem jungen Manne märchenhaft zu Muthe.

Unten im Schlosse zündete man die Lichter in den Sälen an. Dorthin gehörte sie, dorthin mußte sie wiederkehren, dorthin mußte er sie geleiten, dorthin mußte sie gehen.

Sie hielt sich das vor, aber sie sagte sich innerlich: Hier auf dieser Stelle lasse ich meine Seele zurück! Hier, wo sie zum ersten Male aufgelodert in dem Feuer einer Liebe, die eine Sünde für mich ist!

Sie hatten beide keine Worte mehr, sie standen fern von einander und hätten doch ewig hier weilen mögen, hätten vergessen mögen, daß es noch eine Welt und Menschen gäbe außer dieser Stelle und außer ihnen Beiden. Keiner fühlte den Muth, das Wort zu sprechen, das sie von diesem Platze scheiden hieß. Endlich machte Angelika sich auf den Weg und Herbert folgte ihr. Ihre Glieder, ihre Bewegungen waren kraftlos; er bot ihr schweigend seinen Arm, und schweigend nahm sie ihn wieder an. So ging sie neben ihm her in stiller, glücklich-unglückseliger Feier, voll Schmerz und ohne Hoffnung, und doch eine Flamme, eine Gluth in ihrem Herzen, die sie erwärmte, die sie vertröstete und sie in die Ferne, in die Zukunft hinauszuweisen schien, damit sie den Augenblick nur überstände.

Als sie hinunterkamen in den Park, wo das Unterholz und die Gebüsche dicht belaubt waren, schlang Herbert seinen Arm wieder um den Leib Angelika's, und sie wehrte es ihm nicht. Ihr Auge hing an seinen Blicken, sie sah im Mondlichte wie verklärt aus. In den Hecken schlugen die Nachtigallen; der süße, flötende Ton löste ihnen die Seelen auf; er nahm ihre Hand und küßte sie wieder und wieder.

[312] Wie schön ist die Welt, wie schön die Nacht! sagte er endlich.

Ja, für die Glücklichen! fügte sie seufzend hinzu – aber sie ist lang, lang und finster, wenn man sie durchweint!

So kamen sie vor das Schloß. Sie werden doch nicht in den Saal gehen? fragte er, und es war ihm eine süße Empfindung, daß er für sie sorgte und ihr rieth, daß er ein Geheimniß mit ihr hatte.

Nein, ich kann nicht! antwortete sie; sagen Sie, die Abendkühle habe mich unwohl gemacht!

Die Diener hatten sie kommen sehen und öffneten die Thüre. Angelika reichte Herbert die Hand. Er küßte sie ihr, wie Abschied nehmend, und da er sich vor ihr neigte, sprach sie, nur ihm hörbar: Da oben dürfen wir keine Capelle bauen!

[313]
5. Capitel
Fünftes Capitel

Margarethe, sagte der Marquis, als er an dem Abende, an welchem Herbert und die Baronin auf dem Hügel jenseit des Parkes gewesen waren, sich in den Zimmern seiner Schwester mit ihr allein zusammen fand, Margarethe, was hat denn dieser Baumeister heute gehabt, daß er so gesprächig und so witzig war?

Die Herzogin lag schon halb entkleidet in ihren Pudermantel gehüllt auf ihrer Bergère. Sie ließ sich von Mademoiselle Lise die Puffen und das Chignon ihres Haarbaues auflösen und für die Nachtruhe ordnen, während sie den Orangenblüthen-Thee trank, der die Nerven beruhigen und dem Teint seine Frische erhalten sollte.

Sie gab dem Bruder keine Antwort; er schien ihrer auch nicht zu bedürfen, denn er lächelte, nahm das emaillirte Pudermesser, welches auf dem Tische lag, trat damit an den Spiegel, dessen Lichter angezündet waren, und sagte, indem er sich behutsam die Schläfen säuberte: Und Madame, die sich zurückzieht! Sie ist sehr belustigend, diese verrätherische Unschuld!

Weil ich sie kenne, diese Deutschen, meinte die Herzogin, rieth ich Dir, auf Deiner Hut zu sein. Ihre Poeten haben sie verdorben, sie sind schwerfällig und empfindsam, selbst in ihrer Freude, und sie verstehen das Genießen nicht!

Eine so schöne Schülerin verdiente aber, daß man sie des Besseren belehrte! rief der Marquis, der sich der Schwester gegenüber in einen Sessel niedergeworfen hatte.

[314] Ein flüchtiger Blick, den die Herzogin nach ihrer Dienerin richtete, legte dem Bruder Schweigen auf, aber das Lächeln, welches um seine Lippen spielte, konnte er nicht unterdrücken, und während er mit der feinen Hand die Nadel in seinem Halstuche anders zu stecken versuchte, sagte er: Nur unter seines Gleichen kann man fröhlich leben, und es war Zeit, daß diese keusche Erhabenheit zu uns herniederstieg! Man könnte den Seladon beneiden, wenn seine strahlende Freude nicht auf die bisherige Armuth seines Lebens schließen ließe. Man könnte ihn beneiden, diesen armen Burschen!

Und beneidenswerth kam Herbert sich auch vor, als er in der Stille der Nacht an seinem Fenster stand! – Er glaubte sie noch zu fühlen, die schlanke, volle Gestalt, die er in seinen Armen, an seiner Brust gehalten hatte. Sein Herz klopfte, sein Sinn war aufgeregt, aber hell und klar. Er erinnerte sich jeder ihrer Mienen, jedes ihrer Worte, er fühlte sich von frischem Leben durchdrungen, wie über sich und seine ganze Vergangenheit erhoben. Er hätte es laut ausrufen mögen, wie voll Freude und voll Wonne er sei.

Das große, hohe Zimmer war ihm zu eng, er konnte nicht auf einem Flecke, nicht ruhig bleiben. Er mußte in das Freie, auf die Terrasse hinaus. Mit schneller Hand öffnete er die Flügelthüren, die frische Luft strömte ihm voll entgegen, es war hell wie am Tage. Der Mond stand hoch am Himmel, Wölkchen, so klar, daß sie kaum die funkelnden Sterne verdeckten, zogen langsam schwebend vorüber. Der Sang der Nachtigallen lockte in weichen, herzlösenden Tönen aus den vollbegrünten Büschen. Herbert war es, als sei das Alles nur um seinetwillen da.

Mit dem stolzen, frohen Empfinden, das der Besitz verleiht, ging er auf der Terrasse umher. Es schlief Alles im Schlosse, Niemand theilte mit ihm die Wonne dieser Stunde, [315] dieser Nacht, sie war ganz sein. So allein, so einsam hatte er vor wenig Jahren die Nächte durchlebt, wenn es ihn nicht ruhen lassen, am leise rauschenden Meeresstrande zu Neapel und zu Bajä; so einsam war es gewesen auf den steinernen Sitzen des Colosseums zu Rom, und doch, es war ihm jetzt noch anders zu Sinne, als damals. Denn wie sich in der Stunde des Schmerzes alles Leid vergangener Jahre unabweislich an uns herandrängt, so nahen sich uns in dem Augenblicke, der uns günstig ist, wie von magnetischer Kraft herbeigelockt, die schönsten Erinnerungen unseres Lebens, daß wir unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart als Eines, als ein großes, ganzes Glück empfinden; und wer solche von guten Geistern umschwebte Wonnestunden nie gekannt hat, der geht arm aus der Welt und aus dem Leben!

An seinen Vater dachte Herbert, und wie der ihn eingeführt in das erhabene und doch so offenbare Reich der Schönheit und der Kunst; seine Mutter hatte er neben sich und sie erzählte ihm, dem einzigen Kinde, wie da oben hinter den weißgeflügelten Wölkchen die unsichtbaren Englein im goldenen Himmelslichte sich wiegten und den guten Kindern rosige Träume herabträufelten mit dem Thaue der Nacht. Und die Lieder seiner Mutter hallten in seiner Seele nach und die Töne lösten sich auf und gestalteten sich neu, bis sie in jenen wunderbaren Melodien verklangen, in welchen die Gondoliere auf den Canälen von Venedig die Stanzen ihres Tasso singen. Und dann wieder umstrickte ihn die Stille der Nacht so sanft, daß kein Gedanke Form und Gestalt annehmen konnte und er nichts empfand, als ein liebevolles Glück, als die Wonne, zu leben und zu athmen inmitten der Natur.

Vor einem der Gartentische blieb er stehen. Sein Auge heftete sich an das Federball-Spiel, welches auf demselben liegen geblieben war. Er nahm das Racket in die Hand, dessen [316] Angelika sich bedient hatte. Der rothe Sammetreif umspannte das Netz von goldenen Schnüren, der Thau hatte es mit seinen Perlen übergossen. Das war der Zauberstab, der ihm den heutigen Abend, der ihm diese selige Stunde heraufbeschworen. Der gefiederte Ball lag noch darauf, er warf ihn fast absichtslos ein wenig in die Höhe und fing ihn mühelos wieder auf. So war es ihm heute überhaupt gegangen, so war ihm das wundervolle Abenteuer, das süße Erlebniß fast ohne sein Zuthun von der Stunde Gunst beschieden worden, und es dünkte ihm darum noch lieblicher und zauberischer.

Aber sie irrten beide, der Marquis und dessen Schwester; Herbert war kein solcher Neuling im Leben und er liebte die Baronin nicht. Es war kein Liebesrausch, keine Verblendung durch ein eitles Hoffen gewesen, die ihn an dem Abende so gesprächig und so witzig gemacht, wie der Marquis die Erregtheit des Baumeisters bezeichnet hatte. Es war ein zärtliches Mitleid, eine großmüthige Sorge, die er für Angelika in seinem Herzen trug, und leise, aber doch erkennbar genoß er die Genugthuung, den Stolz dieser vornehmen Frau, der ihn manchmal beleidigt und verletzt hatte, so hingeschmolzen, und sie trostsuchend an seiner Brust gesehen zu haben. Er erinnerte sich des Augenblickes, da er mit freier Seele vor sie hingetreten war und sie ihm das Bewußtsein aufgedrängt hatte, daß er ihr mißfalle. Jetzt, deß war er sicher, dachte sie anders über ihn; aber wenn er sich auch fragte, was Angelika bestimmen mögen, einen Mann, den sie nicht geringschätzen konnte, alle die Jahre mit so wechselnder Launenhaftigkeit zu behandeln, so war er sich seines Werthes doch zu sehr bewußt und zu sehr gerührt von den Thränen der schönen Frau, als daß sich in sein befriedigtes Selbstgefühl und in seine Theilnahme für die Baronin ein Tropfen von Bitterkeit gemischt hätte.

Er wollte versuchen, ihr näher zu treten, ihr Vertrauen [317] zu gewinnen. Er stellte sich vor, daß sie gegen ihren Willen des weit älteren Mannes Frau geworden sei, daß man sie gezwungen habe, einer früheren Liebe zu entsagen. So wie mit ihm, mochte sie einst mit dem Geliebten ihres Herzens durch die duftende Dämmerung des Frühlings gewandelt sein, so mochte sie mit einem Geliebten von milder Höhe hinabgesehen haben in ein stilles Thal, und nun hatte Herbert ihr die Erinnerung an verlorenes Glück, an dauerndes Entbehren wach gerufen. Sie hatte dem Entfernten, dem Vermißten nachgeweint, Thränen der Erinnerung waren es sicherlich gewesen, welche sie an seiner Brust vergossen hatte; und wie er sich mehr und mehr in diese Vorstellung versenkte, so standen auch jene Frauen vor ihm, denen er in den verschiedenen Zeiten seines Lebens Neigung und Liebe und Leidenschaft entgegengebracht hatte. Die schöne Empfindung jener wechselnden Stunden erwärmte und durchglühte ihn, und er liebte seine Erinnerungen und die Frauen und das Lieben, und wenn er sich seiner fröhlichen Vergangenheit und seines Glückes freute, so dachte er dazwischen doch immer wieder der Baronin, die solchen Glückes Fülle sicher nicht gekannt hatte, und der Vorsatz, ihr beizustehen, ihr nahe zu bleiben, entzückte ihn, weil die Liebe ihn so entzückte.

Der Tag kam herauf, als er endlich in sein Zimmer zurückkehrte, um sich zur Ruhe zu legen; aber er konnte nicht mehr schlafen, und hätte er es vermocht, es wäre ihm nicht viel Zeit dafür vergönnt gewesen. Er mußte früh hinaus, da er mit dem Amtmanne nach einem Steinbruche reiten wollte, der noch innerhalb der Herrschaft, aber doch mehr als zwei Meilen von Richten entfernt lag und dessen Material man für den Bau zu verwenden gedachte.

Durch den frischen Morgen ritt er über den weiten Hof, an den die große und lange Allee von Lerchen-und Ebereschen-Bäumen sich anschloß. Die thaufrischen Blätter und Spitzen [318] der Zweige nickten, von dem leisesten Lufthauche bewegt, und sprühten ihre Thautröpfchen auf den Reiter herab. Zu beiden Seiten wogte das dichte, kurze Grün der lang sich hinstreckenden Hafer- und Gerstenfelder, daß es wie ein wallendes, glänzendes Wasser anzusehen war, wenn die Sonne sich in dem Thaue bespiegelte. Aus dem Walde von Aehren schossen die Lerchen empor und schwangen sich mit schwirrendem Flügel zum Himmel auf, die kleinen Kehlen in schmetterndem Gesange bewegend. An dem Rande der Gräben, an den Rainen blühte die Kornblume, nickte der rothe Mohn, und über die Dornhecken und die blühende wilde Rose schlang die Winde, sich weithin spannend, ihre Ranken. Wohin man blickte, war Alles voll Leben, voll Bewegung, voll Klang und Sang. Die Biene, der Käfer, der Schmetterling und der Vogel, jeder that sich was zu Gute in dem warmen Sonnenscheine, und selbst die Hunde vor den Häusern sprangen heraus, kläfften und bellten, liefen dem Pferde nach, liefen ihm voraus und wendeten wieder um, und man konnte es den klugen Thieren wohl anmerken, daß sie das Pferd und den Reiter nicht anzuhalten dachten, sondern nur ihr Spiel haben wollten.

Nach der sanften Feier des letzten Abends, nach der magischen Stille der Nacht war dieser Morgen voll frischen Lebens dem jungen Manne ein doppeltes Vergnügen, und mit seinen strahlenden Augen hinaus in die Ferne schauend, ließ er das Pferd weit ausgreifen und athmete mit tiefem Behagen den Luftstrom ein, der ihm entgegenkam.

Da, wo der Weg sich wendete und wo der Wegweiser stand, der nach Rothenfeld wies, blickte Herbert nach dem Schlosse zurück. Die grünen Fensterladen waren noch überall geschlossen. Der Baron und Angelika, der Marquis und die Herzogin, Alles lag sich er noch im tiefen Schlafe, und sammt und sonders thaten sie ihm leid. Es war ihm so wohl, er [319] hätte überhaupt mit Niemandem tauschen mögen, und selbst Angelika's leise Mahnung: »Da oben bauen wir keine Capelle!« machte ihm keine Sorge. War es keine Capelle, so konnte man irgend einen Tempel, einen Freundschafts-Tempel da oben errichten, und zu einem solchen Angelika's Zustimmung zu gewinnen, hoffte er zuversichtlich, weil er ihre Freundschaft zu erwerben trachtete.

Wohlgemuth ritt er durch das Thor des Amtshofes ein. Er war ein gern gesehener Gast auf demselben und es behagte ihm dort immer, wenn er von dem Schlosse kam. Denn wie das Stattliche und Schöne ihn erfreute, das Vornehme im Leben und in der Kunst ihm einen großen Eindruck machten, so hatte er daneben doch eine angeborene Freude an dem Nützlichen und Nothwendigen, und nach der breiten Terrasse des Schlosses, nach dem hohen Porticus und den Bogenfenstern desselben, nach den Taxushecken und Springbrunnen gefielen ihm der Wirthschaftshof mit seinem Röhrbrunnen, an welchem die große Heerde getränkt ward, das schwerfällige, alte Haus mit der niedrigen Thüre und der breiten Rampe, über der sich die Aeste der Lindenbäume von beiden Seiten her dicht in einander verschlungen hatten, immer ganz besonders wohl.

Man sah es den dicken Mauern auch an, daß das Haus im Winter warm, im Sommer kühl sein müsse. Gleich vor der Thüre luden die breiten Bänke und der große steinerne Tisch zum Sitzen und zum Verweilen ein, und die Blumenstöcke, welche auf den Fensterbrettern die volle Morgensonne genossen, die Rabatten des kleinen Gartens, aus deren fetter, brauner Erde sich schon die vollen Levkoien und die glänzenden, vielblätterigen Nelken hervorhoben, waren so wohlgepflegt, der gefleckte Jagdhund auf der Schwelle, der aufsprang, als der Reiter in den Hof ritt, und die gelbe Katze, welche nur blinzelnd die schläfrigen Augen öffnete und den dicken Kopf dann [320] langsam niedersenkte, um die sonnenerwärmte Stelle wieder einzunehmen, waren so rund und so blank, daß man es merkte, hier leide Niemand Mangel.

Auch dem Hausherrn, dem jungen Amtmanne, konnte man das ansehen. Er war fast gleichen Alters mit dem Baumeister und auf dem Gute geboren und erzogen. Schon sein Urgroßvater hatte die Arten'schen Güter bewirthschaftet und von Vater auf Sohn hatte sich das Amt, und mit ihm die Liebe für den Grund und Boden und die Anhänglichkeit an die Herrschaft vererbt. Die Steinert's waren hier zu Hause und angesehen, beinahe wie die Herren von Arten selbst. In der ganzen Umgegend hatten sie Verwandte, überallhin waren sie durch die Heirathen ihrer Töchter und Söhne mit den Amtleuten, den Gutsbesitzern, den Pfarrern und Förstern verschwägert, und wer im Lande Rath und That bedurfte, der ging zum Amtmanne nach Rothenfeld, denn die Steinert's waren Landwirthe, wie es wenige gab, und der jetzige Amtmann hatte es wohl bisweilen ausgesprochen, daß er einmal sehen möchte, was aus dem Herrn werden würde, wenn man im Amtshause nicht das Auge auf Alles hätte und gelegentlich die Hand auf Manches legte, was nicht angetastet werden dürfte, ohne daß dem ersten Capitalangriffe der zweite nachfolgen müsse.

Ein treuer Diener muß auch widersetzlich sein, wo's Noth thut! hatte der Vater des jungen Amtmannes einmal gesagt, und sie lag so zu sagen den Steinert's im Blute, diese treue, ehrliche Widersetzlichkeit. Man brauchte die Männer nur anzusehen. Sie waren ein großes, starkes, vollblütiges Geschlecht, die Männer wie die Frauen, und der junge Amtmann und seine Schwester machten keine Ausnahme davon, wie er denn auch Adam hieß gleich seinem Vater und Großvater und gleich denen, die vorhergegangen waren. Weil aber Adam der einzige [321] Sohn gewesen und erst neun Jahre nach ihm ein Mädchen in das Haus geboren worden war, so hatte der Vater gemeint, wenn der Adam doch einmal keine anderen Gesellen habe, so müsse er wenigstens in der Schwester seine Eva bekommen, und Adam und Eva waren auch die einzigen Kinder geblieben, waren mit einander groß geworden, hatten von Vater und Mutter den tüchtigen Sinn geerbt, die Arbeit und die Wirthschaft erlernt und befanden sich so wohl mit einander, daß noch keiner von ihnen an das Heirathen gedacht hatte, obschon der Amtmann dreiunddreißig Jahre alt war und die Eva auch schon in den ersten Zwanzigen stand.

Sie glichen einander recht wie Bruder und Schwester. Beide waren sie groß, beide stark von Bau und von frischer Farbe mit hellen, blauen Augen. Des Amtmanns Krauskopf war eben so blond wie das dicke, gewellte Haar, welches Eva's Schläfen umgab, und beide sahen jung und lachend wie der Morgen aus, als sie bei Herbert's Ankunft vor die Thüre und auf die Rampe hinaustraten.

Die grüne, breitschooßige Pekesche mit den blanken Knöpfen, die gelbe Lederhose und die faltigen Reitstiefel saßen dem Amtmanne wie aufgegossen. Man sah, daß er etwas auf sich hielt, daß er etwas auf sich wenden konnte, und obschon er sein Haar nicht mehr puderte, weil es damit, wie auch Herbert der Baronin bedeutet hatte, in Wind und Wetter nichts war, so hatte er es doch noch mit einem schönen Bande in breitem Haarbeutel zusammengebunden, grade wie der Herr Baron, und der kleine dreieckige Hut saß ihm keck auf dem Kopfe und warf seinen Schatten über seine starke, feste Stirne.

Willkommen, werthester Herr Baumeister! rief er dem Reiter entgegen, als dieser vor der Thüre hielt. Sie sind ein Mann von Wort! Er zog die Uhr mit der schön gefleckten Schildpattkapsel hervor und hielt sie ihm hin. Halb sieben [322] Uhr auf den Punkt. Damit trat er an das Pferd heran, und er und Herbert schüttelten einander die Hände.

Man ist ja in dem Wetter froh, versetzte dieser, wenn man herauskommt, und den Mann möchte ich sehen, den's schlafen ließe, wenn er weiß, daß Mamsell Eva die Langschläfer nicht leiden mag! – Er nahm den Hut grüßend vom Kopfe; Eva nickte ihm freundlich zu und meinte, sie könne gar Vieles nicht leiden, zum Beispiel das Warten nicht.

Haben Sie denn auf mich gewartet? fragte er.

Gott bewahre, Mosje Herbert, dazu habe ich Morgens keine Zeit; aber ich warte jetzt auf Sie!

Auf mich – wie das?

Mit dem Frühstücke! entgegnete sie.

Herbert meinte, es solle gleich fortgehen, indeß der Amtmann und Eva wollten davon nichts hören.

Sie werden doch nicht der Erste sein wollen, Herr Architekt, meinte der Amtmann, der um die Frühstücksstunde hier ohne Imbiß fortgeht? Und Eva sagte: Sie können immer einmal die gnädigen Herrschaften im Muschelsaale ihre Chocolade allein einnehmen lassen und mit unser Einem frühstücken. Wenn man gute Gesellschaft am Morgen hat, giebt's immer einen guten Tag; denn daran glaube ich ganz fest, Gutes und Böses kommen nie allein!

Schönen Dank, Mamsell, daß Sie mich für etwas Gutes halten! rief Herbert, während er vom Pferde stieg; der Amtmann hatte einen Knecht herbeigewinkt, der ihm das Pferd abnahm, und die beiden Männer folgten Eva in den Hausflur, in welchem auf dem großen Eichentische Brod und geräuchertes Fleisch aufgetragen waren, neben denen der zinnerne Bierkrug und die feine Flasche mit Kirschbranntwein nicht fehlten.

Den Hausflur hatte Herbert gar so gern. Die großen, altersgeschwärzten Eichenschränke, welche auf ihren massiven [323] Kugelfüßen die beiden Seitenwände des Flures einnahmen, der schwere Tisch in der Mitte, die alte, große Hausuhr, welche einen Monat ging und die seit mehr als fünfzig Jahren auf dieser Stelle stand, ohne je einer Reparatur bedurft zu haben, die handfesten Stühle und die dreifachen Reihen von Erntekronen und Erntekränzen, die an den Wänden hingen und deren Bänder zum größten Theile schon ganz verblichen waren, das Alles zeugte von Dauerhaftigkeit; und dazu warf das Sonnenlicht, welches durch die Blätter der Linden in den Flur hineinfiel und um die welken Aehrenkränze spielte, daß sie ganz frisch darunter aussahen, eben seine hellsten Strahlen auf das goldene Haar von Eva, welche, am Tische stehend, den Rücken der Hausthüre zugewandt, die beiden sitzenden Männer bediente.

Sie haben übrigens Recht, Mamsell Eva, nahm Herbert das Wort wieder auf; ich finde auch, daß das Glück niemals allein kommt. Denn ich habe eine köstliche Nacht verlebt, und der Morgen beginnt mir eben so günstig und schön! – Er verneigte sich dabei, um ihr das Compliment anzueignen. Sie beachtete es aber nicht, sondern fragte: Was haben Sie denn die Nacht gethan?

O, ich habe sie fast ganz im Freien durchwacht, sie war so still und schön! – Eva sah ihn an, als erwarte sie eine Fortsetzung seines Berichtes, und da er nichts hinzufügte, fragte sie: Und das war Alles? Weiter nichts?

Der Amtmann lachte, Herbert mußte mitlachen; Eva's unbefriedigter Blick und der Ton ihrer Stimme forderten dazu heraus, aber Herbert war dabei doch nicht wohl zu Muthe. Es verdroß ihn, daß Eva komisch finden konnte, was ihn so hoch entzückt hatte, und dabei wußte er kaum, ob er mit dem Mädchen, oder mit sich selber nicht zufrieden wäre. Sie scheinen auch das Wachen also nicht zu lieben, meinte er, und er sagte das mit absichtlichem Spotte.

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Sie nahm es aber nicht so auf, sondern antwortete ruhig: Nein, gar nicht, wenn es zu nichts führt. In guter Gesellschaft und wenn's einen Tanz giebt, oder wenn es bei einem Kranken nöthig ist – ja, dann ist's etwas Anderes. Aber sonst – sie hielt inne und sagte, als könne sie den rechten Ausdruck nicht finden und müsse sich auf andere Weise helfen: Nachts ohne alle Ursache wachen und am Tage schlafen, wie's im Schlosse oft geschieht, das wäre mir grade, als sollte ich den rechten Handschuh auf die linke Hand ziehen! Das geht mir wider den Strich!

Sie wandte sich dabei von den Männern fort, um aus dem einen Schranke noch ein Messer herbeizuholen. Als Herbert ihr nachsah, fand er ihre kräftige, große Gestalt in dem aufgeschürzten blauen Zitzkleide, mit dem sauber gefalteten Tuche um Brust und Schultern außerordentlich schön, und die Röthe des Nackens und der Oberarme sah so gesund aus, daß er unwillkürlich den Ausruf that: Ich glaube, Sie könnten gar nicht anders als Eva heißen!

Der Bruder, welcher seine Freude an dem Mädchen hatte, verstand, was Jener meinte, und gab ihm Recht; Eva aber stützte sich mit den Händen vor ihnen auf den Tisch und sagte: Mosje Herbert, ich glaube, für Sie ist's auch Zeit, daß der Bau bald fertig wird und daß Sie aus dem Verkehr mit dem lächerlichen Herrn Marquis fortkommen, der hier zuweilen wie eine Bombe einfällt! Sie lernen ihm nur seine Redensarten ab! Das mit dem Eva heißen habe ich nun schon zweimal hören müssen, und man möchte doch auch einmal etwas Neues haben!

Sie nahm dabei eine schmollende Miene an, die sie vollends reizend machte, und Herbert fühlte so großes Vergnügen in ihrer Gesellschaft, daß der Amtmann ihn an den Aufbruch mahnen mußte. Herbert dankte also für die genossene Gastfreundschaft, Eva entgegnete, wenn es ihm gefallen und geschmeckt [325] habe, so möge er bald und vor allen Dingen zum Erntefeste wiederkommen. Er reichte ihr die Hand zum Abschiede, und als er schon im Fortgehen war, fragte sie, was denn die gnädige Frau mache und ob sie wohl sei. Er berichtete, daß die Baronin sich am Abende nicht gut befunden habe. Eva machte ein ernsthaftes Gesicht dazu und schüttelte bedenklich den Kopf.

Die wird auch nie mehr ganz gesund, sie hat's nie verwunden, sagte sie seufzend und mitleidsvoll, und ich möchte auch nicht an ihrer Stelle sein! Herbert wollte wissen, weßhalb nicht. Sie antwortete nur, indem sie, ohne eine Erklärung zu geben, mit einem: O nein, gewiß nicht! ihre vorige Aeußerung bekräftigte, und da inzwischen die Pferde vorgeführt worden waren, so trennte man sich, ohne daß Herbert eine Antwort von dem Mädchen erhalten hatte.

Während des Rittes bot sich Herbert keine rechte Gelegenheit zu weiteren Fragen dar, obschon Eva's Aeußerung ihm nicht aus dem Sinne wollte. Die Gegend, durch welche sie kamen, war Herbert neu, und der Amtmann hatte seine Genugthuung daran, den Fremden mit allen Vorzügen des Bodens bekannt und auf alle die Vortheile aufmerksam zu machen, welche eine sorgfältige Cultur diesem Boden abzugewinnen verstanden hatte. Dafür aber verlangte er dann auch von Herbert zu hören, wie es sonst in der Provinz und in der Welt aussähe, auf deren Händel und Entwickelungen das Auge des jungen Landwirthes wie das eines jeden Mannes in jenen Tagen gerichtet war. Indeß so lange man zu Pferde blieb, war an ein rechtes zusammenhängendes Sprechen nicht zu denken, aber als man in der Nähe des Steinbruches, wo der Boden aufstieg und das Thal sich verengte, absteigen mußte, um den Rest des Weges am Ufer des Flusses fortzusetzen, ward die Gelegenheit zur Unterhaltung günstig. Man ließ die Pferde an dem [326] Hause eines der Steinbrecher zurück, und wie man nun in dem kühlen Thale vorwärts ging, richtete der Amtmann seine Fragen auf sein Lieblingsthema, auf die Männer und die Ereignisse, von denen die Zeitungen ihrer Zeit berichtet hatten und noch berichteten. Herbert sollte ihm von den Helden der französischen Revolution erzählen, bei deren Beginn der Baumeister sich noch in Paris befunden hatte und deren wahrscheinlicher Aus gang jetzt alle Geister beschäftigte.

Er sollte Mirabeau beschreiben, und schildern wie Camille Desmoulins aussehe, die er gesehen, er sollte erklären, wie ein Volksaufstand sich mache, und während der Amtmann mit leidenschaftlicher Spannung an seinen Berichten hing, erwärmte sich Herbert mehr und mehr an seinen eigenen Worten, bis beide junge Männer sich wieder einmal lebhaft für die Gleichheit der Stände, wider alle Vorrechte und wider jede Art von Vorurtheilen ausgesprochen hatten, die ihnen in ihrem Leben bereits hindernd entgegengetreten waren oder von denen sie später eine Beeinträchtigung fürchten konnten, wie verschieden ihre Berufsthätigkeiten und selbst ihr Bildungsgrad auch waren.

Herbert, welcher in der Schloßgesellschaft beständige Rücksichten zu nehmen hatte, fand es angenehm, sich frei gehen lassen zu können und einen so dankbaren Zuhörer zu haben. Der Amtmann, der sich nach seinen Kenntnissen, seiner Tüchtigkeit und auch nach seiner Wohlhabenheit manchem der Edelleute überlegen wußte, die in der Nachbarschaft und zu Zeiten auch im Schlosse die großen Herren spielten, und vor denen er sich, wie gering er sie auch schätzte, zu demüthigen und zu beugen genöthigt war, fühlte sich stets gehoben in dem Verkehre und in der Unterhaltung des Architekten, welchen der Freiherr als seinen Gastfreund und Hausgenossen ehrte, während dieser sich als ein Gleicher neben den Amtmann stellte; und da die Jugend überhaupt zu geselligem Anschließen geneigt ist, fanden [327] die beiden sich bald in einem Zwiegespräch begriffen, das ihnen recht von Herzen kam.

Man war von den Mittheilungen über Frankreich und die Revolution auf die Emigranten im Allgemeinen zu reden gekommen und dadurch auch auf die Gäste im Schlosse geführt, und der Amtmann meinte: Es muß solchen Herrschaften spanisch vorkommen, wenn für sie das Befehlen und Besitzen auch einmal ein Ende hat. Wenn man aber hört, wie sie's dort getrieben haben, und weiß, wie's auch hier herum vieler Orten zugeht, so kann man sich denken, daß sie drüben kein groß Mitleiden mit ihnen fühlen. Ich wollte nicht sehen, was hier passirte, wenn's auch hier einmal zum Klappen käme!

Glauben Sie denn, daß hier zu Lande das Material für eine Revolution vorhanden ist? fragte der Baumeister.

Der Amtmann besann sich, ehe er antwortete, die Vorsicht des Bauers steckte auch ihm im Blute. Es kommt darauf an, sagte er dann nach reiflichem Ueberlegen, was man Revolution nennt!

Nun! versetzte Herbert, mich dünkt, das wäre klar. Ist man hier unzufrieden? Hat man große Beschwerden gegen den König und sein Regiment?

Gegen den König und sein Regiment? wiederholte der Amtmann, das könnte ich nicht sagen. An den König denken sie hier nicht viel, d.h. sie denken an ihn nur, wie an den lieben Herrgott, der ebenfalls weit weg ist und von dem sie auch nicht wissen, ob er sie hört oder nicht hört. Die Leute hier sehen nicht über die Feldmark hinaus. Jeder hat hier sein Theil Plage für sich und steht also meist auch nur für sich. Er hat's mit mir zu thun, der ich hier befehle, und mit der Herrschaft, für die ich befehle. Was er zu fürchten und zu hoffen hat, seine Anhänglichkeit und seine Aufsässigkeit, das liegt Alles hier, Alles dicht neben einander wie sein Haus und [328] sein Grab. Darüber hinaus hat er sich sonst nicht leicht um etwas gekümmert, und wenn's ihm nicht allzu schlecht gegangen ist, ist er zufrieden gewesen.

Und jetzt! ist's jetzt anders?

Der Amtmann besann sich wieder eine Weile, dann sagte er sehr bestimmt: Ja! anders als vor fünf und vor zehn Jahren, als zu den Zeiten, da ich von der Schule und von der Universität kam, denn mein Vater hat mich anderthalb Jahre auf die Universität geschickt, schaltete er mit Selbstgefühl in seine Rede ein, anders ist's jetzt hier allerdings. Es ist, als ob's in der Luft läge. Sie pariren nicht wie sonst, sie raisonniren viel.

Aber worüber?

Ueber Alles!

Also zum Beispiel? fragte Herbert.

Ueber die Frohnen, über die Hand- und Spanndienste, über Alles! Und wie das geht, da sie immer zusammenstecken, hetzt Einer den Andern auf, und was der Eine nicht ausheckt, das klaubt der Andere hervor. Man wird bald Noth haben, sie zur Arbeit zu bekommen, denn um Ausreden sind sie ohnehin niemals verlegen.

So etwas pflegte aber doch überall einen Ausgangspunkt zu haben, oder es pflegte irgend Jemand da zu sein, der den Anführer macht. Ist vielleicht ein bestimmter Anlaß zu der Unzufriedenheit gegeben worden, ist irgend Einem ein besonderes Unrecht zugefügt?

Sie gingen, als Herbert diese Frage that, über die lange und schmale, aus Knüppeln und Rasen gemachte Brücke, welche hier den Fluß überspannend auf die Seite desselben leitete, auf welcher der jetzt bearbeitete Steinbruch lag, und da Herbert seiner Freude an dem Schönen und Lieblichen in der Natur, wo er diesem begegnen mochte, nachgab, so blieb er stehen und [329] betrachtete, wie die weichen Binsen und das Schilf sich nickend in dem Wasser spiegelten, daß es zu Zeiten aussah, als hingen die goldenen Sonnenreflexe wie strahlende Blumen an den schwankenden grünen Halmen. Er pflückte eine kleine breitblättrige Farre, die in dem Moose auf der Brücke gewachsen war, steckte sie an seinen Hut und folgte dann dem Andern, der ihn drüben am Ufer erwartete.

Als Herbert sich wieder an des Amtmanns Seite befand, der offenbar mit der Frage seines Begleiters beschäftigt geblieben war, sagte Jener: Eine Ursache und einen Anfang muß freilich Alles haben, aber die Dinge haben meist mehr als Eine Ursache, und hier die Veränderung unter den Leuten hat deren viele. Und wieder brach er zögernd ab, bis der Baumeister ihn mit erneuter Frage zum Weitersprechen nöthigte.

Sehen Sie, Herr Baumeister! fing nun der Amtmann an, als sei er nun zu dem Entschlusse gekommen, herauszusagen, was er eigentlich dachte: sehen Sie, unser Herr Baron ist ein guter Reiter, und wer ein guter Reiter ist und es weiß, daß kein Pferd ruhig bleibt, wenn man's heute gehen läßt, wie's eben mag, und morgen scharf zusammennimmt, ohne daß es was verfehlt hat, wer's aus Erfahrung weiß, daß man das beste, frommste Thier im Handumdrehen verreiten und stöckisch machen kann, der, meine ich, sollte das auch auf den Menschen appliciren. Es ist schwer auskommen mit dem Herrn Baron! Mein Vater hat's schon immer gesagt, es war besser unter dem seligen Herrn!

Herbert bemerkte, daß der Freiherr ihm weder streng noch hart erscheine, daß er im Gegentheil nur wohlwollende und menschenfreundliche Aeußerungen von ihm vernommen habe.

Der Amtmann machte eine zustimmende Bewegung mit dem Kopfe. Das ist's eben! meinte er. Streng und hart ist gar nicht das Schlimmste, dabei kann Alles gehen, denn der Mensch [330] gewöhnt sich allmählich an das, was gleichmäßig geschieht, und besonders denkt der Bauer in solchem Falle: es könne denn eben nicht anders sein. Wäre der Herr Baron nur immer streng, und machte er es wie sein Vater und sein Großvater, die sich um gar nichts kümmerten, als um's Verzehren und Genießen, so ständen wir Alle uns besser. Aber er ist leider Gottes menschenfreundlich und hat ein weiches Gemüth, und dazu mag er im Grunde seines Herzens selbst zuweilen denken, daß es wohl nicht immer so auf der Welt bleiben werde, wie bisher. Da kommt's denn, daß er heute nachgiebt, was er morgen verweigert, daß er dem Einen erlaubt, was er dem Andern verbietet. Das macht böses Blut. Die Einen denken, wenn er das zugesteht, kann er auch mehr zugestehen; die Andern sind ihm aufsässig, weil sie ihre Forderung nicht durchgesetzt haben, und zuletzt bade ich es aus, denn zuletzt muß ich vor den Riß treten, und mit mir macht er's dann auch nicht besser. Man weiß nicht, wie man mit ihm daran ist. Seit er geheirathet und die Pauline sich ertränkt hat, ist das Alles schlimmer geworden, und seit wir nun gar den – verzeihen Sie, daß ich es einmal sage – verwünschten Kirchenbau hier haben, ist vollends der Teufel los!

Der Amtmann sagte das offenbar mit fester Ueberzeugung. Indeß obschon dies Herbert nahe genug anging und ihn lebhaft beschäftigte, so erregte doch die Erwähnung eines Frauenzimmers, das sich ertränkt haben sollte und das offenbar in einem nahen Zusammenhange mit dem Freiherrn gestanden haben mußte, um der Baronin willen vor allem Andern seine Neugier. Er fragte nach den näheren Umständen, erfuhr den ganzen Hergang der Sache und alle ihre Einzelheiten, wie man sie eben in der Umgebung und Dienerschaft des freiherrlichen Paares kannte und betrachtete.

Herbert war sehr von dieser Kunde betroffen und ergriffen, [331] denn jetzt glaubte er plötzlich den Schlüssel für alles dasjenige zu haben, was ihm gestern überhaupt in dem Wesen und in dem Verhalten der Baronin auffallend erschienen war. Das arme, arme Weib! rief er unwillkürlich aus, als der Amtmann geendet hatte.

Der Amtmann stimmte ihm bei, denn er glaubte, Herbert spreche von Pauline, und er rühmte deren Schönheit und gute Eigenschaften.

Herbert aber dachte nur an die Baronin. Er bedauerte, daß er dies Alles nicht schon gestern gewußt habe, er fürchtete, der Baronin nicht verständnißvoll genug begegnet zu sein, und machte sich Vorwürfe darüber, daß er durch seine Aeußerung ihr wundes Herz getroffen, oder daß sie gar in derselben eine unberechtigte Andeutung auf ihr schweres Schicksal gefunden haben könne.

Während er mit dem Amtmann den Bruchstein besah und Farbe und Gehalt desselben prüfte, während man mit dem Aufseher und dem Meister überlegte, welcher Art von Bearbeitung und Polirung der Stein fähig sei und in wie viel Zeit man die geforderten Quadern und Säulen herstellen und beschaffen könne, blieb das Bild der Baronin ihm immer gegenwärtig, und die Vorstellung, daß er mit seinem Baue ihrem innersten Herzensbedürfnisse genüge, daß er ihr dazu helfe, ein Gelübde zu erfüllen, eine Buße zu üben, von der sie sich eine Befreiung ihrer Seele versprach, wurde ihm ganz besonders werth.

Es fiel dem Amtmann auf, daß Herbert während der Verhandlungen so dringend wurde, daß er die Termine, welche er am Anfange der Unterredung und der Besichtigung leichthin als die früheste Ablieferungszeit bezeichnet hatte, bald als die letzte angesehen haben wollte, und er erinnerte ihn also daran, daß er ja selbst sechs Jahre für den Bau beansprucht, daß man also noch eine geraume Zeit vor sich habe. Auch der Baron [332] habe, wie der Amtmann bestimmt wisse, bei seinen Geldmitteln und Geldbewilligungen mindestens an eine sechsjährige Dauer des Baues gedacht und auf die gleichmäßige Vertheilung der für denselben bestimmten Summe während dieser sechs Jahre gerechnet. Endlich, meinte er, hätten, um die Wahrheit zu sagen, diese ersten vier Jahre die ganze ursprünglich festgesetzte Summe verschlungen, so daß ein Innehalten und Zögern sehr geboten sei. Herbert hingegen machte geltend, daß er vor dem Baue der Kirche in Rothenfeld, eben der Kosten wegen, gewarnt habe und daß man um der auswärtigen Arbeiter willen nicht innehalten und nicht feiern dürfe.

Das mußte der Amtmann halbwegs zugeben, und nach mannigfachem Hin und Wider und nachdem Herbert einige Proben des Gesteins hatte abschlagen lassen, die er versuchsweise nach der Stadt mitnehmen wollte, um dort mit Sachkundigen über ihre Behandlung sich noch zu besprechen, trat man den Rückweg an. Indeß der Amtmann fand Herbert nicht so gesprächig als vorher. Er schob dies auf die eben gehabte Erörterung, auf die Wärme des Tages, und sie schlenderten dann, auch nur hier und da ein paar Worte mit einander wechselnd, langsam durch das Thal, bis sie zu der Stelle kamen, an welcher des Steinmetzen Bube mit den Pferden ihrer wartete. Hier mußten sie sich trennen. Der Amtmann, welcher noch vor dem Mittage in den Forst zu reiten dachte, lud den Baumeister ein, ihn zu begleiten, weil es dort im Nadelholze schattig und kühl sei; Herbert meinte jedoch, daß der Freiherr eine Auskunft von ihm erwarten könne, und wollte deßhalb bei guter Zeit wieder in Richten eintreffen.

Er stieg also auf, der Amtmann that desgleichen; als dieser jedoch den Fuß in den Bügel setzte und sich aufschwingen wollte, bemerkte er, daß sein Sattel nicht fest saß, und stieg ab, um den Sattelgurt fester zu schnallen. Und während er [333] sich dazu bückte, sagte er, Französisch sprechend, wie er das gelegentlich gern that, um seine gute Erziehung zu beweisen: Ich darf wohl darauf rechnen, daß Alles, was wir heute durchgesprochen haben, unter uns bleibt?

Herbert versicherte, daß sich das von selbst verstände, und Jener fügte lächelnd hinzu: Es ist hier doch im Grunde immer noch so gut, wie rund herum, und wer die Herrschaften kennt, hängt ihnen an. Aber, lieber Gott! sie sind einmal, wie sie sind! Chien de chasse, chasse de race! Die Männer wollen leben, und die Frauen wissen sich denn auch auf eine oder die andere Art zu trösten!

Er lachte dazu, denn er kam sich offenbar bei dieser Aeußerung wie ein Weltmann vor, und mit guter Manier den kleinen dreieckigen Hut zum Abschiedsgruße bewegend, während er dem Architekten ein: à revoir, Monsieur Herbert! zurief, sprengte er davon.

[334]
6. Capitel
Sechstes Capitel

Langsam und zerstreut ritt Herbert die Straße zurück, welche er am Morgen in so heiterer Stimmung durchmessen hatte. Er dachte an den Bau und an gewisse Berechnungen, welche er dem Freiherrn aufzumachen hatte, aber er rechnete schwer, er verrechnete sich öfter; die Zahlen, die Maße wirrten sich ihm in einander, und dann ertappte er sich bisweilen auf jener Zerstreutheit, in welcher es uns scheint, als sei in unserem Denken ein Stillstand, eine Leere eingetreten, und in der wir uns fragen: Was habe ich denn eigentlich gedacht? – weil die Reihe unserer Vorstellungen so blitzschnell an uns vorüber zieht, daß wir sie nicht festzuhalten im Stande sind und uns nur, man möchte sagen, des unwillkürlichen Erleidens einer unwillkürlichen Thätigkeit bewußt werden. Das ist ein quälender Zustand, und auch unsere Sinne werden in der Regel von demselben ergriffen, denn was wir in solchen Augenblicken sehen und vernehmen, gleitet anscheinend auch unerfaßt an uns vorbei, und doch kann es geschehen, daß man sich nach Monaten, nach Jahren irgend eines Eindruckes bewußt wird, den man in solcher Stunde empfangen hat.

Das Pferd, welches fühlte, daß es sich selber überlassen sei, machte sich das zu Nutze. Der Tag war so drückend heiß, und, den Schatten der Bäume suchend, ging das Thier in gleichmäßig ruhigem Schritte der wohlbekannten Heimath zu. Herbert hing nachlässig im Sattel. Die Sonne brannte hernieder, [335] aber er schien sie nicht zu fühlen. Er dachte an den linden Abend und an die frische Kühle der letzten Nacht, oder vielmehr, er dachte nicht an sie, sondern er empfand sie noch erquickend. Es war ihm, als träume er, aber als träume er einen schönen, glücklichen Traum, und er wußte doch nicht, was dieser ihm bringe oder biete. Alles war nebelhaft, Alles warm und beseligend. Er hätte nur immerfort so weiter reiten mögen, immerfort, immerfort!

Da mit einem Male wehte es ihn kühler und erfrischend an. Eine Wolke war über die Sonne hingezogen, sie verhüllte ihr Licht. Der ganze Himmel hatte angefangen sich zu bedecken, ein leiser trockener Wind erhob sich. Herbert sah umher: er war nicht weit mehr von Richten, er konnte das Schloß deutlich in allen seinen Einzelheiten unterscheiden. Grade so hatte er es damals erblickt, als er vor Jahren zuerst des Weges gekommen war. Damals!

Es dünkte ihn sehr lange her zu sein, jener Tag, denn damals war Alles anders gewesen, als jetzt, Alles anders! Noch gestern war es anders gewesen – noch heute früh!

Was hatte er denn gedacht seit gestern? Weshalb hatte er denn die Nacht so wundersam verträumt, und was hatte ihn so umgewandelt seit einer Stunde?

Das Blut schoß ihm zu Kopfe, er fuhr auf. Das Pferd, durch einen straffen Zügelgriff aus seiner freien Lässigkeit aufgeschreckt, sprang, sich bäumend, in die Höhe. Der Widerstand kam Herbert eben recht, und mit scharfem Spornstoß das Thier zusammennehmend, trieb er es vorwärts, daß es weit ausgriff und ihn gestreckten Laufes leicht dahintrug.

Zu ihr! das war die ganze Antwort, welche er sich zu geben wußte.

Ein leidenschaftliches Verlangen brannte in seinem Blute, er mußte lachen, wenn er sich erinnerte, welche Rolle er gestern [336] neben Angelika gespielt hatte. Er war sehr entschlossen, nicht wieder als ein blöder Schäfer vor der vornehmen Dame zu erscheinen, welche sich über das Unglück ihrer Ehe zu trösten begehrte. Er mußte darüber lachen, daß er dies nicht selbst gesehen hatte, daß ihm die Hingebung nicht auffallend gewesen war, mit welcher Angelika sich seiner Tröstung, sich seinem Schutze überlassen hatte; und, so wechselnd ist der Sinn des Menschen, so leicht bestimmbar die heiße Phantasie der Jugend: er, der gestern in reinster, verehrender Liebe sein Herz der unglücklichen Frau zugewendet hatte, er versprach sich jetzt mit leidenschaftlichem Feuer, es der schönen Baronin zu beweisen, daß er nicht mit sich spielen lasse und daß er der Mann sei, zu begehren und zu gewinnen, was ihre Hingebung ihm zu verheißen geschienen.

Im Schlosse angelangt, konnte er die Stunde nicht erwarten, da er sie wiedersehen sollte. Der Freiherr, welcher von seiner Rückkehr unterrichtet worden war, ließ ihn rufen, um von ihm zu hören, wie er mit dem Steine und der Bearbeitung desselben durch seine Neudorfer Leute zufrieden gewesen sei. Herbert mußte Auskunft geben, aber er hatte Mühe, dies mit der nöthigen Ruhe zu thun, denn es war öfter vorgekommen, daß Angelika sich solchen Besprechungen in dem Zimmer ihres Gatten unerwartet zugesellt hatte, und er meinte von Minute zu Minute den Schritt der Baronin, das Rauschen ihrer Gewänder zu vernehmen. Indeß sie kam nicht. Das verdroß den jungen Mann. Er wünschte sie zu sehen, weßhalb gewährte sie ihm die Freude nicht?

Als er von dem Freiherrn entlassen wurde, fragte er nach dem Ergehen der gnädigen Frau Baronin und sprach die Hoffnung aus, daß der Gang nach der Höhe ihr nicht geschadet haben werde. Der Freiherr nahm die Sache leicht. Es ist glücklicher Weise nur eine kleine Uebermüdung bei dem Spiel, [337] sonst nichts, sagte er, und ich bin sicher, daß wir die Baronin heute wieder unter uns sehen werden, denn sie befand sich diesen Morgen wohl.

Das hatte Herbert nur hören wollen, und er fing nun an, sich auf den Mittag zu vertrösten. Aber der Mittag kam, die Hausgenossen fanden sich zusammen und die Baronin fehlte. Was soll das bedeuten? fragte er sich.

Er hatte seinen Platz, wenn sonst keine Gesellschaft vorhanden war, zwischen dem Marquis und dem Caplan. Er erkundigte sich bei diesem Letzteren nach dem Grunde, der die Baronin von der Tafel entfernt halte, und erhielt den Bescheid, daß Renatus sich nicht wohl befände und Muttersorge Angelika bei dem Kinde festhalte.

Herbert mußte seine Enttäuschung nicht gut verborgen haben, denn der Marquis sah ihn mit einem nicht mißzuverstehenden Lächeln an, von welchem Jenem das Blut in die Wangen stieg. Der Amtmann hatte sich also nicht geirrt, auch der Marquis dachte von Angelika nicht anders, als von den anderen Frauen seines Standes.

Um der Baronin willen, die sich von dem Kinde nicht trennen mochte, blieb man nach dem Mittagbrode nicht beisammen; auch der Abend und der ganze folgende Tag verstrichen, ohne daß Herbert sie sah. Er fragte im Laufe desselben den Kammerdiener nach dem Knaben; der schien aber gar nicht daran zu denken, daß dem Kleinen etwas fehle, denn er sagte gleichgültig, der junge Herr spiele und sei munter.

Herbert glaubte zu bemerken, daß der Freiherr mißmuthig sei, es kam ihm auch vor, als beobachte die Herzogin ihn mehr als sonst; indeß er war selbst zu aufgeregt, sehr darauf zu achten, denn jetzt erfuhr er es ja selbst, auch Angelika war nur eine herzlose Coquette, die, wie diese Frauen alle, ihre Freude [338] daran hatte, seine Sehnsucht durch ihre berechnete Entfernung anzufachen und zu steigern.

Der nächste Tag brachte den Sonntag, an welchem nach beendeter Roggenernte das kirchliche Dankfest für dieselbe gefeiert werden sollte. Da man seit der Bekehrung der Baronin auch strenger als früher auf die Kirchlichkeit der protestantischen Dienerschaft hielt, so hatte man Morgens die Dienstleute, welche man irgend entbehren konnte, in die Kirche nach Neudorf geschickt, und oben in der Schloßcapelle hielt der Caplan für die Herrschaften den gewöhnlichen Gottesdienst.

Es war dadurch sehr still im Schlosse, und Herbert fühlte sich allein und innerlich gequält. Er sehnte sich noch immer nach einem Zusammensein mit der Baronin und sann doch darüber nach, wie er ihr die Pein vergelten wolle, die er eben um sie duldete. Er wußte nicht, ob er sie liebe oder hasse, und solches inneren Zwiespaltes ungewohnt, schalt er sich unmännlich, weil er sich aus demselben nicht sogleich befreite.

Unzufrieden mit sich selbst, stand er am Fenster und beobachtete, wie vom Hofe die Leute nach der Kirche gingen, wie sie sich in Paaren, in Gruppen zusammenfanden, Jeder mit seinem Nächsten, seinem Freunde, und er war hier allein. Sein Zimmer, die alterthümlichen Möbel, die alten Oelgemälde sahen ihn so düster an, sein Aufenthalt in dem Schlosse ward ihm zuwider. Er war hier nicht heimisch, man brauchte ihn eben nur; es kam ihm eine Sehnsucht nach Zuständen an, in die er hineingehörte, nach Menschen, mit denen er frei verkehren konnte, und schnell, wie man sich im Mißmuthe zu entschließen pflegt, setzte er sich an den Schreibtisch und bat den Freiherrn, ihn für die nächsten Tage gnädigst zu beurlauben, da er ein wenig in der Umgegend umherzustreifen und sie kennen zu lernen wünsche. Der Besuch der Steinbrüche habe ihn dazu verlockt, [339] und er werde nicht ermangeln, sich nach ein paar Tagen wieder einzustellen.

Das Schreiben übergab er dem Kammerdiener des Barons, hing eine leichte Tasche über die Schulter, und trat mit lachendem Selbstbewußtsein den Weg nach dem Amthause an, entzückt über seinen schnellen Entschluß, erfreut über die Kränkung, welche er nun seinerseits der Baronin zuzufügen hoffte, und angenehm bewegt von der Aussicht auf den guten Empfang und die einfach frohen Stunden, die ihm im Amthause nicht fehlen konnten. Mußte er sich doch ohnehin bei den Geschwistern, die das Haus voll Gäste hatten, entschuldigen, weil er, von seiner Aufregung hingenommen, ihrer Einladung zum Erntefeste ganz vergessen hatte.

Im Schlosse nahm man nach dem Gottesdienste das Frühstück ein, als der Kammerdiener dem Freiherrn das Schreiben des Architekten brachte. Er las es und legte es bei Seite, aber da auf dem Lande ein Brief zu unerwarteter Stunde immer ein Ereigniß ist, fragte Angelika, was es gebe.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme, sagte der Baron scherzend. Herbert hat neben manchen anderen guten und tüchtigen Eigenschaften von seinem Vater offenbar auch die Anfälle von plötzlicher Wanderlust geerbt. Erinnern Sie sich, lieber Caplan, wie sein Vater uns in Italien bisweilen plötzlich zu verschwinden pflegte?

Ist Monsieur Herbert abgereist? fragte der Marquis. Ich habe ihn in der Frühe gesprochen, und er hat an Reisen, so viel ich merken konnte, nicht gedacht.

Er schreibt mir, daß er sich in der Umgegend umsehen wolle, und bittet mich, ihn für ein paar Tage zu beurlauben.

Die Baronin schien auf den ganzen Vorgang nicht zu achten, aber sie wurde roth, als der Marquis sie ansah, und die Herzogin beobachtete, daß sie nach einiger Zeit das Billet [340] in die Hand nahm, es las und es dann auf die Seite legte. Sie war sehr zerstreut, und der Marquis, dessen gute Laune sich daran steigerte, war eifrig um sie bemüht. Seine feinsten Complimente und seine witzigsten Einfälle vermochten sie jedoch nicht zu fesseln, und als der Baron einen Besuch in der Nachbarschaft vorschlug, wünschte Angelika sich von demselben auszuschließen, obschon ihr Gatte ihre Sorge um den Knaben eine völlig aus der Luft gegriffene und unberechtigte nannte. Wie sie aber bei ihrem Vorsatze beharrte, ließ es sich die Herzogin nicht ausreden, ihr Gesellschaft zu leisten, und eine Meisterin in der Unterhaltung, mußte sie heute die Kosten derselben, als sie sich mit der Baronin dann allein fand, fast ausschließlich tragen, denn Angelika war und blieb zerstreut.

Die Herzogin erzählte von ihrer Heimath, von ihren Freunden, von deren Schicksalen und Herzenserfahrungen, und kam so endlich auf sich selbst und auf ihre Jugendzeit zu sprechen. Indeß auf diesen Punkt gelangt, hielt sie mit einem Male inne, als gewahre sie erst jetzt, daß die Baronin ihr nicht folge. Es entstand also eine Pause. Angelika, durch dieselbe auf ihre Zerstreutheit aufmerksam gemacht, rückte, um ihre Unhöflichkeit zu verbergen, ihren Sessel an den Lehnstuhl der Herzogin heran und fragte, weßhalb sie ihre Mittheilungen so plötzlich unterbreche.

Die Herzogin reichte ihr die Hand, so daß Angelika genöthigt wurde, sich ihr vollends zu nähern, schlug den Arm um den Hals der jungen Frau und sagte: Ich dachte an Sie, meine Theure, denn meine eigenen Erinnerungen geben mir den Maßstab für das, was Sie bewegt. Armes Kind, wenn Sie Vertrauen zu mir hätten, Sie, die ich Einsame wie eine Tochter liebe! Wenn Sie das Vertrauen theilen könnten, welches der Baron mir treu erhalten hat und das ich zu verdienen weiß!

Angelika war von dieser Wendung des Gespräches überrascht. [341] Vertrauen? rief sie; o gewiß, meine Freundin, ich vertraue Ihnen! Aber was bestimmt Sie zu der Frage?

Sie wollte, von innerer Unruhe getrieben, sich erheben, die Herzogin hielt sie davon zurück. Der Zustand, in welchem ich Sie sehe, meine theure Angelika, die Gemüthsbewegung, in der Sie sich unverkennbar befinden! sagte sie und brach abermals in ihrer Rede ab, denn sie wollte der Aufregung, in die sie Angelika versetzt hatte, Zeit zum Wachsen lassen und abwarten, wozu diese selbst sich entschließen würde. Aber die Baronin war strenger gegen sich, als Jene erwartet hatte. Sie schien sprechen zu wollen, schwieg dann wieder und sagte endlich mit einer Fassung, die ihr offenbar schwer wurde, ihrem edeln Wesen aber sehr wohl anstand: Ich glaube an die Freundschaft, theure Herzogin, die Sie für uns hegen; gewiß, ich glaube fest daran! Es giebt jedoch Dinge, die man nur mit sich selbst, mit sich selbst und mit seinem Gotte zu berathen und abzumachen hat, und was mich bewegt, gehört eben in den Bereich solcher Dinge. Denken Sie also nicht übel von mir und halten Sie mich nicht für undankbar, wenn ich die Hülfe, welche Sie mir bieten, in diesem Augenblicke nicht benutze.

Sie drückte dabei der Herzogin zum Zeichen des Dankes die Hand, aber sie erhob sich. Die Herzogin, welche es Jemandem nicht leicht verzieh, wenn er ihren Voraussetzungen nicht entsprach, preßte unmerklich die schmalen, feinen Lippen zusammen, und unter den halbgeschlossenen Augenlidern schoß ein Blick hervor, der gewillt schien, nicht von dem Gegenstande abzulassen, welchen er sich zur Beute ausersehen hatte. In ihren Sessel zurückgelehnt, den Kopf gegen seine Kissen gestützt, so daß sie Gelegenheit hatte, den noch immer schönen Fuß weit von sich gestreckt unter dem Falbalas ihres Kleides hervorsehen zu lassen, nahm sie aus dem Strauße, der in der chinesischen [342] Vase an ihrer Seite stand, eine volle Rose hervor, die sie bald gegen ihr Gesicht drückte, als kühle sie sich damit die Stirne und athme den Duft ein, und bald an der Spitze des Stengels zwischen ihren Fingern auf und nieder bewegte, wie Jemand, der an sein äußeres Thun nicht denkt.

So verging eine geraume Zeit. Angelika, die sich nicht hatte entfernen wollen, um nicht den Schein des Mißmuthes auf sich zu laden, saß wieder vor ihrem Stickrahmen; aber ihre Gedanken arbeiteten schneller, als ihre Hand, und sie mußten weitab von dieser Stelle gewesen sein, denn sie erschrak, als die Herzogin sie sanft mit ihrem Namen anrief.

Angelika, wollen Sie mir erlauben, mich zu rechtfertigen? fragte sie. Die Baronin versicherte, daß es keiner Rechtfertigung bedürfe, aber die Herzogin beharrte bei ihrer Absicht. Denn, sagte sie, ich bin gezwungen, aus Neigung und Dankbarkeit gezwungen, meine theure Angelika, mich in das Vertrauen zu drängen, das Sie mir verweigern. Ich habe, wenn auch nicht im Auftrage, so doch in Bezug auf Ihren Gatten mit Ihnen zu sprechen. Der Baron hat mir vor längerer Zeit es einmal mitgetheilt ....

Die Baronin wollte sie unterbrechen, aber die Herzogin wiederholte schnell und bestimmt: Der Baron hat mir einmal mitgetheilt, in wie grausamer Weise der Friede und die Heiterkeit Ihrer Flitterwochen getrübt worden sind, mein liebes, armes Kind, und ich weiß Alles, was zwischen Ihnen damals vorgegangen ist ....

Ich bitte Sie, rief die Baronin, der das Roth des Zornes und der Scham die Wangen färbte, ich bitte, Frau Herzogin, schonen Sie mein Empfinden! – Sie stand abermals auf, um nun wirklich das Zimmer zu verlassen, aber auch die Herzogin hatte sich erhoben, und die junge Frau bei der Hand nehmend, sprach sie mit leisem ernstem Tone: Nicht um die [343] Schonung eines augenblicklichen Empfindens, es handelt sich um die Zufriedenheit des Mannes, dessen Namen Sie tragen, um seine und Ihre Zukunft, wenn Sie es nicht lernen, sich zu fassen, sich zu beherrschen und der Welt zu verbergen, was ihr verborgen bleiben muß!

Nichts ist so leicht zu zerstören, als die Willensfreiheit eines edeln Herzens, welches sich schuldig weiß oder schuldig glaubt. Bestürzung, Schrecken, Zorn machten die Baronin stumm. Erst als ihre Gefährtin inne hielt, vermochte sie die Frage vorzubringen: Und mir dies zu sagen, Frau Herzogin, hat der Freiherr Sie ersucht?

Aber auf solche natürliche Frage war die kluge Herzogin gefaßt gewesen. Nein, versetzte sie, nein, mein Kind! er hat mich nicht dazu beauftragt, aber ich glaube, daß Gott uns immer dahin stellt, wo wir zu nützen berufen sind, und ich möchte die Freundschaft verdienen, deren Segen ich hier genieße. – Sie schwieg eine Weile und sagte darauf: Verzeihen Sie einer alten Freundin Ihres Mannes, einer Verwandten, den Muth ihrer Freundschaft. Sie sind jung, mein theures Kind! Sie sind unerfahren, das macht Sie unvorsichtig. Man vergiebt uns viel, man forscht nicht nach, wenn wir unsere Geheimnisse bewahren und ehren; man verzeiht uns nichts, man bürdet uns alles Ersinnliche auf, wenn wir sie unvorsichtig Preis geben – und dies, meine Beste, thun Sie!

Die Zuversicht der Herzogin trug den Sieg davon. Angelika ließ sich müde auf das Sopha sinken, die Herzogin setzte sich an ihre Seite, und als stände ihr ein mütterliches Recht zu, sprach sie: Sie haben beim Beginne Ihrer Ehe eine jener schmerzlichen Erfahrungen gemacht, welche das Leben uns Frauen oftmals auferlegt; aber statt sie schweigend zu tragen, statt durch Ihre Güte und Liebenswürdigkeit den Baron vergessen zu machen, daß er eine Vergangenheit gehabt hat, die Ihnen [344] nicht gehörte, hat Ihre Strenge seinen innern Kummer gesteigert, daß er ihm fast unterlegen wäre, und Ihr Uebertritt zu unserer Kirche und der Kirchenbau – wie sehr ich beide segne – haben die Menschen doch tiefer in das Wesen Ihrer Ehe blicken lassen, als gut gewesen ist. Es hätte ja das Alles ein wenig später, ein wenig gelegener geschehen können, und Sie hätten den Baron und sich deßhalb nicht für eine lange Zeit zur Einsamkeit verdammen dürfen!

Die Höflichkeit, die Rücksicht auf die ältere Frau, welche Angelika bewogen, schweigend auszuharren, fingen an, ihre Frucht zu tragen. Ihr Zorn legte sich, denn es war etwas in den Reden der Herzogin, dessen Wahrheit sie nicht leugnen konnte. Sie stützte den Kopf in die Hand, man sah ihr an, daß ihre ehrliche Natur mit sich zu Rathe ging.

Der Baron ist ein edler, ein großherziger, er ist noch ein schöner, ein liebenswerther Mann, nahm die Herzogin nach einer Weile wieder das Wort; aber freilich, er könnte Ihr Vater sein, und wie willig Sie sich ihm verbanden, Sie konnten ihn nicht lieben, wie die Jugend die Jugend liebt. Die Baronin fuhr leise zusammen. Sie konnten noch weniger für ihn die Nachsicht haben, welche wir Aelteren unsern Altersgenossen und der Jugend beweisen. Gewiß, liebe Angelika! sagte sie mit jener weichen Stimme, deren Klang, wenn sie es wollte, unwiderstehlich zum Herzen dringen konnte, Sie waren nicht gütig, nicht nachsichtig genug mit dem Baron. Sie sind auch jetzt nicht genug bemüht, ihm zu gefallen; denn wäre es möglich, daß ich die Freundschaft Ihres Gatten in solchem Grade besäße, theure Angelika, wenn Sie sich ihm so jung und liebenswürdig zeigten, als Sie sind? – Und die Hände der Baronin noch einmal in die ihren nehmend und sich mit besorgter Zärtlichkeit zu ihr neigend, sprach sie: Oder wäre es denn möglich, daß Sie Ihr Herz an einen Andern, an einen [345] Mann ganz ohne Rang und Namen verlieren könnten, wenn Sie ....

Aber sie konnte den Satz nicht vollenden. Um aller Heiligen willen, woher wissen Sie das? rief die Baronin, während sie unter hervorbrechenden Thränen ihr Antlitz mit ihren Händen verhüllte. Die Herzogin schloß sie in ihre Arme, ohne ihr zu antworten. Sie legte das Haupt der Weinenden an ihre Brust, und sie leise küssend, bat sie: Muth, Muth, mein theures Kind! Nur ein wenig Vertrauen, und es ist nichts geschehen!

Angelika weinte still. Nach einer Weile richtete sie sich empor. Was soll ich thun? rief sie ....

Die Herzogin antwortete ihr nicht, denn sie wünschte ihr keinen unwillkommenen Rath zu geben. Was wird er von mir denken? In welchem Lichte muß ich ihm erscheinen! hub die Baronin nach kurzem Schweigen wieder an.

Sie war aufgestanden und ging nachsinnend in dem Gemache umher. Die Herzogin betrachtete sie mit einer Zufriedenheit, in die sich Mitleid und Erstaunen mischten. Aufgewachsen in einer Welt, in welcher man den Ehebruch so leicht nahm, als man sich der Gewalt der Leidenschaft überließ, glaubte sie aus dem Schmerze der Baronin auf deren thatsächliche Untreue gegen ihren Gatten und auf ein Verhältniß zu dem Architekten schließen zu dürfen, das schon lange bestanden haben mußte. Aber Angelika verlor dadurch in ihren Augen nicht, sie gewann vielmehr erst eine rechte Bedeutung für sie, denn jetzt wurde die Herzogin der Baronin unentbehrlich, jetzt hatte die Herzogin sie auf dem Punkte, auf dem sie sie einst anzutreffen gehofft, auf den sie selbst die Arglose hingeleitet hatte.

Plötzlich knieete die Baronin vor der älteren Freundin nieder, umschlang sie mit ihren Armen und bat mit gerührter [346] Stimme: Helfen Sie mir, rathen Sie mir, Cousine! Was soll ich thun, mich aus diesem Wirrsal meines Herzens zu befreien?

Sie sollen vertrauen, sprach die Herzogin, sie sanft an ihren Busen ziehend, einem Mutterherzen sollen Sie vertrauen, das Sie warnte, Sie in der ersten Stunde warnte, da die Gefahr an Sie herantrat, und das Sie verstand und Ihnen folgte, auch ohne daß Sie sprachen, theures Kind! Oder glauben Sie, ich hätte es nie erfahren, wie gegen unsern Willen unsere Gedanken zu dem geliebten Gegenstande hingezogen werden, den sie meiden wollen? Glauben Sie, ich hätte sie nie gekannt, die abmahnende Scheu, die wie ein trüber Morgennebel der hell aufflammenden Leidenschaft vorangeht? – O, mein theures Kind, auch mir ist es nicht erspart geblieben, das ernste Kämpfen, das lange Zagen und das Unterliegen des armen, gequälten Herzens! Und ich sollte Sie verkennen, Sie verdammen, Sie verlassen, theures, theures Kind?

Sie umarmte Angelika aufs Neue. Mit feurig beredtem Worte sprach sie aus, was Angelika sich selber keusch verschwiegen, ja, was zu denken sie sich nie gestattet haben würde. Aber es waren selige Thränen, mit welchen sie endlich, von der Herzogin weit und weiter fortgerissen, derselben rückhaltlos bekannte, was sie sich in solcher Weise nie eingestanden hatte: daß sie Herbert liebe, schon lange liebe, daß sie für ihn fühle, was sie nie für den Baron gefühlt habe, und daß um den geliebten Mann zu leiden ihr noch eine Wonne, ein Genuß sei.

Die Herzogin lächelte und tröstete wie ein Engel mild. Sie warnte und sprach ihr Muth ein, sie ermahnte zur Entsagung und gab Hoffnung auf Glück, wie Angelika's wechselnde Bewegung es begehrte. Volle Nachsicht mit ihrer Schwäche hätte die Gewissenhaftigkeit der Baronin mißtrauisch gegen die Beratherin gemacht, volle Strenge sie zu ernstem Kampfe gedrängt [347] oder ihr wohl gar den Mund verschlossen; und nicht um den Frieden, nur um das Vertrauen Angelika's und um die Herrschaft über sie und ihre Zukunft war es der Herzogin von Anfang an zu thun gewesen.

Angelika fand sich von dem wechselnden Zuspruche ihrer einzigen Vertrauten wundersam beruhigt. Sie konnte endlich selbst die Frage aufwerfen, was sie thun solle.

Wenden Sie sich offen an den Baron! rieth ihr die Herzogin, um sich den Schein der strengen Verläßlichkeit zu geben und um in einem Nothfalle sich vor dem Freiherrn dieses Rathschlages berühmen zu können. Wenden Sie sich an den Baron, bekennen Sie ihm ....

Nein, nimmermehr! rief Angelika mit lebhafter Abwehr.

Die Herzogin schien nachzusinnen. Wie Sie auch fühlen und empfinden mögen, theure Angelika, sprach sie dann nach längerem Schweigen, Sie werden mir einräumen müssen, daß Ihnen nichts übrig bleibt, als von dem Freiherrn die Entfernung Herbert's, die Entfernung des jungen Mannes zu begehren, der, von Ihrer Nachsicht dreist gemacht, die Achtung und Verehrung, welche er Ihnen, der Frau des Freiherrn von Arten, schuldet, so ganz und gar vergessen, der Sie hinreißen konnte ....

Die Baronin ließ sie nicht vollenden. Sie ahnte den Kunstgriff, mit welchem die Herzogin ihr zu Hülfe zu kommen und Herbert anzuklagen wünschte, und wahrhaft und offen rief sie: Herbert ist nicht schuldig, nicht schuldiger, o, lange so schuldig nicht, als ich – denn er ist frei!

Die Herzogin schloß die Augen. Ein Mann ist immer schuldig, wenn wir ihm uns und unsere Ueberzeugungen zum Opfer bringen! sprach sie. Aber gleichviel, der junge Mann muß fort!

Ja, er muß fort! wiederholte Angelika mit leiser Stimme. [348] Denn unglücklich über die Liebe, die mich fortriß, macht die Liebe, die ich einflöße, mich nicht glücklich, und das Bewußtsein, von der reinen Höhe hinabgestiegen zu sein, auf welche seine Liebe mich stellte, steigert meine Qual und meinen Schmerz. Aber wie kann ich seine Entfernung fordern, da ihn sein Beruf bei uns festhält, wie soll ich fordern, daß er vergesse, was ich nie vergessen kann?

Thörichtes Kind, lächelte die Herzogin, wer muthet Ihnen denn ein so Unmögliches, ein so Gewaltsames zu? Wer verlangt denn, daß Sie aus Ihrem Herzen reißen, was Sie dort als schmerzliche oder als köstliche Erinnerung zu bergen wünschen? Sie sollen nur zu vergessen scheinen, was Sie vergessen zu machen wünschen!

Angelika sah sie fragend an, sie verstand sie nicht. Die Herzogin mußte sich deutlicher erklären. Wer will Sie daran erinnern, daß Ihre Liebe, Ihre Schwäche Sie einen kurzen Augenblick übermannten, wenn Sie sich daran nicht mehr zu erinnern scheinen? sprach sie. Aus Ihrer Nähe, von seinem Glauben an Ihre Liebe, nicht von seiner Arbeit muß der junge Mann entfernt werden. Ihm zu begegnen, dürfen Sie nicht einmal vermeiden. Sie müssen ihn wiedersehen, bald wiedersehen, aber im Beisein Ihres Gatten, mit freier Stirn, mit hellem Auge! – Und seien Sie sicher, er wird bald glauben, geträumt zu haben, was Sie ihn ohne sein Verdienst erleben ließen, während Ihr Schuldbewußtsein Sie hoffentlich künftig nachsichtiger und auch ein wenig gefälliger gegen den guten Freiherrn machen wird. Sind es zuletzt doch immer unsere Männer, denen die Schwächen und die Irrthümer unserer armen Herzen zu Gute kommen und die in unserer Demuth die Frucht unserer Reue genießen. Nur Muth, nur Zuversicht, mein liebes Kind!

Aber der Zuspruch der Herzogin wirkte nur langsam auf [349] Angelika. Sie wußte sich nicht zu entschließen, so viel Verwirrendes und Verführerisches auch in den Rathschlägen der Herzogin verborgen lag. Angelika hatte weder den Muth, sich ihrem Gatten anzuvertrauen, noch, wie sie es eine Weile vorgehabt, sich gegen Herbert auszusprechen und von ihm selber seine Entfernung zu verlangen. Sie kannte jetzt die Schwäche ihres Herzens, und vor dem Mittel, welches die Herzogin ihr an die Hand gab, schreckten ihre Liebe und ihr grader Sinn gleichmäßig zurück. Aber auch hier kam die Herzogin ihr zu Hülfe, indem sie ihr einen Ausweg zeigte, der annähernd zu dem Ziele führen konnte, das Angelika erstrebte, und der auch den wahren Absichten der Herzogin als der gelegenste erschien.

Sprachen Sie nicht von einem Feste, welches Sie im Laufe der nächsten Wochen geben wollten, fragte sie, und für das Sie auch Monsieur Herbert's Zimmer zur Unterbringung Ihrer Gäste brauchen würden?

Die Baronin schöpfte Athem.

Mich dünkt, es war selbst in des jungen Mannes Beisein schon davon die Rede, daß er für eine Weile seine Zimmer würde räumen müssen, sagte die Herzogin, und in diesem Augenblicke fremde Menschen zu sehen, für Andere Aufmerksamkeit haben zu müssen, würde Sie von sich selber abziehen, theure Freundin, und Ihnen eine Zerstreuung von den Gedanken sein, mit denen Ihre schöne Gewissenhaftigkeit Sie peinigt!

Ja, ja, das kann geschehen! rief die Baronin und warf sich ihrer Freundin an die Brust. O, Sie sind mein guter Engel, theure Margarethe!

So lassen Sie mich für Sie wachen, meine theure Seele, antwortete ihr die Herzogin, und gehen Sie zur Ruh', denn es ist spät, und Ihre Wangen brennen! In so heftiger Erregung soll der Freiherr Sie nicht sehen! Gehen Sie zur Ruhe, ich will ihn darauf vorbereiten, daß wir diese Woche [350] unser Fest begehen, ich werde unseren Ungetreuen hier erwarten! Ich wache für Sie Alle, für Sie Alle!

Spät am Abende, als der Freiherr und der Marquis nach Hause kamen, fanden sie die Herzogin wider deren Gewohnheit noch im Gartensaale lesend. Der Marquis berichtete von ihrem Ausfluge, der Freiherr erkundigte sich, wie die Damen ihren Abend zugebracht hätten.

Wie können Sie das fragen? scherzte die Herzogin. Natürlich in Unterhaltung über die Abwesenden; denn es ist nicht wahr, daß die Abwesenden immer Unrecht haben, da ja Abwesenheit allein die Sehnsucht erzeugt!

Sie werden uns eitel machen, meine Freundin! entgegnete der Freiherr, welcher für jede Schmeichelei, wenn sie sich anmuthig in der Form bewies, empfänglich war.

Eitel, meinte die Herzogin, Sie eitel machen, Cousin? Aber Sie sind es ja schon jetzt, Cousin! Waren Sie denn ganz allein von Hause fort? War nicht mein Bruder, war nicht Monsieur Herbert abwesend so gut wie Sie?

Sie vermißten also den Marquis? fragte der Freiherr.

Als ob man einen Bruder vermissen könnte, wenn er über Land geht! bedeutete die Herzogin.

Also war es Monsieur Herbert, der Ihnen fehlte, dessen Abwesenheit Ihre Sehnsucht wach rief? scherzte der Freiherr.

Aber, mein theurer Baron, neckte die Herzogin, ich war ja nicht allein zu Hause, oder glauben Sie, daß die Gedanken der Baronin, unwandelbar wie die Magnetnadel, nur an Ihnen hangen? Könnte nicht unsere liebe Angelika Jemand anders als Sie vermissen? Ist der Marquis nicht liebenswürdig? Versichern und beweisen Sie uns nicht alltäglich, daß Ihr Architekt ein geistreicher, ein schöner Mann sei? Wie wäre es, wenn wir Ihnen endlich Glauben schenkten, wenn wir, nur [351] aus Unterwürfigkeit gegen Ihre bessere Einsicht, uns endlich überzeugen ließen?

Der Freiherr küßte ihr die Hand. Sie sind aufgeräumt, sagte er, Sie haben sich also wohl unterhalten, und ich muß mir daher Ihren Scherz gefallen lassen! Doch kann ich von mir sagen, was ein junger deutscher Dichter in seinem schönen Trauerspiele den König Philipp von Spanien sagen läßt: Wo ich zu fürchten angefangen, hab' ich zu fürchten aufgehört! – Beruhigen Sie sich also, meine schöne Freundin – zur Eifersucht bin ich nicht gemacht, sie ist die Leidenschaft der niedern Stände, der Menschen ohne Selbstgefühl, sie ist unter unserer Würde!

Und doch hatten die neckenden Aeußerungen der Herzogin ihn verletzt, und doch tadelte er sich innerlich zum ersten Male darüber, daß er den Architekten so viel und so ungehindert mit Angelika verkehren lasse, denn Herbert war in der That ein schöner Mann, und der Freiherr kannte die Beweglichkeit des Frauenherzens!

[352]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Herbert hatte seinen Vorsatz, graden Weges nach dem Amthause zu gehen, nicht ausgeführt. Er war, von dem schönen Tage verlockt, eine tüchtige Strecke in der Gegend umhergerannt, und die Sonne stand beinahe schon im Mittag, als er nach dem Amthofe kam.

Dort war der Feiertag schon von Weitem zu erkennen. Die Arbeitswagen, die Eggen und Pflüge standen wohlgeordnet vor den großen Scheunen, ein paar Stadtkinder kletterten auf den Deichseln herum und genossen die Feiertagsfreiheit. Der Hof war sauber gekehrt wie eine Tenne. Langsam zogen im Teiche die Enten umher, während am grasigen Ufer der glänzend gefiederte Hahn unter seinen Hühnern umherstolzirte und selbst eifrig die Körner aufpickte, welche heute die Hand der fremden Kinder und Mädchen dem Federvieh verschwenderisch gestreut hatte.

Unten vor der Thüre saßen trotz der frühen Stunde die Männer schon beim Tarockspiel. Es waren städtische Freunde des verstorbenen Amtmanns und daneben der Herr Oberförster und der Herr Pfarrer von Neudorf, welcher nach der Kirche zum Essen mit hinübergekommen war, weil am Nachmittage sein Neffe aus der Stadt für ihn die Predigt hielt. Sie achteten auf Herbert's Ankunft nicht. War doch so viel junges Volk über den Hof und durch das Haus gegangen, seit sie hier die Erntefeste feiern halfen! War es doch auch allmählich [353] älter geworden, hatte seine Kinder hergeschickt und war zum Theil gestorben! Das kam und ging, und ging und kam! Wer konnte die Menschen alle kennen?

Aber die große zinnerne Kanne, in der das Bier frisch vom Fasse auf den Tisch kam, und den zinnernen Leuchter und den Fidibus-Becher von Zinn, die neben dem Tabackskasten standen, die kannten die Männer, wie sie einander kannten; die waren mit ihnen alt geworden und hatten sich nicht verändert.

Es ist auch immer noch das gute, alte Bier und der gute, gelbe Knaster, bemerkte einer der Städter; der Adam hält auf seines Vaters Art!

Ei, warum sollte er denn nicht? meinte der Förster. Er ist in der Welt herumgewesen, weiß zu leben und ist wohl auf! Er ist der Mann für den Platz!

Der Pfarrer, welcher immer erst bedächtig den Dampf aus der holländischen Kalkpfeife blies, ehe er vor einer so gemischten Gesellschaft eine Meinung abgab, nickte dem Oberförster beistimmend zu. Ja, sprach er, ja, Herr Oberförster, sie sind gut eingeschlagen, alle beide, unseres werthen seligen Amtmanns Kinder! Selbst meine Frau, die das nicht von einer Jeden sagt, weil sie es genau mit solchen Dingen nimmt, nennt die Eva eine Wirthin, welche es mit mancher älteren aufnehmen könne, und was man hier davon im Hause sieht und was gelegentlich von hier zum Pfarrhofe kommt, das läßt nichts zu wünschen, gar nichts zu wünschen übrig! Wir halten viel auf sie, ich und meine Frau; und auch mein Sohn hält in der Stadt, und trotz seiner Studien, die alten Spielgenossen werth! Wollte nur unser Herrgott, es wäre auch sonst hier Alles noch so bei dem guten Alten geblieben!

Er seufzte, der Oberförster schien ihn zu verstehen, aber sie mochten vor den Fremden mit der Sprache nicht weiter heraus, und hätten sie es auch gewollt, sie hätten ihre eigenen [354] Worte kaum noch vernehmen und verstehen können vor dem Lärmen um sie her.

Denn kaum war man oben in der Giebelstube, wo Eva's Gäste, die jungen Mädchen, wohnten, des Architekten ansichtig geworden, so war auf Eva's Anschlag auch schon ein Plan gefaßt. Auf den Fußspitzen liefen sie die Treppe hinunter, damit man das Klappen der Stelzchen nicht höre, zur Hinterthüre schlichen sie hinaus ins Freie und durch das große Hofthor kamen sie wieder herein, und ehe sich Herbert dessen versah, waren sie an seiner Seite und hatten mit ihren losgelösten bunten Bändern ihn umschlungen, und wenn er den einen Arm frei machte, sich der Einen zu erwehren, so umwand die Andere ihm den anderen Arm, und eine Dritte versuchte ihm das Band um die Augen zu winden, und ihn haschend und sich befreiend, und sich wehrend und ihn verfolgend, und lachend und schäkernd rannten sie rechts und links um den Teich und über den ganzen Hof, daß die Enten, welche sich aus dem Teiche herausgemacht hatten, sich überstürzend in das Wasser flüchteten, die Tauben sich mit klatschendem Fluge in die Höhe schwangen, die Hühner mit gespreizten Flügeln das Weite suchten und die Hunde aus allen Ecken und Enden bellend dazwischen fuhren.

Gefangen, gebunden! rief es hier und dort, um ihn dafür zu strafen, daß er nicht schon gestern gekommen war, als man den letzten Wagen in die Scheune gefahren hatte. Es war ein Lärmen und ein Lachen, ein Laufen und ein Jubeln! Und die helle Sonne funkelte auf all den blühenden Gesichtern und brannte auf die entblößten Arme und Nacken und auf die lockigen Scheitel der fröhlichen Mädchen. Gefangen, gebunden, bestraft! schallte es immer wieder, bis Adam mit seinen Freunden herbeikam, die Partei für Herbert nahmen, bis die hübschen Kinder, athemlos, sich der Verfolgung der Männer nicht mehr [355] entziehen konnten und Herbert, nun er es nicht mehr mit Allen auf einmal zu thun hatte, Eva's, als der Anführerin, habhaft wurde.

Gefangen, gebunden! rief jetzt auch er, und umschlang sie trotz ihres Sträubens und hielt sie fest und küßte sie nach Herzenslust auf die heißen, rothen Lippen. Das wirkte ansteckend, die Andern thaten es ihm bei den eingefangenen Mädchen nach, und sich von Herbert losmachend, rief Eva: Nun haben wir den Mosje zur Ernte doch wenigstens nachträglich gebunden, nun kommt er auch nicht fort, so lange ihr Alle bei uns seid!

Aber wer sagt denn, daß ich gehen will? Ich kam ja, um zu bleiben, Sie Gewaltthätige! versicherte Herbert, indem er sie auf's Neue in seine Arme zu schließen suchte, und es wollte ihn dünken, als widerstrebe sie ihm nicht sehr. Herbert war recht von Herzen vergnügt. Selbst die Männer am Tarocktische, wie sie auch schmählten, daß man sie aus ihrer Ruhe aufgeschreckt habe, sahen nicht böse drein. Es glitt ein helles Licht durch ihre alten Augen und es zuckte ihnen lächelnd um die Lippen. Sie hatten wohl auch an manche fröhliche Stunde zu denken, die ihnen nicht wiederkehren konnte und die Jenen noch zu kommen hatte.

Der Amtmann und Eva waren die Seele von Allem, genügten Allem, waren jung mit den Jungen und alt mit den Alten. Das ging den ganzen Tag so fort.

Wenn ich nur wüßte, meinte Herbert am Abende, warum ich nicht alle Tage hergekommen bin?

Das will ich Ihnen sagen, entgegnete Eva und flüsterte ihm etwas in das Ohr. Er wollte nicht wahr haben, was sie sagte, aber die Mädchen behaupteten, er sei roth geworden und er möge sich in Acht nehmen; sie wüßten, um was es sich handle, es sei nicht geheuer in den Schlössern.

[356] Freilich, freilich, bekräftigte Eva, es steckt noch immer etwas von der alten Burg darin!

Die Andern fragten, was das heiße. O, rief sie, ihr wißt's ja! Da oben sind vor jenen Jahren die Herren von Arten Raubritter gewesen, und nun ist's damit wie in der verkehrten Welt! Sonst raubten die Ritter den andern Leuten ihre Frauen, jetzt halten die vornehmen Damen die Männer gefangen!

Man lachte über den Einfall; sie neckten Eva, und einer der jungen Leute meinte: Sorgen Sie nicht, Mamsell Eva! Monsieur Herbert sieht nicht aus wie einer, der so leicht zu fangen wäre!

Wer denkt denn jetzt an Mosje Herbert? warf sie schnippisch und doch verlegen hin.

Ich bin geduldig und werde warten, sagte er, sich mit scherzender Demuth vor ihr neigend.

Sie that, als höre sie seine Worte gar nicht mehr, und sie hatte ja auch alle Hände voll zu thun. Das blankste Leinen, die besten Teller, selbst das Silberzeug mußte heute und in den folgenden Tagen auf den Tisch. Alles sollte reichlich, Alles vollauf und Jedem sollte es wohl sein in dem Hause, da man so liebe Gäste und des Jahres Erntesegen nun auch wieder ein mal in den Scheunen hatte.

Vom heutigen Danktage in der Kirche war freilich im Amthofe nicht viel zu merken. Aber der Pfarrer selber drückte ein Auge zu. Er hatte seine Absichten mit Eva, und sie gefiel ihm, wenn sie sich in Haus und Küche also regte und bewegte. Auch Herbert fand sie immer reizender in ihrer fröhlichen Geschäftigkeit. Er bot ihr seine Dienste an, sie wußte dieselben zu nutzen und, des Befehlens wohl gewohnt, ihn immer neben sich fest und immer in so guter Laune zu erhalten, daß er gar nichts sah und gar nichts denken konnte, als nur sie den lieben, [357] langen Tag. Ihm war das aber recht und lieb, er verlangte es gar nicht besser.

Nur Abends, als er allein war, in der nächtlichen Stille, da kehrte es wieder, wundersam!

Da sah er sie plötzlich vor sich, die schöne, hehre Gestalt, da sah er es wieder, das sanft bethränte Antlitz, und es zog ihn fort, es rief ihn von dannen, daß er nicht wußte, wie er hier verweilen könne, wie es ihm möglich gewesen sei, von dem Orte zu scheiden, an dem er ihr begegnen, sie sehen, ihr nahen konnte; wie es ihm möglich gewesen sei, ungleich und gering von ihr zu denken, von ihr!

Die Aufregung, in welche Eva's Reize und ihre natürliche Gefallsucht ihn versetzten, ließ ihn nur mit gesteigertem Verlangen an die Baronin denken, und die Feindin der Wahrheit, die Entfernung, verwirrte seine Phantasie, bis die Bilder der beiden Frauenzimmer, wie unähnlich sie einander auch waren, sich zu mischen und Einzelheiten von einander zu entlehnen begannen, daß er Mühe hatte, es aus einander zu halten, was er mit der Einen, was er mit der Andern erlebt, was er der Einen, was er der Andern von seinen Eindrücken und Empfindungen verdankte und zollte. Aber alles Gute, alles Schöne wendete sich immer auf Angelika's Seite, und wie er sie in seinem Herzen angeschuldigt hatte, so fühlte er sich jetzt wieder schuldig gegen sie, je länger, je mehr.

Als sich ihm der zweite Tag in Rothenfeld zu Ende neigte und das junge Volk, welches in der nächsten Frühe das Amthaus verlassen und in die Stadt zurückkehren sollte, in seiner Fröhlichkeit nur immer weiter ging, als müsse nun in den letzten Stunden noch der Freude ihre Krone aufgesetzt werden, als man bei der Abendtafel, trotz des warmen Wetters, die Punschterrine auftrug und Eva mit lachenden Augen und mit ihren flinken Händen die Gläser immer auf's Neue füllte, bis [358] die Alten ihre Trinklieder anstimmten und Chorus mit den Jungen sangen, und selbst die Pfarrerin und der Pfarrer die Polonaise, welche man in Vorschlag brachte, mittanzten durch die Stuben und den Flur bis in den Garten hinaus, wo der Amtmann endlich auf dem grünen Platze vor dem Hause die Cousine im Schleifer zu drehen begann – da bemächtigte sich Herbert's eine große Traurigkeit. Er konnte sich nicht helfen, er wußte sich nicht zu finden, nicht zu rathen.

Er hielt Eva im Arme und tanzte mit ihr, die ihm mit ehrlicher Zuversicht in das Auge blickte, und er sagte sich: Wie schlecht bin ich, dieses liebe Geschöpf nur als Zeitvertreib zu brauchen! Wie schlecht war es von mir, daß ich hieher ging, daß ich mich von ihr, von jener schönen, edlen Frau entfernte, die nicht so glücklich, ach, lange nicht so glücklich ist, als diese guten Menschen hier!

Er fühlte eine wahre Sehnsucht, wieder in Richten zu sein. Was mochte die Baronin von ihm denken, daß er sie mied, da sie sich ihm zugeneigt hatte? Was sollte er ihr sagen, wenn sie ihn deßhalb befragte? Wie es tragen, wenn sie ihm zürnte?

Seine Vorstellungen wechselten schnell, seine Zerstreutheit fiel zuletzt seiner Tänzerin auf, und es ging ihr wie Jedem, der von einem Gedanken vollständig beherrscht ist: sie setzte denselben auch bei dem Andern voraus.

Sehen Sie doch nicht traurig aus, rief sie plötzlich und arglos, wir bleiben ja hier beisammen, Sie reisen ja nicht wie die Andern fort!

Er hätte sich darüber freuen mögen, aber er konnte es nicht. Er besorgte, weiter gegangen zu sein, als er sich dessen bewußt war, Wünsche und Hoffnungen erregt zu haben, die er in diesem Augenblicke durchaus nicht theilte. Seine Ehrenhaftigkeit schreckte davor zurück. Er sagte, daß ja auch seines [359] Bleibens hier nicht sei und daß auch er nicht eben lange mehr in dieser Gegend verweilen werde.

Um so besser, meinte sie, so hat man sich auf das Wiedersehen zu freuen, denn Sie kommen ja doch wieder!

Ihre Heiterkeit hielt ihm das Spiegelbild dessen vor, was er noch vor wenig Tagen selbst gewesen war. So gesund, so frisch, so zuversichtlich hatte er in die Ferne geblickt; jetzt konnte er sich nicht klar machen, was er fühlte, was er wünschte und was der nächste Tag ihm bringen würde. Er wußte kaum noch, weßhalb er von Richten fort, weßhalb er hieher gegangen sei. Es war Alles verwirrt in ihm.

Er schlief schlecht in der Nacht, und als er sich mit der Sonne erhob, rief er ein Gottlob! als stehe er am Ende einer Trübsal und vor der Thüre eines Glückes, und doch war und blieb er unruhig und gequält wie nie zuvor.

Die andern Gäste brachen ebenfalls in der Frühe auf; sie wollten theils vor der Mittagshitze, theils vor Abend in ihrer Heimath sein. Ihn nöthigten die beiden Geschwister noch zum Verweilen. Der Amtmann sagte, er müsse gegen zehn Uhr nach dem Schlosse und sie könnten mitsammen hinaufreiten. Es sei Zeit genug, da der Baron nicht früh aufstehe und vor dem Frühstücke niemals ein Geschäft abmache. Aber Herbert war nicht zu halten, und als Eva ihm dies übel nahm und mit ihm schmollte und ihn kalt entließ, war ihm das lieber als die Zuversicht, mit welcher sie sich gestern an ihn gewendet hatte.

[360]
8. Capitel
Achtes Capitel

Es war noch Alles still, da er nach Richten kam. Er ging die große Mittelallee hinauf, die durch den ganzen Park führte, und bog erst in einen Seitenweg ab, als er meinte, vom Schlosse aus gesehen werden zu können. Er hätte gern vergessen machen mögen, daß er fort gewesen sei, weil er selbst die Ursache seines Fortgehens zu vergessen wünschte. Wie er nun durch die sauber gehaltenen Wege wandelte, durch deren blühende Büsche die Sonnenstrahlen ihre schmalen, goldenen Lichtstreifen warfen, kam ihm die Stille, kam ihm die Einsamkeit so wonnig entgegen. Noch hatte er den Kopf voll von den Menuetten, den Anglaisen und den Schleifern, welche die Mädchen gestern wohl oder übel auf dem Spinett gespielt und nach denen er sich mit ihnen im Kreise herumgedreht hatte. Er freute sich, daß die Baronin dies nicht gesehen hatte, und er schämte sich dessen sogar. Es erschien ihm hier in Richten noch viel unbegreiflicher, daß er gestern tanzen – sich mit Anderen hatte vergnügen können, während Angelika's Bild in seinem Herzen wohnte und während sie – es konnte gar nicht anders sein – an ihn gedachte, dem sie ihren Schmerz gezeigt, auf dessen Theilnahme sie vielleicht ihre Hoffnung, ihren Trost gebaut, mit dem sie selbst sich durch die Worte: Dort oben dürfen wir keine Capelle bauen! zu einem innigen Geheimnisse verbunden hatte.

Wie war es zugegangen, daß er dies Alles vergessen, wie [361] hatte die natürliche Zurückhaltung einer reinen, schönen Seele, wie hatten die dreisten Aeußerungen des Amtmannes, der in seiner Derbheit die Worte niemals ängstlich abwog, ihn irre machen können an seinem eigenen Empfinden und irre machen können selbst an ihr, der hehrsten Frauengestalt, die ihm noch je begegnet, der er je genaht war? –

So trat er in das Schloß und in sein Zimmer. Die Dienerschaft empfing ihn wie Einen, der hier heimisch war. Herbert erkundigte sich, ob die Herrschaft etwa nach ihm gefragt habe. Man verneinte es, und er gab die Weisung, dem Herrn Baron zu sagen, daß er zurückgekehrt wäre und seine Befehle erwarte.

Das Zimmer, welches die Baronin bewohnte, lag über dem seinen. Er hörte oben die Fenster öffnen, die Sommerladen schließen, die Tische rücken. Er dachte, ob sie schon wach sein möge, und auf jedes leise Geräusch achtend, fühlte er sich ihr nahe und durch diese Nähe weich gestimmt. Sich zu beruhigen, setzte er sich vor dem Tische nieder, auf welchem seine Zeichnungen und Plane ausgebreitet lagen, denn für Angelika und ihre Absichten arbeiten, hieß ja auch bei ihr sein; und eben hatte er sich gelobt, daß nichts ihn so leicht wieder von ihr und ihrem Dienste abwendig machen solle, als einer der Diener ihn ersuchen kam, sich in das Frühstückszimmer hinauf zu bemühen, da die Herrschaft ihn zu sprechen wünsche.

Herbert war nicht sicher, wer ihn hatte rufen lassen, und mochte doch nicht danach fragen. Bewegt stieg er die Treppe hinauf; er wünschte und hoffte, die Baronin vielleicht allein zu treffen, aber nicht sie, sondern der Freiherr war es, der ihn erwartete.

Er hieß ihn willkommen, fragte, ob er sich gehörig in der Gegend umgesehen habe, und ließ ihm dann, obschon er ihm mit gewohnter Güte begegnete, doch nicht zur Antwort Zeit, [362] sondern ging gleich zu der Angelegenheit über, wegen welcher er ihn hatte kommen lassen.

Mit unserem Capellenbau ist es nichts, mein lieber Herbert, sagte er heiter, als habe er gar niemals irgend einen Werth auf diesen Plan gelegt und nicht von dem Architekten bereits die eingehendsten und ausführlichsten Arbeiten dafür beansprucht. Die Baronin will davon nichts hören, und da guter Rath über Nacht kommt, so habe ich den Gedanken selber aufgegeben, ohne deßhalb auf eine Verzierung der Höhe zu verzichten, die Sie mir provisorisch vielleicht noch in diesem Herbste zu Stande bringen müssen. Ich denke da oben nämlich einen Pavillon zu errichten.

Einen Pavillon? fragte Herbert überrascht.

Ja, mein Lieber, einen Pavillon, etwa in Tempelform, der eine schöne Aussicht bietet. Man könnte ihn der Flora, der Pomona, der Freundschaft weihen – das findet sich! Entwerfen Sie mir einmal eine Zeichnung dazu. Sie können die Sache so viel als möglich Ihren früheren Absichten annähern, um die Harmonie mit dem Style der Kirche aufrecht zu erhalten, die wir herzustellen wünschten; nur muß das Ganze natürlich auf den bestmöglichen Effect berechnet werden.

Herbert wagte es nicht, die Frage zu thun, welche ihm in diesem Augenblicke vor allem Anderen am Herzen lag, die Frage, ob es Angelika gewesen sei, welche den Vorschlag zu dem Pavillonbau gethan hatte. Er glaubte, nur sie allein könne seinem eigenen Gedanken in solcher Uebereinstimmung begegnet sein, und während sie so gleich mit ihm gefühlt, während sie darauf gesonnen hatte, ihn in so schöner und lieber Weise neben sich zu beschäftigen, hatte er sie gemieden, sie in seinem Herzen angeklagt und verdammt!

Beschämt und gerührt wollte Herbert fragen, ob die Frau Baronin mit der neuen Anordnung einverstanden sei, als sie selber mit der Herzogin in das Zimmer eintrat.

[363] Der Freiherr ging den Frauen ein paar Schritte entgegen, aber Angelika, welche sonst sehr gemessen in ihrer ganzen Haltung war, eilte auf ihren Gatten zu und umarmte und küßte ihn. Dann begrüßte sie Herbert mit dem heiteren Vorwurf, daß er so plötzlich fortgegangen sei und sie und seine Arbeit im Stiche gelassen habe, um im Amthause eine ihm zusagendere und angenehmere Geselligkeit aufzusuchen. Das war Alles völlig gegen ihre sonstige Art.

Herbert hatte das Bedürfniß gefühlt, sobald als möglich der Baronin zu gestehen, wie tolle Ungeduld und sträflicher Zweifel an ihr ihn aus ihrer ersehnten Nähe fortgetrieben hätten, wie er bereuend wiedergekehrt sei, und nun sollte er sich scherzend wegen einer kleinen Formlosigkeit entschuldigen, welche man ihm leichter verzieh, als er es wünschen konnte! Er stand vor der Baronin wie vor einem unheimlichen Räthsel. Er kannte diese Miene, diese Stimme, und kannte sie auch nicht. Es war Angelika und sie war es doch auch nicht. Daß sie ihn täuschte, eine Rolle spielte, das war seine ganze Hoffnung. Aber weßhalb that sie das? Woher ihre Heiterkeit, woher ihre auffallende Zärtlichkeit gegen ihren Gatten? Zürnte sie Herbert? Wollte sie ihn strafen, weil er ihr durch seine Entfernung wehe gethan, so mußte er das tragen, ja, er hatte sich dessen zu freuen! Wie jedoch vermochte sie es, seiner zu spotten in Gegenwart des Mannes, an dessen Seite sie nicht glücklich war, wie konnte sie es vergessen, daß sie in Herbert's Armen über diesen Mann geweint?

Ihre Worte, ihr Ton schnitten ihm in das Herz und beleidigten ihn um so tiefer, je weniger er sich in der Lage befand, eine Erklärung ihres veränderten Betragens zu begehren. Ihr Scherzen zu erwidern, war gegen sein Gefühl, und sich mit raschem Entschlusse auf den Boden zurückziehend, auf welchem er sich mit Sicherheit behaupten konnte, sagte er, sich zur Ruhe [364] zwingend: Ich glaubte, hier nicht vermißt zu werden, ehe die Herrschaften sich völlig über ihre Wünsche entschieden hatten und ....

Angelika ließ ihn aber, grade wie der Freiherr, nach Art der Vornehmen, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen, seine Antwort gar nicht erst vollenden. So haben Sie also schon gehört, daß ich unnachgiebig auf meinem Sinn beharre? fiel sie ein.

Herbert verneigte sich. Sie sprachen es mir ja neulich, als ich die Ehre hatte, Sie, gnädige Frau, nach der Birkenhöhe hinauf zu führen, bereits aus, daß da oben keine Capelle erbaut werden dürfe! antwortete er, während sein Blick auf ihr mit so ernstem Ausdrucke ruhte, daß sie ihr Auge verwirrt zu Boden senkte vor der Erinnerung, welche er ihr damit wachrief, und Ihre Absicht, statt der Capelle einen ....

Aber er konnte den Satz abermals nicht vollenden, denn der Baron gab ihm lebhaft und heimlich ein Zeichen, zu schweigen, und er bemerkte an den Mienen Angelika's, daß sie nicht wußte, weßhalb man ihm Schweigen auferlegte. Sie also hatte den Vorschlag zu dem Tempelbau nicht gemacht! Seine Hoffnung hatte ihn getäuscht! Wie aber war der Freiherr denn auf den Bau dieses Freundschafts-Tempels gekommen?

Es entstand eine Pause, und die Herzogin, welche bis dahin sich gar nicht in die Unterhaltung gemischt hatte, kam Allen zu Hülfe, indem sie plötzlich von dem Feste zu reden anhub, das zu veranstalten man in den letzten Tagen beschlossen habe und für welches man sich vielfach auf die Hülfe des Baumeisters angewiesen hielt.

Herbert hatte bisher davon kein Wort vernommen, der Plan mußte also vermuthlich eben so wie der neue Bauplan in den beiden letzten Tagen entstanden sein, und die Verhältnisse wurden ihm immer unbegreiflicher. Man sprach von den verschiedenen Vorkehrungen für das Fest; der Marquis, welcher [365] inzwischen auch dazu gekommen war, erkundigte sich bei Herbert um Costume und Decorationen, man sagte zuversichtlich: Herbert werde dieses schaffen, jenes thun, ein Drittes besorgen müssen, und Niemand fragte ihn, ob er geneigt sei, die Dienste zu leisten, welche man von ihm begehrte. Selbst Angelika bestimmte anscheinend ohne alles Bedenken über ihn, und wie sie bei der ganzen Begegnung auch empfinden mochte, die Gewohnheit der Vornehmen, über jede Kraft zu verfügen, die sich ihnen nicht gradezu entzieht, und der Glaube, daß sie eine Gunst gewähren, wenn sie Dienste für sich fordern, lagen auch ihr im Blute.

Aber Herbert war nicht der Mann, seine Kraft wider seinen Willen verbrauchen zu lassen, noch eine solche Rücksichtslosigkeit geduldig hinzunehmen. Man schien offenbar geneigt, ihm plötzlich die Stellung zu bestreiten, welche man ihm bisher eingeräumt hatte und welche zu behaupten er eben deßhalb als sein Recht ansah. Man stellte an ihn bestimmte Forderungen für ein Unternehmen, über das man mit sich selbst noch nicht im Klaren war. Die Baronin sprach von Gästen, welche man laden wolle. Es war die Rede davon, daß man für den betreffenden Fall das ganze linke Erdgeschoß zum Unterbringen der Fremden brauchen würde; aber eben in dieser linken Seite des Erdgeschosses wohnte Herbert, und mit einem Male tauchte der Gedanke in ihm auf, daß die Baronin es bereue, sich ihm auch nur einen Moment mit ihrem Herzen zugeneigt zu haben, und daß sie ihn aus ihrer Nähe zu entfernen wünsche. Das wies ihn vollends auf sich selbst zurück.

Ich fürchte, daß ich mich nicht in der Lage befinden werde, sagte er höflich, aber fest, den Herrschaften, wie sie es wünschen, meine Dienste widmen zu können.

Wie, rief die Baronin, die über ihre sonstige formelle Weise hinausgetrieben wurde, da sie eine Freiheit und Heiterkeit [366] zur Schau zu tragen hatte, die sie zu fühlen weit entfernt war – wie, mein Herr, Sie wollen sich unserem Dienste entziehen, da wir gerade jetzt uns zu einem künstlerischen Unternehmen rüsten?

Ich habe hier immer länger verweilt, entgegnete er, von dem Tone ihrer Stimme wie von ihrem Blicke wieder schnell beherrscht, als ich es im Grunde vor meinen anderen Unternehmungen verantworten konnte, und ich ....

Und Sie bedauern das, wie es scheint, und wollen sich in Zukunft davor wahren, das ist in der Ordnung! sprach Angelika, während sie die schönen Lippen spöttisch aufwarf.

Dem Freiherrn, welcher seine Gattin mit Befremdung beobachtete, schien ihr Verhalten zu mißfallen, denn er sagte mit entschiedener Kälte: Du darfst nicht vergessen, Beste, daß unser junger Freund nicht zu seiner oder unserer Unterhaltung, sondern des Baues wegen hergekommen ist!

Das traf Herbert wie ein Schlag, obschon es wie eine Rechtfertigung für ihn gesprochen worden war, und sich verneigend, sagte er: Daran dachte ich eben, Herr Baron, und ich wollte mir um deßhalb die Erlaubniß erbitten, nach Rothenfeld hinüberzuziehen, um an Ort und Stelle die Arbeit zu überwachen, so lange ich hier verweile und so oft ich in die Gegend wiederkehre.

Das Herz schlug ihm, als er so sprach, und wider seinen Willen hegte er doch im Innersten die heimliche Hoffnung, daß man ihn nicht gehen lassen werde. Er sah, daß Angelika die Farbe wechselte, aber weit entfernt, ihn für die Kränkung zu entschädigen, welche ihre herausfordernde Weise ihm von dem Freiherrn zugezogen hatte, sagte sie: Ja, freilich, Ihr Beruf und Ihre Arbeit gehen vor, denn es haben ja Andere an Sie die gleichen Ansprüche wie wir! – Sie gab damit ihre Zustimmung zu seinem Scheiden ebenfalls zu erkennen und erinnerte [367] ihn, wie er glaubte, ebenfalls daran, in welchem Verhältnisse er sich neben ihr befinde. Herbert, der dies nie vergessen hatte, der sich bewußt war, eine solche Erinnerung nicht zu verdienen, empfand sie schwer und sich zusammenfassend, sagte er mit möglichster Ruhe: So gestatten Sie, gnädigste Frau, daß ich diese Bemerkung als das Zeichen meiner Beurlaubung betrachte und mich jetzt gleich nach Rothenfeld begebe!

Sie entgegnete ihm nichts; nur der Baron sagte leichthin, aber mit gewohnter Freundlichkeit, während er schon der Herzogin den Arm bot und der Marquis sich der Baronin näherte, um sie zum Frühstücke zu führen: Machen Sie das, lieber Herbert, wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen, Lieber! – aber er forderte ihn nicht wie sonst auf, ihnen wenigstens jetzt noch zum Frühstücke zu folgen, sondern schritt ohne Weiteres dem kleinen Speisezimmer zu. Alles Blut strömte Herbert nach dem Herzen zurück. Er verbeugte sich und verließ bleich vor Zorn und unterdrückter Bewegung das Gemach.

Gehen Sie nicht fort, ehe ich Sie nicht noch über die bewußte Angelegenheit gesprochen habe, lieber Herbert! hörte er den Freiherrn ihm nachrufen; aber er beachtete es nicht, obschon er die Worte vernahm.

Draußen im Vorsaale begegnete ihm der Caplan, welcher sich zum Frühstück begab. Was ist geschehen? fragte dieser, als er die Verstörung des jungen Mannes sah.

Ich habe eine Lehre erhalten, die mir nöthig war! gab Herbert ihm zur Antwort.

Der Caplan wollte ihn so nicht gehen lassen, wollte ihn zum Sprechen bringen: Herbert wies ihn zurück. Ein Diener kam nach dem Caplan sehen, den man beim Frühstück vermißte.

Gehen Sie, gehen Sie, Hochwürden, rief Herbert, Sie müssen ja gehorchen! Ich aber bin noch frei und, bei Gott, ich denke es auch zu bleiben!

[368]
9. Capitel
Neuntes Capitel

In einer Stunde war sein Gepäck gemacht, eine halbe Stunde später war er auf dem Wege nach Rothenfeld. Als er dort ankam, war der Amtmann im Felde; Eva empfing ihn mit heller Freude. Er gab die nöthige Auskunft über den äußeren Anlaß seiner Wiederkehr und bat um Nachsicht, wenn er ihr freundliches Willkommen nicht, wie er müsse, anerkenne.

Sie blickte ihn an, wurde plötzlich ernsthaft und sagte, indem sie ihm die Hände reichte: Mosje Herbert, Ihnen ist ein Unglück geschehen. Vertrauen Sie es mir, denn ich werde keine Ruhe haben, ehe ich es weiß!

Er sagte, er habe nur etwas Sammlung nöthig, um einen Brief zu schreiben, und wenn er das gethan, so werde er wieder munter sein.

Sie drang darauf nicht weiter in ihn und führte ihn in das Zimmer, welches er während der beiden letzten Tage inne gehabt hatte. Mit leiser, eilender Hand zog sie die Vorhänge auf und rückte die Möbel zurecht, wie er es brauchte. Sie war so natürlich in dieser Dienstbarkeit, daß er dieselbe wie ein Selbstverständliches ohne Danken hinnahm. Sie half ihm den Mantelsack öffnen und legte ihm die Papiere, welche er herausnahm, behutsam an Ort und Stelle. Dann verließ sie ihn, aber man hätte in ihrer sorgenvollen Miene nicht das lachende Mädchen wiedererkannt, das es noch am verwichenen Tage allen andern an Munterkeit und Uebermuth vorausgethan [369] hatte. Noch unter der Thüre wendete sie sich nach ihm um. Sie sah, wie er im Zimmer auf und nieder ging, und wollte zu ihm zurückkehren; da er sie jedoch gar nicht beachtete, zog sie die Thüre leise zu und ging traurig von dannen und an ihre Arbeit.

Herbert setzte sich an den Schreibtisch nieder, aber wie er seinen Brief beginnen wollte, wurde er gewahr, daß er innerlich fassungslos und also nicht zu schreiben im Stande sei. Er konnte das Erlebte nicht verstehen, obschon er sich jedes gesprochenen Wortes, jeder Miene und Wendung der verschiedenen Personen deutlich erinnerte. Es kam ihm Alles unglaublich vor, weil er es mit der Vergangenheit in keinen deutlichen Zusammenhang zu bringen wußte.

Das Eine stand fest, er hatte eine schwere Beleidigung empfangen, eine Beleidigung, für welche er Rechenschaft zu fordern hatte; indeß die Art der Genugthuung, nach welcher er verlangte, konnte er, der bürgerliche Baumeister, von dem Freiherrn von Arten nicht begehren, weil er wußte, daß man sie ihm mit Lachen verweigern würde. Herbert war von seinem Vater, der eine ansehnliche Kundschaft unter dem Adel besaß und manchen Gönner unter ihm zählte, in der Achtung vor dem Adel auferzogen worden. Aber er hatte in seiner bürgerlich gesicherten Stellung und bei seiner freien Kunstbestrebung sich eben nicht viel um die Vorrechte des Adels gekümmert oder, wenn dies doch geschehen war, bisher nicht Ursache gehabt, sie ihm zu neiden. Jetzt stand er zum ersten Male vor den Schranken, welche den Bürgerlichen in seinem öffentlichen und in seinem privaten Leben von dem Edelmanne trennen, und er fand sie hoch genug, obschon man sie ihn bis auf diesen Tag nicht fühlen lassen. Er erinnerte sich, mit welcher verehrenden, von seinem Vater ererbten Voreingenommenheit für das freiherrlich von Arten'sche Haus er nach Richten gekommen [370] und wie gütig man ihm von Anfang begegnet war. Man hatte ihn als einen Gast des Hauses, als den Sohn eines Freundes behandelt, man hatte ihn zu fesseln gesucht, hatte seine Neigung gewonnen – und was hatte er denn gethan, jetzt plötzlich eine so schnöde Behandlung zu erleiden? Wie war es möglich geworden, daß die Baronin sich derselben nicht nur nicht widersetzt, sondern recht eigentlich die Veranlassung dazu geboten hatte?

Er hatte Angelika bewundert, ja, er hatte sie zu lieben geglaubt. Aber war das ein Verbrechen, da er auf solche Neigung und Bewunderung keinen Anspruch gründete? Nur ihr eigenes Betragen, nur ihre eigene Hingebung hatten ihn ermuthigt, ihr sein verehrendes Gefühl kund zu geben. Nur eines Wortes, nur eines Winkes von ihr hätte es bedurft, ihn schweigen zu machen und den Ausdruck der reinen, liebevollen Theilnahme zurückzuhalten, mit der er ihr an jenem Abende genaht war. Wodurch also verdiente er ihren Zorn? Wodurch hatte er die Verhöhnung verdient, die sie, sie allein ihm bereitet? Je länger er darüber nachdachte, desto zorniger wurde er, und doch fühlte er dabei immer, wie werth diese Menschen ihm geworden waren, die ihn so absichtlich zurückgestoßen hatten, und wie schwer es ihm fiel, Böses von ihnen zu denken, von denen er sich bisher nur des Besten versehen.

Er hegte ein widerwilliges Bestreben, sie zu rechtfertigen, weil es ihm zu schmerzlich war, von ihnen beleidigt zu sein. Er stellte sich vor, daß irgend ein Zufall, irgend ein unbemerkter Zeuge dem Freiherrn verrathen habe, was zwischen Herbert und der Baronin vorgefallen sei, und er fand eine Genugthuung darin, sich selbst eine Schuld anzudichten, an welche er im Innern seines Herzens doch wieder nicht glaubte, nur um das Verhalten des Freiherrn und Angelika's weniger hart und ungerecht nennen zu dürfen. Er hielt sich vor, daß [371] er die Eifersucht des Freiherrn erregt, daß ein Zerwürfniß und eine Versöhnung zwischen den Eheleuten Statt gefunden haben müsse, weil er sich daraus die Zärtlichkeit Angelika's für ihren Gatten herzuleiten wünschte. Aber wie sollte er diese wieder zusammenreimen mit der scherzend herausfordernden Weise, mit welcher sie ihm entgegengetreten war? Keine seiner Voraussetzungen bot eine völlig genügende Erklärung dar, keine seiner Empfindungen war rein, alle waren sie gebrochen, und, empört gegen den Freiherrn, gegen Angelika und gegen sich selber, rief er endlich aus: Sie haben mir sogar den Zorn genommen und den Haß!

Bald wollte er der Baronin schreiben, bald dem Baron, um von ihnen eine Aufklärung zu heischen und sich über die Herzens- und Ehrenkränkung zu beschweren, die man ihm zugefügt hatte; aber wo man sich mit den Personen, mit denen man zu thun hat, nicht auf gleichem gesellschaftlichem Boden befindet, wird selbst das Zugeständniß einer begehrten Gerechtigkeit zu einer freiwilligen Gunstbezeigung, und eine solche von dem Freiherrn anzunehmen, war ihm das Widerstrebendste. Dazu band ihn sein Contract, den er nicht ohne Wortbruch lösen konnte, an den zeitweiligen Dienst des Freiherrn; der Bau stieg edel und schön empor, und Herbert war Künstler genug, ein begonnenes und so bedeutendes Werk nur mit höchstem Widerstreben zu verlassen; indeß die Aussicht, eben um dieses Baues willen mit der freiherrlichen Familie nach den heutigen Vorgängen doch in fortgesetzter Berührung bleiben zu sollen, war ihm so quälend, daß sich von dieser Abhängigkeit zu befreien ihm für den Augenblick als das Nothwendigste erschien. In dieser Stimmung ergriff er die Feder auf das Neue.

»Hochgeborener Herr Baron!« – schrieb er – »Eure Gnaden haben mich heute mit Recht und sehr zur Zeit daran erinnert, daß ich nur um einer Arbeit willen und als Künstler [372] nach Richten gekommen bin. Diese Arbeit zu vollenden, mit ihr den gerechten Ansprüchen und Erwartungen Eurer Gnaden nach besten Kräften zu entsprechen, ist mir eine Ehren- und Gewissenssache gewesen, und die huldvolle Güte wie die Zufriedenheit Eurer Gnaden haben mir bisher guten Muth und Aufmunterung gegeben. Zu meinem großen Bedauern habe ich aber die Bemerkung machen müssen, daß Sie mir Ihre Zufriedenheit entzogen haben, und ich möchte Ihnen weder mit meinen Diensten noch mit meiner Person beschwerlich fallen, wenn beide aufgehört haben, Ihnen genehm zu sein. Erlauben Eure Gnaden mir also die Versicherung, daß ich bereit bin, Ihnen alle von mir gemachten Pläne und Detailzeichnungen zur Verfügung zu stellen, falls es Ihnen aus irgend einem Grunde wünschenswerth sein sollte, den Bau durch einen anderen Baumeister fortführen und vollenden zu lassen. Ich wage wohl keine vergebene Bitte, wenn ich Eure Gnaden ersuche, mich Ihre Entscheidung nicht lange erwarten zu lassen.«

Er siegelte den Brief und bat Eva, ihm einen Boten zu schaffen, der denselben nach dem Schlosse trage. Als er das Schreiben unterwegs wußte, wurde ihm leichter um das Herz. Weil er den ersten Schritt zu seiner Befreiung gethan hatte, glaubte er schon frei zu sein, und nun erst loderte sein Zorn gegen Angelika und den Freiherrn rein und hell empor. Jetzt, da er sich nicht mehr um das Weßhalb der erlittenen Beleidigung kümmerte, sondern sich nur der Thatsache gegenüberstellte, erwachte in ihm das Selbstgefühl, welches überall verloren geht, wo man sich mit den Andern mehr, als sie verdienen, zu schaffen macht.

Er verließ sein Zimmer und ging, ohne bestimmte Absicht, hinunter in das Haus. Der Amtmann war zurückgekehrt; Eva rüstete in dem kühlen Hausflur den Mittagstisch. Sie hatte den Bruder von Herbert's Ankunft schon in Kenntniß [373] gesetzt, und dieser trat ihm mit der Frage entgegen, was es gegeben habe.

Herbert fühlte keinen Beruf, ihm die ganze Wahrheit mitzutheilen. Es widerstrebte ihm, dem Amtmann die Schwere des ihm geschehenen Unrechtes einzugestehen, da er es ohne Vergeltung hinzunehmen hatte, und eben so wenig konnte und durfte er seine Gastfreunde ahnen lassen, wie es um ihn und um sein neuliches Erlebniß mit der Baronin stand. Er berichtigte also nur, daß man ihn, gegen die frühere Weise, kalt, ja daß man ihn ungebührlich behandelt habe, und daß und was er dem Baron geschrieben.

Der Amtmann hörte ihm ruhig zu und sagte dann mit einem Lächeln, das seinem gescheiten Gesichte einen noch größeren Ausdruck von Klugheit gab: Ich hätte es Ihnen voraussagen können, wie es mit Ihnen kommen würde, Herr Baumeister. Es ist ein ordinäres Sprüchwort, aber wahr ist's darum nicht minder: »Es ist nicht gut mit den großen Herren Kirschen essen!« Und, fügte er hinzu, um wieder einmal vor dem Studirten seine eigene Bildung leuchten zu lassen, ich hab's oft zur Eva gesagt, es ist wie mit den Granatäpfeln in der Mythologie; man muß nichts von den Herrschaften geschenkt nehmen, wenn man mit ihnen durchkommen und frei bleiben will.

Das sagen Sie, dessen Familie dem freiherrlichen Hause seit Menschenaltern dient? wendete Herbert ein.

Das sage ich Ihnen eben deßhalb; denn wir haben unsere Manier probat gefunden von Vater auf Sohn. Seine Schuldigkeit thun, seinen Lohn empfangen, nichts darunter, nichts darüber, und Herr und Diener sein, rein weg!

Herbert fragte, ob denn der Freiherr oder die Baronin dem Amtmann ebenfalls Gelegenheit zur Unzufriedenheit gegeben hätten.

Nicht daß ich's sagen könnte, meinte dieser. Aber das [374] hat sich bei uns so fortgeerbt von Einem auf den Andern, es ist unsere Bauernweisheit! Wir kennen hierlandes den Grund und Boden und die Leute, und wir kennen auch unsere Herrschaft und den Adel rund herum! Sie sind Einer wie der Andere!

Eva meinte, die Herrschaften könnten aber doch sehr freundlich sein und hätten sich ja auch gegen den Bruder und gegen sie stets so gezeigt.

O ja, rief der Amtmann, aber es würde bald damit aus gewesen sein, hätte ich mich darauf eingelassen, wie sie's mit Dir und mir versuchten! Heute hieß es, weil ich denn doch dies oder jenes mehr gelernt hätte, als es sonst hier im Amte zu geschehen pflegte, so könnte ich dem Herrn Baron wohl bei der oder jener Arbeit helfen, nicht als Diener, Gott bewahre! nur weil er mich leiden und mich um sich haben möchte! Und morgen meinten sie, die Eva sähe gut aus und hätte recht anständige Manieren; sie könnte also, wenn sie wollte, bisweilen auf das Schloß kommen und der Frau Baronin etwas vorlesen und mancherlei im Schlosse annehmen und lernen. Aber wir kennen das! Für einen Finger, den sie uns reichen, wenn sie Lust und Langeweile haben, verlangen sie gelegentlich die ganze Hand von uns, und will man sich dann dafür auch einmal an ihrer Hand halten, so wird's ihnen gleich zu viel, und sie ziehen die Hand zurück und nehmen's uns noch übel, daß wir ihnen die Mühe machen, uns abzustoßen! – Er lachte dabei und sagte zuversichtlich: Nichts da! Die vornehmen Nücken kennen wir! Sie dort und wir hier! Guter Dienst und gutes Recht! Wir sind uns hier selber genug!

Herbert hörte ihm mit einer heimlichen Beschämung zu. Es war, als sprächen sein eingeschläfertes Gewissen, seine heimliche Einsicht selbst zu ihm, und zu seiner eigenen Beruhigung sagte er: Ich sehne mich eigentlich auch danach, dieses Contractes [375] und des ganzen Verhältnisses, an das ich mit so gutem Glauben gegangen bin, erst wieder ledig zu werden.

Der Amtmann schüttelte mit verneinendem Lächeln den Kopf. Herbert fragte, ob er an der Wahrheit dieser Worte zweifle. Nein, versetzte Jener, daß Sie es in diesem Augenblick wünschen, daran zweifle ich nicht, aber Sie kommen nicht los. Der Freiherr ist ein Mann von Wort, das muß man ihm lassen, und wie er selbst sein Wort hält, so besteht er darauf, daß ihm Wort gehalten werde. Freiwillig entläßt er Sie Ihres Contractes nicht, und contractbrüchig werden Sie doch schließlich auch nicht heißen und nicht werden wollen!

Sie sprachen hin und her; der Baumeister verrieth nichts von dem, was ihm widerfahren war, aber der Amtmann, welcher gut zu fragen und zu hören wußte, kam durch einzelne Aeußerungen Herbert's ziemlich auf die rechte Spur, und was er von dem Freiherrn auch Gutes sagen mochte, seine Worte trugen doch alle das Gepräge der Abneigung, welche er gegen die Herrschaften hier in der Gegend, wie er den Adel nannte, in sich hegte. Selbst in Eva sprach sich die gleiche Gesinnung aus, und wenn der Amtmann sich mehr an das Allgemeine hielt, so wußte Eva so viel kleine Züge von der Selbstsucht und dem Stolze, den Galanterieen und den Liebesabenteuern der adeligen Damen zu erzählen, wie sie als Gerüchte von einem Amthause in das andere getragen wurden, daß Herbert den letzten Rest des sanften Zaubers schwinden fühlte, in welchem sein Verhältniß zu dem freiherrlichen Hause und zu Angelika ihm erschienen war. Er begann sich in seinem Innern einen eiteln Thoren, einen schwachherzigen Neuling zu schelten. Er malte es sich aus, wie man ihn im Schlosse jetzt geringschätzig verlachen möge, und während der Amtmann und seine Schwester mit Vergnügen davon sprachen, daß sie Herbert nun bei sich behalten würden, während sie ihm vorschlugen, wie er es sich [376] bei ihnen bequem machen könne, dachte er nur daran, überhaupt aus der Gegend fortzukommen. Eva's zuversichtliche Betheuerung, daß er bleiben werde, weil ihr Bruder gesagt habe, daß er bleiben müsse, steigerte seine Sehnsucht, sich loszureißen. Er konnte den Augenblick bis zur Rückkehr des Boten kaum erwarten, und mitten in dem Plaudern von Eva und trotz der Unterhaltung mit dem Amtmanne war er innerlich nur damit beschäftigt, sich die Art und Weise vorzustellen, in welcher der Freiherr in die Aufhebung des Contractes willigen und ihm seine Entlassung zugestehen werde.

Es fiel ihm schwer, bei Eva vor der Thüre sitzen zu bleiben, als er den Knecht am Nachmittag über den Hof kommen sah; selbst Eva wurde unruhig über die Langsamkeit, mit welcher derselbe die Weste aufknöpfte, unter der er das Schreiben des Barons, welches er der Vorsicht wegen noch mit seinem Tuche umwickelt hatte, hervorzog. Aber schon der Anblick dieses Schreibens machte Herbert betroffen. Es war ein kleines Blättchen, leicht zusammengelegt, wie man es einem Untergebenen als Anweis oder mit einem Befehle wohl einmal sendet; und wie sein Aeußeres war auch der Ton, in dem es gehalten.

»Machen Sie sich keine Sorge«, schrieb der Baron. »Ich bin durchaus nicht unzufrieden mit Ihnen und Ihren Leistungen, im Gegentheil! Ich pflege auch nicht aufzugeben, was ich unternehme, und erwarte das Gleiche von jedem Manne, der sich zu respectiren weiß. Bleiben Sie also ruhig in Rothenfeld, das ist Ihrem Werke sicher förderlich, besonders da Sie Steinert zur Hand haben. Wegen meines anderen Vorhabens sprechen wir bald das Nähere. Ich werde Sie in den nächsten Tagen benachrichtigen und Zeit und Stunde bestimmen.«

Das war Alles. Der Brief trug keine Anrede und keine Unterschrift, als das mit langem Zuge versehene A., mit welchem der Freiherr wie ein König die Erlasse an den Amtmann zu [377] unterzeichnen pflegte. Er behandelte Herbert, als sei gar nichts vorgegangen, als habe nie eine andere als die geschäftliche Beziehung zwischen diesem und dem freiherrlichen Hause Statt gefunden, als könne des jungen Mannes Wunsch, sich von der ihm aufgetragenen Arbeit zurückzuziehen, gar keine andere Ursache haben, als seine Besorgniß, daß der Freiherr mit seinen Leistungen nicht zufrieden sei. Eine Zurechtweisung, eine Anmahnung zur Pflichterfüllung enthielt das Schreiben, kein Wort der Begütigung, wie die Einleitung von Herbert's Brief sie forderte, wenn man ihn festzuhalten wünschte und ihn nicht hatte kränken wollen. Er las den Brief noch einmal und noch einmal. Es war die schwerste Demüthigung, welche er empfangen hatte! Eva, die ihn während des Lesens genau beobachtete, hatte bemerkt, daß er blaß geworden war. Ihre großen Augen hingen ernst an seinen Mienen.

Nun? fragte sie, da er das Schreiben schweigend in die Tasche steckte.

Ich bleibe hier! gab er ihr zur Antwort.

Ihr Gesicht erhellte sich, sie hob die Hände empor, um sie vor Vergnügen zusammen zu schlagen, ließ sie aber, als sie in sein verstörtes Antlitz blickte, eben so schnell wieder sinken und meinte kleinlaut: Das thut mir leid, wenn es Ihnen so hart ankommt!

Die Worte, mehr noch der Ausdruck, mit welchem sie dieselben sprach, bewegten ihn. Er wollte sie um Vergebung bitten, ihr eine Freundlichkeit erwidern, indeß er konnte es in diesem Augenblicke nicht. Sie sind recht gut, Eva! sagte er, indem er ihr die Hand gab.

Was nützt das, wenn ich Ihnen nicht helfen kann? entgegnete sie, indem sie sich von ihm losmachte und sich entfernte. Es war bei ihr immer, in Fröhlichkeit und Betrübniß, derselbe gute und werkthätige Sinn; aber es war Herbert doch erwünscht, [378] allein zu sein. Er konnte eben jetzt keine Hülfe und keine Gesellschaft brauchen.

Er ging auf sein Zimmer und an seine Arbeit, denn arbeiten, vorwärts kommen, hieß jetzt für ihn, seiner Freiheit näher rücken. Aber wie er den Sinn auch auf die Verknüpfung der Linien und Zahlen richtete, es brannte immer in seinem Innern: Sie haben dich, weil sie dich nicht für ihres Gleichen halten, nicht nach deiner Ehre, sie haben dich wie eine Sache behandelt, die man aufnimmt oder liegen läßt, je nach Belieben! – Und je länger er das dachte, um so öfter richtete sein Blick sich nach Frankreich hinüber, und er fragte sich: Wann wird denn die Stunde schlagen, die auch hier den Hochmüthigen den Nacken beugt? –

Sie standen ihm dabei immer vor Augen, die kleine, vornehm lächelnde Herzogin und der in Selbstgefälligkeit strahlende Marquis: beide flüchtig, beide das Gnadenbrod der Fremde essend und beide so ungebeugt, so sicher in dem Glauben an die unvergängliche Ueberlegenheit ihres Wesens und ihres Blutes, daß der Haß gegen dieses alte Blut in Herbert entbrannte und es ihm vorkam, als könne er dieses Blut kalten Auges vergießen sehen, als könne er sie sterben sehen, sie Alle mit einander: den hochgemutheten Freiherrn, die zarte Herzogin, den fröhlichen Marquis, und auch sie, die schöne, lächelnde Baronin, wenn er ihnen damit nur die Erinnerung zu nehmen vermochte, wie sie ihn geflissentlich beleidigt, wie gedemüthigt er von ihnen gegangen war. Er haßte sie nicht nur für dasjenige, was sie ihm zugefügt, sondern mehr noch deßhalb, weil er's ertragen hatte und weil er in ihrem Dienste fortarbeiten mußte, um seiner Pflicht nachzukommen, welche jenen gegenüber seine einzige Ehre war. Er haßte sie!

[379]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Der Feldzug, zu welchem die Regimenter so fröhlich aus der Hauptstadt ausmarschirt waren, hatte nicht lange gewährt und war ein fruchtloses, ja, ein unheilvolles Unternehmen gewesen sowohl für diejenigen, denen er helfen und dienen, als auch für jene Anderen, welche die Hülfe hatten bringen sollen. Die Revolution war in Frankreich immer energischer und siegreich vorwärts geschritten, und kleinlaut waren die Truppen der Coalition in ihre Standquartiere und Garnisonen zurückgekehrt.

Graf Gerhard, dem es an persönlichem Muthe nicht gebrach und dem seine kräftige Gesundheit zu Statten gekommen, wo viele seiner Cameraden Krankheit und Tod gefunden, war als Rittmeister aus dem Feldzuge nach der Champagne heimgekehrt. Sein Regiment hatte seiner Zeit auch wieder mehrere Tage in der Hauptstadt der Provinz verweilt, aber der Graf hatte gleich nach dem Einrücken Urlaub genommen und sich zu seinen Eltern nach Berka begeben. Er hatte die Familie Flies nicht aufgesucht, auch zu der Kriegsräthin war er nicht gegangen. Seba erfuhr das gleich, obschon sie ihren Verkehr mit derselben bedeutend eingeschränkt hatte und obschon auch der Vater noch weniger als sonst Behagen an der Freundschaft zu finden schien, welche die Mutter noch immer mit der Frau seines Miethers unterhielt.

Gott soll mich bewahren, daß ich Sie anklage, theuerste Frau Kriegsräthin, sagte Madame Flies eines Nachmittags, als [380] diese auf eine Tasse Kaffee zu ihrer Wirthin gekommen war – Gott soll mich bewahren, daß ich Sie verkenne; Sie haben es sehr gut mit uns gemeint, aber der Mensch denkt und Gott lenkt!

Es ist mir freilich immer derselbe Kummer, meinte Laura, indem sie wohlgefällig den silbernen Kaffeelöffel ihrer Wirthin in der Hand wog, der doppelt so schwer war, als die ihrigen, daß ich die unschuldige Veranlassung zu Seba's Liebe für den Grafen gewesen bin, aber es geht ja wieder besser mit ihr. Sie ist wirklich schöner als je, und sie schlägt es sich ja endlich auch wieder aus dem Sinne.

Die Mutter zuckte die Schultern. Glauben Sie das nicht, liebe Frau Kriegsräthin, Seba hat des Vaters Kopf! Die vergißt nicht, was sie einmal gewollt hat; und wenn sie auch wieder munter ist vor den Leuten und wenn sie auch schön ist wie sonst, – Sie sollten sie nur sehen, wenn sie sich unbeachtet glaubt! Seba hat ihre Taubenaugen, ihre sanften Kinderaugen nicht mehr!

Wie traurig ist das! rief die Andere mit jenem kühlen Bedauern der Gleichgültigkeit, das der Leidende als eine schwere Beleidigung empfinden würde, wäre er nicht in der Regel zu sehr in sich versunken, um darauf zu achten. Die Kriegsräthin aber glaubte der Theilnahme, die man von ihr fordern konnte, mit jenem Ausruf vollauf genügt zu haben, und da man der fremden Klage am leichtesten ledig wird, wenn man selbst zu klagen beginnt, wiederholte sie mit einem Seufzer ihr: Wie traurig! und fügte dann eilig und lebhaft hinzu: Aber es trägt ja Jedermann von uns sein Theil, liebste Flies, und was Sie leiden, leiden Sie mit Ihrem eigenen Kinde, das ja jung und schön ist, und da Sie reich sind und ihm Alles gewähren können, auch früher oder später glücklich werden wird. Nehmen Sie dagegen mich und unsern Paul! Was habe ich nicht Alles [381] für den Knaben schon gethan, und Alles das umsonst! Nur an Seba hängt er und an meinem Manne, als wäre ich gar nicht da – und im Grunde ist das noch das Wenigste!

Sie machte eine Pause, wollte verschweigen, was sie drückte, konnte dann aber doch nach Frauenart der Lust nicht widerstehen, einmal ihr Herz recht gründlich auszuschütten. Es trifft Alles so schlimm zusammen, – sagte sie fast gegen ihren Willen, – so schlimm, als sollte mir grade jetzt von allen Seiten Verdruß und Sorge bereitet werden. Nicht genug, daß der Knabe immer verschlossener wird, daß ich mir Seba's Kummer zu Herzen nehme, habe ich mich eben in diesen Tagen auch mit unserem alten, guten Freunde und Gönner, dem Präsidenten, erzürnen müssen.

Mit dem Herrn Präsidenten? fragte näher rückend Madame Flies, die seit der ganzen Reihe von Jahren gewohnt war, den alten Herrn täglich zu seiner Freundin gehen zu sehen. Wie ist das denn zugegangen?

Weiß ich's? rief die Kriegsräthin und knüpfte, weil ihr warm wurde, das Band auf, mit welchem ihre Flatteuse unter dem Kinn zugebunden und das mit einem Liebesknoten an dem Brustlatze befestigt war. Elf runde Jahre ist er bei uns ein und aus gegangen; wir waren so an einander gewöhnt, er, mein Mann und ich; wir wußten, wie wir einander zu nehmen und wie weit wir auf einander zu rechnen hatten; da bringt ein unglücklicher Zufall dem guten Präsidenten ein Billet in die Hände ....

Ein Billet – ja, was denn für ein Billet? forschte die Andere, deren Augen vor Ungeduld und Neugier zu funkeln begannen.

Ach, ein Billet des Hauptmannes – ein Billet, das er mir am Tage nach der Rückkehr schrieb – die Kriegsräthin lächelte und wendete den Kopf nach dem Spiegel, der zwischen den [382] beiden Fenstern hing – ein Billet, wie jede halbwegs angenehme Frau deren unzählige erhält! Ein paar Verse, wie er sie mir, seit er damals hier war, bisweilen schickte, reine Poesie. Ich hatte sie nicht beachtet, sie vergessen, sie lagen in meinem Nähtischchen, da fand sie der Präsident ....

Da fand sie der Herr Präsident? wiederholte Madame Flies.

Ja, rief Laura, die in ihrem Verdrusse die verwunderte Frage der Anderen gar nicht beachtete; und stellen Sie sich vor, aus diesem ganz gleichgültigen Briefe macht er mir ein Verbrechen. Er erlaubte sich, mich zu beschuldigen, verlangte Erklärungen, als wäre ich ein Kind und nicht eine Frau, die weiß, was sie zu thun hat.

Madame Flies wurde stutzig. In Bezug auf die eheliche Treue verstand sie keinen Spaß. Aber wie kamen denn der Herr Präsident darauf und was sagen der Herr Kriegsrath dazu? fragte sie bedenklich.

O, der ahnt davon noch gar nichts, der würde mir es nicht vergeben!

Hören Sie, brach nun Madame Flies plötzlich aus, hören Sie, liebe, gute Frau, das kann ich ihm auch nicht verdenken! Sie wissen, wie viel ich von Ihnen halte, liebe Frau Kriegsräthin, aber Verse, heimliche, jahrelange Verse an eine verheirathete Frau .... Sie brach ab, schüttelte das Haupt, daß die echten Kanten von ihrem Kopfzeuge ihr tief auf die Stirn niederfielen, und reichte, als wolle sie gut machen, was sie nothgedrungen hatte sagen müssen, ihrer Freundin, obschon dieselbe sich eben erst bedient, noch einmal die silberne Zuckerschale mit einem freundlichen: Ist's gefällig? hin.

Die schöne Laura lachte plötzlich ganz hell auf, und sie sah wirklich noch sehr hübsch aus, wenn sie lachend die weißen Zähne und die tiefen Grübchen in den vollen Wangen sichtbar werden ließ. Sie meinen, um die Verse kümmere sich mein [383] Mann? Gott bewahre, das hat ja gar nichts auf sich! Verse an seine Frau, die werden doch einen verständigen Mann nicht in Harnisch bringen, auf die muß jeder Mann gefaßt sein, der sich eine junge und passabel hübsche Frau genommen hat. Aber daß ich unsern Präsidenten nicht zu menagiren, nicht nach seiner Weise zu behandeln wußte, das wird mein Mann mir nicht vergeben – und ich vergebe mir es selber nicht!

Der Herr Präsident sind des Herrn Kriegsrathes Chef! bemerkte Madame Flies, um doch etwas zu sagen, da die Heiterkeit der Anderen ihr noch weniger gefiel.

Ja, freilich, das ist's ja eben, bekräftigte Laura, sich besinnend, mit ganz verändertem Tone, da sie die zweifelhafte Miene ihrer Hauswirthin bemerkte. Das ist es eben, wir sind abhängig von ihm! Sie machte eine Pause, als sinne sie über diese ihre bedenkliche Lage nach, bis sie seufzend ausrief: Und wir haben kein Vermögen! – Sie hielt abermals inne, sah ihre Freundin prüfend an und sagte dann ernst und niedergeschlagen: Sie, die Sie reich sind, die Sie freie Hand in Ihres Mannes Casse haben, Sie können gar nicht wissen, wie schwer in diesen Zeiten das Auskommen für den Beamten ist. Jedes zu Ende gehende Quartal hat seine Nothwendigkeiten, jedes beginnende macht seine Ansprüche; die Rechnungen kommen, die täglichen Ausgaben laufen fort, man muß nach außen anständig auftreten, wie man sich in seinem Hause auch beschränkt, die Miethe ist zu zahlen – Sie glauben nicht, welche Verlegenheiten das bereitet!

Madame Flies versicherte und erinnerte sie, daß es mit der letzteren nicht eile, daß ihr Mann ja immer gern gewartet habe.

Gewiß, gewiß, rief Laura, der Kriegsrath besitzt ja einen wahren Schatz an Ihres Mannes Freundschaft! Aber was hilft mir das? Sie wissen gar nicht, wie ängstlich, wie genau der Kriegsrath ist. Jede Cocarde, jede Falbala, jedes Theaterbillet [384] und jedes Biscuit muß verzeichnet werden und wird bekrittelt, wenn es verzeichnet ist. Da half denn des Präsidenten Galanterie gelegentlich ein wenig aus – versteht sich, nur leihweise – für Tage nur – nur um den lieben Hausfrieden nicht zu stören! Und da muß mir nun nach elf Jahren der Präsident die gute Laune ohne allen Grund verlieren. Ich habe schon gedacht, ob Sie, liebe Madame Flies ....

Sie brach plötzlich ab und sagte nicht, was sie gedacht hatte; denn das Gesicht ihrer Wirthin verrieth ihr, daß sie sich wahrscheinlich eine unnütze Blöße gegeben hatte. Das Kaffeezeug war fortgeräumt, die Hausfrau erhob sich, um den süßen Wein und das Confect zu holen, die den Imbiß vervollständigen sollten, aber wie mild und glatt der alte Malaga die Kehle auch hinabglitt, die Unterhaltung wollte nicht wieder in Fluß gerathen.

Die gute Meinung, welche Madame Flies von ihrer Freundin gehegt, hatte einen schweren Stoß erlitten, und die Kriegsräthin hatte auch besser von ihrer Wirthin gedacht. Nach der sorglosen Weise, in welcher sie Seba früher ihren Weg gehen lassen, hatte sie die Mutter nicht für so spießbürgerlich und namentlich nicht für so sittlich engherzig gehalten. Sie waren beide verstimmt und beide begannen wieder von Seba zu sprechen, über deren Seelenzustand sich freilich beide eine falsche Vorstellung machten.

Seba's erstes Empfinden nach jenem unheilvollen Morgen und nach den Tagen, welche ihr die Ueberzeugung aufgedrängt, daß sie gewissenlos von einem Elenden verrathen und verlassen sei, war der Drang gewesen, sich Vater und Mutter zu Füßen zu werfen und ihnen Alles zu gestehen. Aber es war genug, daß ihr eigenes Herz gefoltert ward, daß sie sich selbst verloren hatte, daß sie elend geworden war, daß sie sich verachtete und nicht mehr vorwärts, nicht mehr rückwärts zu blicken wagte. [385] Ihr war Alles entrissen, was bis dahin ihr Leben ausgemacht: nur Eine Gewißheit und nur Ein Gefühl waren unverändert in ihr geblieben: sie wußte, daß sie das Glück ihrer Eltern war, und sie liebte ihre Eltern. Daran mußte sie sich halten!

Es wäre ihr eine Befreiung gewesen, sich anzuschuldigen, ein Trost, sich zu demüthigen; denn es ist für ein rechtschaffenes Herz leichter, verdienten Tadel, als unverdientes Lob zu ertragen und eine Liebe über sich walten zu fühlen, deren es sich nicht mehr würdig glaubt. Aber was sie selber auch empfand, wie hart ihr Verstand und ihr Ehrgefühl sie verurtheilten, wie tief sie sich erniedrigt fühlte, den Eltern mußte und wollte sie zu bleiben suchen, was sie ihnen gewesen war: ihr Stolz und ihre Freude. Sie mußte schweigen, sie mußte die Wiederkehr einer Ruhe heucheln, nach der sie vergebens rang, mit der sie die Eltern doch nicht völlig täuschte, und Heucheln fiel ihr schwer. Sie sah es, daß die feinen Furchen um ihres Vaters Mund und auf seiner Stirn tiefer geworden waren, seit seine Tochter ihm nicht mehr fröhlich wie in vergangenen Tagen entgegen kam. Es entging ihr nicht, wie sorglich die Blicke der Mutter auf ihr ruhten, wie ängstlich die Eltern danach spähten, einen Strahl der alten Lebenslust in der Seele ihres Kindes zu entdecken; sie hätte sie selber suchen, finden mögen, neuen Muth und neues Wollen und Streben; aber woher sollten sie ihr kommen in dem Gefühle ihrer Erniedrigung und Herzgebrochenheit?

Traurig, den Kopf auf die schmale, weiße Hand gestützt, saß sie eines Abends an dem Fenster ihrer Stube. Draußen war das Wetter schlecht. Es war noch früh im Jahre, ein kalter Wind jagte den Regen schräg durch die Luft und warf ihn klatschend zur Erde. In den großen Lachen spiegelten sich die Lichter der Laternen, welche die Leute, die unter ihren Schirmen in das Theater gingen, sich vortragen ließen. Es [386] war eine Schauspieler-Gesellschaft angekommen, welche für einige Monate Vorstellungen geben sollte und dieselben gestern mit der Aufführung von Schiller's »Fiesco« begonnen hatte. Kein Gebildeter hatte bei diesem Anlaß fehlen dürfen, auch Seba hatte der Darstellung beigewohnt, und Verrina's: »Was that jener eisgraue Römer, als man seine Tochter auch so – wie nenn' ich's nur – auch so artig fand?« lag noch schwer auf ihrer Seele.

Sie war von Herzen traurig, sie konnte nicht deutlich denken, nur daß sie müde, bis zum Tode leidensmüde sei, das fühlte sie mit dumpfer Schwere. Sie hatte keinen religiösen Glauben, an dem sie sich erheben, keine Kirche, in der sie beten konnte, denn der Cultus, dem sie durch ihre Geburt angehörte, war ihr fremd geblieben; sie hatte keinen verschwiegenen Beichtvater, dem sie sich anvertrauen konnte, sie hatte keinen Erlöser, an den sie sich wenden konnte. Sie war ganz allein, ohne eine Stütze, ohne einen anderen Halt, allein mit der unverbrüchlichen Wahrhaftigkeit des eigenen Gewissens, die ihr sagte, daß sie gefehlt, daß sie sich entehrt habe vor den Menschen und mehr noch vor sich selber, und daß kein fremder Trost und keine fremde Hülfe von ihr nehmen könne, was sie selber auf sich geladen hatte.

Paul, der auch an diesem Abende wie gewöhnlich herunter gekommen war, um seine Freundin zu besuchen, hatte sich allmählich daran gewöhnt, ihr schweigend Gesellschaft zu leisten. Eine geraume Zeit sah der große, schlanke Knabe geduldig zu, wie auf der Straße die Lichter flackerten und wie die Leute mit dem Winde kämpften. Endlich mochte er dessen überdrüssig sein, denn sich zu Seba wendend, bat er: Sprich doch mit mir!

Sie überhörte es. Er wartete wieder eine Weile, ob sie sich nicht mit ihm beschäftigen würde, dann sagte er ganz plötzlich: Seba, Du wirst Dich gewiß auch noch einmal ins Wasser stürzen!

[387] Sie fuhr entsetzt empor. Wer hat Dir das gesagt? rief sie, indem sie ihn bei den Händen erfaßte.

Ihre Stimme klang ihm fremd, und so gewaltsam hatte sie ihn niemals angefaßt. Er fürchtete sich vor ihr. Laß mich los, rief er erschreckend, laß mich los!

Sie beachtete es nicht. Wer hat Dir das gesagt? wiederholte sie.

Ich sehe es ja! gab er ihr zur Antwort.

Was denn? Was siehst Du denn? drängte ihn Seba, der das Herz fast hörbar klopfte; denn das schweigende Leiden unter lächelnder Miene hatte sie erschöpft, und schwarze, unklare Gedanken waren in ihr aufgetaucht, als unten in der Straße das Wasser in den Lachen so gezittert und geglänzt. Eine schmerzliche Sehnsucht hatte sie ergriffen und an ihrem Herzen gezogen. Sie hätte fortgehen mögen, fort von Vater und Mutter, weit fort, um einmal in einsamer Ferne ihre bitteren Thränen laut zu weinen und dann endlich nichts mehr fühlen zu dürfen und all des Elendes ledig zu werden, mit Einem Male für immerdar.

Was siehst Du? wiederholte Seba noch einmal, und ihre milder gewordene Stimme löste des erschreckten Knaben Lippen.

Du sitzest immer grade so still wie meine Mutter, sagte er, und weinst immer wie sie, Du wirst Dich auch noch wie sie ins Wasser stürzen!

Seba schlug die Hände vor dem Gesichte zusammen, sie erschrak vor sich und ihren eigenen Gedanken; des Knaben Worte hatten sie zur Besinnung gebracht. Ein heißes Mitleid für die Todte mischte sich in Seba's Schmerz um das eigene Geschick, und Mitleid ist Befreiung; denn wer Theilnahme für einen Andern zu empfinden vermag, reicht wenigstens in dem Momente über die eigene Noth hinaus. Die Thränen schossen ihr in die Augen, indeß diese Thränen thaten ihr nicht so [388] wehe, als die unzähligen andern, welche sie seit der Unglücksstunde bis auf diesen Tag vergossen. Und mitten in ihrer Hülfslosigkeit zuckte zum ersten Male der Gedanke in ihr auf, daß sie sich erlösen müsse, wenn sie nicht ihr Leben enden wolle; daß sie wählen müsse zwischen Selbstvernichtung und Selbsterhaltung durch ein klar bewußtes Thun, durch Selbsterhebung und durch Selbsterlösung.

Sie konnte Geschehenes nicht ungeschehen machen, sie konnte ihre reine, schuldlose Vergangenheit nicht wieder erwecken, sie konnte Paulinen nicht mehr helfen; aber sich selber konnte sie helfen, und Paulinen's Sohn war da! Sie und dieser Knabe, Seba und Paul, sie gehörten zu einander, das war die Vorstellung, die ihr wie ein neues Licht entgegenstrahlte. Er war ein Verstoßener, einer Verstoßenen und Verlassenen Sohn, und war sie doch auch entehrt und verrathen und wie seine Mutter verlassen worden.

Sie hatte es bisher stets vermieden, mit ihm von seiner Mutter und von seinen Erinnerungen zu sprechen. Heute fragte sie ihn, was er von seiner Mutter wisse. – Er hatte ein klares Gedächtniß von dem letzten Gange mit ihr bewahrt; er erinnerte sich ihres Hauses, seiner Heimath, des Wagens, in welchem der Baron zu kommen gewohnt war, und er wußte, daß der Baron von Arten sein Vater sei. Aber mit der Festigkeit, welche frühreife Kinder oftmals auszeichnet, hatte er, nachdem der Zufall ihm einmal einen Theil seines Wissens entlockt, wieder geschwiegen bis auf diese Stunde. Auch des Augenblickes entsann er sich, da er die Kunde von dem Tode seiner Mutter erhalten hatte.

Ich weiß es noch sehr gut, sagte er, wie ich aufwachte und die Stube voller Menschen war. Sie schrieen alle, die Mutter sei ins Wasser gestürzt, und die Magd, welche bei uns [389] diente, hielt meiner Mutter Tuch und meiner Mutter Schuhe in der Hand und weinte.

Seba schauerte zusammen. Was sollte aus ihr werden, wenn sie es nicht vermochte, mit sich selber fertig zu werden, mit ihrer Schuld, mit ihrem Unglücke? Wenn sie sich in grübelnder Verzweiflung auf dem Wege gehen ließ, auf welchem sie sich eben angetroffen? Was sollte aus ihren Eltern werden, wenn die Leute einmal in ihr Zimmer träten, ihnen des einzigen Kindes Tuch und Schuhe vorzuzeigen?

Nein, nein, niemals! rief sie voll Entsetzen aus und umschlang den Knaben, als müsse sie sich an sein blühendes Leben halten, um sicher vor dem Tode zu sein. Ich will nicht untergehen, ich will und werde nicht zu Grunde gehen! Ich will leben bleiben, Paul! Ich bleibe bei Dir und bei meinen Eltern, bei meinen guten, armen Eltern, lieber Paul!

Sie weinte bitterlich und weinte lange. Paul, wie alle Kinder von der Rührung eines Erwachsenen leicht überwältigt, weinte mit ihr. Er hielt sie mit seinen Armen umfaßt, und es war ihr, als löse sich das pressende Band von ihrer Stirn, als schmelze das starre Eis in ihrem Herzen und als durchziehe eine milde Wärme ihre Brust. Ihre Thränen hörten zu fließen auf, auch sie umfaßte den Knaben zärtlich, und ihn an sich drückend, sagte sie: Paul, habe mich doch lieb!

Ja, antwortete er ihr ernsthaft.

Und wir wollen recht gut sein, Paul!

Ja, entgegnete er ihr wieder.

Und meinen Eltern wollen wir rechte Freude machen! Hörst Du, rechte Freude, Paul! Und hier in meiner Stube wollen wir uns immer von Deiner Mutter erzählen, und Du mußt recht brav werden, Paul! Ich will Dich auch so lieb haben, wie Deine Mutter, ich will Deine Mutter sein, Paul! rief sie, und es kamen Kraft und Freude in ihre Stimme bei [390] den Worten. Ich will Deine Mutter sein, Paul, und Du sollst mein Sohn sein, das heilige Vermächtniß Deiner armen Mutter! wiederholte sie.

Kommen wir dann auch in das Schloß und in den Park? fiel ihr der Knabe in die Rede, der sich nach Kinderweise schnell erheiterte und dadurch auf die angenehmen Vorstellungen verfiel, welche ihn im Stillen oftmals beschäftigt haben mochten.

Nein, entgegnete sie, indem sie traurig auf ihn niederblickte, nie! Wir kommen beide nicht hinein, nicht Du, nicht ich! Aber leben wollen wir bleiben, leben will ich bleiben für die Eltern und für Dich! – Leben! rief sie noch einmal, tief Athem schöpfend, indem sie sich emporrichtete; leben und lieben, helfen und retten, und auch mich selbst erretten will ich!

[391]
11. Capitel
Eilftes Capitel

Das Zerwürfniß zwischen dem Präsidenten und seiner Freundin war ein unheilbares geblieben, aber die Kriegsräthin hörte, als eine kluge Frau, bald auf, dies zu beklagen. Sie behauptete, in ihres Mannes Freundschaft Ersatz zu finden, und die Leute waren geneigt, ihr dies zu glauben. Sie erschien nicht mehr so oft allein in der Gesellschaft und an öffentlichen Orten, Herr Weißenbach verlegte sein Arbeitszimmer neben ihre Wohnstube, und wenn er sich gegen Herrn Flies auch häufig darüber beschwerte, daß es ihm gar zu viel Zeit und Geld koste, beständig den Begleiter seiner Frau zu machen, so mußte er doch seine Gründe haben, sie nicht mehr wie früher sich selber zu überlassen.

Im Uebrigen änderte das Fortbleiben des Präsidenten in der Lebensweise der Familie nichts, bis kurz vor dem Herannahen eines neuen Jahres der Kriegsrath einmal eine lange und geheime Unterredung mit seinem Hausherrn gepflogen hatte. Was dabei verhandelt worden war, darüber sprachen beide nicht; es fiel aber den Freunden der Kriegsräthin auf, daß sie von Neujahr ab ein paar Zimmer ihrer Wohnung an den Architekten überließ, den sie in der Familie ihres Wirthes kennen gelernt hatte.

Jeder, der es von ihr hören wollte, konnte jetzt von der Kriegsräthin vernehmen, wie erwünscht die Gesellschaft eines Mannes von Herbert's Namen und Bildung ihr für ihre stille [392] Häuslichkeit dünke; aber sie war jetzt eben so wenig als früher in der Lage, sich den Anforderungen ihrer weit verbreiteten Geselligkeit zu entziehen, und Herbert hatte es auch nicht auf den Umgang mit der schönen Laura abgesehen, als er sich für die Wohnung entschied, welche sie zu vermiethen wünschte.

Seit er, bei seinem ersten Verweilen in der Familie Flies, Seba's Zusammenbrechen bei der Erwähnung der sündhaften Wette des Grafen Berka erlebt, hatte sich Herbert überzeugt gehalten, daß sie selbst der unglückliche Gegenstand jener Wette gewesen sei. Er war bald wieder in das Haus gekommen, sich, wie die Höflichkeit es forderte, nach ihrem Ergehen zu erkundigen, und ihr tiefes, stilles Seelenleid hatte ihr sein männliches Mitleid gewonnen. Fern von jener Neugier, die für den Leidenden so quälend ist, weil sie für ihn die Nothwendigkeit der Selbstbeherrschung steigert, behandelte er sie mit der Voraussetzung, daß sie unglücklich sei, und die vorsichtige Weise, mit der er ihrem trüben Sinne hier und da eine freundliche Vorstellung unterzuschieben wußte, bot ihr durch eine lange Zeit das einzige Labsal, für das sie empfänglich war. Er muthete ihr nicht zu, sich des eigenen Daseins zu erfreuen, er verlangte niemals, daß sie von sich spreche; aber er erzählte ihr von seinen Reisen, von seinen Erlebnissen, von seinem Aufenthalte auf Schloß Richten und in Rothenfeld; und, herzenskundig durch den eigenen Schmerz, errieth sie, was er ihr nur zögernd anvertraute: den Zwiespalt, unter dem er sich zwischen der Gräfin und Eva bewegt, die Kränkung, welche er erfahren hatte, und die Ueberwindung, die es ihn jetzt kostete, so oft er nach Richten gehen mußte. Daß er nicht völlig mit sich einig, daß auch er noch ein in seiner Entwicklung Begriffener war, machte ihn Seba nur noch werther. Wenn sie ihn ermuthigte, sprach sie sich selber damit Muth ein; wenn sie sich gelegentlich zu erheitern strebte, erheiterte dieses Bestreben sie selbst, und wenn [393] sie, erhoben von dem Gedanken, daß sie einem Andern, einem edlen jungen Manne doch noch etwas zu leisten und zu sein vermöge, sich einmal freier gehen ließ, so ward er für seinen selbstlosen Antheil an ihr, durch den Einblick in ein liebevolles, reiches Herz belohnt, das glücklich zu sein verdiente und sich doch des Rechtes, es jemals zu werden, für verlustig hielt.

Wie man nach langer, schwerer Krankheit mit Rührung aufs Neue ins Leben tritt und mit zagendem Erstaunen wieder die ersten Schritte wagt, so bewegt fühlte sich Seba, nachdem sie zu dem Entschlusse gelangt war, sich aufzurichten, um ihrer Eltern, um des fremden Knaben willen. Alles erschien ihr neu. Die Zärtlichkeit ihrer Eltern dünkte ihr größer, als je zuvor, denn sie nannte sie ein unverdientes Glück, dessen sie sich würdig machen müsse. Sie erschrak vor der langen Reihe von Tagen, die sie in ihrem dumpfen Schmerze verloren; sie hatte sie den Eltern entzogen und mußte diese dafür entschädigen. Jede Stunde wurde ihr werth, jeder Tag kostbar, denn es galt, eine Schuld der Dankbarkeit zu zahlen, Liebespflichten zu erfüllen und dem Lebenszwecke zu genügen, den sie sich in der Erziehung Paul's gestellt hatte.

Wenn die Mutter ihre Freude darüber aussprach, daß der Blick der Tochter sich erhelle, wenn der Vater es mit Genugthuung bemerkte, daß sie sich wieder mit erhöhtem Eifer ihren früheren Beschäftigungen und Studien überließ, und wenn beide geneigt waren, diese glückliche Wandlung auf Herbert's Einfluß zu schieben, so pflegte Seba Paul an sich heranzuziehen und mit ihrem schwermüthigen Lächeln freundlich zu sagen: Ich weiß wohl, wie viel Ermunterung ich Herbert schulde, aber daß ich für dieselbe empfänglich geworden bin, das danke ich dem Paul. Ich habe ihn an Kindesstatt angenommen und er muß doch ein gutes Beispiel an mir haben! Man nahm das für einen Scherz, freute sich, daß Seba wieder scherzen mochte, [394] und hinderte sie nicht, den Knaben so viel als möglich in ihrer Nähe zu haben, der still und ernsthaft, wie er sich von Anfang an erwiesen, zwischen seiner Beschützerin und ihrem Freunde Herbert heranwuchs.

Er war keines der Kinder, die durch geistreiche Einfälle überraschen, durch lebhafte Gefühlsäußerungen für sich einnehmen, aber er beobachtete scharf, und weil er in dem Hause seiner Pflegeeltern niemals eine besondere Anregung zum Aussprechen seiner Gedanken erhalten, hatte er schweigen, sich beherrschen und seine Eindrücke in sich festhalten gelernt. Ohne ein Wort davon kund zu geben, ohne danach zu fragen, hatte er sich auf seine Art eine eigene Vorstellung davon gebildet, daß eine Aehnlichkeit zwischen dem Schicksale seiner Mutter und dem Schicksale Seba's obwalte, daß Graf Berka Seba eben so unglücklich gemacht habe, als der Freiherr von Arten seine Mutter, und wenn er auch nicht völlig verstand, was seine Beschützerin damit meinte, daß sie ihm ihre Wiederherstellung verdanke, so wußte er doch, daß seine Liebe ihr wohlthue, daß er die Macht habe, ihr Freude zu bereiten, und daß er Niemanden lieber habe, als sie.

Er war fleißig, weil Seba ihn dann belobte; er lernte die lebenden Sprachen gern und schnell, weil sie ihn darin unterrichtete, und unmerklich, wie unser ganzes Denken und Thun auf die Kinderseelen einwirkt, prägten sich ihm die Vorstellungen und die Anschauungsweise der Personen ein, denen er seine Liebe zugewendet hatte.

Er hörte in der jüdischen Familie über die Vorurtheile klagen, welche die Menschen von einander halten, er hörte den Hochmuth und die Anmaßungen des Adels, die hohlen Ansprüche der Beamtenwelt, die Unduldsamkeit der verschiedenen Culte gegen einander bald bedauern, bald tadeln und verspotten, und seine eigenen kleinen Erlebnisse boten ihm Beweise und [395] Erklärungen für die Grundsätze, welche er ohne das vielleicht nicht verstanden haben würde. Der Kriegsrath und seine Frau, wie freundlich sie der Flies'schen Familie begegneten, sprachen doch immer mit einer gewissen Geringschätzung von ihrem Wirthe, weil er ein Jude und nur ein Kaufmann war; aber was der Knabe sah und hörte, fiel Alles zu Gunsten dieses Juden und seiner Familie aus. Oben bei seinen Pflegeeltern hatte Alles ein doppeltes Gesicht, unten bei den Juden blieben die Dinge sich immer gleich. Der Kriegsrath und Laura waren im Beisein dritter Personen lauter Güte und Freundlichkeit mit einander; befanden sie sich allein, so sprach Herr Weißenbach nur selten mit seiner Frau, und es gab Mißhelligkeiten und Verdruß von allen Arten. Weil man vor den Leuten den Aufwand zeigen wollte, der einer angesehenen Beamtenfamilie zukam, sparte und geizte man, wo Andere es nicht sahen, und während man überall von Menschenpflichten und christlicher Liebe sprach, war man für die Aufrechthaltung des äußeren Anstandes jedes Thalers und Groschens so benöthigt, daß man dem Nothleidenden beizuspringen sich versagen mußte.

Der Kriegsrath litt von diesen Zuständen ganz unverkennbar. Er klagte, daß Alles theurer werde, ohne daß die Einnahmen des Beamten sich vergrößerten; er wollte, daß sich Laura die gewohnten Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten versagte, und doch sah er selber es nicht gern, wenn sie weniger wohl gekleidet, weniger heiter schien, wenn den Standesgenossen und Collegen nicht die frühere Gastfreiheit bewiesen wurde. Was sollten sie von seiner Lage denken, wenn er bei gleichen äußeren Umständen nicht die gleichen Lebensgewohnheiten aufrecht erhielt? Paul hörte ihn oftmals sagen, daß derjenige glücklich sei, welcher nur nach seinem eigenen Ermessen leben könne, der nicht zu überlegen brauche, wie Vorgesetzte und [396] Collegen sein Thun und Treiben ansähen, und unwillkürlich, wenn der Kriegsrath dem Knaben Mitleid mit seinen Sorgen einflößte, dachte der Knabe, daß er niemals ein Beamter werden wolle, um thun und lassen zu können, was er wolle, und sich um Niemanden kehren zu dürfen, wie Herr Flies.

Unfähig, in seinem Urtheile das Besondere von dem Allgemeinen verständig zu sondern, faßte er doch seine Meinung über die üble Lage der Beamten und über das beneidenswerthe Loos des Kaufmanns; denn in gleichem Grade, wie bei seinen Pflegeeltern die heimlichen Verlegenheiten und Entbehrungen wuchsen, gedieh durch die Handelsspeculationen des Vaters Alles in dem Flies'schen Hause.

Das Nothwendige war im Ueberfluß vorhanden, alles Erwünschte konnte man sich bereiten und schaffen. Die liebevolle Sorgfalt, mit welcher die Eheleute einander begegneten, wurde nur von der Hingebung der Tochter für die Eltern übertroffen. Die alten Dienstboten, die Comptoir-Gehülfen waren wohl gehalten, kein Armer, kein Hülfsbedürftiger ging ungetröstet von dannen, und doch waren diese Menschen, die das Gute thaten, wo sie irgend konnten, keine guten Protestanten, keine Christen, wie seine Pflegeeltern; doch hatten sie kein Amt, kein Ansehen vor der Welt, trotzdem die Personen, welche als Freunde ihr Haus besuchten, sie achteten und liebten, und Viele, die er in herablassender Vornehmheit von Herrn Flies sprechen hören, sich heimlich Rath und Hülfe suchend an denselben wendeten.

Bei seinen Pflegeeltern urtheilte man wegwerfend über die Juden, mißtrauisch und widerwillig über die Katholiken, und bei seinen Freunden lächelte man über die Wunder, welche der Knabe in der Schule als Glaubenssätze hinzunehmen hatte. Niemand ließ es sich besonders angelegen sein, in ihm die dem Menschengeiste innewohnende Folgerichtigkeit des Denkens und [397] Schließens zu Gunsten der uralten Mythen und der phantastischen Ueberlieferungen zu beschränken oder zu verwirren, aus denen sich das äußere Gewand aller positiven Religionen zusammensetzt. Er hörte, daß sein Vater katholisch sei, auch der Herr Caplan, der sich im Verlaufe der Jahre ein paar Mal nach ihm erkundigen gekommen, war ein Katholik, seine Pflegeeltern waren Protestanten, die ihm liebsten Menschen, Seba und ihre Eltern, waren Juden, und Einer wie der Andere sprach geringschätzend von dem Glauben, zu dem er sich nicht selbst bekannte. Das zerstörte in dem Knaben unmerklich aber sicher das eigentliche Glaubensvermögen, und die hingeworfene Aeußerung der Kriegsräthin, daß der Herr Caplan wohl daran denken möge, Paul einmal katholisch zu machen, da er ja auch die Frau Baronin bekehrt habe, brachte diesem frühzeitig den Begriff bei, daß die Religion dem Menschen nicht angeboren, nicht unzertrennlich Eins mit ihm sei, sondern daß man sie wählen oder wechseln könne. Sie däuchte ihm wie ein Stand, wie ein Beruf zu sein, den man sich erwähle, und da Kinder leicht von den Zufälligkeiten des einzelnen Falles allgemeine Folgerungen ziehen, überraschte Paul eines Tages Seba und ihren Freund mit der plötzlich ausgesprochenen Erklärung, daß er nicht katholisch, sondern ein Jude werden wolle.

Man sah ihn verwundert an und lachte über ihn, wie man über Kinder zu lachen pflegt, wenn man sich nicht die Mühe nehmen will, ihren Aeußerungen nachzudenken; aber Paul wiederholte seine Erklärung so bestimmt, daß Herbert, der um Seba's willen sich ihm zugewendet hatte, die Frage an ihn richtete, wie er darauf komme.

Sie sagen ja, daß Sie wieder nach Richten fahren werden, da sollen Sie es dem Herrn Caplan bestellen, daß ich nicht katholisch werden will! erklärte der Knabe.

Aber weßhalb denn nicht? fragte Herbert scherzend.

[398] Paul besann sich. Weil – hob er an, brach dann ab und sagte, als finde er nicht für gut, seine Gründe anzugeben, kurz und trocken: Ich will ein Kaufmann werden wie Dein Vater, Seba. Der ist gut zu Deiner Mutter und behält Dich bei sich!

Herbert und Seba verstanden beide die lange Gedankenreihe, welche sich hinter den Worten des Knaben verbarg und in der sich Richtiges und Falsches, scharfe Schlüsse und auffallende Begriffsverwechslungen mit einander nach Kinderart vermischten; aber Herbert meinte, es sei nicht der übelste Gedanke, auf welchen der Knabe verfalle, wenn er Kaufmann werden wolle. Seba wendete ein, daß der Herr Caplan einmal geäußert, Paul solle, wenn er erwachsen sei, die Rechte studiren, da man ihn für den Staatsdienst bestimme; Herbert jedoch legte darauf kein Gewicht.

Der Herr Caplan wird nicht ewig leben, sagte er; und was dann?

Seba antwortete ihm leise; auch Herbert's Gegenrede wurde so leise gegeben, daß der Knabe fühlte, man wolle sie ihm entziehen; indeß er hatte doch einzelne Worte vernommen, und diese reichten hin, ihn in der Voraussetzung zu bestärken, daß sein Vater sich nicht eben um ihn sorge, da in Schloß Richten Jedermann vollauf mit sich selbst zu thun habe.

Am nämlichen Abende, als Seba sich mit dem Knaben allein befand, fragte er sie, was sie wohl thun würde, wenn ihr Vater sie nicht mehr liebte.

Ich würde mich bemühen, seine Liebe zu verdienen! gab sie ihm zur Antwort.

Ja, wenn Du bei ihm wärest! meinte er; aber wenn man nicht bei seinem Vater ist?

Dann würde ich suchen, mich so tüchtig und so brav zu machen, daß er stolz auf mich werden und mich zu sich rufen müßte!

[399] Der Knabe hatte jedoch offenbar einen anderen Bescheid erwartet, denn er blickte sie unbefriedigt an, als wisse er sich nicht zu helfen, bis er nach einer Weile, sichtlich beruhigt durch die Lösung, welche er in sich gefunden hatte, achselzuckend sagte: Freilich, Du bist auch nur ein Mädchen, Du kannst nicht in die weite Welt gehen!

Sie mochte das absichtlich gar nicht weiter berühren, denn je mehr Paul heranwuchs, um so lebhafter entwickelte sich seine Phantasie, und was diese erschaffen hatte, dessen bemächtigte sich die schweigende Beharrlichkeit des Knaben und spann es aus und hielt es fest, bis man bei irgend einem zufälligen Anlasse es gewahrte, daß er wieder eine neue und feste Vorstellung gewonnen, einen eigenen Gedanken gefaßt habe. Jeder selbstgewonnene Gedanke ist aber eine Stufe zu der Selbständigkeit, durch welche das Kind sich von seinem Ursprunge ablöst, um sich als gesonderte Persönlichkeit in die Gesammtheit einzureihen und in derselben zu behaupten.

Es ist schwer zu bemerken, dieses allmähliche Aufsteigen zur Selbständigkeit, schwerer noch, anzugeben, durch welche unscheinbaren Mittel und Anstöße es gefördert und geleitet wird. Es waltet auch hier, wie über allem Werden ein Geheimniß, das sich in dem Einen langsam, in dem Andern plötzlich enthüllt, so daß wir bisweilen staunend da stehen und uns fragen: Ist dies dasselbe Wesen, das wir kannten? Ist dies der Knabe, der Jüngling, der noch gestern vor uns stand? Wir glauben ein Wunder zu sehen, weil wir nicht beobachtet, nicht verstanden haben, was geschah; und nicht nur an Anderen, auch an sich selber glaubt man solche Räthsel, solche Wunder zu erleben, wenn man aus irgend einem Grunde sein Herz nicht prüfen, wenn man nicht untersuchen mag, was man fühlt und denkt.

[400]
12. Capitel
Zwölftes Capitel

In der Lage, eine ernste Selbstprüfung zu scheuen, befand die Baronin von Arten sich seit langer Zeit. Sie war nicht wieder Herr über sich selbst geworden, seit sie es sich und der Herzogin eingestanden, daß sie Herbert liebe, und seit dieser vollends durch ihre Schuld das Schloß verlassen hatte, konnte sie nicht mehr zur Ruhe kommen.

Getheilt zwischen ihrem Pflichtgefühl und zwischen der Leidenschaft einer ersten Liebe, die um so stärker in ihr brannte, als sie nicht in dem blöden Herzen eines Mädchens, sondern in der vollbewußten Seele einer reifen Frau entstanden war, eben so bange vor der Hoffnung, geliebt zu werden, als vor der Besorgniß, ihre Liebe nicht erwiedert zu finden, suchte sie Anfangs Trost in dem Rathe des bewährten Freundes, des Caplans; aber ihr eigener aufgeregter Sinn und der Einfluß der Herzogin hatten auch Angelika's Verhältniß zu ihrem Beichtiger angetastet und getrübt.

Wenn der Caplan ihr bewies, daß die Entfernung Herbert's nothwendig gewesen sei, sofern sie nicht habe eidbrüchig werden wollen, so konnte er bemerken, wie sich statt der Reue über ihre Liebe eine Empörung gegen ihre Ehe in ihr erhob und wie sie sich jetzt mit einer gewissen Befriedigung der Vergangenheit und der Abenteuer ihres Gatten erinnerte, um in ihnen eine Beschönigung für ihr eigenes schwankendes Herz zu finden. Alles, was der Geistliche ihr zu bedenken gab, wurde [401] mit der Herzogin durchgesprochen, und da die Frauen trotz der großen Verschwiegenheit, deren sie fähig sind, in ihrem Vertrauen keine Grenze kennen, wenn sie den ersten Verrath an ihrem eigenen Geheimniß begangen, so erfuhr die Herzogin nicht nur Alles, was Angelika wollte und wünschte, hoffte und fürchtete, sondern auch Alles, was zwischen ihr und ihrem Beichtiger geschehen war und geschah. Selbst das stille, heilige Geheimniß seines Herzens, welches er der Baronin einst als Zeichen seines Glaubens an sie enthüllt, wurde der Herzogin Preis gegeben und von ihr gegen den Caplan benutzt.

Sie tadelte ihn nicht, im Gegentheil, sie lobte, sie bewunderte seine Entsagung, aber sie beklagte es, daß sein Leben nicht reicher, seine Erfahrung nicht ausgebreiteter gewesen, daß er immer in den engen Kreis der freiherrlichen Familie gebannt geblieben sei. Sie nannte es ein Unglück, daß er auf diese Weise nicht habe begreifen lernen, wie es nicht Jedem gegeben sei, seinen Frieden auf die gleiche Weise zu finden, auf die gleiche Weise zum Abschlusse zu kommen, und sie erinnerte daran, daß es leichter sei, sich von einer sterbenden Heiligen loszureißen, deren achten der Liebe man sich sicher fühle, als von einem Manne, dem man in der Absicht, sich selbst zu erretten, eine Beleidigung zugefügt habe.

Für einen irregeleiteten Sinn giebt es aber nichts Gefährlicheres, als einen falschen Freund, der ausspricht, was man sich nicht einzugestehen wagt, der vorschlägt, was man heimlich ersehnt, und der dadurch in demselben Grade an Herrschaft über den verblendeten Menschen gewinnt, wie dieser sie über sich verliert. Der Einfluß der Herzogin gründete sich auf Angelika's Liebe, an deren Entstehung jene weit mehr Antheil hatte, als die Baronin es für möglich erachtet haben würde. Diese Liebe und das aus ihr entspringende Schuldbewußtsein mußten also erhalten, mußten gesteigert werden, wollte die Herzogin ihre [402] Herrschaft bewahren. Sie wurde überflüssig, wenn Angelika zum Frieden mit sich selbst gelangte; ihre Macht in der freiherrlichen Familie wurde größer, wenn es ihr gelang, Angelika und Herbert einander näher zu bringen und dem Freiherrn auch nur den leisesten Zweifel an der unverbrüchlichen Tugend seiner Gattin einzuflößen.

Die Herzogin hatte es daher seiner Zeit kaum bemerkt, daß Angelika die Härte bedauerte, mit welcher sie Herbert von sich aus und aus ihrer Gesellschaft entfernt, und daß sie ihn wiederzusehen, ihm die Kränkung zu vergüten wünschte, die sie ihm zugefügt, so war sie auch schnell bereit, den Fehler ungeschehen zu machen, den sie mit ihrem ersten Rathschlusse begangen zu haben fühlte. Sie gestand der Baronin, daß sie sich über die Stärke ihrer Leidenschaft getäuscht, daß sie gehofft habe, eine kurze Entfernung werde genügen, das Bild des jungen Mannes in der Phantasie der Baronin erbleichen zu lassen, und wie sie derselben jetzt keinen anderen Weg zu rathen wisse, als sich nun durch ein völliges und rückhaltloses Aussprechen mit Herbert, wozu ihr bei der nächsten Anwesenheit des jungen Mannes die Gelegenheit nicht fehlen könne, die nothwendige Befreiung ihres Herzens zu bereiten.

Diese Vorstellung schmeichelte dem verschwiegenen Wunsche der liebenden Frau, und die Aussicht, Herbert wiederzusehen, nahm ihre ganze Seele gefangen. Indeß Angelika war es noch nicht gewohnt, sich in Zwiespalt mit sich und ihrem Gewissen zu finden, und wenn sie es sich eben mit aller Kraft ihres Herzens ausgemalt hatte, was sie alles Herbert sagen, was sie dabei empfinden, was er ihr antworten werde, so warf ein Blick auf ihren Sohn sie in die lebhafteste Reue zurück und sie fühlte sich unfähig, ihrem Gatten zu begegnen oder ihre Stirne vor dem sanften sorgenvollen Auge ihres geistlichen Berathers zu erheben.

[403] Ihre Liebe steigerte sich an ihrem innern Kampfe, und Herbert zögerte, zu kommen. In jeder Woche, an jedem Tage durfte man auf seine Ankunft rechnen, denn die Zeit der Arbeitseinstellung nahte für dieses Jahr heran, und auch der Amtmann hatte Gründe, dieselbe lebhaft zu ersehnen.

Endlich, gegen das Ende des October, traf Herbert an einem Morgen im Amthause ein, und ritt am Nachmittage, als er den Bau in allen seinen Theilen besichtigt, nach Richten hinüber. Es war eine sehr quälende Empfindung, mit welcher er das Schloß betrat. Man sagte ihm, daß Besuch im Hause sei; er ließ sich melden, wurde angenommen, und heiter und zutraulich wie in den besten Tagen kam der Freiherr ihm entgegen. Er hatte ein paar Edelleute bei sich, denen er Herbert als einen sehr verdienten jungen Künstler vorstellte, als den Sohn eines Freundes, an dem er also doppelt Theil nehme.

Der Freiherr legte dabei jene bequemen weltmännischen Manieren an den Tag, die ihn so vortrefflich kleideten, aber sie machten auf Herbert nicht mehr den wohlthuenden Eindruck wie sonst, sie beleidigten ihn vielmehr. Er fühlte, daß diese liebenswürdige Herablassung nur eine Schaustellung sei, in welcher der Freiherr sich vor seinen Gästen gefiel, und er sagte sich, daß er ihn selbst mit seiner Freundlichkeit beleidige, da er, indem er sich es erlaube, ihn nach seiner jedesmaligen Neigung zu behandeln, das Rechtsverhältniß zwischen ihnen aufhebe, nach welchem jeder rechtschaffene Mensch von den Personen, mit denen er verkehrt, vor allen Dingen die ihm gebührende gleichmäßige Behandlung zu verlangen habe.

Der Freiherr führte Herbert darauf in sein Arbeits-Cabinet, das Geschäftliche wurde mit gewohnter Leichtigkeit behandelt, es war auch gelegentlich von dem Baue des Pavillons oder Tempels wieder die Rede, und Herbert, der jetzt eben so viel Scheu davor trug, der Baronin zu begegnen, als er in früheren Tagen [404] Verlangen gehegt, sie in dieses Zimmer treten zu sehen, wußte den Gang der Verhandlungen noch zu beschleunigen. Mehrmals glaubte er jenes Rauschen eines seidenen Kleides zu vernehmen, welches ihm sonst das Herz bewegt hatte. Aber Niemand erschien; und als er auf des Freiherrn Worte, daß er ihn morgen wiederzusehen hoffe, daß er ihn morgen zur Mittagstafel erwarte, nothwendige Geschäfte vorgab, die ihn in der nächsten Frühe abzureisen nöthigten, nahm Jener das an, ohne ihm für den gegenwärtigen Tag eine Einladung zu machen, und entließ ihn freundlich, aber eilig.

Es ward Herbert erst wieder frei ums Herz, als er das Portal des Schlosses hinter sich hatte und als er, durch den kalten, windigen Nachmittag den wohlbekannten Weg nach Rothenfeld zurückreitend, die Rauchsäule aus dem breiten Schornstein des Amthauses über die dasselbe umgebenden Bäume emporwirbeln sah.

Die Sonne war im Untergehen, als er den Hof erreichte. Einer der Knechte nahm ihm das Pferd ab. Als er zu ebener Erde in die bereits geheizte Stube trat, fand er sie leer. Er setzte sich an das Fenster, in welches die helle Gluth des Abendrothes hineinstrahlte. Draußen fuhr ein vierspänniger Wagen, mit einem gewaltigen Eichenstamme beladen, langsam in den Hof, während die letzten Schläge der Dreschenden auf der Tenne verklangen, und die Krähen in wählerisch kreisendem Fluge ihr Nachtquartier auf den Dächern der Scheunen und Ställe aufsuchten. Er sah, wie man die Pferde von dem Wagen abspannte, wie man sie in die Ställe führte, wie die Thüren der Scheunen geschlossen wurden, wie die Arbeiter einer nach dem andern sich entfernten und wie die Gluth und Farbenpracht des Himmels erloschen, und in die Dämmerung versanken. Das milde Zwielicht, die Wärme des Zimmers, das bekannte Ticken der alten Uhr, das vom Flur hereintönte, waren ihm [405] äußerst angenehm. Er wußte, daß seines Bleibens auch hier nicht sei, aber er fühlte seinen aufgeregten Sinn von dieser Umgebung, in welcher Alles von der ruhigen Dauer eingewohnter Zustände Kunde gab, angenehm besänftigt.

Was denken Sie? fragte ihn Eva, als sie, das große Schlüsselbund am Gürtel, in das Zimmer trat und in der Nähe des Ofens die Hände gegen einander rieb, die ihr beim Schaffen in Küche und Kammer kalt geworden waren.

Ich denke, wie heimisch ich hier bin!

Heimisch? wiederholte sie; und das fällt Ihnen heute ein, da Sie eben so lange von uns fort gewesen sind?

Ja, eben deßhalb, denn es ist mir, als sei ich endlich wieder nach Hause gekommen! Ich bin so gern hier!

Er sagte das ohne jede Galanterie, und sie nahm es eben so einfach auf, ohne sich in ihrer häuslichen Thätigkeit stören zu lassen. Sie langte einen Fruchtkorb aus dem großen Glasschranke herunter, füllte ihn mit den frischduftenden Aepfeln und Pflaumen, welche eine Magd ihr zutrug, zündete darauf die Lichter an und setzte sich Herbert gegenüber an das Fenster.

Sind Sie mit meinem Bruder zufrieden? fragte sie nach einer Weile. Er hat arbeiten lassen, so viel er irgend konnte, und mir scheint auch, als wäre man im Innern mit dem Baue tüchtig vorwärts gekommen.

Waren Sie dort, liebe Eva?

Ja, alle Tage, versetzte sie, und ich habe den Bruder recht darum gequält, daß er hübsch viel Leute anstellen sollte, fügte sie hinzu; aber Sie glauben gar nicht, wie er von allen Ecken und Enden geplagt wird. Sie gönnen ihm jetzt keine Stunde Ruhe, und es wäre bald nöthig, daß er und ich Alles mit eigenen Händen thäten. Denn wo ein Knecht oder eine Magd nur irgend anstellig ist, da werden sie jetzt zur Aushülfe aufs Schloß und zu den neuen Anlagen in den Treibhäusern befohlen, [406] und alles Andere mag sehen, wie es fertig wird. Auch nach Ihnen haben sie in den letzten Wochen schon einige Male gefragt!

Der Freiherr wußte ja, bedeutete der Architekt, daß ich vor Ende dieses Monates nicht zu kommen brauchte.

Das hatte er längst vergessen, meinte Eva, denn er hat jetzt an ganz andere Leute und an ganz andere Dinge zu denken, als an Sie und Ihren Bau. Meine Mutter pflegte schon immer zu sagen: Die Herrschaften haben ein gehorsames Gedächtniß! Was sie nicht eben selbst angeht, was ihnen nicht nöthig oder unterhaltend ist, das vergessen sie.

Eva hob dabei den Kopf mit einer kleinen wegwerfenden Miene in die Höhe, und Herbert schwieg. Er hatte Gelegenheit gehabt, ähnliche Erfahrungen zu machen, aber er mochte nicht davon sprechen, sondern verlangte zu hören, wie es Eva während seiner Abwesenheit ergangen sei.

O, meinte sie, davon ist mancherlei zu erzählen. Ich habe hier zuweilen sehr vornehmen Besuch gehabt. Die Frau Baronin ist selbst mehrmals bei uns gewesen, und hat bei mir nachgefragt, ob wir die Herbstlieferungen auch zur rechten Zeit und gehörig besorgen würden.

Sie sprach das mit unverkennbarem Spotte, und Herbert fragte, über die Thatsache erstaunt, ob denn die Baronin eine Landwirthin sei.

O nein, rief Eva; sie wußte auch eigentlich gar nicht, was sie sagen oder wonach sie fragen sollte.

War sie denn nie zuvor im Amte?

Ja, einmal vor Jahren, als sie mit dem gnädigen Herrn in Richten eingetroffen war, und damit half sie sich auch, als sie jetzt zum ersten Male hieher kam. Sie sagte, sie wolle das Haus sehen, ich sollte es ihr zeigen, aber das ganze Haus. Ich mußte also auch Ihr Zimmer aufschließen, Mosje Herbert, denn sie verlangte ausdrücklich zu wissen, wo Sie hier untergebracht [407] wären; und als ich dann die Laden oben bei Ihnen aufgemacht hatte, setzte sie sich eine Weile auf Ihren Stuhl an das alte Bureau, an dem Sie schreiben, sah da zum Fenster hinaus und rief immer: Welch' schöne Aussicht! Welch' liebliche Aussicht! Aber von hier sieht man ja das Schloß nicht! Hat Sie denn kein Zimmer, Mamsell Eva, das nach dem Schlosse hinaussieht? Das hätte Sie dem Herrn Architekten geben sollen! – Ich mußte ihr darauf auch die Hinterstuben öffnen, denn sie wollte nicht glauben, daß man hier vom Amte das Schloß gar nicht sehen könne.

War der Baron mit ihr? fragte Herbert, und es fiel ihm auf, wie gleichgültig er sich nach der Frau erkundigen konnte, an die er einst mit so leidenschaftlicher Verehrung und Hingebung gedacht hatte.

Nein, sie kam ganz allein, entgegnete ihm Eva. Sonst freilich, als sie noch öfter nach den Leuten, nach den Armen und Kranken sehen fuhr, da pflegte der Herr Caplan sie bei ihren Ausfahrten zu begleiten. Seit aber die Frau Herzogin immer mit ihr ist, haben die Krankenbesuche fast ganz aufgehört, und hierher – nun, hier wollte sie wohl die Herzogin nicht bei sich haben!

Herbert meinte, das sei also der eine Besuch gewesen, was die Baronin denn bei den anderen Besuchen gewollt habe?

O, gar nichts, entgegnete Eva. Die anderen Male ließ sie nur hier halten und erkundigte sich, wann Sie kämen, weil sie gern ein paar Zeichnungen für die Betschemel in ihrer Kirche von Ihnen gemacht haben wollte. Vorgestern aber stieg sie aus; das Wetter war sehr schön, und weil sie Durst hatte, befahl sie, daß ich ihr ein Glas frische Milch in den Garten bringen sollte. Als ich sie dorthin geführt hatte und rasch nach dem Milchkeller laufen wollte, rief sie mich zurück und sagte, sie hätte damals oben in Ihrer Stube ihr Notizbuch liegen lassen, wegen dessen sei sie eigentlich gekommen, und ich sollte ihr das holen.

[408]

Hatten Sie es denn nicht gefunden? fragte Herbert, dem die Erzählung immer auffallender wurde.

Gott bewahre! Ich sagte das auch gleich, aber die Frau Baronin meinte, es müsse da sein, und als ich wiederholte, daß ich selbst eben erst das Zimmer in Ordnung gebracht, weil wir Sie jetzt alle Tage erwarteten, bestand sie darauf, selbst nachzusehen, weil ihr an dem Notizbuche, in das sie sich nothwendige Sachen eingeschrieben, gar zu viel gelegen sei. Es müsse auf dem Bureau liegen geblieben sein, behauptete sie. Sie ging denn auch gleich gerades Weges an das Bureau, schob die paar Bücher, welche Sie zurückgelassen hatten, hin und her – als ob ich das nicht selbst beim Abstäuben gethan hätte –, zog die große Schieblade auf, was nun erst ganz überflüssig war, und ....

Und? fragte Herbert lebhaft gespannt.

Und als sie dann natürlich nichts gefunden hatte, da ging sie gerade so fort, wie sie gekommen war, und ich mußte sie noch daran erinnern, daß sie so starken Durst gehabt und Milch befohlen hatte.

Sie brach damit ihren Bericht in derselben spottenden Weise ab, in welcher sie ihn begonnen hatte, Herbert ließ es auch dabei bewenden. Das war Eva aber offenbar nicht recht. Sie sah ihn an, als wolle sie in seinen Mienen lesen, ihn zum Sprechen auffordern, und da er dies nicht zu bemerken schien, rief sie plötzlich: Daß Ihnen all diese Besuche nicht einmal auffallen, Mosje Herbert, und daß Sie sie ganz natürlich finden würden, das hätte ich nicht gedacht! – Nein, das hätte ich wirklich nicht gedacht – von Ihnen nicht gedacht! wiederholte sie mit einer Stimme, der man den unterdrückten Zorn anhörte, und ging hastig von dannen, ohne darauf zu achten, daß Herbert ihr folgte und sie zu bleiben bat.

Da sie sich in die Mägdestube zu den Spinnenden begab, in deren Gegenwart er sie doch nicht sprechen konnte, nahm er [409] sein Licht und ging auf sein Zimmer. Hier also war Angelika gewesen!

Herbert blickte umher, als suche er eine Spur von Angelika's Anwesenheit, aber er fühlte kein Vergnügen dabei. Ihn überkam ein Mißtrauen und eine Unruhe, die er nicht mehr empfunden, seit er sich von Richten entfernt hatte, und vor Allem verdroß es ihn, daß er Eva unzufrieden wußte, denn er hatte sie lieb und war sicher, daß auch er ihr theuer sei. Es lagen so viel Unschuld und Wahrhaftigkeit in der Weise, in welcher sie ihm ihre Neigung kund gab, und die ganzen Verhältnisse waren auch so natürlich zwischen ihm und ihr, daß er fühlte, wie es für ihn im Grunde nur seiner einfachen Anfrage bedürfe, damit er in Eva eine Frau gewinne, wie sein Vater sie ihm schon lange zu geben gewünscht und wie er sie zuweilen auch ersehnt hatte, wenn er, von seinen Geschäftsreisen heimkehrend, sich einsam in sein einsames Zimmer begeben müssen. War es ihm doch gerade heute bei seiner Ankunft in Rothenfeld so erquicklich gewesen, von Eva's freundlichem Blicke, von ihrem herzlichen Willkomm empfangen zu werden, so erquicklich, daß er sich kaum enthalten können, sie in seiner Freude, als gehöre sie schon lange zu ihm, an das Herz zu drücken.

Er setzte sich an das Bureau nieder. Das Zimmer war auf das vorsorglichste für ihn bereitet; trotz der späten Jahreszeit stand noch ein frischer Strauß auf der Commode unter dem Spiegel, und ein zweiter, wie er es liebte, auf seinem Bureau. Er wußte Eva für dieses Eingehen auf seine kleinen Neigungen von Herzen Dank, und er hatte sie dafür noch lieber. Indem zog er die große Schieblade auf, um etwas aus seinen Papieren herauszusuchen. Als er die oberen Lagen derselben aufgehoben hatte, hielt er plötzlich betroffen inne. Zwischen den Papieren, welche er dort aufbewahrt, weil sie sich auf den Bau bezogen, lag ein versiegelter Brief ohne Adresse und ohne Zeichen im [410] Petschaft: aber er zweifelte nicht, von wem er käme, und ihn hastig eröffnend, las er die Herder'schen Worte:


Leichter ist es der Seele, die schwersten Schmerzen zu dulden,
Als dem Auge, sich selbst einem Geliebten entziehn!

Eine wunderbare Empfindung durchzuckte ihn. Er konnte seine Augen nicht von dem Blatte und von den Worten abwenden. Wenn es wahr wäre? Wenn sie dich dennoch liebte und hätte nur ihr eigenes Herz verkannt? Und hätte dich nur von sich gewiesen, um den Argwohn ihres Gatten zu beschwichtigen? dachte er.

Er fühlte sich aufgeregt, er fühlte eine freudige Genugthuung, aber das währte nur einen kurzen Augenblick und machte bald einer entgegengesetzten Empfindung Platz. Sein Ehrgefühl schreckte vor einem solchen Liebeshandel zurück, und die Frau, welche daran denken konnte, ihn einzugehen, war nicht mehr jene reine, schuldlose und unglückliche Seele, zu der er einst mit so verehrender Liebe emporgesehen hatte. Er wollte nicht wieder der Spielball seiner eigenen Empfindungen oder gar das Spielzeug in den Händen einer Frau werden, die sich, gerade wie ihr Gatte, das Recht zuzuerkennen schien, ihn nach ihrem Belieben wider seinen Willen anzuziehen und abzustoßen, und der Gedanke, was Eva empfunden haben würde, hätte ein Zufall oder ihre eigene zärtliche Neugier ihr dieses Papier in die Hände gespielt, nahm ihn noch entschiedener gegen die Baronin ein.

Er dachte daran, ihr dieses Blättchen zurückzusenden, aber er war Mannes genug, eine Frau unter keinen Verhältnissen bloßzustellen, und mit raschem Entschlusse zerriß er das Papier, um der Baronin in der Weise zu antworten, die seiner Neigung für Eva entsprach und die ihn für immer des Schwankens entheben mußte, in welchem er sich sonst zwischen diesen beiden Frauen bewegt.

Auf dem Punkte, sein Zimmer zu verlassen und die bindende [411] Entscheidung zu treffen, mit welcher er ein für alle Mal seiner Freiheit entsagte, überkam ihn jedoch jene Unsicherheit, welche fast jeder Mann in solcher Lage fühlen muß. Er war entschlossen, Angelika's nicht mehr zu gedenken; indeß noch war er Herr, es zu thun, und er sah sie eben jetzt so deutlich vor Augen. Sie erschien ihm nur schöner, nur reizender, wenn er sie sich hier in diesem schlichten Raume vorstellte, wenn er es sich ausmalte, wie eine Frau gleich ihr am Heerde eines geliebten Mannes walten möge, und ohne daß er es beabsichtigte, versank er in Träume eines Glückes, das ihn schwindeln machte und das weit ablag von dem Vorsatze, den er eben noch gehegt.

Der Hufschlag eines Pferdes riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Amtmann kehrte heim. Herbert fuhr sich mit der Hand über die Stirne; es war ihm erwünscht, daß man ihn weckte, daß er mit seinen thörichten Phantasieen nicht länger allein blieb. Er versprach sich, daß sie ihm nicht wiederkommen sollten.

Als er die Wohnstube betrat, sah er beim ersten Blicke, daß der Amtmann nicht gut aufgelegt war; auch Eva zeigte sich mißmuthig und ging ihm aus dem Wege. Man setzte sich zum Essen nieder, aber es wollte mit der Unterhaltung nicht gehen. Der Amtmann that einige kurze Fragen an seine Wirthschafter, die mit zu Tische saßen, Eva gab die Speise umher, man sättigte sich, aber es ward kein gemeinsames Mahl, und nach jedem Versuche, die obwaltende Verstimmung zu verbergen oder zu besiegen, fühlte man sie nur schwerer auf sich lasten.

Als die Wirthschafter sich erhoben, erkundigte sich der Amtmann, wie ein Befehlender sich das angewöhnt, ob in seiner Abwesenheit etwas vorgefallen sei, das des Berichtens bedürfe.

Nein, versetzte der älteste der jungen Männer, nichts! Denn daß der Herr Marquis hier war, wissen ja der Herr Amtmann wohl!

Ja, entgegnete dieser; aber Herbert sah, daß die Stirne [412] des Amtmanns sich röthete, daß Eva's Wangen ebenfalls erglühten, und auch ihm stieg es heiß vom Herzen in die Höhe. Indeß keiner von ihnen sprach ein Wort. Erst als die Wirthschafter hinaus gegangen waren, fragte der Amtmann, als könne er es nun nicht länger zurückhalten: Warum habe ich das nicht erfahren, Eva?

Weil ich Dir ansah, daß Du selbst Verdruß gehabt hast! gab sie ihm zur Antwort, und auf ihren beiden Gesichtern sprach sich eine Bitterkeit aus, welche Herbert früher nie in ihnen wahrgenommen hatte. Eva räumte, wie immer, die Geräthschaften fort, der Amtmann ging in seine Schreibstube, die Schwester folgte ihm bald nach. Er hörte den Amtmann mit ihr sprechen; der Ton verrieth, daß es keine ruhige Unterhaltung sei, und er setzte sich wieder an der entgegengesetzten Seite des Zimmers in die Fensterbrüstung, um nicht zu vernehmen, was vielleicht nicht für ihn bestimmt sein mochte. Noch vor wenig Stunden hatte er sich hier so zufrieden, so heimisch gefühlt, jetzt empfand er mit mannigfach erregtem Sinne, daß er doch noch als ein Fremder zwischen diesen ihm so lieb gewordenen Menschen betrachtet werde.

Indem kam Eva heraus und gesellte sich zu ihm. Sie sahen beide schweigend zum Fenster hinaus. Der Mond war emporgestiegen, man konnte den Hof mit allen seinen Einzelheiten unterscheiden, auch auf Eva's Stirne fiel ein heller Schein. Sie pflegte sonst gern ihr Haupt auf die Hand zu stützen, wenn sie einmal müßig war – heute hatte sie, obschon die Wärme des Zimmers es nicht nöthig machte, ihre Arme fest in ihre Schürze gewickelt und über einander geschlagen. Sie war noch immer verstimmt, und Herbert, der sich und ihr darüber forthelfen wollte, sagte scherzend: Weßhalb machen Sie sich so unnahbar, liebe Eva?

Sie antwortete ihm nicht. Er kam auf die Vermuthung, daß sie mit ihm um der Baronin willen schmolle, und da er [413] eben aus einer Stimmung in die andere geworfen, also selbst nicht ruhig war, sagte er mit jenem gebieterischen Tone, den fast jeder Mann sich gegen das Mädchen erlaubt, von dem er sich geliebt weiß und das er sich zum Weibe ausersehen hat: Ich hasse das stumme Schmollen, Eva!

Als ob ich daran dächte! und als ob ich es liebte! entgegnete sie, und er hörte, wie das unterdrückte Weinen ihr die Stimme zusammenpreßte. Indeß ehe er sie noch fragen konnte, was geschehen sei, hatte eine der Mägde sie abgerufen, und rasch entschlossen stand er auf und begab sich nach des Amtmanns Stube. Er mußte wissen, was hier vorging.

Adam stand am Pulte bei seinen Rechnungsbüchern, und Herbert äußerte, um die Unterhaltung anzufangen, sein Befremden darüber, daß jener sich noch so spät an die Arbeit gemacht habe und sich nicht Ruhe gönne; aber der Amtmann sagte achselzuckend: Arbeit ist ein Sorgenbrecher, und billiger als Wein, den man sonst den Sorgenbrecher nennt. Ich weiß mir nichts besseres, als Arbeit, wenn mir der Kopf recht voll ist, und wenn ich auf die Weise an den eigentlichen Gegenstand meiner Sorge gar nicht denke, kommt mir in der Regel der beste Rath.

Der Amtmann hatte damit seinen Platz am Pulte verlassen und angefangen, im Zimmer auf und nieder zu gehen. Da legte Herbert seine Hand auf Adam's Arm und fragte: Sollte sich denn guter Rath nicht auch im Aussprechen mit einem Freunde finden lassen? Ich sehe, daß hier nicht mehr Alles bei dem Alten steht, und ich mochte nicht fragen, was geschehen sei, weil ich es allmählich zu erfahren hoffte. Nun aber mag ich nicht auf meine eigene Einsicht warten, und bitte Sie, lieber Freund, sagen Sie mir, was Sie und Ihre Schwester drückt, und ob ich es Ihnen nicht tragen helfen, nicht erleichtern kann!

Er hatte das mit so herzlicher Wahrhaftigkeit gesprochen, daß Adam ihm dankbar die Hand dafür drückte. Aber, meinte [414] er, Hülfe und Beistand kann man nur für ein bestimmtes Vorhaben benutzen, und ich weiß noch nicht, was ich thun soll und kann, sondern nur, was ich nicht mag und was ich möchte! – Er hielt ein wenig inne und sagte darauf: Ich mag nicht verwirthschaften sehen, was wir hier seit Menschenaltern schaffen halfen, ich mag nicht in Unfrieden leben, wo wir mit Herrschaft und Insassen stets in gutem Einvernehmen gestanden haben, ich mag auch die Eva hier nicht länger lassen, und darum möchte ich selber fort von hier!

Sie, Steinert? Sie möchten fort von hier?

Der Amtmann fuhr sich mit der Hand ein paar Mal durch das krause Haar, wie er es zu thun pflegte, wenn ihm etwas nicht nach seinem Sinne ging. Hart ankommen würde es mir, entgegnete er, aber es wird doch das Ende vom Liede sein. Es ist, als ob sie gar kein Einsehen mehr hätten; als ob sie es noch nie bemerkt hätten, daß Roggen, Weizen, Kartoffeln und Rüben hierlands nicht wie im Paradiese bloß auf Gottes Machtspruch aus der Erde wachsen, daß die Bäume sich nicht von selber pflanzen und fällen, daß man nicht erntet, wo man nicht gesäet hat, und daß man kein Geld schaffen kann, wenn man nicht zur rechten Zeit zu verkaufen im Stande ist! Man hat kaum Hände genug, jetzt, wo die Kälte und das schlechte Wetter vor der Thüre stehen, an jedem Tage das Nöthigste zu leisten, und muß Menschen und Pferde nach allen Ecken und Enden herumsprengen, als ob man die Jahreszeit aufschieben könnte wie eine zu gebende Gesellschaft!

Was haben sie denn eben jetzt auf dem Schlosse vor? fragte Herbert, dem des Amtmanns Aeußerung über Eva im Sinne lag und der ihn gern von den Beschwerden über die allgemeinen Uebelstände zu bestimmten Mittheilungen bringen wollte.

Weiß ich's! rief Steinert in ärgerlicher Achtlosigkeit; sie haben ja alle Tage etwas Anderes! Bald ist's ein Maskenfest, [415] bald ein Schäferspiel, wie sie es in Trianon gefeiert, ehe die Hirtentänze in den Tanz übergingen, den sie ihnen dort mit der Carmagnole aufspielten! Dann wieder sind's die Jagden, zu denen Gesellschaft geladen wird! Sie können ja nicht ruhen! – Und sich dann besinnend, fügte er hinzu: Jetzt nun ist's, wie alljährlich, der Hochzeitstag! Und Gott weiß, ob ein Mensch lebt, der sich über diese Hochzeit aufrichtig zu freuen hat!

Er ging unruhig auf und nieder. Aber was hat Eva mit dem Allem zu thun? fragte der Architekt, weil ihm das am meisten am Herzen lag.

Indeß der Amtmann war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um sich durch eine Zwischenfrage von ihnen abbringen zu lassen. Mir ist manchmal zu Muthe, sagte er, als stände ich vor einem Kleefelde, in das der Teufelszwirn sich eingenistet hat. Man sieht, wie das Unwesen um sich greift, man legt auch wohl die Hand an, es an einer Stelle zu bewältigen, aber ehe man sich's versieht, ist's an zehn anderen Stellen da, und die ganze Aussaat und Arbeit ist verloren. Das Geld fliegt ihnen jetzt nur so durch die Hände. Heute, wie ich nach Hause komme, finde ich eine Anweisung des gnädigen Herrn, in der nächsten Woche viertausend Thaler auf einen Wechsel an Flies zu zahlen, als ob ich hier die Gelder der königlichen Bank im Vorrath liegen hätte, und wer diese angenehme Anweisung gebracht hat, ist nicht, wie sich's gebührt, der Secretair oder der Diener einer, sondern wieder einmal der Herr Marquis, welcher immer verdammt dienstfertig ist und immer gerade vorbeireitet, wenn es hier herum etwas zu bestellen giebt!

Es fuhr Herbert wie ein Schnitt durch die Brust, das Blut stieg ihm bis zum Halse empor. So muß Eva gleich morgen mit mir gehen! rief er lebhaft aus.

Mit Ihnen gehen? fragte der Amtmann. Was soll das heißen?

[416] In dem Augenblicke trat Eva ein, und ohne die Frage ihres Bruders zu beachten, nahm der Baumeister sie bei der Hand. Sie haben vorhin mit mir geschmollt, Eva, sprach er, und sind so rasch davongegangen, daß ich Ihnen gar nicht sagen konnte, was mir heute, seit ich Sie wiedergesehen, immer auf dem Herzen gelegen hat! Wissen Sie, was es ist?

Sie lächelte und sah ihm treuherzig in das Auge, während die helle Röthe mädchenhafter Scheu sie überflog. Liebe Eva, und was antworten Sie mir? fragte er, indem er auch ihre andere Hand ergriff.

Das würden Sie mich nicht fragen, wenn Sie es nicht wüßten! entgegnete sie ihm. Und noch ehe sie das freudestrahlende Auge zu ihm erhob, hatte Herbert den bräutlichen Kuß auf ihren Mund gedrückt und ihre Arme seinen Nacken umschlungen. So hielt er sie eine kurze Weile umfangen.

Es war still im Zimmer, die alte Uhr, welche in diesem Hause zu so manchem Ereignisse die Stunde geschlagen, schickte als Zeichen ihrer Gegenwart ihren klaren Pendelschlag zu ihnen hinein, der Bruder blickte bewegt und schweigend auf die Liebenden. Und wie lebhaft Herbert's Herz auch klopfte, fühlte er doch eine ihm fremde, ernste Ruhe über sich gekommen, seit des lieben Mädchens Kopf vertrauensvoll an seinem Herzen lag, denn in seiner Seele regte sich mit der Liebe für das erwählte gute und schöne Weib auch jene vorsorgende Zärtlichkeit, welche sich für die Zukunft der Geliebten verantwortlich fühlt und ein Vorbild der Vaterliebe und Vatersorge in sich schließt.

Aber Eva hatte sich zu lange als ihres Bruders Hälfte gefühlt, um dies schnell vergessen zu können. Sie machte sich aus des Geliebten Umarmung los, warf sich an des Bruders Hals und rief, in Thränen ausbrechend: Adam, sei nicht böse, ich konnte aber doch nicht anders!

Nein, Du solltest auch nicht anders! entgegnete er heiter, [417] indem er Herbert die dargebotene Rechte schüttelte; aber die Augen waren ihm doch feucht geworden, denn er wußte, daß er diese Schwester, daß er dieses selbstgewisse, thätige und frohe Wesen schwer vermissen werde. Gleich in der Frühe reite ich aufs Schloß!

Herbert wollte wissen, was dieses Vorhaben, dieser Ritt nach dem Schlosse mit seiner Liebe und mit seiner Verlobung zu schaffen habe, und der Amtmann sagte ihm, daß der Freiherr Eva's Vormund sei, und daß man also dessen Einwilligung begehren müsse. Herbert nahm das leicht hin, aber Eva wurde nachdenklich. Es machte sie besorgt, daß ihr Bruder heute von dem Freiherrn nicht in gewohnter Weise entlassen worden war, daß es eben heute Verdrießlichkeiten gegeben habe, und da sie sich immer gern an die Aussprüche ihrer verstorbenen Mutter hielt, meinte sie, von einem Unmuthigen müsse man nichts begehren, denn der suche gern seinen Unmuth auf Andere zu wälzen. Zudem konnte von dem ersten Einfalle Herbert's, Eva gleich von Rothenfeld zu entfernen, in keinem Falle die Rede sein, und Herbert sagte sich dies selbst, nun die Aufwallung seines eifersüchtigen Ehrgefühls besänftigt war.

Der Amtmann konnte bei der vielverzweigten Wirthschaft die Hausfrau nicht entbehren; ein Ersatz für Eva war nicht leicht, nicht gleich zu finden, und wie lästig ihr die gelegentlichen Besuche des Marquis auch sein mochten, fand Eva selbst in ihnen jetzt, da sie verlobt war, noch weniger als früher irgend eine Gefahr oder auch nur ein Bedenken. Aber die Anfrage bei dem Freiherrn beunruhigte sie, ohne daß sie Gründe dafür angab, und da Herbert sie ohnehin am nächsten Tage verlassen mußte, wünschte sie, daß dieser selbst in einem Briefe die Werbung bei ihrem Vormunde machen und seine Einwilligung zu ihrer Heirath fordern möge.

[418]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel

Die Gäste des Schlosses verabschiedeten sich eben von der Baronin, als man am nächsten Tage dem Freiherrn den Brief des Architekten überbrachte. Er kannte die Handschrift, steckte das Schreiben in die Brusttasche und befahl, da er eine Geschäftsanfrage vermuthen mochte, den Boten anzuweisen, daß er die Antwort erwarten solle.

Wohl aufgelegt durch die letzte Unterhaltung mit seinen Gästen, erheitert von dem glücklichen Witzworte, welches einer derselben gesprochen, kehrte er in das Zimmer der Baronin zurück, in welches die Hausgenossenschaft sich nach dem Frühstücke begeben hatte und in dem sie noch beisammen geblieben war.

Die Herzogin und Angelika saßen am Kamine einander gegenüber, der Marquis und Renatus ließen das Hündchen der Baronin auf den Hinterfüßen tanzen oder warfen einen Ball durch das Zimmer, dem das kleine, schnellfüßige Thier dann mit großen Sätzen eifrig folgte, und der Caplan hörte, den Rücken gegen das Fenster gelehnt, mit jenem Wohlgefallen, das gute Menschen an der Fröhlichkeit der Kinder finden, dem hellen Lachen und dem Jubel zu, mit welchem der hübsche Knabe jeden Scherz des Marquis und jeden Sprung des Hündchens begleitete.

Auch der Freiherr vergnügte sich an der Lust seines Sohnes, aber er hatte nicht mehr Jugend genug, sie durch persönliche Theilnahme an dem Spiele zu erhöhen, und nachdem [419] er dem Knaben den feinen Mund und das blonde Gelock geküßt, setzte er sich nieder und nahm mit dem Bemerken, daß er Herbert's Brief beinahe vergessen hätte, das Schreiben zur Hand, welches er mit einem Lächeln zusammenfaltete, nachdem er es gelesen.

Angelika's Auge hing mit Spannung an den Mienen ihres Gatten. Die Herzogin, wie immer bereit, den Wünschen der Baronin zuvorzukommen, übernahm es, mit ihrer gewohnten Gelassenheit die Frage zu thun, was das Lächeln des Barons bedeute.

Wenn Sie sich herbeigelassen hätten, unsere Sprache zu lernen, liebe Freundin, antwortete der Freiherr, so würde ich sagen: lesen und entscheiden Sie! Denn die Sache gehört im Grunde vor Ihr Gericht, vor das Gericht der Damen! Es sind Herzensbekenntnisse, ein kleiner Roman!

Er reichte damit den Brief seiner Gattin hin und es fiel ihm auf, daß sie die Farbe plötzlich wechselte. Er fragte, ob sie sich nicht wohl befände, sie versicherte das Gegentheil; aber während er der Herzogin erzählte, daß der Baumeister um des Amtmanns Schwester, um die hübsche Eva werbe, die sein Mündel sei, erhob sich die Baronin von ihrem Sessel und blieb, wie von einem Schwindel erfaßt, plötzlich stehen, sich mit geschlossenen Augen an dem weit vorspringenden Simse des Kamins haltend.

Der Freiherr, die Herzogin, der Geistliche eilten herbei, auch der Knabe drängte sich an das Knie der Mutter, da er die Erwachsenen um sie besorgt sah. Die Baronin nahm sich jedoch schnell zusammen. Es ist mein altes Herzweh, weiter nichts, sagte sie; ich bitte, achtet nicht darauf!

Sie trat an das Fenster, welches man für sie öffnete, schöpfte mehrmals tief Athem und kehrte dann, den Knaben an der Hand haltend, zu den Uebrigen zurück, obschon die [420] Blässe von ihren Wangen nicht weichen wollte und sie offenbar Mühe hatte, ihre Fassung zu behaupten.

Es war dadurch eine ängstliche Unterbrechung in die bis dahin so heitere Stimmung der Anwesenden gekommen. Der Freiherr wußte, daß seine Gattin vor Paulinens Leiche zum ersten Male von diesem Herzkrampfe befallen worden, welcher seitdem bei heftigen Gemüthsbewegungen mehrmals wiedergekehrt war, und das machte ihm diese Zufälle doppelt peinlich. Was der Baronin in diesem Augenblicke einen Anfall zugezogen haben konnte, war ihm unbegreiflich; indeß er mochte in Gegenwart dritter Personen nicht darum fragen, und bemüht, den Vorgang vergessen zu machen, sagte er, auf den letzten Gegenstand der Unterhaltung eingehend: Herbert drückt sich sehr gut aus, man sieht, daß er seine Dichter nicht umsonst gelesen hat. Er ist für Eva eine sehr schickliche Partie. Er ist tüchtig in seinem Fache, und da er das Mädchen, wie er sagt, seit lange im Herzen trägt und ....

Um Gottes willen, sehen Sie die Baronin! rief der Marquis, und mit einem leisen Aechzen, die Hände auf das Herz gepreßt, sank Angelika ohnmächtig zurück.

Man rief ihrer Kammerfrau, sie wurde aus dem Zimmer entfernt, die Herzogin folgte ihr. Herbert's Brief blieb an der Erde liegen, Niemand dachte jetzt an seine Angelegenheiten.

Erst am Nachmittage, als man wegen Angelika's nicht mehr in augenblicklicher Sorge zu schweben brauchte und der Baron seine Freundin in ihrem Zimmer aufgesucht hatte, kam sein Kammerdiener fragen, ob der Bote aus Rothenfeld noch länger warten solle. Berechtigt, wie sie war, verdroß die Mahnung den Baron.

Nein, schicke Er ihn fort. Ich würde die Antwort senden! sagte er. Der Kammerdiener verließ mit dem Bescheide das Zimmer. Der Freiherr setzte seine Unterhaltung mit der Herzogin [421] fort, indeß er war zerstreut, es lag ihm Etwas im Sinne, dem er nicht Gehör geben wollte, aber er konnte den Blick, den flüchtigen, lächelnden Blick nicht vergessen, den der Marquis der Herzogin zugeworfen hatte, als Angelika zusammengebrochen war. Und was hatte es bedeutet, daß die Herzogin mit zärtlicher Stimme der Leidenden zugeflüstert, sich zu fassen, sich um Gottes willen zu beherrschen?

Er wollte die Empfindung, die Aufregung, welche ihn peinigten, in sich zum Schweigen bringen, aber sie ließen ihm keine Ruhe. Er hörte, was die Herzogin sprach, indeß er konnte dem Sinne ihrer Erzählungen nicht folgen. Ihre Worte berührten zum ersten Male nur sein Ohr. Sie bemerkte das auch bald, denn leise ihre Hand auf die seinige legend, sagte sie im Tone sanftester Begütigung:

Sie sind wirklich zu ängstlich um den Anfall unserer theuren Angelika, Sie machen sich überhaupt unnöthig Sorge und begehen in der That ein Unrecht, mein theurer Cousin!

Der Baron fuhr jäh empor. Was soll das heißen? fragte er, und seine Stirne erglühte in stolzem Zorn. Von wem sprechen Sie?

Weßhalb zögern Sie, fuhr sie einlenkend und bittend fort, dem Architekten die Zustimmung zu geben, der er sicherlich voll Ungeduld entgegen sieht?

Der Freiherr athmete auf; aber damit war der Herzogin nicht gedient, darauf hatte sie es nicht abgesehen, und ihm keine Zeit zu neuer Frage oder zu einer Entgegnung gönnend, sprach sie:

Was hat er denn verbrochen, dieser arme Herbert? Hat er denn nicht schnell begriffen, was ihm ziemte? Hat er, da er das Unglück hatte, Ihnen zu mißfallen, sich nicht selber die verdiente Strafe und Buße auferlegt, indem er sich freiwillig aus Ihrer Nähe und aus Ihrem Hause verbannte?

[422] Die Vorbitte der Herzogin mußte dem Freiherrn auffallen. Es lag daneben in ihrem Tone, in ihren Worten etwas, das ihn in seiner Unruhe nur noch bestärkte, obschon er sich bemühte, es nicht zu hören. Selbst der freundliche Blick der Herzogin peinigte ihn, und sich erhebend, um nur der Nähe dieses eindringlichen Blickes zu entgehen, sprach er:

Ich wußte nicht, daß Sie so viel Antheil an meinem Architekten nehmen, meine Freundin, und Herbert selber war sich dessen sicher nicht vermuthend.

Die Herzogin lächelte. Antheil an Ihrem Architekten? wiederholte sie. Was ist mir dieser Herbert? Was kann ein Mensch wie er uns sein? Aber ich kann es nicht verstehen, mein Freund, weßhalb Sie, eben Sie, Baron, ihn hindern wollen, sich seiner Freiheit ein für alle Mal zu entäußern, weßhalb Sie ihn hindern wollen, sein zärtliches Herz für die Zukunft der Schwester Ihres Amtmannes zu überantworten! Mich dünkt, dazu hätten Sie, mein Freund, doch wirklich keinen Grund, und es ist ja so süß, ein paar Glückliche zu schaffen, wenn die Gelegenheit sich wie hier dazu so günstig zeigt!

Sie sprach dies mit der völligsten Heiterkeit und Freiheit, mit gänzlicher Gelassenheit, aber sie folterte den Freiherrn mit ihrer Ruhe. Er hörte, er fühlte, daß sie ihm etwas hinterhielt, daß sie ihn etwas errathen lassen, ihm eine Mittheilung machen möchte, deren Inhalt er zu kennen glaubte und die von irgend einem Menschen aussprechen zu hören er doch um jeden Preis vermeiden wollte. Zwei Wege lagen vor ihm offen, seine Aufregung drängte ihn zu dem einen hin – aber er zauderte, ihn zu betreten. Nur eines Augenblickes Ueberlegung bedurfte er, dann war sein Entschluß gefaßt. Er mußte der Herr bleiben auf jedem Wege, den er gehen sollte, und heiter und frei, wie die Herzogin selbst, reichte er ihr die Hand.

Ich danke Ihnen, rief er; Sie sind immer besser, immer [423] gütiger als wir Anderen, meine Freundin! Sie haben mich zur rechten Zeit daran erinnert, daß meine selbstsüchtige Sorge um die Baronin mich grausam gegen ein junges Pärchen machte, grausam gegen einen Mann, mit dem ich in jedem Betrachte wohl zufrieden bin. Erlauben Sie, daß ich mich entferne, um mein Unrecht zu vergüten!

Ja, gehen Sie, gehen Sie! rief die Herzogin, als freue sie sich, ihn umgestimmt zu haben; aber sie kannte ihren Freund, sie errieth seine Absicht und sie hatte sich auch dieses Mal nicht geirrt.

Nicht in sein Zimmer begab sich der Baron, er wandte sich geraden Weges nach dem Zimmer seiner Frau. Er mußte wissen, ein für alle Mal wissen, woran er mit ihr war.

Angelika sah müde und niedergeschlagen aus, als er bei ihr eintrat. Die Erscheinung des Freiherrn, der sie nicht lange erst verlassen hatte, kam ihr unerwartet, seine Haltung, seine Mienen fielen ihr auf und machten sie verwirrt. Er hatte sich ihr immer mit jener rücksichtsvollen Ergebenheit genaht, welche die ritterliche Sitte dem vornehmen Manne selbst da als Pflicht gegen eine Frau auferlegt, wo er zu gebieten hat. So schmerzlich manche Verhandlungen zwischen ihm und seiner Gattin, so schwer und quälend sie namentlich in früheren Zeiten oft gewesen waren, nie hatte er den Gebieter, nie den Herrn gegen sie herausgekehrt, und niemals hatte sein Ton sie streng erfaßt.

Ohne ein Wort zu sprechen, sah er, ob die Thüren, welche in die Nebenzimmer gingen, geschlossen waren. Dann ließ er die Portièren nieder und nahm auf einem Sessel der Baronin gegenüber Platz. Sein Schweigen, seine Ruhe steigerten ihre Besorgniß; es fröstelte sie, und auch der Freiherr sah bleich und kalt aus.

Ich frage Dich nicht, wie Du Dich befindest, Angelika, und Du fragst mich nicht, weßhalb ich wieder komme, hob er, [424] nachdem er tief Athem geschöpft hatte, mit fester Stimme an, das beweist für uns beide, was uns zu wissen Noth thut.

Da er sah, daß sie ihm antworten wollte, legte er seine Hand auf ihren Arm und hielt sie davon zurück. Nur eine kleine Geduld, bat er, was ich Dir zu sagen habe, wird kurz sein! Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: Ich habe Dir keine Vorwürfe zu machen, im Gegentheil, Du wirst Dich immer in der Lage befinden, mir sagen zu können, daß Du mit mir das Glück nicht gefunden hast, welches Du Dir mit Recht von der Ehe erhoffen durftest.

Höre mich! fiel die Baronin, welche den Worten ihres Mannes mit wachsender Bewegung folgte und auf diese Art der Unterredung in keiner Weise vorbereitet gewesen war, ihm angstvoll in die Rede.

Nein, laß mich vollenden! entgegnete er. Erinnere Dich, wie ich Dir einmal sagte: hätte ich die abmahnende Stimme gekannt, die Dich bei unserer ersten Begegnung von mir zurückhielt, so würde ich nie um Dich geworben haben! Denn es ist wahr, unsere Neigungen, unsere Ansichten gehen vielfach aus einander, Du bist nicht glücklich mit mir geworden. Du hast mir auch viel verzeihen, viel mit mir ertragen müssen in den ersten Jahren unserer Ehe, aber was Du mir nach Deiner Meinung zu verzeihen hattest – dieses Eine gestehe mir wenigstens zu –, das lag Alles hinter der Zeit, in welcher Du Dich mir verbunden. Oder welcher Untreue könntest Du mich zeihen, seit ich Dir mein Wort verpfändet?

Angelika war wie gelähmt vor Schrecken und vor Schmerz. Was sie innerlich auch empfunden hatte, diesen Ton, diese Sprache verdiente sie nicht. Sie war gewissenhaft und demüthig bereit gewesen, sich eines Unrechtes anzuklagen, sich einer Gedankensünde zu zeihen, aber gegenüber den Vorwürfen, welche [425] ihr Gatte ihr machen zu wollen schien, empörte sich ihr gerechtes Bewußtsein, verstockte sich ihr Herz.

Da Angelika auf ihres Gatten Frage nichts entgegnete, wiederholte er sie mit dem Zusatze, daß er eine einfache Antwort erwarte. Das steigerte in ihr das Gefühl der Kränkung, und kalt, wie der Freiherr zu ihr sprach, sagte sie: Ich habe mich über gar nichts zu beklagen, im Gegentheil!

Was soll das heißen? fragte der Baron.

Da bemächtigte seiner Gattin sich eine jener wilden Anwandlungen des Schmerzes, denen die sanfteste Natur nur schwer widersteht. War es doch genug, was sie leiden mußte, war es doch genug, was sie an innerer, selbstanklagender Pein, an Herzenskränkung zu ertragen hatte! Sie wollte nicht allein unglücklich sein, nicht allein die Schmerzen der verschmähten Liebe fühlen. Es sollten Andere unglücklich sein wie sie, und vor Allem sollte der Mann sich nicht ungestraft als ihr Richter vor sie stellen, um den sie ihre Jugend, ihren Frieden, ihr Vaterhaus, ihre Eltern und Alles aufgegeben und verloren hatte!

Mit jener Wollust des Rachegefühls, die dem Beleidigten ein wilder, berauschender Genuß ist, sagte sie: Du hattest sicherlich kein Recht zu dem Tone dieser Unterredung, wenn Du mit Deinen Voraussetzungen Unrecht hattest. Aber Du hast Dich nicht geirrt! – Sie zögerte, es stieg noch einmal, wie in solchen Augenblicken immer, ein Abmahnen in ihrem Herzen, ein letztes Besinnen in ihr auf; indeß ihr Zorn wollte sich genugthun, und fest und bestimmt sagte sie: Ich liebe Herbert! Das war es, was mir heute das Herz zu brechen drohte!

Angelika! rief der Baron und schloß die Augen, während seine Hand krampfhaft die Lehne seines Sessels ergriff.

Es war still im Zimmer. Beide Eheleute vermochten nicht zu fassen, nicht zu glauben, was geschehen war. Beide litten, beide kämpften schweigend in ihren Herzen. Jedem von ihnen [426] mochte die Ahnung kommen, daß es jetzt vielleicht noch Zeit sei, jedem von ihnen mochte die heiße Aufwallung durch die Seele gehen, jetzt schnell noch die Hand zu bieten, um die Wunde zu heilen, die sie einander geschlagen hatten und die unheilbar werden mußte, wenn man sie nicht augenblicklich schloß. Aber wie ein Dämon stand zwischen ihnen jene Selbstsucht, die man als gerechten Stolz, als Ehrgefühl bezeichnet, und statt einander helfend zu befreien, dachten beide nur daran, sich würdig gegen einander zu behaupten.

Des Freiherrn Züge waren völlig ruhig, als Angelika endlich ihren Blick zu ihm erhob. Weiß Herbert, daß Du ihn liebst? fragte er bestimmt.

Ja! entgegnete sie eben so, und es freute sie, zu sehen, wie schwer es ihrem Gatten wurde, seine Ruhe aufrecht zu erhalten.

Weiß er es durch Dich?

Ja! wiederholte sie.

Und die Herzogin – sie weiß es auch?

Aber als Angelika auf diese Frage die Antwort geben sollte, kam wie mit Einem Schlage das Bewußtsein der Herzensverblendung über sie, die sie fortgerissen und in der die Herzogin sie gehen lassen, sie bestärkt und weiter geführt hatte. Sie sprang auf, warf sich ihrem Gatten zu Füßen und flehte: Franz, Franz, rette mich vor mir selber! Es war ein Wahnsinn, der mich ergriffen hatte! Ich bin nicht schuldig, nicht so schuldig, als Du wähnst! Glaube mir selber nicht, den Worten nicht, die ich vorhin gesprochen, die der Zorn mir entrissen, Deine Strenge, Deine Kälte brachten mich außer mir. Nur mein Herz war Dir nicht treu, nur meine Phantasie konnte sich vergessen. Ich bin ja Dein, Dein allein, wie ich es stets gewesen! Komm' mir zu Hülfe, Franz! Komm' der Mutter Deines Sohnes zu Hülfe – daß sie sich wiederfinde in der [427] Liebe zu Dir und ihm! Komm' mir zu Hülfe, Franz, durch Deine Liebe, Deine Nachsicht, wie – ich Dir einst durch meine Liebe und Geduld zu Hülfe gekommen bin!

Der Freiherr hatte sie gleich Anfangs erhoben. Jetzt, da sie sich in seine Arme werfen wollte, nahm er sie bei der Hand und nöthigte sie, sich niederzusetzen. Sein Herz, seine Ehre, seine Eitelkeit hatten eine Kränkung erfahren, die er nie vergessen konnte. Er hatte Angelika niemals leidenschaftlich geliebt, aber er hatte sie hochgehalten wie keine andere Frau. Jetzt, da er zu erkennen glaubte, daß er sie überschätzt, jetzt, da sie sich selber eines Treubruches anzuklagen hatte, auf dessen Möglichkeit manche Aeußerungen der Herzogin, wie er jetzt nachträglich begriff, ihn schon öfter behutsam hingewiesen hatten, jetzt erinnerte Angelika ihn daran, wie er sich vor ihr gedemüthigt, wie sie sich in ihrem Selbstgefühle hoch über ihn erhoben, und zu unglücklicher Stunde fiel es ihm ein, daß es einst einen Tag gegeben, an dem er diese Frau und ihre strenge, makellose Reinheit beinahe gefürchtet hatte.

Was er in diesem Augenblicke verlor, konnte keine Zukunft ihm wiederbringen, aber Eines konnte er erretten – Eines konnte er gewinnen, und er war ent schlossen, diesen Vortheil nicht aufzugeben. Er konnte seine Ehre wahren und seine Gewalt und Herrschaft über die Baronin neu und ein für alle Mal begründen.

Fasse Dich, Angelika, sagte er mit anscheinender Ruhe, und sei unbesorgt, Du hast es mit mir, mit einem Edelmanne – er betonte das Wort sehr scharf, und sie verstand seine Meinung – mit einem Edelmanne zu thun, der nie vergessen kann, was er Dir und was er sich selber schuldet. Was ich Dir zu sagen hätte, das wird Dein eigenes Gewissen Dir nicht ersparen, denn ich wiederhole Dir: ich habe das Wort als Mann gehalten, das ich Dir einst verpfändet. Du hingegen ....

[428] Franz, fiel die Baronin ihm in die Rede, indem die Thränen ihr aus den Augen stürzten, muß ich Dir es wiederholen, muß ich es noch einmal aussprechen, das Bekenntniß, daß nur mein Herz, nur meine Phantasie Dir untreu waren!

Der Baron preßte in heftigem Schmerze seine Lippen zusammen. Dafür habe ich sicherlich nicht Dir allein zu danken! entgegnete er, und es that ihm wohl, wie seine Gattin unter diesem Worte händeringend ihr Gesicht verbarg. Bald aber erhob sie wieder ihr Haupt: Ich verlangte mich zu rechtfertigen, ich wünschte, ich konnte es; jetzt, nach diesem Worte, vermag ich es nicht mehr! rief sie, und die Klage rang sich wie ein Schrei aus ihrer Brust.

Still, Angelika, still! sprach der Freiherr, indem er ihre Hand fest drückte. Oder willst Du uns zum Gespötte unserer Leute machen? – Er schwieg, sie weinte mit unterdrückter Stimme.

Bist Du gefaßt genug, mich jetzt zu hören? fragte er nach einer Pause, in welcher er langsam auf dem weichen Teppiche umhergegangen war. Sie bejahte es.

Nun denn, ich wiederhole Dir, ich mache Dir keinen Vorwurf! Es ist schwer, der Stimme des Herzens zu gebieten – ich habe sie auch einst gehört und bin ihr gefolgt, wie Du! Vielleicht irrte ich, als ich Dich, die Du meine Tochter sein konntest, zur Gattin wählte; vielleicht irrte ich, als ich Dich zu sehr Dir selber überließ, aber für beides wirst Du mich nicht tadeln! Ich irrte im Vertrauen, im festen, höchsten Vertrauen auf Dich und Deinen Adel! Ich verlange kein Geständniß von Dir, ich will nicht wissen, was zwischen Dir und jenem Manne vorgegangen ist, der sein Auge nicht zu der Gemahlin des Freiherrn von Arten erheben konnte, wenn sie selbst ihm nicht dazu ein Recht gab –

Er brach mitten in seiner Rede ab und sagte dann, von [429] seiner Aufwallung zurückkommend: Ich will auch nicht erfahren, ob und was Deine rücksichtslose Verblendung der Herzogin etwa verrathen, oder was des Architekten allerdings nur zu berechtigte Eitelkeit dem Marquis Preis gegeben haben mag, denn man kennt die Indiscretion der Leute seines Standes; – Alles, was ich verlange, ist, daß ein Schleier gebreitet werde über das Geschehene, dicht genug, auch dem schärfsten Auge zu verbergen, daß mit dem Augenblicke, in welchem ich den Glauben an mein Weib verlor – – das Band für immerdar zerrissen ist, das mich ihm verbunden.

Die Lippe bebte ihm, als er die Worte sprach, aber er stand hoch aufgerichtet und gebieterisch vor ihr, und sie fühlte, daß es ihm eine grausame Lust war, sie zu demüthigen. Da begann aufs Neue in ihr jener unheilvolle Kampf zwischen ihrem besseren Selbst und ihrem Stolze, aber der grausam triumphirende Blick des Freiherrn fachte auch in ihrer Seele die gleiche Empfindung an, und bleich und kalt, wie er, versetzte sie: Du hast zu befehlen, ich gehorche!

Die Herzogin hat mir heute angedeutet, sagte er, daß ich, eben ich, keinen Grund hätte, mich der Heirath Herbert's zu widersetzen und ihn zu hindern, seine Freiheit aufzugeben. – Er hielt inne. Ich muß ihr zeigen, daß ich keinen Grund habe, Herbert's Gebundenheit zu wünschen. Ich werde die Einwilligung zu Eva's Verheirathung nicht geben, Bedenkzeit fordern, und wenn Herbert wieder hieher zurückkehrt, wird er unser Gast im Schlosse sein, und Du wirst ihn sehen und empfangen wie zuvor!

Unmöglich, rief Angelika, die Herzogin weiß Alles!

Der Baron verstummte. Er schien unentschlossen, was er thun solle. Mit Einem Male besann er sich: So soll sie die Versöhnungsrolle spielen! sagte er. Höre es wohl, Angelika, ich sage, spielen! Denn Du und ich, wir sind für immerdar getrennt!

[430] Da warf Angelika sich ihm noch einmal zu Füßen. Um Renatus willen höre mich! Gehe nicht zur Herzogin, sprich nicht mit ihr! Sprich mit dem Caplan! Er soll Dir Alles, Alles offenbaren, Wort für Wort, was ich ihm anvertraut im heiligen Vertrauen. Er wird Dir sagen, daß ich Deiner nicht unwerth bin, Dir sagen, daß Du mir verzeihen kannst. Sprich mit ihm, ach, sprich mit ihm! Ihm wirst Du glauben, wenn Du mir nicht glaubst!

Sie konnte nicht weiter sprechen. Das ganze Gewicht des Unheils, welches sie auf sich und ihr Haus herabgezogen, indem sie der Aufwallung ihres gekränkten Stolzes nachgegeben, lastete auf ihr. Sie erkannte mit Schrecken, was sie gethan, aber sie hielt es für unmöglich, daß sie ihren Gatten nicht überzeugen, mit ihren Thränen, ihrer Reue nicht überzeugen können sollte, wie sie seiner Achtung, seiner Verzeihung, seiner Neigung nicht unwerth sei.

Indeß des Freiherrn frühere Erfahrungen standen mit seinem gegenwärtigen Schmerze und Zorne im Bunde. Weit entfernt, ihn zu besänftigen, beleidigte ihn der Gedanke, daß auch der Geistliche um ein Geheimniß wisse, welches der Freiherr um jeden Preis verborgen haben wollte, und mit einem Ausdrucke des Widerwillens rief er: Es fehlte nur noch, daß Du Deine Leute zu Zeugen für Dich aufrufst!

Die Baronin zuckte zusammen, dann erhob sie sich. Ich wollte, Du hättest das nicht gesagt! sprach sie mit einer Ruhe, die beängstigend gegen ihre bisherige Aufregung abstach, und sich von ihm wendend, schritt sie der Thüre des Nebenzimmers zu. Der Freiherr stand mitten im Gemach. Als sie die Portière aufhob, hinter der sie seinem Blicke entschwinden mußte, fühlte er eine Anwandlung von Mitleid mit seiner Frau, und fast unwillkürlich rief er: Angelika, wir sind allein ....

Nein, unterbrach sie ihn, nein! Was ich gefürchtet und [431] geahnt, noch ehe sie kam, was ich mir zu meinem und Deinem Unheile weggeleugnet habe, wie mein Herz mich auch lange davor gewarnt, – wir sind nicht allein, – die Herzogin steht zwischen uns!

Der Freiherr lachte hell und höhnisch auf. Er hörte einen Vorwurf, wo er die Hand zu großmüthiger Hülfe und Erhebung zu bieten sich nicht abgeneigt gefühlt hatte. Das hatte er am wenigsten erwartet, und mit dem Ausrufe: Die alte Taktik! verließ er zornig das Gemach.

[432]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel

Im Amthause unterhielt man sich mit jenen Gesprächen und Erwägungen, welche überall dieselben bleiben, wo ein Menschenpaar daran geht, einen neuen Hausstand, eine Familie zu begründen.

Herbert hatte an Eva, da er sie jetzt als sein künftiges Eigenthum betrachtete, ein ganz neues und höheres Gefallen. Er fand sie klug und verständig in allem Praktischen, warmherzig ihm gegenüber und anmuthig wie ein Kind, wenn sie sich ihrem angeborenen Frohsinne überließ. Sie schalt Herbert einen Leichtsinnigen, einen Unbesonnenen, daß er nur daran habe denken können, sie ihrem Bruder gleich frischweg fortzunehmen, und wenn sie ernsthaft erwogen hatte, wo Adam einen Ersatz für sie finden werde, falls er sich nicht selbst zur Ehe entschließe, so ging sie scherzend die ganze Reihe ihrer weiblichen Bekannten durch, pries deren Eigenschaften, um die eigenen noch höher zu stellen, und versicherte Herbert, daß es doch von den allen keine so gut habe und haben werde, als sie, der Herbert gleich gefallen habe, als er ihr bei der ersten Fahrt durch das Dorf die ganz unverantwortliche Kußhand zugeworfen.

Indeß trotz all ihrer Munterkeit konnte man ihr doch anmerken, daß sich ihrer allmählich eine heimliche Sorge zu bemeistern begann, weil die Antwort des Freiherrn sich so lange erwarten ließ. Sie sah verstohlen immer öfter nach der Uhr, je länger der Bote ausblieb, und als der Mittag da war, [433] bemächtigte sich die Ungeduld allmählich auch der Männer. Man überlegte, ob man einen zweiten Boten nachsenden sollte, um zu hören, was aus dem ersten geworden sei. Herbert war unruhig, weil die Stunde, in der er abreisen mußte, um einer Geschäftsbesprechung nachzukommen, längst vorüber war; Eva nannte es unverantwortlich, daß man ihr den schönen ersten Tag ihres Brautstandes so unnöthig verbittere, und Adam, der sich am wenigsten vernehmen ließ, war im Innern der Gereizteste.

Es war vier Uhr Nachmittags, als der Bote endlich wiederkehrte. Nun? rief ihm Eva entgegen, welche, ihn zu empfangen, die Thür geöffnet hatte und die Hand ausstreckte, ihm das Schreiben abzunehmen.

Der Knecht zog den Hut vom Kopfe, drehte ihn in den beiden Händen herum und sagte: Herr Amtmann, ich kann nichts dafür, ich habe gewartet und gewartet die ganze, ausgeschlagene Zeit ....

Schon gut! rief Eva, aber den Brief?

Der Knecht sah sie an; 'nen Brief? Ich hab' keinen Brief, Mamsell! sagte er.

Inzwischen waren auch die Männer hinzugekommen, und der Amtmann fragte, den Knecht scharf betrachtend: Du bringst keinen Brief?

Nein, Herr Amtmann! Der gnädige Herr wird Antwort schicken.

Wann? herrschte der Amtmann, dem das Blut zu Kopfe stieg.

Wann? das kann ich nicht sagen, Herr Amtmann! Das ist mir nicht bestellt, Herr Amtmann!

Der Amtmann sagte, er könne gehen, und rief ihn dann doch noch einmal zurück, um sich zu erkundigen, ob der Herr Baron vielleicht ausgefahren sei. Der Knecht verneinte das [434] auf das bestimmteste, und sichtlich betroffen standen das Brautpaar und Adam nach des Knechtes Entfernung einander gegenüber.

Was bedeutet das? fragte Herbert.

Der Amtmann lachte bitter. Was es bedeutet? Man hat Sie früher auf dem Schlosse verwöhnt, Herr Schwager, weil man es so für gut fand, und beweist Ihnen jetzt, daß man es nicht nöthig gehabt hätte, Sie also zu verwöhnen!

Eva's Antlitz hatte sich verdüstert. Du irrst, entgegnete sie, das ist keine bloße Laune!

Keine Laune? wiederholte der Amtmann; nun, wenn's keine Laune ist, dann ist's, was sie sich am wenigsten versagen und was eigentlich ihr Hauptvergnügen ist, dann ist's reine Willkür! Seit sie das vertriebene Franzosenpack im Schlosse haben, sind sie wie darauf versessen, es in jedem Augenblicke zu beweisen, daß sie hier noch nach Belieben schalten und walten können! Aber man bekommt das endlich satt!

Antwort schicken! Was das heißen soll? Antwort kann man heute schicken oder morgen oder über's Jahr! fiel ihm Herbert verdrießlich in das Wort, – und nun weinen Sie vollends darüber, liebe Eva!

Der Bruder schalt sie dafür. O, rief sie, wenn es nichts als des Freiherrn Willkür wäre, wollte ich ja nicht weinen, aber dahinter steckt die gnädige Frau! Sie gönnt ihn mir nicht; das weiß ja Herbert auch!

Der Amtmann traute seinen Ohren nicht. Er fragte; Eva erzählte, was sie mit der gnädigen Frau erlebt und was sie selbst dem Bruder bis dahin mit eifersüchtiger Verschwiegenheit vorenthalten, und da dieser in Herbert drang, gestand der letztere es endlich ein, daß er allerdings oben in seinem Schreibtische ein paar Zeilen gefunden, die – wenn Eva sie nicht hineingelegt – ihm wohl von der Baronin gekommen sein konnten. Er versicherte, jene Zeilen hätten ihn auf das höchste [435] überrascht, obschon er Angelika früher bewundert und, weil er sie nicht für glücklich gehalten, sie auch beklagt und ihr dies einmal ausgesprochen habe. Indeß sei eben seine Werbung um die geliebte Eva die Antwort gewesen, welche er der Baronin auf die von ihr geschriebenen Verse gegeben habe, und ....

Geben Sie mir Ihr Wort darauf, rief Eva, ihn unter brechend, Ihr Ehrenwort, daß Sie diese arglistige Frau nicht wiedersehen wollen!

Er konnte ihr dieses Versprechen nicht leisten, denn er war nicht sicher, es halten zu können, und da er nicht umhin gekonnt, das Geheimniß der Baronin theilweise Preis zu geben, bemühte er sich doppelt, es den Andern darzuthun, wie nach seiner Kenntniß ihrer Natur Angelika an einer kleinlichen Rache keinen Gefallen und in derselben keine Befriedigung finden könne.

Der Amtmann lächelte. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, meinte er, daß Sie die vornehmen Herrschaften nicht kennen, und wenn Sie wahrscheinlich besser von der Baronin denken, als solche Damen es zu verdienen pflegen, so kann ich Sie auch nicht darum schelten. Gegen den Windstoß, der Einem eine reife Frucht in den Schooß wirft, hat im Grunde Niemand etwas einzuwenden, auch wenn er sie nicht genießt –

Das Wort verrieth die ganze Erbitterung des Amtmanns und verletzte Herbert, aber er vermochte die Baronin eben so wenig zu vertheidigen als zu verdammen. Geschmeichelte Eitelkeit, getäuschte Erwartungen, unbestimmte Besorgnisse und das unangenehme Bewußtsein, seine Braut verstimmt und in einer ihr peinlichen Lage zurückzulassen, bedrängten ihn gleichzeitig und erschwerten ihm das Scheiden, das doch endlich nicht weiter hinausgeschoben werden durfte.

Herbert mußte die Nacht zu Hülfe nehmen, um am nächsten Morgen rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, und wie ihn die Bilder einer beglückenden Zukunft, wie ihn die lieblichen [436] Erinnerungen der beiden letzten Tage und unruhige Gedanken mancher Art nicht zum Schlafe kommen ließen, so fanden auch Eva und der Amtmann keine Rast.

Man war übereingekommen, des Freiherrn Bestimmung bis gegen den nächsten Mittag hin gelassen zu erwarten. Hatte man sie dann noch nicht erhalten, so wollte Adam auf das Schloß gehen und selber darum bitten. Am Morgen machte er sich früher noch, als er sonst pflegte, an seine Arbeit. Er verwies Eva zur Ruhe, da ihre aufgeregte Empfindung sich in lebhaften Aeußerungen erging, und vermied es danach geflissentlich, mit ihr zusammen zu sein.

Als er um die Frühstückszeit vom Felde nach Hause kam, fragte er: Ist etwas vom Schlosse da? – Eva, die still war, wie nur große Unruhe sie es werden ließ, verneinte es. So soll der Kutscher anspannen!

Du willst fahren, lieber Bruder?

Ja! Das Reiten macht mich warm! entgegnete er und verließ sie, ohne weiter mit ihr zu sprechen.

Als er wiederkehrte, hatte er sich gekleidet wie ein Mann seines Standes es für eine feierliche Handlung zu thun pflegte; auch seine ernste, zusammengefaßte Haltung war einer solchen entsprechend. Während er den Wagen erwartete, trat Eva an ihn heran, und ihre Hand auf seine Schulter legend, sagte sie: Es thut mir recht leid, Bruder, daß ich Dir Ungelegenheiten veranlasse!

Mach' Dir keine Sorgen darum; wer weiß, wozu es gut ist! versetzte er.

Eva rückte ihm die Schleife am Halstuche zurecht, bürstete ihm den sauberen Tuchrock noch einmal ab und machte sich immer wieder etwas mit ihm zu schaffen, aber sie sprachen nicht mit einander.

Der Amtmann hielt sich innerlich vor, was er dem Freiherrn vorzustellen gedachte; Eva hätte dem Bruder gern sagen [437] mögen, was sie vor dem Freiherrn gesagt zu haben wünschte, aber sie traute sich nicht, dem Bruder vorzuschreiben, und so begleitete sie ihn vor die Thüre hinaus, wo der Einspänner ihn erwartete. Du kommst doch geraden Weges nach Hause? fragte sie.

Geraden Wegs! versetzte er und befahl dem Kutscher, zuzufahren.

Wer den Freiherrn sprechen wollte, mußte gegen zwölf Uhr kommen. Das war nun freilich für seine Leute, besonders für diejenigen, welche nicht in Richten, sondern in Neudorf oder, wie der Amtmann, gar in Rothenfeld wohnten, nicht die bequemste Stunde, denn es war ihre Mittagszeit; aber gerade deßhalb hatte der Großvater des Barons es also eingeführt, und man hatte es beibehalten von Vater auf Sohn, damit man nicht ohne gewichtigen Grund in Anspruch genommen und nicht unnöthig von den Leuten aufgehalten werden konnte.

Der Freiherr, welcher auf seine Wohlgestalt immer großen Werth gelegt, neigte seit einiger Zeit zum Fettwerden und hatte deßhalb angefangen, sich viel Bewegung zu machen. Als man ihm den Amtmann meldete, ging er eben in Gesellschaft des Marquis in dem großen Saale des Erdgeschosses auf und nieder, in welchem man zur Winterzeit einen Theil der immergrünen Gewächse aufzustellen pflegte, und da die Sonne warm und hell durch die geöffneten Thüren hineinschien, so daß es dem Freiherrn in der Luft behagte, befahl er, den Amtmann hieher zu senden.

Vermuthlich ein Liebesbote, aber freilich ein etwas robuster, bemerkte lächelnd der Marquis, nachdem der Kammerdiener sich entfernt hatte. Ich hoffe, Herr Baron, die Fürbitte Ihrer Frau Gemahlin wird Sie erweicht haben. Und sich auf ein damals übliches Madrigal beziehend, sang er mit seiner schönen Stimme: Es ist so süß, so süß, zu beglücken!

[438] Der Freiherr, welcher den ganzen Morgen, obschon er sich sehr gleichmüthig zeigte, doch nicht gut aufgelegt gewesen war, lächelte flüchtig und bemerkte: Sie werden es trotzdem bei Zeiten lernen müssen, sich den Wünschen der Damen zu widersetzen!

So wollen Sie wirklich die kleine Eva dem Architekten noch nicht bewilligen? fragte der Marquis, während ein kaum merkliches Lächeln um seine feinen, sarkastischen Lippen spielte.

Ich pflege von meinen wohl begründeten Vorsätzen nicht zurückzukommen, mein lieber Marquis.

Der Marquis verneigte sich leicht. Gewiß nicht! rief er, und als komme ihm eben erst der Gedanke, fügte er hinzu: Uebrigens haben Sie, glaube ich, durchaus Recht, mein verehrter Freund, wenn Sie diesem Herrn Herbert in einem gewissen Punkte, den man freilich nicht zu schwer nehmen darf, nicht so unbedingt vertrauen, als die Frau Baronin und der würdige Caplan, denn im Uebrigen mag sicherlich nichts gegen Ihren Architekten einzuwenden sein!

Der Freiherr antwortete darauf nicht sogleich. Es lag im Allgemeinen nicht in seiner Art, solche Einflüsterungen zu beachten. Indeß gegen seine Gewohnheit fragte er nach einer Weile: Marquis, was wissen Sie von dem Architekten?

Nur Gerüchte, wenn ich's recht bedenke, versetzte dieser zurückhaltend, nachdem die Frage an ihn gethan worden.

Und welche, wenn ich bitten darf?

Ich hörte sie neulich, als ich in der Stadt war. Man nannte ihn den Liebhaber von Mademoiselle Flies, von der Tochter Ihres Juweliers, die er freilich nicht heirathen kann ....

Und weßhalb nicht?

Ach, eine Jüdin! meinte der Marquis.

Mich dünkt, entgegnete der Freiherr, es haben in der Hauptstadt jetzt ganz andere Leute als mein Architekt die Töchter reicher Juden zu Frauen genommen, und es ist seit Jahren in [439] der Welt mehr Auffallendes geschehen, als das. Reich genug ist Flies, und Sie sagen ja, schön sei das Mädchen auch geworden!

Sich verdammen zu lassen um sie! rief der Marquis und erging sich in der Beschreibung von Seba's Reizen. Der Freiherr hörte nicht darauf. Es ist mir lieb, dies zu wissen! war Alles, was er sagte, als eben der Diener anzeigte, daß der Amtmann warte.

Als Adam in die Gallerie trat, war er unangenehm durch die Gegenwart des Marquis überrascht, obschon dieser sich zurückgezogen hatte und, anscheinend mit einem Buche beschäftigt, an dem Postamente einer der Statuen lehnte, deren sich mehrere zu beiden Seiten aufgestellt befanden. Der Freiherr blieb mitten im Saale stehen, und ohne dem Amtmanne Zeit zu dem Wunsche eines guten Morgens zu lassen, sagte er: Es ist mir lieb, Steinert, daß Er kommt, ich hätte Ihn sonst heute oder morgen rufen lassen. Mit der Eva und dem Baumeister ist es nichts; die Eva muß sich's aus dem Sinne schlagen!

Die kurze, rasche Weise, in welcher der Baron von einer Angelegenheit sprach, die für Adam's Schwester und durch diese für ihn selbst von der größten Wichtigkeit war, und daß er ihn in der Anwesenheit des Marquis in solcher Weise abzufertigen meinte, verdrossen den Amtmann auf das höchste. Er war gekommen, eine Familiensache ernsthaft mit dem Vormunde seiner Schwester zu berathen, und wurde wie ein Lakai, dem man einen Urlaub abschlägt, stehenden Fußes abgefertigt und abgewiesen. Obschon er gewohnt war, als Untergebener vor eines Herrn Willkür Stand zu halten, hatte er doch Mühe, ruhig zu bleiben, denn hier handelte es sich nicht um seinen Dienst und um kein Amtsverhältniß. Er trat einen Schritt näher an den Baron heran und sagte, die Stimme senkend: Ich würde es dem Herrn Baron sehr danken, wenn er die [440] Gnade haben wollte, mich in seinem Cabinette anzuhören. Er blickte dabei nach dem Marquis hinüber; der Freiherr verstand ihn auch.

Der Herr Marquis versteht das Deutsche nicht! entgegnete er.

Ich habe Beweise vom Gegentheile, gnädiger Herr! bemerkte Adam bittend.

Die Einrede machte den Freiherrn ärgerlich, dessen seit der gestrigen Unterredung mit der Baronin schmerzlich aufgeregter Sinn sich nur schwer beherrschen lassen und nur auf einen Anlaß gewartet hatte, um sich in einem Ausbruche heftiger Leidenschaft genug zu thun. Gleichviel, rief der Freiherr, die Sache ist ja kein Geheimniß: sag' Er, was Er will!

Der Amtmann, welcher nicht ahnen konnte, was im Schlosse vorgegangen, und der, wie selbstherrisch der Baron auch immer war, doch eine so grundlos herrische Behandlung sonst von ihm nicht erfahren hatte, wollte das Anliegen seiner Schwester nicht unnöthig einer übeln Stimmung ihres Vormundes zum Opfer werden lassen, und mit mehr Ergebenheit, als in seinem Innern war, sagte er: Wenn ich vielleicht jetzt ungelegen komme, Herr Baron, so will ich warten – oder wiederkehren!

Der Baron sah aber in dem bescheiden gethanen Vorschlage nichts als eine Widersetzlichkeit, und eine solche wollte er in Gegenwart des Marquis nicht ohne Rüge lassen, da dieser, wie der Freiherr es wohl wußte, des Deutschen im Laufe der Jahre allerdings mächtig genug geworden war, um vollkommen zu verstehen, was hier vorging.

Wiederkommen – weßhalb das? Die Sache ist ja kurz genug, und ich werde Ihm schon sagen, wenn Er mir ungelegen kommt! rief der Baron. Der Baumeister will die Eva heirathen, und da ist Er wie die Andern alle. Wenn's ans Heirathen gehen soll, läuft ihnen der Verstand weg! Kennt Er den Architekten? Was weiß Er von ihm?

[441] Gnädiger Herr, ich kenne Herrn Herbert nun seit fünf vollen Jahren, versetzte der Amtmann, dem die Worte des Barons das Herz aufwallen machten. Er ist mein Freund geworden, ich kenne ihn als einen Ehrenmann, und der gnädige Herr und die Frau Baronin selber haben ihn ja ihrer Gesellschaft auch nicht für unwerth angesehen.

Das war, mochte er sie absichtlich oder unabsichtlich gewählt haben, sicherlich die unglücklichste Beweisführung, welcher sich Adam bedienen konnte, denn gegen seine Gewohnheit heftig auffahrend, rief der Baron: Laß Er meine und meines Hauses Handlungsweise ein für alle Mal aus dem Bereiche Seiner Betrachtungen! Hört Er, merk' Er sich das! Damit Er aber weiß, woran Er ist, und damit Er es der Eva sagen kann, woran sie sich zu halten hat, so melde Er ihr, daß einer ein guter Baumeister sein und zum Ehemanne nicht taugen könne! Der Herbert steht mir nicht an, ich traue ihm nicht, und dabei bleibt's.

Er wendete sich ab und wollte sich entfernen. Aber auch Adam's Geduld war jetzt am Ende. Er konnte es nicht ertragen, sich und Herbert, für den er eine herzliche Freundschaft fühlte, im Beisein des von ihm mißachteten Marquis so unwürdig behandeln zu lassen, und sich hoch aufrichtend, sagte er: Um Vergebung, gnädiger Herr, aber dabei kann's unmöglich sein Bewenden haben. Der Herr Baron müßten mich selber für keinen Mann von Ehre halten, ließ' ich das auf meinem Freunde, auf dem Manne sitzen, den ich nun einmal als meiner Schwester Bräutigam ansehe! Der gnädige Herr selber haben uns den Baumeister in das Haus geschickt ....

Doch nicht, damit die Eva sich gleich auf gut Glück in eine Liebschaft mit ihm einläßt!

Gnädiger Herr, fuhr der Amtmann auf, und seine großen Augen blitzten – meine Schwester ....

[442] Sein Vater, fiel ihm der Freiherr in die Rede, da er fühlen mochte, daß er zu weit gegangen sei, Sein Vater hat mir das Mädchen anvertraut, ich habe darauf zu halten, daß kein leichtsinniger, kein unzuverlässiger Mann es bekommt; ich habe des Mädchens Ruf, Glück und Zukunft zu bedenken, und das thue ich!

So sollten doch der gnädige Herr vor Allem solchen Leuten das Handwerk verbieten und uns solche Leute nicht ins Haus schicken, die der Eva geraden Weges Fallstricke legen, fuhr der Amtmann, dem die Galle überlief, heraus; denn, unumwunden, gnädiger Herr, dem Herrn Marquis weis' ich die Thür, wenn er sich noch einmal in meinem Hause blicken läßt!

Er und der Baron wendeten sich dabei gleichzeitig nach der Seite um, an welcher der Marquis sich vorhin befunden, indeß sie gewahrten, daß er den Saal verlassen hatte, und leidenschaftlicher, als der Amtmann seinen Herrn jemals gesehen, rief dieser: Stecken Ihm auch die aufsässigen Gedanken im Sinne? Vergißt Er, daß ich Sein Herr bin? Wo ist Sein Haus, Er Unverschämter?

Aber grade die Maßlosigkeit des Barons brachte Adam zur Besinnung, und sich gewaltsam fassend, sagte er: Ich vergesse nicht, daß ich in den Diensten des gnädigen Herrn bin, aber ich bin nicht sein Knecht, nicht sein Höriger: Ich bin ein freier Mann, gnädiger Herr! Wo ich und meine Väter mit Ehren seit langen Jahren Haus gehalten haben, da ist mein Haus, und ich müßte kein Mann von Ehre sein, wenn ich da nicht Jedermann die Thüre wiese, der mit Unehren sich an meine Schwester wagt!

Er war blaß geworden, während er so sprach; auch der Freiherr hatte die Farbe gewechselt. Nun denn, rief er, Hausrecht wider Hausrecht! Ich will Ihm zeigen, wer hier Herr [443] ist, da Er's zu vergessen scheint! Er verläßt mein Haus und meinen Dienst!

Das traf den Amtmann, aber auch dem Freiherrn war nicht wohl zu Muthe, da er das Wort gesprochen. Einen Augenblick fühlte Adam, als sinke er in das Leere, indeß den Freiherrn wollte er das nicht merken lassen, und sich zusammennehmend, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen: Der Herr Baron haben zu befehlen! Aber gleich heute oder morgen kann ich nicht von hier fort – wie viel Zeit wollen der Herr Baron mir lassen?

Die anscheinende Ruhe seines Untergebenen reizte den Baron, und sein Zorn gegen die männliche Fassung Adam's, in welcher jener nur die jetzige ihm so verhaßte Auflehnung des bürgerlichen Standes gegen die über ihm stehende Classe des Adels sah, verhärtete seinen Sinn.

Mach' Er das mit sich selber ab! gab er dem Amtmanne kurz zur Antwort, kehrte ihm den Rücken und entfernte sich durch die Seitenthür, durch welche der Marquis vorhin gegangen war. Der Amtmann stand eine Minute lang regungslos auf seinem Platze, dann ging er langsam durch den Haupteingang von dannen.

[444]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel

Es war ein schwerer, gewichtiger Schritt, mit dem der Amtmann durch die breiten Gänge, durch die hohe Eintrittshalle und über die weit hingelagerte Rampe hinabschritt, aber das Herz war ihm noch schwerer. Was er jetzt erlebt hatte, was ihm eben jetzt widerfahren, war keine Kleinigkeit. Siebenundzwanzig Jahre hatte sein Urgroßvater die Arten'schen Güter verwaltet, achtundvierzig Jahre sein Großvater. Zu seines Vaters Zeiten hatte Baron Franz die hundertjährige Dienstzeit der Steinerts auf Schloß Richten feierlich begangen. Der reichverzierte silberne Pokal, den der Freiherr damals seinem Amtmanne verehrt, stand noch mit dem Eichenkranze, der freilich welk geworden war, voran im großen Glasschranke. Seit acht Jahren, seit seines Vaters Tode, wirthschaftete Adam nun für den Baron, und als er die Stelle angetreten, war er mit dem guten, festen Glauben darangegangen, hier zu leben und zu schaffen und zu sterben wie die Amtleute vor ihm, wie sein Vater und dessen Vater auch.

Allerdings hatten seitdem die Zeiten und die Zustände sich sehr verändert. Er konnte nicht mehr, wie sein Vater es gethan, am Neujahrstage es dem Herrn vermelden, daß und welchen Ueberschuß die Güter eingetragen. Es war seit den acht Jahren immer mehr aufgegangen, als man eingenommen hatte; der Kirchenbau, die Unterstützung der vielen Flüchtlinge,[445] das breite, keinen Zeitverhältnissen sich unterordnende Gesellschaftsleben und die große Prachtliebe des Barons, welche von der Herzogin genährt ward, hatten in wenig Jahren nicht nur die angesammelten Capitalien aufgezehrt, sondern, da man in den letzten Jahren oft schnell das Geld gebraucht, mannigfache Anleihen nöthig gemacht, für die man bei den unruhigen Zeiten ungewöhnlich hohe Zinsen zahlen müssen, die man nicht immer gleich zu decken im Stande gewesen war und welche neue Anleihen erfordert hatten. Freilich waren diese Verlegenheiten durch Aufnahme einer Hypothek auf Rothenfeld, in welcher Adam, um keine fremden Hände an das Gut heranzulassen, durch Herrn Flies sein und Eva's Vermögen angelegt, für den Augenblick beseitigt worden und wenn Adam sich auch Sorge darüber machte, daß schon wieder neue Wechsel für den Freiherrn zu zahlen waren, so hatte er auch wieder besser als ein Anderer die Hülfsquellen der Arten'schen Besitzungen gekannt und sich damit beruhigt, daß Alles noch auszugleichen und herzustellen sei, wenn man einmal mit dem unnützen Kirchenbaue fertig und der kostspieligen Flüchtlinge ledig geworden sein würde. Auf Jahre hinaus hatte er seine Berechnungen, seine Plane angelegt; all sein Sinnen, all seine Kraft und Gedanken hatte er an die Verwaltung dieser Güter geknüpft. Von früh auf, durch eine hundertjährige Vergangenheit, durch alle seine Familien-Erinnerungen gewöhnt, das Schicksal der Steinert's mit dem der Herren von Arten, denen sie dienten, unzertrennlich verbunden zu denken, war ihm erst in den allerletzten Zeiten je zuweilen die Vorstellung gekommen, daß es so nicht immer gehen, daß Verhältnisse eintreten könnten, unter denen er nicht im Stande sein würde, die Herrschaft weiter zu bewirthschaften. Es hatten ihm das jedoch so entfernte Möglichkeiten gedünkt, daß er sich nie lange, nie ernstlich mit ihnen beschäftigt; und daß er, einer von den Steinerts, [446] einer von den Amtleuten, die wie Lehnsleute in dem Hause in Rothenfeld gesessen, von einem der Freiherren, von seinem Freiherrn mit Schimpf und Schande von Haus und Hof getrieben werden könne, daran hatte er in keiner Stunde seines Lebens noch gedacht. Um so härter trat das Ereigniß vor ihn hin, um so fester mußte er sich ihm gegenüberstellen, und er that das auch. War er doch nicht der erste Mensch, dessen Schicksal eine plötzliche Umwälzung erfuhr; war er doch nicht hülflos, wenn er diese Güter nicht mehr bewirthschaftete! Die Steinerts hatten ein hübsches Vermögen zusammengebracht im ehrlichen Dienste der Herren von Arten, und es stand ja in der Bibel, daß denen, die der Herr liebt, Alles zum Guten gereichen müsse. Wer weiß, wozu es gut war, daß es hier mit Einem Male mit ihnen zu Ende ging! Stand es doch nicht in den Sternen geschrieben, daß die Steinerts immer nur Amtleute der Freiherren von Arten bleiben sollten! Sie konnten Gutsbesitzer werden, sich auf eigene Füße stellen, besser als hundert Andere, denn sie hatten die Kenntnisse und das Capital dazu.

Es half aber nichts, daß Adam sich dies Alles vorhielt und daß dies Alles seine volle Richtigkeit hatte. Der Mensch reißt sich nicht mit Einem Schlage von seiner Vergangenheit los, und wo er's thun muß, blutet die Wunde noch lange nach.

Wie er so einsam in seinem Wagen dahinfuhr und mit dem vertrauten Auge über die Gegend hinsah, fand er sich mit Allem durch seine Sorgfalt dafür verknüpft. Er kannte jeden Baum, jeden Strauch. Für jeden Acker hatte er gesorgt, jeden Weg bessern, jeden Zaun erhalten, die meisten Hecken in den letzten Jahren pflanzen lassen. Die Pferde, welche der Knecht zum Eggen hinausritt, hatte Adam auf dem letzten Markte gekauft; der Knecht war auf dem Hofe in Rothenfeld geboren und erwachsen. Zu der Schafheerde, welche der Hirt, nun der [447] Mittag vorüber war, noch einmal auf die Stoppeln hinausführte, hatte Adam's Großvater den Stamm gekauft, und Adam selber war vor sechs Jahren in des Herrn Auftrag in Sachsen gewesen, von dort her eine edlere Race einzuführen.

In wessen Hände das nun kommen wird? dachte Adam. Es wird's nicht leicht einer so gut halten, wie wir gethan! Es wird Manches drunter und drüber gehen, wenn einer darüber geräth, der's nicht zu übersehen und zusammenzuhalten weiß! Und gar, – wenn ein Unredlicher darüber käme!

Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Wie war es denn gekommen, das arge Zerwürfniß? Was war denn eigentlich geschehen? Und war es denn nicht zu vermeiden gewesen? Er konnte es noch nicht begreifen. – Mit großem Bedachte ging er den ganzen Lauf der Unterredung durch. Wort für Wort wiederholte er sich Alles. Er brachte die Anwesenheit des Marquis, die Gemüthsart des Barons, sein gebieterisches Wesen und selbst die Art von väterlicher Herrschaft in Anschlag, die der Herr über ihn geübt, weil er ihn von Kindesbeinen aufwachsen sehen. Er erwog Alles, bis auf den Ton, bis auf die Mienen, mit welchen er zu dem Herrn gesprochen, aber er konnte sich keinen Vorwurf machen. Sein Mannesgefühl und sein gutes Recht durfte er nicht antasten lassen, der bloßen, launenhaften Willkür brauchte er sich nicht zu unterwerfen. Er konnte mit seiner einzigen Schwester Zufriedenheit und Glück nicht also spielen lassen, denn es war klar, aus welchem Grunde immer, der Freiherr hatte ihn absichtlich demüthigen und kränken wollen, und glücklicher Weise befand er sich nicht in der Lage, dies hinnehmen und ertragen zu müssen. Es war also gut, ganz gut so, wie es gekommen war.

An dieser Meinung richtete er sich fest empor, und schon glaubte er vollständig Meister über den erlittenen Eindruck geworden zu sein, als sein Wagen in das Thor des Amthofes [448] einfuhr. Wie es so da lag, breit und stattlich unter den mächtigen Bäumen, das gute, alte Haus, so hatte sein Urgroßvater es erbaut. Die Bäume aber waren weit älter. Ueber diese Treppe war sein Vater als Bräutigam mit seiner Mutter eingezogen, über diese Treppe hatten sie Vater und Mutter zur letzten Rast getragen. Hier hatte er gespielt; hier an der Treppe hatte er gewartet, als sie mit der Eva zur Taufe nach der Kirche gefahren waren. Alle seine Erinnerungen knüpften sich an diesen Fleck Erde, an dieses alte Haus; alle seine Hoffnungen hatte er im Geiste damit in Verbindung gesetzt, und es that ihm im Herzen weh, als eben, da er vor seiner Thüre anlangte, der Gärtner ein überschüssiges Gesträuch entwurzelte und über den Zaun hinauswarf.

Entwurzelt! murmelte er unwillkürlich, und es lief ihm kalt durch die starken Glieder. Aber der Mensch ist kein Gewächs! sagte er sich zum Troste, denn eines Trostes fühlte er sich bedürftig.

Nun? rief ihm Eva entgegen, sobald er den Fuß auf den Boden gesetzt.

Geduld, versetzte er, laß mich nur erst in die Stube hinein! – Sie sah, daß etwas ganz Unerwartetes geschehen sein mußte, ließ ihn vorangehen und folgte ihm.

Der Amtmann hing den Hut an den Nagel, legte die Handschuhe zur Seite und wandte sich nach seiner Stube, um seine Kleider zu wechseln. Es drängte ihn nicht, das Schwere auszusprechen, er scheute sich vielmehr davor. Aber die Schwester ertrug es nicht länger. Sie trat behutsam an ihn heran, legte den Arm auf seine Schulter und sagte: Du bringst nichts Gutes, Bruder! Du hast um meinetwillen Unannehmlichkeit gehabt!

Nicht um Deinetwillen! gab er ihr zur Antwort.

[449] Aber dennoch Unannehmlichkeiten? – Er bejahte es kurz. – So billigt der Baron die Heirath nicht? fragte sie kleinlaut.

Adam sah sie an, als komme ihm diese Angelegenheit erst jetzt wieder in den Sinn, und in dem Augenblicke nur an sich selber denkend, sagte er: Ach, das ist ja das Wenigste!

Das Wenigste? Aber was ist denn sonst geschehen? rief Eva, der des Bruders sichtliche Erschütterung allmählich immer klarer wurde, um Gottes willen, was ist denn geschehen?

Er setzte sich hin und zog sie neben sich. Mach' Dich bereit, Schwester, sprach er, etwas recht Unerwartetes zu hören; es hat mich auch gefaßt, als ich's vernahm! – Er hielt inne und sagte dann: Es ist aus zwischen uns und ihnen – wir gehen fort von hier!

Adam, rief das Mädchen, Adam, das ist ja gar nicht möglich! Wir, wir sollen fort von hier, von hier?

Ihr Ton erweckte den eigenen Schmerz aufs Neue. Du wärst ja doch bald fortgegangen! sagte er, um sie und sich zu trösten.

Aber Du, Du? brach Eva hervor und umschlang ihn mit ihren Armen, und ihre Thränen fielen nieder auf seine Brust, und das Herz ward ihm so weich, daß er keines Wortes mächtig war. Draußen tickte die große, englische Stehuhr ihren altgewohnten Pendelschlag, im Hofe plätscherte das Wasser des Rohrbrunnens in das weite Becken.

Die Uhr wird hier nicht lange mehr schlagen! Das Wasser werde ich nicht lange mehr fallen hören! dachte er, und er hatte Noth, die eigenen Thränen zurückzuhalten, deren er sich schämte.

Mit tiefem Athemzuge stand er auf. Jetzt, da Eva es wußte, hatte er überwunden. Sei verständig, Mädchen, sagte er, und mach' uns beiden das Herz nicht unnütz schwer! [450] Richten und Rothenfeld sind nicht die Welt, und ich denke, wir sollen fortan beide keinen Herrn mehr haben, der uns befehlen kann – und bald Gott dafür danken, daß wir frei sind, Du und ich! Laß den Christian satteln, er soll heute bis Feldheim reiten, so erfährt Herbert morgen Mittag in Kerben, was geschehen ist, und Du mußtest es ja auch erfahren! – Komm' zu mir, wenn Du den Befehl gegeben hast.

[451]
16. Capitel
Sechszehntes Capitel

Dem Freiherrn seiner Seits war es auch nicht wohl ums Herz. Er hatte zu viel Ehrgefühl und Stolz, um es nicht schwer zu empfinden, wenn er sich sagen mußte, daß er einem seiner Untergebenen ein Unrecht gethan, und in diesem Falle befand er sich jetzt seinem Amtmanne gegenüber. Dazu hing er am Hergebrachten, am Gewohnten mehr als er es sich selber eingestand, und die Herren von Arten hatten sich immer etwas damit gewußt, seit mehr als hundert Jahren dasselbe Geschlecht in ihren Diensten zu haben. Alte, treue Diener gehörten nach der richtigen Ansicht des Freiherrn zum edelsten Familienbesitz, und noch war er niemals in der Lage gewesen, sich eines Theils desselben zu entäußern. Es wäre ihm hart angekommen, sich von einem der von Geschlecht zu Geschlecht vererbten Geräthe zu trennen; sich von einem Menschen loszusagen, dessen Familie so lange mit den Erinnerungen seines Hauses verbunden gewesen war, kam ihm noch schwerer an. Und er hatte den Adam, er hatte beide Geschwister gern. Es waren, das konnte und mochte er sich selbst in dieser Stunde nicht verhehlen, tüchtige und brave Menschen. Einen treueren Beamten als den Adam konnte er nicht finden.

Er ging mit sich lange und ernsthaft zu Rathe. Wären die Zeiten gewesen wie früher, so würde er vielleicht nicht angestanden haben, am nächsten Tage den Amtmann kommen zu lassen, ihm, der im Grunde ja noch ein junger Mensch war, [452] den Kopf tüchtig zurecht zu setzen und ihm dann anzuzeigen, daß er ihm vergeben, ihn in seinem Dienste behalten wolle, und Adam würde das dankbar angenommen haben. Aber die Zeiten hatten sich gewaltig geändert, seit die Revolution in Frankreich ausgebrochen war, seit man dort den edeln, unglücklichen König enthauptet und eine Staatsverfassung, eine Republik eingeführt hatte, in der Gewerbtreibende und Gelehrte, Leute ohne Geburt und Rang am Ruder waren, die den Adel seines angestammten Besitzes, seiner angeerbten Vorrechte beraubt und das Blut der edelsten Geschlechter in Strömen vergossen hatten. In Adam's Worten: Ich bin ein freier Mann! hatte der Freiherr vernommen, was jetzt, seit sie in Frankreich die Menschenrechte verkündet, all diesen Leuten im Kopfe spukte, und das war es gewesen, was ihn so erbittert hatte, was ihm auch jetzt ein verzeihendes Einlenken als völlig unthunlich erscheinen ließ; denn undenkbar war es nicht, daß der Amtmann, wie die Welt jetzt aussah, es verschmähte, die dargebotene Begnadigung anzunehmen. Er hatte zu fest, zu strack vor ihm gestanden! Adam war auch ganz der Mann danach, mit seinem ansehnlichen Vermögen lieber selbst den Gutsherrn machen zu wollen – und was dann?

Der Freiherr konnte, durfte nach seiner Ueberzeugung nicht widerrufen, was er ausgesprochen! Allerdings hatte er damit eine Menge von Unbequemlichkeiten und Sorgen über sich genommen, aber es blieb ihm nichts übrig, als den Sohn des braven Steinert mit einer gerechten Beschwerde über seinen Herrn von dannen gehen zu lassen. Denn gegen Herbert und Eva war er thatsächlich nicht gerecht gewesen, und an Allem dem trug, wenn er's recht bedachte, auch Angelika wieder die Schuld!

Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand gegen die Brust. Da brannte er ihn immerfort, der Schmerz: Angelika liebte Herbert, sie selbst hatte es ihm gestanden, fast ohne sein Zuthun, [453] freiwillig gestanden! Er war sehr unglücklich! – Der Caplan, die Herzogin wußten es, ja – und was das Schlimmste war, es wußte es auch der Marquis!

Er hatte diesen niemals gern gesehen. Die große Leichtfertigkeit desselben, seine Lust an kleinlichen Erfolgen, selbst die Weise, in welcher er sich über seines Königshauses, seines Vaterlandes und über sein eigenes Schicksal fortzusetzen wußte, däuchten dem Freiherrn eines Edelmannes nicht würdig. Daß der Marquis ihn jetzt gar in die Lage brachte, seinen Gast von dem Amtmanne, von einem seiner Diener, anklagen zu hören, daß der Marquis ihn dazu zwang, ihm Vorstellungen zu machen, war ihm widerwärtig – und ernstliche Vorstellungen mußte er ihm machen, denn es waren bereits mehrfach ähnlich klagende Berichte zu des Freiherrn Ohr gedrungen.

Den Freiherrn hatte der Schlaf die ganze Nacht geflohen. Seine Nerven waren abgespannt, sein ganzes Wesen bedrückt, und das nasse, bleifarbige Gewölk, das keinen Sonnenstrahl hindurchließ, die unbewegte, schwere Luft des schwülen Herbsttages waren nicht geeignet, ihn zu befreien oder zu beleben. Die Mahlzeiten waren unter einer erzwungenen Heiterkeit vorüber gegangen, der Baron, äußerst mäßig in Speise und Trank, hatte gegen seine Gewohnheit reichlicher Wein getrunken, um zu vergessen, was ihn drückte, oder um sich wenigstens über die ihm jetzt lästige Stunde des Beisammenseins mit seinen Hausgenossen hinweg zu helfen. Während man speiste, bestellte er sein Pferd, um auszureiten, indeß der Nebel, welcher den ganzen Tag beherrscht, hatte sich endlich in einen jener Regen verwandelt, denen man es ansieht, daß sie lange währen; und weil er Luft und Bewegung nöthig hatte, nahm er wieder zu der Gallerie – so nannte man jenen Saal im Erdgeschosse – seine Zuflucht. Dorthin folgte ihm wie gewöhnlich der Marquis. Es war dem Freiherrn eben recht.

[454] Als sie sich allein mit einander befanden und mehrmals schweigend in dem Zimmer auf und nieder gegangen waren, sagte der Freiherr: Haben Sie vielleicht davon gehört, Marquis, daß ich meinen Amtmann entlasse?

Nein, versetzte der Marquis, aber Sie thun sicherlich sehr wohl daran!

Weßhalb? Was wissen Sie davon? fragte der Freiherr.

O, der Mensch hat einen Ton, Manieren! Er spielt den bourgeois gentilhomme. Er ist sicherlich einer von denen, die auch bei Ihnen gerades Weges auf die sogenannte Freiheit und Gleichheit lossteuern würden, wenn man sie nicht im Zügel hielte. Er wußte ja gar nicht mehr, was ihm geziemte und wer er war! rief der Marquis, in dem sicheren Glauben, sich dem Freiherrn damit angenehm zu machen.

Aber er verfehlte seine Wirkung. Es verdroß den Baron, seinen Amtmann von dem Fremden tadeln, es sich dabei gleichsam vorwerfen zu lassen, daß er ein Ungebührliches unter seinen Leuten geduldet habe, und mit der ihm eigenthümlichen stolzen Würde sprach er: So sollten wir in unseren Tagen um so ernstlicher darauf denken, es nicht zu vergessen, wer wir sind und was uns ziemt!

Der Marquis blieb stehen. Er hatte in seiner gegenwärtigen Abhängigkeit jenes Ehrgefühl nicht verloren, an welches der Freiherr seine Mahnung erhob, es hatte sich im Gegentheil durch seine jetzige Lage steigern müssen, da es mit seiner anmuthigen Person das Einzige war, was ihm von den Umständen nicht genommen werden konnte; und den feingepuderten Kopf hochfahrend zurückgeworfen, um sich damit der hohen Stattlichkeit seines Beschützers wenigstens im Aeußern so viel als möglich gleich zu stellen, sagte er: So ziemt es mir sicher auch, zu erfahren, Herr Baron, womit ich diese Anmahnung verschuldet!

Es war seit gestern das zweite Mal, daß ein jüngerer [455] von ihm abhängiger Mann, ein Mann, dem der Baron sich in jeder Rücksicht überlegen wußte, sich ihm herausfordernd und auf sein Recht pochend entgegenstellte, und unwillkürlich sagte er sich, wie der Trotz des Amtmannes es gewesen sei, der den Marquis ermuthigt habe. Das brachte des Freiherrn erhitztes Blut in Wallung, und lebhaft auffahrend, rief er: Vor allen Dingen hätte es Ihnen wohl geziemt, es mir zu ersparen, daß meine Leute sich bei mir über den Leichtsinn und die Sitten meines Gastes beklagen müssen. Sie haben die Tochter meines Reitknechtes verführt, mein Unterförster hat sich über Sie zu beschweren gehabt, der Amtmann ....

Aber der Zorn des Barons brachte auf den jungen Franzosen, entweder weil er diese Art von Vorwürfen nicht eben erwartet haben mochte, wirklich eine komische Wirkung hervor, oder er hoffte, sich mit einem Scherze am leichtesten der Verlegenheit entziehen zu können, denn er rief lachend: Parbleu, mein Herr Baron, eine Hofdame, eine Prinzessin wäre mir allerdings lieber gewesen, aber weßhalb wollen Sie einem jungen Manne einen etwas geschmacklosen Zeitvertreib gleich zum Verbrechen machen? Irre ich mich nicht, so haben auch Sie sich seiner Zeit in Ermangelung eines Besseren gar wohl zu bescheiden verstanden, Herr Baron!

Der Freiherr ballte die Hand zusammen, die er vornehm in den Falten seines Jabots hielt. Wir sprechen von Ihnen, nicht von mir, Marquis! sagte er mit scharfer Betonung. Der Amtmann hat gedroht, vorkommenden Falles sein Hausrecht wider Sie zu brauchen, und ich wüßte nicht, wie ich's ihm wehren könnte!

Der Marquis sprang einen Schritt zurück, seine Wange erbleichte. Ich war lange Zeit ihr Gast, Herr Baron! rief er.

Und Sie werden mich durch Ihren Leichtsinn gelegentlich noch in die Lage bringen, einen Edelmann als Gast an [456] meinem Tische zu sehen, an den einer meiner Leute seine Hand gelegt hat.

Sicher nicht, Herr Baron, denn ich werde Sie sofort der Möglichkeit entheben, Ihr Gastrecht und das Recht Ihrer Jahre gegen mich in solcher Weise geltend zu machen! sagte der Marquis und verließ mit einer förmlichen und gemessenen Verbeugung die Gallerie.

Der Baron konnte nach seiner letzten Aeußerung nichts Anderes von dem Marquis erwartet haben, und doch stand er mit einer quälenden Empfindung still, als er den Tritt desselben in dem Nebenzimmer verhallen hörte. Nicht daß eben der Marquis sich entfernte, berührte den Freiherrn so unangenehm, denn dieser war ihm grade heute wieder sehr mißfällig gewesen, aber er selber fand sich wie verwandelt, und das war's, was ihn peinigte. Er, der sein ganzes Wesen zu einem würdevollen Gleichmaße herangebildet, der eine Aufgabe und eine Befriedigung darin gefunden hatte, dies in allen Lebenslagen und allen Personen gegenüber zu behaupten, er fand sich in einer Stimmung, in einer Verfassung, welche ihn dieses Gleichgewichts beraubte, welche ihn zu Handlungen hintrieb, die er selbst als ungehörige bezeichnen mußte und die ihn zu immer neuen, widerwärtigen Erörterungen drängten, in deren Folge ihm Alles unter seiner Hand zusammenbrach.

Es giebt solche Augenblicke, ich habe solche Zeiten schon erlebt, sagte er, sich zu beschwichtigen, während er mit festem, stolzem Schritte, als bedürfte er dieses Zeichens seiner selbstherrlichen Kraft, langsam in der Gallerie umherwanderte. Solch ein Zeitpunkt war's ja auch, in welchem ich vor Jahren mich von Dresden hierher zurückzog und in dem ich dann Pauline, die arme Pauline, als ein Glückspfand in mein Leben aufnahm. Er seufzte, als er sich daran erinnerte. Er hatte lange nicht an sie gedacht, nur seit gestern war ihr Bild [457] ihm wieder lebendig vor die Seele getreten, und er konnte es jetzt betrachten ohne den schmerzenden Stachel der Reue, die ihn sonst gequält hatte. Pauline hatte ihm allein angehört mit ihrem Herzen, sie war ihm treu gewesen bis in ihren Tod, sie hatte keinen Anderen geliebt, als ihn!

Er preßte die Lippen gewaltsam auf einander. Das war es! Das war es, was ihm seine Ruhe, seine Fassung raubte, was ihn kein Auge hatte schließen lassen in der Nacht!

Es war ein Bruch in sein Leben gekommen. Er fühlte sich in seiner Ehre angetastet, und der Mann, der ihn die Liebe seiner Gattin gekostet hatte, stand so tief unter ihm, daß er die erfahrene Beleidigung nicht einmal, wie es unter Edelleuten üblich, hätte rächen können, auch wenn er dies gewollt hätte. Angelika's Liebe hatte ihn nie ganz erfüllt, nie wahrhaft beglückt; aber das Vertrauen auf dieselbe hatte zu den Grundbedingungen seines Daseins gehört, und nicht mehr auf dieselbe rechnen und bauen zu können, war ein schwerer Verlust für ihn. Er hatte sich in ihr geirrt, sich betrogen, und er konnte dies weder sich selber noch denjenigen Personen verbergen, welche die Vertrauten des unglücklichen Geheimnisses geworden waren. Es konnte nicht fehlen, daß er die Frau, welche ihm diese Wunde geschlagen hatte, bald als die alleinige Ursache aller seiner Leiden und aller seiner Widerwärtigkeiten ansah.

Es war sein innerer Kummer, es war sein unterdrückter Schmerz und Grimm, die ihn sich selbst entfremdeten und die ihn im Zorne weit über seine sonstige Weise, fast bis zur Selbstvergessenheit hinausgetrieben hatten. Es war Angelika, deren Schuld den Bruch mit Adam veranlaßt; auch der verdrießliche Handel mit dem Marquis, der ihn die Gesellschaft seiner Freundin kosten und die Herzogin der Zufluchtsstätte berauben konnte, welche ihr zu bieten dem Freiherrn eine Freude und eine Ehrensache gewesen war, ließ sich schließlich auf Angelika's [458] Schuld zurückführen, und doch mußte er sie, wenn er sich nicht selber Preis geben wollte, um seiner eigenen Ehre willen nach wie vor zu lieben scheinen, während eine kalte Abneigung gegen sie sich seiner immer mehr bemächtigte.

Aber um Angelika's willen sollte die Herzogin nicht scheiden. Das wenigstens mußte er zu verhindern suchen. Hatte sie doch gleich Anfangs den Eintritt der flüchtigen Verwandten in ihr Haus mit Mißtrauen begrüßt und eben in diesen Tagen ihn vor der Herzogin gewarnt, der sie doch ihr volles Vertrauen zugewendet. Er durchschaute das Spiel, welches Angelika, wie er meinte, zu spielen gewillt war, aber er versprach sich, daß sie es nicht gewinnen, nicht auf seine und seiner Freundin Kosten als Siegerin aus demselben hervorgehen sollte.

[459]
17. Capitel
Siebzehntes Capitel

Einen Abend wie diesen hatte die Dienerschaft im Schlosse nie erlebt. Die Herzogin speiste auf ihrem Zimmer, der Marquis leistete ihr Gesellschaft. Der Freiherr aß gar nicht zu Nacht, und im Speisesaale hatten der Caplan und die Baronin die aufgetragenen Schüsseln kaum berührt.

Oben im Vorzimmer der fremden Herrschaften packte der Diener die Koffer des Marquis. Der zweite Kutscher hatte Befehl bekommen, die leichte Reisekalesche fertig zu halten, ein Reitknecht war in Nacht und Nebel mit Relaispferden nach der Stadt geschickt worden.

Man fragte den Diener des Marquis, was denn geschehen sei, daß sein Herr so plötzlich nach der Residenz aufbreche. Er konnte das nicht sagen. Man wollte erfahren, ob denn die Frau Herzogin mit ihrem Bruder gehe. Auch das wußte er nicht, und die Kammerfrau der Herzogin, von der man Auskunft erwarten durfte, ließ sich gar nicht sehen. Des Vermuthens, des Fragens, des Meinens und des Prophezeiens war auf den Treppen, in den Vorsälen und in den Domestikenzimmern gar kein Ende, und doch brachte man's zu keinem festen Abschlusse. Nur das Eine wußte man sicher, die Kammerfrau der Herzogin hatte dem Freiherrn gegen Abend einen Auftrag, der Secretair behauptete sogar, einen Brief gebracht.

Die Herzogin läßt auch packen, sagte der Diener, welcher nach der Mahlzeit die Tafel in ihrem Zimmer abzuräumen [460] gehabt hatte, und als ich eben fortging, kam der Herr Baron den Corridor entlang und ging zu ihr.

Es geschah sonst niemals, daß der Freiherr die Herzogin in ihrer Wohnung aufsuchte, ohne sich bei ihr vorher förmlich anmelden zu lassen, denn er wünschte ihr auch in seinem Schlosse das Gefühl zu erhalten, daß sie Herrin bei sich sei. Heute jedoch klopfte er selbst an ihre Thüre. Die Kammerfrau öffnete ihm und ließ ihn ein, aber die Herzogin war nicht anwesend. Erst als er nach ihr fragte, trat sie aus dem Nebenzimmer hervor.

Ihre Haltung, ihr Blick waren noch ruhiger, noch würdevoller als gewöhnlich, und ohne abzuwarten, was er ihr zu sagen habe, reichte sie ihm die Hand entgegen und sprach mit sanfter Freundlichkeit: Sehen Sie, mein Cousin, da stehen wir wieder einmal vor einem jener Ereignisse, von denen ich Ihnen oft gesprochen habe, vor einem jener Zufälle, die uns unerwartet daran mahnen, daß nichts in unserem Leben Dauer hat, und die uns davor warnen, uns keiner friedensvollen Sicherheit zu überlassen!

Sie hatte sich mit den Worten auf das Canapee gesetzt, und während der Freiherr ihr zur Seite auf einem Sessel Platz nahm, wies sie, mit einer leichten Bewegung ihn um Entschuldigung dafür bittend, daß sie in seinem Beisein eine solche Anordnung treffe, ihre Kammerfrau an, die Schreibgeräthschaften, welche auf dem Tische standen, in ihre Schatulle einzupacken.

Als die Dienerin sich entfernt hatte, sagte der Freiherr, indem er sich bittend gegen die Herzogin neigte: Lassen Sie uns nicht dem Schicksale aufbürden, was in unserer Hand liegt, meine Freundin! Gönnen wir einem Zufalle, gönnen wir der Unüberlegtheit und dem heißen Temperamente eines jungen Mannes nicht die Macht, dasjenige zu zerstören, was [461] wir durch ein Leben lang heilig gehalten haben, unsere Freundschaft, und uns dessen zu berauben, was mir wenigstens ein Unersetzliches ist! Gehen Sie nicht von uns, Herzogin, ich bitte Sie darum!

Sein Ton war weich, seine Geberde mild und traurig, denn er hatte in diesen letzten Tagen innerlich viel durchgemacht. Er liebte es, mit großmüthigem Herzen die Menschen, welche in seiner Nähe lebten, zu beglücken, und wohin er in diesem Augenblicke sah, wußte er, daß man seiner mit Unzufriedenheit gedachte. Das Schloß, das Amthaus, Alles stand in düsterm Lichte vor ihm. Alles versagte sich ihm, Alles verließ ihn, worauf er sich gestützt hatte; und nun wollte auch sie, die bewährte Freundin, von ihm gehen, die ihn mit seiner Jugendzeit verknüpfte, der er gewähren konnte, was sie sonst nirgends fand: eine Heimath und eine Sorgenfreiheit, die sie von ihm, dem Blutsverwandten, dem alten Freunde, ohne das Gefühl erniedrigender Wohlthat anzunehmen vermochte. Die Herzogin in Unfrieden von seiner Schwelle scheiden zu lassen, wäre ihm ein Schmerz und nach seiner Anschauungsweise eine neue und schwere Kränkung seiner Ehre, seiner Standes- und Familienehre gewesen. Sie kannte ihn auch genugsam, um seine Empfindungen und Anschauungen in diesem Punkte richtig zu beurtheilen, und sie hatte sich auf dieselben mit Zuversicht verlassen.

Zum ersten Male hatte es einen Streit zwischen ihr und dem Marquis gegeben. Sie befand sich nicht mehr in der Lage, in welcher sie dem verwöhnten Lieblinge jede Grille durchgehen lassen und jeder seiner Thorheiten mit ihrem Vermögen und Einflusse begegnen konnte. Sie hatte es mit widerstrebendem Herzen gelernt, sich in die Verhältnisse zu schicken, und sich beschieden, für ihre verlorene Lebensfreiheit so weit als möglich in der Herrschaft Ersatz zu suchen, welche sie über [462] diejenigen ausübte, von denen sich abhängig zu wissen ihr Stolz nur schwer ertrug; denn es ist das Glück der Herrschsüchtigen, daß sie in dem Herrschen an und für sich einen Genuß empfinden und daß ihre Befriedigung nur bis zu einem gewissen Grade von dem Gegenstande, über den sie herrschen, abhängig ist. Sie konnte hier in Richten, wie die Verhältnisse jetzt lagen, zusehen, abwarten, geschehen lassen, ohne Langeweile dabei zu empfinden; sie brauchte nur wie ein geübter Schachspieler die Figuren, welche man von beiden Seiten in das Spiel und in Bewegung brachte, im Auge zu behalten, um den rechten Moment nicht zu verfehlen, in welchem ein geschickter Eingriff die ihr erwünschte Lösung bringen mußte. Sie hatte sich ihre Stellung in Schloß Richten zu gewinnen und zu behaupten gewußt, und sie war ihr lieb und lieber geworden, je unmöglicher die Rückkehr in ihre früheren Verhältnisse sich durch den Fortgang der französischen Revolution gezeigt hatte.

Wie sie einst in Vaudricour die vornehmste Frau in der Provinz gewesen war, und Hof gehalten hatte in ihrer Weise, so hatte sie sich allmählich in diesem entlegenen Theile Deutschlands festgesetzt, und das Zartgefühl der Baronin, die Großmuth des Barons hatten ihr dazu den Weg geebnet. Allen ihren Bedürfnissen ward im Voraus begegnet, ja, der Freiherr hatte es in der schonendsten und liebenswürdigsten Art dahin gebracht, ihr allmählich in Form eines Darlehens ein Nadelgeld auszusetzen, groß genug, auch den Marquis zu versorgen; und wenn die Herzogin auch über die Summen, welche sie empfing, jedes Mal einen Schuldschein zu unterzeichnen verlangte, so hatte sie es doch in Erfahrung gebracht, daß die Summen in den Büchern nicht auf ihren, sondern auf des Freiherrn Namen eingetragen wurden, und daß dieser die Quittungen, welche sie ausstellte, stets selbst vernichtete, damit [463] sie niemals, auch nicht etwa von seinen Erben, gegen die Herzogin geltend gemacht werden konnten.

Aus diesem Zustande, dem wünschenswerthesten, welcher sich augenblicklich für sie denken ließ, hatte der Leichtsinn des Marquis sie aufgeschreckt, und wenn dieser seinerseits in der Aufwallung seines Zornes und seines beleidigten Ehrgefühls auch an nichts weiter denken konnte und mochte, als den Anforderungen des letzteren genug zu thun, so sah die Herzogin mit jener schnell arbeitenden Phantasie, welche die unentbehrliche und unzertrennliche Gefährtin eines scharfen Verstandes ist, sofort über den Augenblick zu dessen Folgen hinüber, und sie konnte nicht zweifelhaft sein, was hier geschehen könne, was ihr zu thun obliege.

Daß der Marquis nicht bleiben, wenigstens für jetzt nicht in Richten bleiben könne, verstand sich von selbst. Aber eben weil er gehen mußte, war sie zu bleiben genöthigt, denn nur auf diese Weise konnte sie ihm die Mittel zu seinem Unterhalte schaffen; indeß freiwillig zu bleiben ziemte ihr nicht, da sie ihren Bruder als den Beleidigten darzustellen wünschte, und nach den ersten lebhaften Erörterungen zwischen ihr und dem Marquis hatte sie dem Freiherrn geschrieben, daß sie sich zu ihrem Schmerze und, wie sie hoffe, auch zu seinem und dem Bedauern der Baronin in die traurige Nothwendigkeit versetzt finde, auf seine großmüthige Gastfreundschaft verzichten und in eine ihr so leere und fremde Welt zurückkehren zu müssen, gegen deren Oede und Schrecken sie unter seinem Dache, an seinem Heerde, unter dem Schutze ihres beiderseitigen Ahnenschlosses eine so friedliche und beglückende Zuflucht gefunden habe. Alles, um was sie sich erlaube, ihn noch zu bitten, sei, daß er ihr die Vierteljahrs-Zahlung noch einmal anweisen lasse, und daß er ihr vergönnen möge, sich seines Wagens und seiner Pferde bis zu der Stadt zu bedienen, in welcher sie zuerst zu [464] übernachten denke und in der sie Postpferde für ihr weiteres Fortkommen finden könne.

Sie hatte mit Sicherheit den Eindruck berechnet, welchen solch ein Schreiben eben in diesem Augenblicke auf den Freiherrn machen würde, und sie hatte sich nicht darin getäuscht. Es war in der Voraussicht seines Besuches gewesen, daß sie Befehl gegeben hatte, hier und da einen der Gegenstände und der Geräthschaften, deren sie sich zu bedienen pflegte und welche der Freiherr an ihrem bestimmten Platze zu sehen gewohnt war, aus dem Gemache zu entfernen, und in der That bedünkte ihn diese kleine Zerstörung der ihm in einer bestimmten Form vertraut gewordenen Umgebung unheimlich.

Da die Herzogin auf des Freiherrn Bitte, das Schloß nicht zu verlassen, nur mit einer schmerzlichen Bewegung ihrer Mienen antwortete, sprach er nach kurzem Schweigen: Hören Sie, meine Freundin, wie draußen der Wind die starren Aeste der Bäume schüttelt, das Jahr geht abwärts, das Wetter ist schlecht! Er hielt inne, nahm dann ihre Hand und sagte: Auch unser Leben, Margarethe, wie wir uns gegen diese Erkenntniß in günstiger Stunde auch zu betäuben suchen, ist kein aufsteigendes mehr, der Weg wird übersichtlich, welcher noch vor uns liegt, und was wir auf demselben an Glück noch etwa finden könnten, das sollten wir freiwillig nicht vermindern!

Wir? nahm die Herzogin das Wort, wir? Wie dürfen Sie Ihr Schicksal dem meinigen vergleichen, theurer Freund? Sie haben Renatus, den Sohn, der Ihnen fröhlich und gesund heranwächst, Sie stehen inmitten Ihrer Heimath, Sie besitzen die Liebe einer jungen, edeln Frau! – Aber was fehlt Ihnen, mein Freund? rief sie, sich plötzlich unterbrechend. Was habe ich denn gesagt, das sie betrübt? Oder ist es nur der flackernde Schein der Kerzen, der mir Ihr Gesicht so bleich er scheinen macht?

Der Freiherr zögerte, ihr zu antworten, weil er zum ersten [465] Male die Unwahrheit der Herzogin erkannte. Was bedeutete es, daß sie ihn auf die Liebe seiner Gemahlin hinwies, sie, der Angelika das unglückliche Geheimniß ihrer Liebe zu dem Architekten anvertraut hatte? Es widerstrebte ihm, sich der Täuschung hinzugeben, die sie ihm schmeichlerisch bereiten zu wollen schien, es widerstand ihm eben so, ihr zu bekennen, daß er ihre Absicht durchschaute; aber sie ließ ihm zum Ueberlegen keine Zeit, denn mit größter Wärme seine Hände ergreifend, rief sie: O, mein Freund, wäre ich so unglücklich gewesen, eine schmerzhafte Saite in Ihrem Leben zu berühren? Wüßten Sie etwa, was ich Ihrer Kenntniß vorenthalten zu sehen hoffte, daß selbst diese schöne, edle Natur ....

Der Freiherr machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Lassen Sie das, lassen Sie das, meine Freundin! sagte er. Es ist nicht weise, von einem Unwiederbringlichen zu sprechen und seine Gedanken damit zu beschäftigen, besonders wenn man sich nicht mehr mit neuen Täuschungen über eine erlittene Täuschung fortzuhelfen vermag; und ich darf es leider sagen: meine letzte Täuschung liegt jetzt hinter mir! – Er seufzte, unterdrückte, was er noch sagen zu wollen schien, und sie schwiegen beide.

Sie könnten mich tadeln, nahm nach einer Weile die Herzogin das Wort, daß ich Sie nicht benachrichtigt, daß ich überhaupt das Vertrauen der armen Angelika angenommen habe. Aber das erregte Herz verlangt sich auszusprechen, und da mir der Eindruck, welchen jener junge Mann auf die Baronin seit dem ersten Tage seiner Ankunft gemacht hatte, nicht entgangen war, wußte ich keine besseren Hände für die Bewahrung des traurigen Geheimnisses, als die meinigen. Ich brachte sie dahin, sich mitzutheilen, ich selbst enthüllte ihr, was in ihrer Seele vorging, damit sie sich dem Zuge nicht blindlings und ahnungslos überließ; ich that, was in meinen Kräften stand, sie zu zerstreuen. [466] O, es war nicht meinetwegen, daß ich Sie immer wieder antrieb, neue Gäste einzuladen, auf neue Vergnügungen zu sinnen! Und es ist wahr, die Baronin hat mit sich gekämpft, mit sich gerungen lange Zeit; aber Sie kennen das Frauenherz und seinen zärtlichen Eigensinn! Sie kennen die unbezwingliche Gewalt der Leidenschaft! – Sie brach plötzlich in ihrer Rede ab.

Ja, ich kenne sie, sprach der Freiherr dumpf, ich kenne sie! – Er erhob sich und trat an das Fenster. Die Nacht war sehr finster. Eine Weile ließ die Herzogin ihn stehen, dann näherte sie sich ihm, legte ihren Arm leise auf den seinigen und sagte: Es thut Ihnen nicht gut, mein Freund, so schweigend in das Dunkel hinaus zu sehen. Richten Sie sich auf, mein Freund! Es giebt kein Uebel, das unheilbar wäre, wenn man es ernstlich zu heilen wünscht!

Sie irren, meine Freundin! entgegnete der Freiherr.

O, rief sie, ich glaube an das Eisen, das die Wunde heilen kann, welche es geschlagen!

Eine Fabel, eine Fabel, wie so vieles Andere, an das wir auch geglaubt haben! bedeutete er mit trübem Lächeln.

Lassen Sie es mich wenigstens versuchen, mein Cousin! bat die Herzogin.

Des Freiherrn Züge belebten sich. Heißt das, daß Sie nicht von uns gehen, Margarethe?

Könnte ich Sie und unsere arme Angelika sich in solchem Zustande einander überlassen? rief sie. Muß ich denn nicht bleiben, um von Ihnen zu erlangen, was Sie mir gewähren, gleich jetzt gewähren müssen?

Sprechen Sie, sprechen Sie, meine theure Margarethe! sagte der Freiherr.

Ich verlange nichts für mich, und doch ist es die höchste Beruhigung für mein Herz, die ich begehre, sagte sie. Ich verlange, daß mein Freund, der selbst im Leben viel geirrt und [467] viel gefehlt hat, und mancher Vergebung benöthigt gewesen ist, seiner Gattin verzeihe, und daß ich es sei, der den Verzeihenden, den Versöhnten noch an diesem Abende wieder zu ihr führt!

Der Freiherr antwortete nicht. – Ich kann nicht verzeihen, was erlitten zu haben ich nicht vergessen kann! entgegnete er endlich, und die frühere Düsterkeit lagerte sich wieder über sein Antlitz.

So beruhigen Sie wenigstens die Frau, welche Ihnen Ihren Sohn geboren hat, befreien Sie ihr den Sinn, damit das Kind nicht weiter von ihrer Schwermuth leide, und lassen sie die Zeit walten und mich versuchen, was die Freundschaft kann! bat sie aufs Neue und noch dringender, als zuvor.

Sie sind der gute Engel unseres Hauses! rief der Freiherr.

Nicht doch, nur eine verläßliche alte Frau, entgegnete ihm die Herzogin, nur eine Frau, der es die höchste Befriedigung gewähren würde, Ihnen endlich einmal zu irgend etwas nütze sein zu können.

Sie reichte dem Baron die Hand, er küßte sie ihr, und ihren Arm in den seinen legend, gingen sie ohne zu sprechen mehrmals in dem Gemache auf und ab, bis der Freiherr das Wort nahm und sie bat, ihr Vermittleramt nun auch zwischen ihm und dem Marquis zu üben, da er sie nicht der Gesellschaft ihres Bruders zu berauben und ihr den Aufenthalt in diesem Schlosse dadurch für die Zukunft nicht weniger angenehm zu machen wünsche.

Aber davon wollte sie nicht hören. Es sei nöthig, sagte sie, ihrem von ihr verwöhnten Bruder zu beweisen, was er hier in der großmüthigen Gastfreundschaft des Freiherrn besessen und leichtsinnig verscherzt habe, nöthiger noch, daß er strebe, sich eine ihm angemessene Thätigkeit im Heere oder sonst im Dienste des Königs zu suchen, bei welcher sein lebhafter Sinn sich genug thue, seine Anlagen und Kenntnisse ihre entsprechende Verwerthung finden könnten. Ihr Bruder sei zu jung, um [468] dauernde Befriedigung in dem Stillleben zu finden, auf das zu verzichten sie ein großes Opfer gekostet haben würde; und da der Freiherr ihre Meinung theilte, verstand es sich von selbst, daß er sich erbot, den Scheidenden mit den Empfehlungen und Anweisungen auszurüsten, deren er für die Erreichung seiner Zwecke bedürftig sein konnte. Er sagte sodann, daß er ihr sofort die Summe senden werde, um welche sie ihn gebeten hatte, und ersuchte sie selbst, ihm darüber den gewohnten Schuldschein auszufertigen.

Sie schellte ihrer Kammerfrau. Packen Sie mein Schreibzeug wieder aus und bringen Sie es her! befahl sie.

Das Gespräch zwischen ihr und dem Freiherrn beschäftigte sich ausschließlich mit dem Marquis. Während sie dann den Schuldschein unterzeichnete, sagte sie mit einem tiefen Seufzer: Das wird hinreichen, seine Bedürfnisse zu decken, bis er eine Anstellung erhält.

Nicht doch, nicht doch, rief der Freiherr, welcher ihr einen Beweis zu geben wünschte, wie lieb es ihm sei, sie bei sich behalten zu können, diese Summe muß Ihnen bleiben, Sie können sich deren nicht entäußern, Theuerste! Den Marquis zu versorgen, bis er dies selber thun kann, dies, theure Freundin, ist meine Sache. Die Ihrige ist's, ihn zu vermögen, daß er die Vorsorge Ihres alten Freundes nicht von sich weist, weil dieser sich einmal in der übeln Lage befunden hat, ihm einige kleine, nicht angenehme Vorstellungen zu machen. Ich schicke ihm morgen eine Anweisung auf meinen Banquier. Und damit gute Nacht, theure Herzogin; gute Nacht, meine theure, treue Freundin!

Er wollte sich entfernen, ihr die Nothwendigkeit des Dankes zu ersparen; sie aber hielt ihn zurück. Und Angelika? fragte sie.

Morgen, morgen! entgegnete er ihr. Lassen Sie mir Zeit, mich zu fassen, mich zu überwinden, lassen Sie der Baronin die Zeit, zu überdenken, was sie gethan hat! Sie bleiben ja mit uns!

[469]
18. Capitel
Achtzehntes Capitel

Herbert war kaum in die Stadt zurückgekehrt, als er zu Seba hinunterging, ihr die Nachricht von seiner Verlobung zu bringen. Sie kannte seine Erwählte nicht, aber sie kannte den Amtmann, und die einfache Tüchtigkeit desselben und das Gute, welches er bei seinen verschiedenen Geschäftsbesuchen im Flies'schen Hause von der Schwester gerühmt, hatten sie für das Mädchen eingenommen und sie Herbert's wachsendes Wohlgefallen an Eva lange mit Freude bemerken lassen. Sie hatte von je gehofft, daß es Eva's Gradheit gelingen werde, den beunruhigenden Einfluß zu brechen, den die Baronin auf Herbert übte, und als er ihr jetzt mit Lebhaftigkeit von Eva's klarem, nur auf das Nächste gestellten Sinne, von ihrer schlichten Wahrhaftigkeit, von der unverhohlenen Wärme sprach, mit welcher sie ihm ihre Neigung immer kund gegeben, da füllten sich Seba's Augen schnell mit Thränen, und ihre Hände auf seine Schultern legend, sagte sie mit freudiger Bewegung: O, Gott segne Sie! Gott segne Sie und all Ihr Glück!

Einfach wie ihr Ausruf und ihre Bewegung waren, ergriffen sie den Freund. Werde ich Ihnen denn einen solchen Segenswunsch nicht einst erwiedern können? fragte er, indem er ihre Hände küßte.

Sie schüttelte verneinend das schöne Haupt. Sie sind so gut, so edel, sagte er, Sie müssen Liebe finden, denn Sie verdienen sie! Sie müssen lieben können, wie wenig andere Frauen!

[470] Ja, versetzte sie, das habe ich Alles einstmals selbst geglaubt, aber –

Sie wollte nicht weiter sprechen, er nöthigte sie jedoch dazu. Da glitt jenes melancholische Lächeln, das lange Zeiten hindurch nicht von ihrem Antlitze gewichen war, wieder einmal über ihre Mienen, und mit einem Tone, der den Schmerz ihrer Seele nicht zu verbergen wußte, obschon sie bemüht war, ihn zu unterdrücken, sagte sie: Damals, als ich glaubte, ich müsse glücklich werden können, weil ich es zu werden wünschte, kannte ich die Einrichtung der Welt noch nicht. Damals wußte ich noch nicht, daß man auf seinem Posten bleiben und geduldig und bescheiden sein muß, um nicht in wilder Hast an seinem Ziele vorüber zu eilen. Damals sah ich es auch noch nicht ein, daß wir nicht alle die gleiche Rolle im Leben spielen können und daß es auch Zuschauer für das Glück der Andern geben muß. Sie und Ihre Eva, Sie sind an Ihrem rechten Platz geblieben, Sie sind zwei Glückliche. Ich – ich verkannte meinen Platz, ich konnte mich nicht bescheiden, ich verstand nicht, zu warten, ich stürzte mich mit blinder Hast ins Leben – ich habe meine Rolle schlecht begriffen, schlecht gespielt, und muß sehr froh sein, daß ich Ihnen zusehen und mich an Ihrem Glücke erfreuen kann. Spielen Sie das Stück recht schön zu Ende, und Sie sollen es erleben, welche Genugthuung Sie mir damit gewähren.

Herbert wollte sich damit nicht beruhigen. Als Eva's Verlobter fühlte er sich Seba gegenüber freier; aber sie wollte nun von sich selber nicht mehr sprechen hören. Nur von Herbert sollte die Rede sein, und da inzwischen auch ihre Eltern hinzugekommen waren und Herbert erzählt hatte, wie seine Angelegenheiten ständen, sagte er, gegen Herrn Flies gewendet: Rathen Sie mir, was soll ich thun?

Was hat Ihr Herr Vater Ihnen zu thun gerathen? fragte der Juwelier.

[471] Ich habe ihm noch gar Nichts von meinem Verlöbniß geschrieben, um ihm nicht von der Weigerung des Freiherrn sprechen zu müssen, den er immer für seinen Gönner, seinen Freund gehalten hat. Und mein Vater ist in einem Alter, in welchem man den Verlust eines Freundes nicht mehr leicht verschmerzt.

Man muß jung und gut sein, meinte Herr Flies, um also von dem Alter zu denken, das vielmehr den traurigen Vorzug hat, von solchen Verlusten nicht mehr überrascht zu werden. Trotzdem haben Sie in jedem Falle Recht, wenn Sie Ihrem Vater eine Unannehmlichkeit ersparen, da Sie ohnehin in dieser Sache gar nichts thun können, als ....

Nun, was denn? fragten Herbert und Seba wie aus Einem Munde.

Nichts als abwarten! sagte der Juwelier.

Bis der Sinn des Freiherrn sich etwa ändert? rief mit sichtlichem Verdrusse der Architekt, welcher auf einen ganz anderen Rath gerechnet zu haben schien.

Bis für Sie an des Freiherrn gutem Willen nichts mehr gelegen ist! bedeutete der Andere. Wenn Herr Steinert aus seinem bisherigen Verhältniß zu dem Freiherrn austritt ....

Würden Sie dies billigen und wünschen, lieber Vater? fiel ihm Seba in die Rede.

Ja, wenn er der Mann ist, für den ich ihn halte, und wenn er so empfindet, wie er an den Herrn Architekten schreibt! meinte Herr Flies. Denn es soll Niemand dienen, der die Möglichkeit hat, auf eigenen Füßen zu stehen!

Aber wie lange soll denn Herbert warten? meinte Seba, die es in der lebhaften Theilnahme für ihren Freund schon wieder vergessen zu haben schien, daß sie ruhiges Abwarten eben erst für eine Tugend angesehen hatte. Wie lange sollen Eva und ihr Bräutigam denn warten? wiederholte sie.

[472] Bis die Umstände ihnen entgegenkommen, antwortete Herr Flies. Es gehen so viele Wege durch das Leben; von irgend einem Wege kommt das Rechte seiner Zeit, wenn wir ihm dann nur Thor und Thüre öffnen. Warten Sie es ab, lieber junger Freund, was sie dort in Richten thun werden und was dort geschieht; warten Sie das ab.

Es lag in der ruhigen und zurückhaltenden Redeweise, welche der vorsichtige Geschäftsmann sich in seinem langen Verkehre mit Menschen der verschiedensten Stände angeeignet hatte, etwas sehr Beruhigendes, selbst dann, wenn er, wie eben jetzt, seine Meinung nicht ganz kund gab. Alle fühlten, daß er etwas verschweige, was auf die gethane Frage nicht ohne Einfluß sei; indeß sie kannten ihn darauf, daß man ihm nicht entlocken könne, was er nicht freiwillig gewähre, und er selber gab dem Gespräche mit der Frage, wie viel Zeit die Vollendung des Kirchenbaues in Rothenfeld noch fordern würde, eine andere Wendung.

Herbert meinte, daß man im nächsten Sommer nicht fertig werden könne, wenn man nicht die Mittel fände, den Bau mehr zu fördern, als es in den beiden letzten Jahren, eben der nicht ausreichend bewilligten Mittel wegen, möglich gewesen sei. Herr Flies wollte die Summe kennen, deren man noch für den Bau bedurfte, und er fand sie groß, da Jener sie ihm nannte. Herbert begann sich zu vertheidigen, aber Herr Flies ließ es dazu nicht kommen. Verstehen Sie mich recht, sagte er, ich beurtheile nicht den Bau und seine Erfordernisse, denn ich habe davon keine genauen Kennt nisse!

Und doch nannten Sie die Summe groß?

Ich dachte dabei nur an den Herrn Baron, gab er zur Antwort. Er ist freigebig, zu freigebig vielleicht, und freigebig gegen Personen, die nicht bedenklich sind, von seiner Freigebigkeit den ausgedehntesten Gebrauch zu machen. Nun jeder Stand hat seine eigene Ehre, und unsere Herren vom Adel hier scheinen[473] noch nicht zu merken, was um sie her geschieht, scheinen noch zu glauben, daß hier Alles beim Alten bleiben könne und werde, wenn rund um uns her das Bestehende längst gewandelt und in seinen Grundlagen vernichtet ist.

Einer seiner Comptoir-Gehülfen, welcher ihm ein Packet Briefe aushändigte, unterbrach seine Bemerkungen. Er betrachtete die Briefe der Reihe nach, bevor er sie eröffnete, sah sie flüchtig durch und gab sie dem Gehülfen zurück; nur zwei davon behielt er und las sie langsam und mit sichtlicher Aufmerksamkeit. Nachdem er den einen gefaltet und in seine Brusttasche gesteckt hatte, sagte er: Es freut mich, daß ich mich in dem Manne nicht getäuscht habe! Ihr künftiger Schwager nimmt seine Sache, wie er muß, und was an mir ist, werde ich ihm helfen! Es ist auch ein Brief von Mademoiselle Steinert für Sie dabei, in welchem dann freilich von anderen Dingen als von Geschäften die Rede sein wird. –

Es war das erste Schreiben, das Herbert nach der Sendung durch den Boten von seiner Braut empfing. Sie meldete ihm die Abreise des Marquis, welche sie natürlich als ein Zugeständniß an ihres Bruders Beschwerde ansah; sie sprach von einem Besuche, den der Caplan bei ihnen gemacht habe, und schilderte, wie er den Bruder habe überreden wollen, sich dem Freiherrn zu nähern und Vergebung für seine Heftigkeit von ihm zu fordern oder doch mindestens sein Bedauern über dieselbe auszusprechen. Aber, berichtete sie, der Bruder ist wie umgewandelt seit dem Tage, und sein ganzes Dichten und Trachten ist nur darauf gestellt, so bald als möglich von hier fortzukommen.

Und so war es in der That. Der Amtmann gehörte zu den Menschen, die mit Geduld eine lange Zeit hindurch Unbequemlichkeiten, Störnisse und Widerwärtigkeiten ertragen und sich damit beruhigen können, daß dies mit ihren Verhältnissen zusammenhange. Er hatte mancher unbilligen Anforderung [474] des Freiherrn zu genügen gesucht und sich gesagt, die Herren wären das einmal von Alters her gewohnt. Er hatte sich manchen Tadel gefallen lassen, weil der Freiherr ihn von klein auf gekannt, weil, wie er wußte, den Herren von Arten das befehlshaberische Wesen einmal im Blute lag, und weil es, als der Amtmann seinen ererbten Posten angetreten, doch im Grunde nur Geringfügiges gewesen war, um das es sich bei den gelegentlichen Streitigkeiten gehandelt hatte. Seit den letzten Jahren aber war das anders geworden.

Adam hatte sich nicht mehr wohl in seiner Wirthschaft gefühlt, aus welcher so viel als irgend möglich für unfruchtbare Ausgaben herausgezogen wurde, ohne daß die nöthigen Mittel zur Unterhaltung und Weiterförderung der Cultur zur Hand geblieben wären. Seine Vorstellungen hatte der Freiherr immer ruhig angehört, ohne ihnen jedoch Folge zu geben. Von einem Jahre hatte er die wirthschaftlichen Verlangnisse seines Amtmannes auf das andere hinausgeschoben, nothwendige Arbeiten hatten unterbleiben müssen, weil Wälder für den Verkauf gefällt werden sollten; nothwendige Bauten waren ausgesetzt worden dem Kirchenbau zu Liebe, und wie Adam sich auch anstrengen mochte, dem Verfalle der Güter entgegen zu arbeiten, so konnte er sich am wenigsten dagegen verblenden, daß sie in sich an Werth verloren, wesentlich verloren hatten, und daß wenig Aussicht vorhanden war, sie in den nächsten Jahren wieder empor zu bringen und damit ihr weiteres Herunterkommen zu verhüten.

Sich in solcher vergeblichen Arbeit abzumühen, war dem Amtmanne schon lange schwer geworden, und oftmals hatte sich in ihm der Gedanke geregt, was er mit seinem Fleiße, mit seinen Kenntnissen zu schaffen im Stande sein würde, wo er allein zu bestimmen, wo er allein das Gleichgewicht zwischen den Ausgaben und Einnahmen zu erhalten hätte. Aber wer mit seiner Arbeit, wie der Landmann, nicht auf den Erwerb des Tages und auf [475] den augenblicklichen Erfolg seines Schaffens gestellt ist, dessen Wesen nimmt etwas von der langsam wirkenden Thätigkeit seines Berufes an. Adam hätte sicherlich viel Zeit gebraucht, aus freiem Antriebe zu einem selbständigen Entschlusse zu gelangen; jetzt, durch einen äußeren Anlaß zu demselben hingedrängt, ergriff er ihn mit Lebhaftigkeit und hielt ihn kräftig aufrecht.

Mit dem Momente, in welchem er vor dem Freiherrn zum ersten Male einer blinden Willkür gegenüber gestanden hatte, war seine Abhängigkeit von diesem ihm wie eine Schmach erschienen, und all das erlittene kleine Unrecht, alle die erduldeten Widerwärtigkeiten, alle seine gehabten Sorgen und seine unfruchtbaren Mühen hatten sich zwischen ihn und seine Vergangenheit, zwischen ihn und seinen bisherigen Herrn gestellt und ihn von demselben abgetrennt.

Es war eine schwere Stunde gewesen, als der Freiherr ihm den Dienst gekündigt. Es war eine schwere Stunde gewesen, in der sich Adam im Geiste von der Heimath seiner Väter losgesagt hatte; aber nun der Kampf gekämpft war, fühlte er sich als einen anderen Menschen. Er war glücklich in dem Gefühle seiner Kraft, in dem Besitze seiner Kenntnisse und seines ererbten und durch seinen Fleiß vermehrten Capitals. Er wußte seinen Vorfahren für dasselbe Dank, aber es genügte ihm nicht mehr, was ihn sonst befriedigt hatte, in ihre Fußstapfen zu treten. Nicht mehr ein treuer Diener, wie sie, ein freier Herr auf eigenem Grund und Boden wollte er werden und sein, und wie er im Geiste das Joch der Dienstbarkeit von seinem starken Nacken warf, hob er den Kopf mit schönem, schnell erwachtem Ehrgeize hoch empor, und sein starkes Selbstbewußtsein machte ihn geduldig. Grade wie der Juwelier, verwies er Eva's und ihres Verlobten Ungeduld auf die nicht allzu ferne Zeit, in welcher seine Schwester ihre Volljährigkeit erreicht und er den Dienst des Freiherrn verlassen haben würde. Er wollte nicht zum zweiten Male als [476] ein vergebens Bittender vor einem Herrn stehen, nicht Gewährung fordern, wo er bald selber zu gewähren im Stande sein konnte, und nicht nur in dem Amtmanne, auch in seiner Schwester hatte die erfahrene Unbill das eigene Selbstgefühl und die Abneigung gegen die fremde Willkür gestärkt und aufgeregt.

Darüber glitten die Tage hin. Der Winter kam voll herauf, Herbert's praktische Arbeiten ruhten, aber er war mit neuen Entwürfen mannigfach beschäftigt, und wie langsam auch in jenen Zeiten und in jenen Gegenden die Postverbindungen noch waren, wurde doch zwischen dem Amthofe und dem Flies'schen Hause ein lebhafter Briefverkehr erhalten, an dem sich bald nicht nur Seba, sondern auch Herr Flies betheiligte.

Im Amthofe ging Alles seinen ruhigen Gang, obschon es feststand, daß der Amtmann den freiherrlichen Dienst verlassen würde. An jedem Tage wurde das Nothwendige mit Voraussicht auf die Zukunft gethan, und wenn die Geschwister es dabei auch fortwährend inne wurden, daß ihre Zukunft von der Zukunft des Freiherrn und der Arten'schen Güter fortan geschieden wären, so halfen die lange Gewohnheit dessen, was zu leisten war, und die Plane und Aussichten, mit denen Adam sowohl als Eva für sich selbst beschäftigt waren, ihnen über den Zwiespalt fort, welcher sich etwa in ihnen bei ihrer Arbeit hätte erzeugen können.

Um so größeres Aufsehen machte es in den Dörfern, daß der Amtmann, daß einer der Steinerts den Dienst der Herren von Arten zu verlassen dachte. Die Reiseknechte, welche in die nächsten Marktflecken geschickt wurden, die Wirthschafter, welche mit den gedroschenen Saaten in die Kreisstadt fuhren, wußten nichts Wichtigeres zu erzählen. Die Viehhändler, die Hausirer, die nach den Gütern kamen, wurden mit der Nachricht empfangen, trugen sie weiter fort, und bald wußten sie alle Landwirthe und Gewerbtreibende der ganzen Provinz. Wo immer man sie aber erfuhr, er regte sie Erstaunen. Denn daß die [477] Steinerts Rothenfeld nicht ohne Grund verlassen würden, davon war Jeder, der sie kannte, überzeugt, und es währte nicht lange, so sagte man es auch schon hier und dort, daß die Steinerts achtsame und vorsichtige Leute wären, die, gleich den klugen Ratten, ein baufälliges Haus zur rechten Zeit verließen.

Weßhalb man das alte, gute Haus nicht mehr für baufest halten mochte, das hätten diejenigen Anfangs kaum zu sagen gewußt, welche diese Meinung äußerten; aber die plötzliche Abreise des Marquis, die gleich darauf bekannt gewordene Nachricht, daß der Amtmann aus dem Dienste des Freiherrn scheide, waren viel zu auffallend gewesen, als daß man nicht die Frage nach dem Grunde der Ereignisse hätte aufwerfen sollen, und, wie das oft geschieht, fand die einfache Wahrheit schwerer Glauben, als das phantastische Gewebe, welches halbes Wissen und übelwollendes Vermuthen zusammenspannen. Niemand glaubte es, daß der Freiherr nicht in die Verlobung Eva's und Herbert's gewilligt habe, denn gegen diese war ja gar nichts einzuwenden; man glaubte auch nicht, daß der Freiherr den Marquis entfernt habe, weil der Franzose den Frauen und Mädchen zu sehr nachgestellt und schließlich der Amtmann sich darüber beschwert hatte. Wegen solcher Dinge schickte, wie man meinte, hierlands kein Edelmann, und am wenigsten der Freiherr von Arten, seinen Gastfreund fort, und deßwegen ging auch kein verständiger Mensch wie Adam Steinert aus einem Dienste, in welchem seine Familie seit hundert Jahren gelebt hatte und reich geworden war. Die Sache verhielt sich vielmehr, wenn man es sich recht überlegte, wahrscheinlich ganz anders. Nicht auf Mamsell Eva mußte der Marquis es mit seinen Besuchen im Amthause abgesehen haben, sondern auf Zusammenkünfte mit der Baronin, die in der letzten Zeit erst wieder mehrmals im Amthause gewesen war. Um der Baronin willen hatte der Freiherr wahrscheinlich den windigen Franzosen [478] weggeschickt; wegen der Rendezvous im Amthofe hatte es vermuthlich Streit mit dem Amtmanne gegeben, deßhalb war Adam auch entlassen worden, und daß der Freiherr dann im Aerger seine Zustimmung zu Eva's Verheirathung versagt hatte, das konnte möglich sein, obschon er, wie alle Welt es auf den Gütern wußte, sonst auf den Architekten gerade viel gehalten hatte.

Was man hier und da durch die Hülfsarbeiter und Hülfsarbeiterinnen erfuhr, welche gelegentlich im Schlosse verwendet wurden und die bisweilen einzelne Reden und Bemerkungen der Dienerschaft vernahmen, das bestätigte Alles nur die Vermuthung, daß zwischen dem Freiherrn und seiner Frau etwas vorgefallen sei, obschon sie es nicht merken lassen wollten, denn die Baronin hatte den Tag vor der Abreise des Marquis einen ihrer Anfälle von Herzkrampf gehabt und kränkelte immerfort.

Damals, als die Baronin nach der Auffindung von Paulinens Leiche auch so lange gekränkelt und im Schlosse auch so zerstörte Verhältnisse obgewaltet hatten, da hatte man Mitleid mit ihr gehegt; jetzt war das anders. Trug sie doch ganz allein die Schuld des Kirchenbaues, an den vorher kein Mensch gedacht und von dem alle Welt zu leiden hatte, und wer weiß, ob sie nicht doch noch davon abgestanden haben würde, ohne die französische Herzogin und ohne alle die Franzosen, welche sich im Schlosse und in der Umgegend wie die Kuckucke in fremde Nester eingenistet hatten. Man dachte nur mit Unwillen an das ganze Schloß und an seine sämmtlichen Bewohner, und es war auch Niemandem im Schlosse wohl zu Muthe, außer der einen Frau, gegen welche die Abneigung der Leute sich am entschiedensten aussprach, außer der Herzogin. Aber die Plane der Herzogin waren so vorsichtig angelegt und ihre Karten so geschickt gemischt, daß Alles, was sich in dem Schlosse ereignen mochte, sich immer zu ihrem Besten wenden mußte.

[479]
19. Capitel
Neunzehntes Capitel

Einige Tage nach der Abreise des Marquis saß der Caplan tief in seine Gedanken versunken, den Kopf auf die Hand gestützt, an dem Fenster seines Zimmers und sah dem bleichen, winterlichen Sonnenuntergange zu. Es war etwas in diesem Anblicke, das ihm das Herz bewegte.

Wie feurig, wie strahlend stieg sie in der Frühe am Horizont empor! rief er unwillkürlich aus, und eben so unwillkürlich glitt sein Auge hinüber nach der Wand, an welcher, von dem letzten scheidenden Tageslichte getroffen, ein Bild des Freiherrn hing.

Aber der Seufzer, welcher der Brust des Sinnenden entquoll, galt nicht allein dem Freunde, er galt dem eigenen Geschicke; denn immer häufiger drängte sich dem Geistlichen die Frage auf, ob er nicht den rechten Weg für sich verfehlt, ob er nicht geirrt habe, als er, der Bitte einer Sterbenden und dem eigenen erschütterten Gemüthe folgend, sein Leben einer Aufgabe gewidmet, die er zu leisten nicht vermocht hatte. Friede und Heiligkeit hatte er diesem Hause bringen und erhalten wollen, aber sie waren nicht für lange Zeit in demselben heimisch gewesen. Nur draußen erhob sich ein neuer, stolzer Bau, ein Gotteshaus von kaltem Stein; der Gott der Liebe, dem er diente, hatte den Tempel, den der Caplan in den Herzen der Menschen aufzurichten gestrebt, nicht darin gefunden – und doch hatten diese ihm so theuren Menschen eine Einkehr in sich selbst, eine Versöhnung unter einander eben jetzt nöthiger als jemals.

[480] Er war in diesen letzten Tagen, ohne dazu von dem Freiherrn ermächtigt zu sein, im Amthofe gewesen, um Adam zu einer Annäherung an den Herrn zu vermögen. Er hatte sich an den Pastor in Neudorf gewandt, damit dieser in gleichem Sinne mit ihm auf die Geschwister wirke, und es in Aussicht gestellt, daß es vielleicht nur einer Vorstellung des Amtmanns bedürfe, den Freiherrn sein Wort zurücknehmen zu machen, der ja im Grunde gütiger Gemüthsart sei, und in der rechten Stimmung auch wohl allmählich in die Heirath Eva's willigen werde. Indeß er hatte schon lange weder im Amthause noch in der Pfarre das frühere Gehör für sich gefunden, und erkannte die Gründe, welche die Herzen ihrer Untergebenen allmählich von der Herrschaft und damit auch von ihm und seinem Mittleramte abgewendet hatten. Was aber konnte geschehen, diesem Uebel zu begegnen?

Wie würde Allwissenheit über die menschliche Kraft hinausreichen, da dasjenige, was ich über die Verhältnisse der wenigen mir anvertrauten Menschen weiß, mir so schwer zu tragen wird! dachte der Caplan und blieb in ernster Selbstprüfung und Selbstbetrachtung still auf seinem Platze am Fenster sitzen, obschon die frühe Nacht bereits die Gegend zu verhüllen begonnen hatte.

Als der Diener die Kerzen in das Zimmer brachte, übergab er dem Geistlichen ein Billet, und dieser erkannte auf demselben die Handschrift der Herzogin, welche, da sie eine Meisterin des Briefstyls war, die müßige Gewohnheit hatte, selbst ihre kleinen Bestellungen und Anfragen innerhalb des Schlosses nicht mündlich durch die Dienerschaft, sondern schriftlich auszurichten; aber der Caplan war bisher in all den Jahren noch keiner solchen Botschaft von ihr gewürdigt worden.

Was will sie mir? rief er unmuthig, als er das Billet eröffnete. Es enthielt nur wenige Zeilen.

»Legen Sie mir es nicht als Eitelkeit aus, hochwürdiger Herr,« schrieb sie, »wenn ich mich Ihnen einmal als Mitarbeiterin [481] bei Ihrer heiligen Mission anbiete. Es giebt Gefahren, in welchen Jedermann die Hand zur Rettung anlegen muß, und unsere Kirche erkennt ja in dringenden Fällen auch dem Laien eine priesterliche Kraft zu. Lassen Sie uns gemeinsam handeln, um das Unheil zu verhüten, das über den Häuptern von Personen schwebt, deren Schicksal und deren Gewissensruhe Ihnen nicht theurer sein können, als mir. Was ich Ihnen zu sagen habe, müssen Sie je eher je besser erfahren, Ihr Besuch wird mir also zu jeder Stunde ein erwünschter sein!«

Sie kann nicht ruhen, nicht rasten! rief er aus und warf das Blatt auf seinen Tisch. Dann nahm er es wieder auf, las es noch einmal, verschloß es und verließ das Zimmer.

Aber nicht zur Herzogin begab er sich, sondern grades Weges zu dem Freiherrn, obschon dieser darauf hielt, daß keiner seiner Hausgenossen ihn ohne die dringendste Noth aufsuchte, wenn er ihn nicht zu sich entboten hatte. Als der Caplan nach geschehener Meldung bei dem Freiherrn eintrat, fand er diesen lesend am Kamine sitzen, und er empfing ihn mit der Frage, was denn geschehen sei.

Nichts Ungewöhnliches, entgegnete der Caplan; ich wünschte nur, Sie einmal wie in früheren Zeiten ungestört zu sprechen, Herr Baron, und dazu fehlt mir seit lange die Gelegenheit, wenn ich sie nicht wie jetzt eben suche.

Der Freiherr war einen Augenblick unentschlossen, wie er den unerwarteten Besuch und diese Anrede aufnehmen solle, in deren Ton eine gewisse Feierlichkeit nicht zu verkennen war, aber er traf schnell seine Wahl und sagte mit der vornehmen Sorglosigkeit, die ihm immer so wohl anstand: Was wollen Sie, mein Freund? Bin ich doch in den letzten Monaten kaum selber eine Stunde allein gewesen, so voll von Besuchen haben wir das Haus gehabt! Ich weiß, das ist nicht Ihr Geschmack, und Ihnen war es früher in unserem Junggesellenleben hier im [482] Schlosse wohler. Aber warten Sie nur, ich habe meine Maßregeln im Geiste bereits getroffen, und ich denke, Sie sollen künftig mit meinen Anordnungen zufrieden sein!

Der Caplan hatte auf ein Zeichen des Freiherrn Platz genommen; indeß er verstand nicht gleich, worauf derselbe hinaus wollte, und sagte: Ich kam nicht hieher, für mich selber etwas zu begehren, Herr Baron!

Darauf kenne ich Sie, mein alter Freund, rief der Freiherr, aber um so mehr ist es an mir, die Sorge für Ihr Wohlbefinden zu übernehmen, und verlassen Sie sich darauf, ich werde dieses nicht aus dem Auge verlieren!

Der Caplan sah jetzt, daß der Baron es wußte, weßhalb er gekommen sei, und daß er es ihm unmöglich machen wolle, davon zu sprechen; er sagte also ruhig, aber sehr bestimmt: Ich suchte Sie auf, Herr Baron, weil ich in Sorgen bin, in Sorgen als ein alter Freund Ihres Hauses, in Sorgen als der geistliche Berather der gnädigen Frau!

Der Baron erhob sich, und während er noch mit sich kämpfte, ob und in welcher Weise er seinem Mißfallen an den Worten des Caplans Ausdruck geben sollte, fuhr dieser fort: Es ist freilich eine lange Reihe von Jahren her, Herr Baron, daß Sie mir in den schweren Stunden, welche Ihrer Hochzeit vorangingen, das Recht zugestanden, Sie an eben diese Stunden und die unheilvollen Ereignisse zu mahnen, deren Folge sie waren, wenn ich dies jemals nöthig finden sollte!

Und Sie glauben, der Augenblick sei jetzt gekommen, dieser Augenblick sei der rechte, mir es in das Gedächtniß zu rufen, fiel der Baron ihm, plötzlich seine Haltung ändernd, in die Rede, mit welchen Hoffnungen, mit welchem völligen Vertrauen ich mein ganzes Schicksal den Händen der Baronin übergab? – Ein leises, bitteres Lachen tönte von seinen Lippen. In der [483] That, mein Freund, heute werde ich zum ersten Male an Ihrer Menschenkenntniß, ja, selbst an Ihrem richtigen Empfinden irre!

Der Caplan beachtete den Vorwurf nicht. Nicht allein um glücklich zu werden, Herr Baron, auch um zu beglücken, nahmen Sie damals die Hand der Gräfin Berka in die Ihrige! sagte er. Dann machte er eine kleine Pause und sprach danach mit sanfter Eindringlichkeit: Es war viel geschehen, das Gemüth eines so jungen Wesens zu beunruhigen, die junge Frau hatte viel zu vergessen, viel zu tragen, und sie hat das redlich gethan. Sie hat sich mit Liebe und mit Hingebung an ihre Pflicht, an ihren Gatten geklammert, sie hat ihre Familie aufgegeben, um mit ihm in seinem Glauben Eins zu werden, aber leider blieben Sie und die Frau Baronin nicht allein, und ....

Der Freiherr hatte eine gewisse Rührung bei der Erinnerung an jene ersten Zeiten seiner Ehe nicht bemeistern können; bei den letzten Worten des Geistlichen fuhr er aber auf: Mahnen Sie mich daran nicht, ich bitte Sie darum! Ich mag nicht daran denken!

Der Caplan ließ sich nicht beirren. Ich kenne das Herz der Frau Baronin besser, als sie selbst es kennt; ihre Seele ist schuldlos, ihr Thun ist ohne Makel! sagte er bestimmt; eine unbestimmte Sehnsucht ihres reinen Herzens ....

Sie nennen ihr Herz rein? Und ich selbst, ich selbst, Caplan, unterbrach ihn der Baron, habe von ihrem Munde, ohne all mein Zuthun, ja, fast ohne meine Frage, hören müssen – er trat an den Geistlichen heran und sagte leise, seinen Zorn gewaltsam niederkämpfend – daß sie diesen Herbert liebe, daß sie ihn geliebt habe, seit er in mein Haus getreten, daß Herbert und Sie und die Herzogin und wer sonst noch diese schmähliche Verirrung kennen! – Und das nennen Sie reines Herzens sein? Das nennen Sie schuldlos und ohne Makel sein? – Sie sind sehr nachsichtig, mein Freund! Ihre Moral ist wenigstens nicht unerbittlich!

[484] Er ging heftig im Zimmer umher. Des Caplans Miene wurde immer sanfter, sein Ton noch milder. Es war nicht der junge Mann, auf den ich hinwies, sagte er, als ich die Ueberzeugung aussprach, es wäre diesem Hause besser gewesen, wäre kein Fremder zwischen Sie und Ihre Frau getreten, es war die Frau Herzogin, an die ich dabei dachte!

Der Baron blieb vor ihm stehen. Die Frau Herzogin? wiederholte er. Sehen Sie, wie Ihre Voreingenommenheiten Sie bis zur Ungerechtigkeit verblenden! Die Herzogin ist es gewesen, die mir Nachsicht mit der Baronin anempfohlen, die ....

Die die Frau Baronin gelehrt hat, nahm der Caplan das Wort, Nachsicht mit der flüchtigen Aufwallung ihres Herzens zu haben, als jene den ersten Kampf mit einer augenblicklichen Verirrung ihrer Phantasie mit Strenge gegen sich selbst zu kämpfen dachte. O, mein verehrter Freund, rief der Geistliche, indem er sich erhob und an den Freiherrn herantrat, nur dieses Eine Mal hören Sie mich, mich allein, und glauben Sie mir! – Ich bin ein einsamer Mann. Kein Band der Blutsverwandtschaft, kein persönliches Verlangen, kein Ehrgeiz, kein Begehren knüpft mich an die Welt! Mein Wünschen habe ich früh begraben. All mein Wollen und Hoffen hatte ich an Ihr Haus geknüpft, und es gab eine Zeit, in welcher ich mit froher Zuversicht auf dessen Gedeihen und Bestehen blicken konnte, denn diejenigen, die es trugen und stützten, hatten sich in Liebe vereinigt und standen fest zusammen. Jetzt, wo der Geist einer wilden, neuen Zeit überall drohend seine Hand gegen das Bestehende erhebt, wo die alten Geschlechter durch Würde und Selbstvollendung das andringende neue Geschlecht mit sich versöhnen, wo ihr innerer Adel es darthun müßte, daß sie die Vorzüge verdienen, welche man ihnen mißgönnt und streitig macht, jetzt, wo das ganze Leben des deutschen Adels darauf hin gerichtet sein müßte, es darzuthun, wie er nichts gemein hat mit jener französischen Adelskaste, [485] deren Sittenlosigkeit und Hochmuth sie ihrem Volke mit Recht verächtlich gemacht haben, und wo das Bestreben aller Wohlmeinenden das Band zu erhalten trachten sollte, das die alten eingeborenen Familien mit dem Bürgerstande und den Insassen der Güter verbindet, jetzt muß ich hier von allem dem das Gegentheil erfolgen sehen, und es ist Niemand da, Niemand außer mir allein, der Ihnen zuruft: halten Sie ein, versöhnen Sie, stellen Sie her um jeden Preis – da es noch Zeit ist!

Des Freiherrn Aufregung hatte einem tiefen Nachdenken Platz gemacht. Er ging gesenkten Hauptes, die Hände auf den Rücken gelegt, mit langsamem Schritte in dem großen Zimmer auf und nieder. Dieses Nachdenken ermuthigte den Geistlichen. Denken Sie des Abends, sprach er, da Sie mir hier an derselben Stelle den Schmuck zeigten, den Sie der Frau Baronin zur Morgengabe bestimmten. Es ist Sitte unter uns, daß für jede neue Baronin von Arten der Schmuck vergrößert werde! sagten Sie mir damals, und ich dachte in meinem Innern: das ist in der Ordnung, sind doch auch das Ansehen und die Liebe, welche das Geschlecht derer von Arten hier im Lande genießt, von Geschlecht zu Geschlecht gewachsen! – Und mit welchem Zutrauen, mit welcher Liebe empfing man Sie und die Frau Baronin hier bei Ihrem ersten Kommen! Keinem Königspaare wurde mehr verehrende Neigung entgegen gebracht – keine Frau der Welt war mehr geeignet, mehr gewillt, diese Liebe zu verdienen – bis .... Er hielt inne und zuckte die Schultern.

Sprechen Sie es aus, rief der Freiherr, da ich ja doch weiß, was Sie denken!

Aber der Caplan gab dieser Aufforderung nicht Folge. Er wußte, daß nicht immer der nächste Weg der beste ist, und sich vorläufig von dem Gegenstande, der ihn hieher geführt, anscheinend zurückziehend, sprach er: Ich habe Sie oftmals und mit Recht über jenes Verlangen nach Neuerungen klagen hören, das [486] jetzt in den Geistern rege ist. Sie aber, Herr Baron, befinden sich ja in der glücklichen Lage, daß man von Ihnen nur die Erhaltung der früheren Zustände begehrt. Es ist gut, daß ein mir unbekannter Anlaß den Herrn Marquis entfernte, die Leute freuen sich darüber und wären gern bereit, es als eine ihnen gewährte Gunst zu betrachten, wenn Sie daneben nur den Amtmann in seiner Stelle lassen wollten. Die Steinerts gehören für die Vorstellung der Leute hier zum Grund und Boden. Es ist ihnen also, als ob der Boden unter ihnen wanke, seit es heißt, daß Steinert fort soll, und da im Laufe der Jahre im Schlosse einige der Domestiken durch Franzosen ersetzt worden sind, so fürchten die Leute ....

Die Leute und immer die Leute, fuhr der Freiherr auf, das ist's ja eben! Was kümmert es die Leute, wem ich die Verwaltung meiner Güter überantworte? Was kümmert es die Leute, wenn ich es vorziehe, mich lieber von gewandten Franzosen, da der Zufall sie mir bietet, bedienen zu lassen, statt erst mühsam die hiesigen tölpischen Burschen zu ungeschickten Domestiken auszubilden? Sie werden mich ungeduldig, mich mißtrauisch machen mit Ihrem beständigen Hinweis auf das Wollen und Nichtwollen der Leute, lieber Caplan! Haben die Gedanken der Neuerer auch Sie ergriffen? Haben die in Frankreich gemachten und zu machenden Erfahrungen auch Sie noch nicht belehrt, daß man mit Nachgiebigkeit nur seine gefährliche Schwäche verräth? – Hätte ich auch damals nachgeben sollen, mein lieber Caplan, als die Leute bei der Grundsteinlegung zu unserer Kirche sich so widerwillig zeigten?

Er hatte diese Worte mit einer spöttischen Herausforderung gesprochen; aber er war sichtlich überrascht, als der Caplan ohne ein Zeichen von Mißmuth ruhig sagte: Vielleicht wäre es weiser gewesen, den Bau zu unterlassen; vielleicht irrte ich, als ich damals mein augenblickliches Bedenken gegen denselben unterdrückte, [487] und ich hätte vielleicht mehr im Sinne und im Geiste meines Amtes gehandelt, wenn es mir gelungen wäre, Sie und die gnädige Frau von dieser äußerlichen Befriedigung einer religiösen Empfindung zurückzuhalten und Sie dafür um so lebhafter auf jene innerliche Auferbauung hinzuweisen, in deren Heiligthum kein Zweifel einzudringen vermocht haben würde. Aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern!

Und wieder blieb der Freiherr vor ihm stehen. Sie würden also, das sehe ich, sich in Frankreich auch zu den Geistlichen gehalten haben, die den Eid auf die Verfassung leisteten! rief er vorwurfsvoll.

Ganz gewiß! entgegnete der Caplan.

So hatte die Herzogin doch Recht, sprach der Freiherr wie zu sich selbst; aber die Worte entgingen dem Ohre des Geistlichen nicht und sie klärten ihn über die Wege auf, welche die Herzogin eingeschlagen hatte, um ihm den Freiherrn abgeneigt zu machen; auch ließ dieser ihn darüber nicht im Ungewissen.

Es bewegt mich sonderbar, nahm der Baron nach kurzem Schweigen im Tone ruhigster Unterhaltung und Betrachtung wieder das Wort, zu sehen, wie wenige Naturen sich dem mächtigen Strome der Zeit entgegensetzen, wie Wenige sich ihrem umgestaltenden Einflusse entziehen. Sie nannten sich vorher einen einsamen Mann. – Sie sind nicht einsam in der Welt, die uns umgiebt, mein lieber Freund, denn Sie haben die große Menge für sich, die überall zusammenhält, überall für sich Zugeständnisse begehrt, überall zum leicht errungenen Gemeingut machen möchte, was unser altes, wohl erworbenes Erbe ist. Ich tadle Sie nicht, hob er nach flüchtiger Unterbrechung seiner Rede wieder an, wenn Sie in sich die Kraft nicht fühlen, gegen einen solchen wilden Strom zu schwimmen und sich seinem fortreißenden Zuge zu widersetzen. Aber haben Sie sich wohl jemals gefragt, wohin dieses Nachgeben Sie führen wird, oder haben [488] Sie geglaubt, bis hieher, bis zu uns, könnten die Fluthen des Unheils nicht dringen, welche in dem unglücklichen Frankreich Thron und Kirche, das Leben des edelsten Königspaares und das Leben all der Tausende von Märtyrern der guten Sache in sich begraben haben? Es ist gar zu verlockend für die rohen Massen, zügellos zu sein und keine Gewalt über sich anzuerkennen, als die eigene blinde Willkür. Sie haben den König ermordet, den Adel seines Besitzes, seiner Rechte beraubt und das Blut vergossen, dessen erhabene Herkunft sie auch damit nicht zu vernichten vermochten; sie haben die Kirche aufgehoben und sich bis zum Wahnsinne der Gottesleugnung erhoben ....

Und die Kirche erhebt sich wieder unter dem Schutze Gottes, und das eigene Bedürfniß wird die von ihrem Hochmuth Verblendeten wieder, Rettung vor sich selber suchend, zu den Füßen des Gekreuzigten führen! Es geht nichts unter, was unsterblich ist, und wandelbar in seiner Form, erhält das Ewige sich unwandelbar! rief der Caplan, während die Innigkeit seiner Ueberzeugung sein würdiges Antlitz erleuchtete. Nicht uns dem Strome widersetzen können wir, denn er ist mächtiger, als der Wille des Einzelnen, und mächtiger, als das Zusammenhalten und Entgegenstemmen Vieler. Aber zu einander stehen sollen wir Alle dennoch in Liebe, damit wir uns erhalten in der Zeit der Noth, damit wir eine Gemeinschaft bilden, in welcher der rechte Sinn lebendig bleibt und die versöhnend und gewinnend und überzeugend die Kräfte wieder sammelt und zur Einheit bindet, wenn der Kampf der blinden Selbstsucht sie bald genug vereinzelt haben wird. Liebe und Friede in jeder Gemeinschaft, das ist es, was uns jetzt Noth thut, und um dieser Nothwendigkeit, um der Selbsterhaltung willen, zur Beruhigung derjenigen, welche seit Hunderten von Jahren zu Ihrem Hause emporgesehen und demselben in Liebe angehangen haben, beschwöre ich Sie, Herr Baron! machen Sie Frieden mit denen, mit allen denen, die zu Ihnen gehören [489] und die, ich versichere Ihnen es aus voller Ueberzeugung, Ihnen in Ergebenheit und Liebe eigen sind, selbst wo sie ein Schwanken zu sehen, einen Zweifel erheben zu müssen glauben! – Er war damit wieder auf den Ausgang der Unterhaltung zurückgekehrt und hoffte jetzt besseres Gehör zu finden, da er dem Freiherrn bereits Gelegenheit gegeben hatte, sich vielfach auszusprechen.

Der Baron war sehr erregt. Bald ging er lebhaft, bald langsamer, in dem Gemache umher, bald blieb er stehen; er schien nicht mit sich fertig werden, den Kampf nicht zum Abschlusse bringen zu können, der offenbar in seiner Seele vor sich ging, und plötzlich aus seinen Sinnen auffahrend, fragte er: Was denken Sie sich unter diesem Friedenmachen?

Versuchen Sie es nur einmal wieder eine kurze Zeit, eine ganz kurze Zeit, ohne alle andere Gesellschaft an der Seite der Frau Baronin zu leben! bat der Geistliche dringend. Hören Sie ihre Geständnisse mit dem Glauben an ihre reine Seele an! Glauben Sie auch mir, auch mir, dem sein Beruf nicht heiliger ist, als Ihre Ehre, Herr Baron, daß es die gewissenhafte Aengstlichkeit eines unschuldigen, aber irregeleiteten Herzens war, die sich vor Ihnen, durch Ihren Zorn gereizt, zu einer Untreue bekannte, welche nichts, nichts als eine flüchtige, durch fremde Schuld erregte Gedankensünde war! Hören Sie sonst Niemanden, fragen Sie Niemanden um Rath, als Ihre eigene Menschenkenntniß, als Ihr eigenes Herz; und Sie werden nicht lange an der Mutter Ihres Sohnes zweifeln, Sie werden den Stein nicht werfen können auf eine Frau, die, rein und edel, nur Ihres Glaubens und Ihrer Liebe nöthig hat, um wieder fest und unwandelbar zu Ihnen zu stehen in guten und bösen Tagen!

Der Freiherr hatte wieder auf dem Sessel Platz genommen, aber er erwiederte dem Geistlichen nichts. So blieben sie lange einander gegenüber sitzen. Als die Glocke der großen Pendeluhr auf dem Simse des Kamins die siebente Stunde schlug, richtete [490] der Baron sich auf. Ich danke Ihnen, sagte er, daß Sie Ihrem Gewissen, Ihrer Ueberzeugung folgten. Sie haben Ihre Pflicht gegen mich, Sie haben überhaupt in edelster Weise Ihre Pflicht erfüllt. Denn wie peinvoll mir diese Unterredung auch gewesen ist, hat sie mir doch wohlgethan und mich veranlaßt, unerbittlich gegen mich selbst, noch einmal in mein Inneres zu blicken. Ich danke Ihnen dafür, mein theurer Caplan. – Er reichte ihm die Hand, der Geistliche ergriff dieselbe mit Wärme; die Haltung, die Redeweise des Freiherrn schienen ihm Gutes zu verkünden, und doch hatte er sich, so sicher er ihn zu kennen meinte, zum ersten Male über dasjenige getäuscht, was in dem Freiherrn vorging. Aber er sollte nicht lange im Dunkeln bleiben, denn Jener fing von selber zu sprechen an.

Wir beide, mein Freund, Sie und ich, sind eben verschieden geartete Menschen, und Sie kennen mei nen Glauben in diesen Dingen, wir müssen unserer Naturbestimmung folgen. Sie hätte Ihr Charakter, in welchem Stande Sie auch geboren worden wären, zur Kirche und innerhalb derselben zur Entsagung und zu ausgleichender Vermittlung geführt; ich hätte unter allen Verhältnissen nicht entsagen, mich nicht bescheiden, nicht vermitteln können. Ich verlange nach einer Ganzheit, nach einem vollen Genügen; ich kann nicht vermitteln zwischen Recht und Unrecht, ich bin absolut – und muß und will das bleiben nach allen Seiten und in jeglichem Betracht!

Er erhob sich bei den Worten und stellte sich, den Arm auf die hohe Brüstung gelehnt, sei es zufällig oder absichtlich, in solcher Weise neben dem Kamine hin, daß er von Zeit zu Zeit seines eigenen Antlitzes in dem hellen Spiegelglase ansichtig werden mußte. Als ich mich mit der Baronin verband, war ich kein Jüngling und kein Schwärmer mehr, sagte er. Wäre ich meiner Neigung, meiner innersten Ueberzeugung gefolgt, so würde ich mich niemals verheirathet haben, denn darüber habe [491] ich mich nie getäuscht, die arme Pauline, an die ein dämonisches Geschick mich band – und heute noch bindet – ist, wie ich es mir später auch wegläugnen wollte, die einzige Liebe meines Lebens und das einzige Weib von unabänderlicher Herzenstreue gewesen, das ich je gekannt habe. Das Geschlecht ist schwach!

Aber, Herr Baron! wendete der Geistliche mit wachsendem Erstaunen ein. Indeß der Freiherr ließ ihn nicht zu Worte kommen. Kein Aber, mein Freund! rief er; Sie sollen mich bis zu Ende hören, damit wir über diesen Gegenstand ein Mal und ein für alle Mal in das Klare und zu Ende kommen. – Als ich mich aus Standesrücksichten, aus Rücksicht auf das Fortbestehen meines Hauses dann zur Ehe entschloß, wünschte ich in der Baronin eine Mutter für meine Kinder, eine Frau für mein Haus zu finden, und ich würde zufrieden gewesen sein, hätte sie mir nur ein achtungsvolles Vertrauen mitgebracht. Die Baronin glaubte mich zu lieben, obschon sie, wie sie es mir ja selbst in Ihrem Beisein einst gestanden, Anfangs ein lebhaftes Abmahnen gegen mich gefühlt hat, und da diese anscheinende Liebe nach dem schmerzlichen Zwiespalte, in welchen der Untergang der armen Pauline mich geworfen, die Neigung der Baronin nicht von mir wandte, so nahm ich die Liebe meiner Frau dankbaren und vertrauensvollen Herzens auf und schätzte sie um so höher, als ich – bemerken Sie das wohl, mein Freund – diese Liebe nicht erwartet, nicht gefordert hatte. Ich genoß sie als eine frei gewährte Gunst, und ich habe auch den Uebertritt zu unserer Kirche nie von meiner Frau begehrt; ich habe es nicht verlangt, daß sie um meinetwillen mit ihrem ganzen Hause breche – ich bin, Sie wissen das ja selbst, nicht orthodox und eigentlich nicht einmal kirchlich. Was ich mit mir, mit meinen Erinnerungen abzumachen hatte, das würde ich allein oder mit Ihrem Beistande in meinem Herzen abgeschlossen und zu versöhnen getrachtet haben. Ich bedurfte der sichtbaren Versöhnung, der [492] Buße, der Opfer, der Auferbauung nicht. Sie selber legen ja auch, wie Sie mir heute bewiesen, nicht grade den höchsten Werth darauf. Der Uebertritt der Baronin zu unserer Kirche war ihr ein Bedürfniß; der Kirchenbau und obenein der Bau in Rothenfeld, das ich gern meide, war aber ein selbst in materieller Hinsicht sehr schweres Zugeständniß an meine Frau!

Er hatte das bestimmt und lebhaft gesprochen; nun hielt er plötzlich inne. Sagen Sie selbst, rief er, habe ich mich in dieser Darstellung beschönigt?

Nicht eigentlich, entgegnete der Caplan, nur möchte ich Sie daran erinnern ....

Das nachher! Das nachher, mein Freund! fiel der Freiherr ein. Lassen Sie mich vollenden. Es genügt mir, daß Sie mir gerecht sind. – Er sammelte sich darauf abermals und fuhr fort: Wir leben allerdings in einer schweren Zeit, in welcher, wie Sie vorhin sehr richtig bemerkten, der Adel die Pflicht hat, sich in seiner ganzen angestammten Würdigkeit zu behaupten. Dieser Pflicht zu genügen, öffnete und bot ich einer flüchtigen und edeln Verwandten mein Haus und meinen Beistand; aber auch bei uns ist das Unheil, ist der Uebermuth der unteren Classen so weit gediehen, daß selbst meine Diener urtheilen, wo sie zu gehorchen hätten, und sich Vorstellungen erlauben, die über ihre Befugnisse hinausgehen. Der Amtmann, welcher sich als Herrn fühlt, weil unsere Nachsicht seinen Voreltern die Möglichkeit gegeben hat, sich in unserem Dienste zu bereichern, unterfängt sich seit einiger Zeit, mir Vorhaltungen wegen meiner Ausgaben zu machen – während ich seine Einnahmen nicht controlire – und fühlt sich beleidigt, wird aufsässig, wie das ganze Volk, weil ich nicht darein willige, seine Schwester mit einem jungen Manne zu verheirathen, der, ebenfalls in meinen Diensten, frech genug war – er unterbrach sich und sprach dann schnell und bitter – sein Auge und seine Wünsche bis zu der Baronin [493] von Arten zu erheben, und von dem die Baronin, welche mich einst, ohne daß ich es begehrte, und vielleicht mehr als ich's verdiente, liebte, jetzt, nach achtjähriger Ehe, nach acht Jahren eines vollen, unbedingten Zutrauens in ihre Ehre und Tugend, mir eingesteht, daß sie ihn liebe, ihn schon lange geliebt habe, und daß ich ziemlich der Einzige sei, der dieses noch nicht wisse!

Er ging wieder umher; die Lust, sich im Spiegel zu betrachten, mußte ihn verlassen haben. Er schöpfte tief Athem, nahm die Dose heraus und hielt sie mechanisch in der Hand, ohne sie zu öffnen. Als er die Dose wieder eingesteckt hatte, sagte er: Solchen Ereignissen gegenüber giebt es für einen Mann wie ich nur Einen Weg. – Ich habe der Baronin nichts zu verzeihen, denn ich kann sie nicht dafür verantwortlich machen, daß sie nicht stärker ist, als ihr Geschlecht, und daß ich thöricht genug war, sie für eine Ausnahme zu halten. Aber erinnern Sie sich, was ich Ihnen oftmals sagte: meine Sinne haben mich niemals beherrscht, wo mein Herz mit ihnen nicht im Bunde war, und mein Herz hat sich der Baronin abgewendet. –

Um Gottes willen, Herr Baron, wie ist das möglich? Wie darf ein flüchtiger Irrthum das Vertrauen, die Neigung, die Liebe langer Jahre unwiederbringlich vernichten? Wie dürfen Sie in solcher Weise richten, Herr Baron?

Lassen Sie das, mein Freund. Ich richte, ich verdamme nicht, aber Sie kennen das Geheimnißvolle in der Liebe nicht, Sie haben nie ein Weib geliebt, niemals Ihr Herz einem Weibe anvertraut! entgegnete der Baron mit dem Tone der Empfindung, und so beschäftigt und hingenommen war er von sich selbst, daß er das sanfte, traurige Lächeln nicht bemerkte, welches wie ein Schein des Abendlichtes über des Caplans mildes Antlitz glitt. Es giebt keine Wiederkehr in der Liebe, fuhr der Freiherr fort, oder glauben Sie, ich könnte es vergessen, was die Baronin mir gestanden hat? Würde nicht, so oft sie mir von Liebe spricht, jenes: ich [494] liebe Herbert, ich, die verheirathete Frau, die Gattin des Freiherrn von Arten, liebe diesen Herbert – mir in das Ohr klingen?

Er ergriff abermals des Caplans Hand, und mit zusammengepreßter Stimme sprach er: Das ist nicht die Eitelkeit des älteren Mannes, Freund, die es nicht ertragen kann, neben einem geliebteren Manne zurückzustehen! Es ist das nicht zu besänftigende Ehrgefühl des Edelmannes, und die Baronin kennt meinen Entschluß! Unsere Kirche, welche stets die Schwäche und Hülfsbedürftigkeit des Menschen im Auge behält, hat uns auch für den Fall, in dem ich mich befinde, das Mittel an die Hand gegeben! Erkennt sie doch in dringendem Falle auch dem Laien eine priesterliche Machtvollkommenheit zu!

Ach, Herr Baron, rief der Caplan erschreckt und schmerzlich, Sie haben sich der Herzogin vertraut, Sie sprachen mit der Herzogin davon!

Der Baron stutzte. Was soll der Ausruf?

Sie bitten, Sie beschwören, dies nicht zu thun! Entfernen Sie die Herzogin nur wenig Wochen, nur wenig Tage! Um alles Guten, um Ihrer und Ihres Sohnes willen flehe ich Sie darum an!

Nicht doch, mein Freund! Wozu sollte das führen? versetzte der Freiherr; ich bin fest entschlossen und mir völlig klar. Ich habe mein Leben von dem der Baronin in meinem Herzen ein für alle Mal geschieden. Sie weiß das seit diesem Abende, und ich habe ihr gesagt, daß ich Sie, mein Freund, und die Frau Herzogin, die das Geheimniß kennen, deß zu Zeugen nehme; im Uebrigen soll kein Mensch davon erfahren. – Und wie ich hier gethan, was dem Manne und dem Edelmanne gebührt, so denke ich überhaupt mein Recht zu wahren. – Es bleibt dabei, daß Adam fortgeht! Ich kann keine Beamten brauchen, welche es vergessen, daß ich hier zu gebieten habe, daß ich der Herr bin; und es ist mir ganz recht, daß ich dieses Exempel an dem ersten, dem obersten meiner Leute statuiren kann. Die Anderen [495] werden sich um so besser danach zu richten wissen. Ich dränge ihn nicht, fortzugehen, er mag seine und meine Angelegenheiten in Ruhe abwickeln. Ist dies gethan, so soll er gehen!

Der Caplan neigte das Haupt. Dann freilich habe ich nichts mehr zu sagen! sprach er und stand auf, um sich zurückzuziehen. Der Freiherr hielt ihn nicht zurück.

Erst als jener der Thüre zuschritt, sagte er: Nur Muth, mein alter Freund; man muß den Kopf hoch tragen, wenn man ihn in diesen Tagen des Mißgeschickes überhaupt oben auf seinem Rumpf behalten will! Sie thaten, was Ihres Amtes ist, ich thue das Meinige! Geschieht das überall, weicht Niemand von seinem Platze, vergiebt man nichts von seiner Würde, von seinem Rechte, zeigt man sich unerschütterlich, wer und was sollte uns da erschüttern? – Ich habe leider nach einer Seite kein Glück gehabt, lassen Sie mich also an meiner alten Ueberzeugung um so fester halten, daß ich Glück in der Freundschaft habe, daß ich mich zu den nicht eben zahlreichen Personen rechnen darf, die es verstehen, die Freundschaft zu ehren und zu pflegen! Und glauben Sie mir, die Frau Herzogin theilt meine Freundschaft, ja, meine Sorge für und um Sie. Nur Geduld bis in den Sommer, bis wir die Kirche fertig haben und die Steinerts fort sind; dann schaffe ich Ihnen ein eigenes Haus, ein Asyl, in dem es Ihnen wohler sein soll, als hier unter uns, die wir ja leider einmal Weltkinder sind und bleiben!

O, ich kenne den Antheil, den die Frau Herzogin an mir nimmt! sagte der Caplan, während ein schmerzliches Lächeln um seine Lippen spielte. Aber der Freiherr schien dies nicht zu bemerken, und die Bedeutung nicht zu verstehen, welche der Geistliche in seine Worte legte. Er reichte ihm mit freiem Anstande freundlich die Hand und begleitete ihn bis gegen die Thüre hin, obschon jener die ihm zum Abschiede dargebotene Rechte zum ersten Male nicht ergriffen hatte.

[3]
Drittes Buch
1. Capitel
[3] [5]Erstes Capitel

Die Tage waren mild und ohne Wind. So weit das Auge reichte, bedeckte wieder der Schnee das Land. Auf dem Amthofe in Rothenfeld ertönte laut der Schall der Arbeit. Der Takt der Dreschflegel, die Axt des Holzhauers, das Knarren des Brunnenrades, das Brüllen und Blöcken der Hausthiere, das aus den weiten Stallungen herübertönte, unterbrachen die Stille, und das Thun der Menschen, ihr Kommen und Gehen belebte mit der sich alljährlich wiederholenden nothwendigen Beschäftigung in gewohnter Weise die Einsamkeit. Es war Alles, wie es im vorigen Winter, in allen ihm vorangegangenen gewesen war, obschon es der letzte sein sollte, welchen die Bewohner des Amthauses in demselben zubrachten.

Im Schlosse zu Richten war es anders. Dort hörte man nichts von der wohlthätig wiederkehrenden Gleichmäßigkeit der Arbeit, und der Winter ist sehr lautlos auf dem Lande. Die großen Portale waren geschlossen, um der Kälte den Eingang zu wehren; auf weichen Teppichen bewegte die Dienerschaft sich geräuschlos in den Gängen und auf den Treppen umher, und nur wenn man an die Fenster trat, sah man in weiter Ferne gelegentlich einen Schlitten wie einen flüchtigen Schatten halb verschleiert von dem feinen Dufte, der die ganze Luft erfüllte, über die weite Ebene gleiten. Was unter der weißen Hülle im Schooße der Erde arbeitete, was in den heimlichen Nestern und Schlupfwinkeln geschah, in die das Leben der Feldthiere, der [5] Vögel und der Insecten sich zurückgezogen hatte, das verbarg sich dem Auge des oberflächlichen Beobachters; und wer flüchtig an dem Schlosse vorüberging, in dessen weiten Gärten und auf dessen prächtigem Hofe die lustigen Spatzen und die immer rührigen Krähen ihr Wesen trieben, oder wer nur als Gast in das Schloß kam und die glänzende und würdige Gastfreiheit der Schloßherrschaft genoß, der hätte meinen müssen, es sei auch hier im Schlosse Alles noch so, wie es in dem vorigen und in den ihm zunächst vorangegangenen Jahren gewesen war. Aber auch über das Leben der Schloßherrschaft lag, wie draußen die kühle, weiße Decke des Schnee's, der verhüllende Mantel der formvollen Gewohnheit und der feinen Sitte gebreitet und entzog dem Auge, was sich unter ihm verbarg.

Es war ein Schweigen über die Menschen gekommen. Angelika kränkelte und sah noch übler aus, als ihre seltenen Klagen über ihr Befinden es rechtfertigten. Der Freiherr hatte, weil er spät zu wachen liebte und weil Angelika, wie er sagte, Ruhe haben sollte, ihre Zimmer verlassen und die Wohnung bezogen, welche er vor seiner Verheirathung inne gehabt hatte, und alle einzelnen Personen hielten sich mehr als je bisher in ihren besonderen Gemächern auf. Die Herzogin erschien sehr niedergeschlagen. Man glaubte, daß sie den Marquis vermisse und daß sie Langeweile fühle, denn sie ließ den Caplan öfter zu sich bitten, hatte lange Gespräche mit demselben, und doch sah man nicht, daß sich eine wirkliche Annäherung zwischen den beiden Personen gebildet hätte oder auch nur allmählich bildete. Was sich allein und immer gleich blieb, war die Freundschaft, welche der Freiherr für die Herzogin an den Tag legte, und die rücksichtslose Freigebigkeit und Zuvorkommenheit, mit welcher er allen ihren Neigungen begegnete. Der Freiherr zeigte sich immer ruhig, Angelika sanft, aber zurückhaltend, und man hätte fast meinen sollen, es läge nur an der Verstimmung der Herzogin, [6] daß die Anderen sich nicht in der früheren geistigen Freiheit bewegten, es bedürfe nur ihres guten Willens, um Alles wieder in das alte Geleise zu bringen; denn daß nicht mehr Alles in dem guten alten Geleise stehe, daß etwas Besonderes, daß noch etwas Anderes, als der Streit mit dem Amtmanne und dessen bevorstehende Entlassung vorgefallen sei, daran zweifelte in der Herrschaft bald Niemand mehr. Aller der Leute, die, wie ihre Eltern auf den Gütern geboren und erzogen, ihre Welt in diesem engen Kreise hatten, begann sich dadurch eine Unsicherheit zu bemächtigen. Sie hatten stets den Glauben gehegt, daß sich bei ihnen in Richten nichts ändern könne und dürfe, und daß sich etwas geändert hatte, ohne daß sie sich zu erklären wußten, was sich geändert habe, steigerte ihr Unbehagen.

Aber grade die Frau, welche an den mannigfachen Wandlungen in Schloß Richten und in dem Leben seiner Besitzer einen so großen und unheilvollen Antheil hatte, grade die Herzogin war am meisten betroffen über die Wendung, welche die Gedanken und Entschlüsse des Freiherrn genommen hatten; und wenn sie davon auch nicht im Gemüthe angegriffen wurde, so nahm sie es doch mit einer Art von Schrecken wahr, daß die von ihr so fein gesponnenen und so geschickt verknüpften Fäden nicht das Gewebe bildeten, auf das sie es abgesehen, weil sie nicht genugsam in Betracht gezogen hatte, daß es sich mit Menschen nicht so sicher als mit todten Zahlen rechnen lasse und daß die Personen, welche sie als ihre Werkzeuge zu betrachten sich gewöhnt hatte, sich plötzlich erheben und sich zu einer Entscheidung aufraffen könnten, stark genug, alle Berechnungen und Erwartungen der planvollsten Voraussicht mit einem Schlage zu durchkreuzen.

Das habe ich nicht gewollt! sagte sich die Herzogin, als der Freiherr ihr vertraut hatte, was er in sich beschlossen, und mit diesem Ausrufe wälzte sie alle Verantwortung und Schuld [7] von ihren Schultern auf die seinigen. Sie brauchte nicht einzustehen für das, was sie nicht bezweckt hatte. Sie hatte sich zerstreuen, sich unterhalten, ein wenig Einfluß auf ihre Freunde gewinnen wollen, sagte sie sich; sie hatte die Baronin von ihrer deutschen Schwerlebigkeit zu heilen, den Freiherrn von der Herrschaft seiner allzu strengen Gattin zu befreien gewünscht; sich selber und seinen alten, fröhlichen Gewohnheiten hatte sie ihn wiedergeben wollen, indem sie nebenbei sich und ihrem Bruder das Leben in der Einsamkeit so gut es ging erheiterte, und plötzlich hatte die stolze Ueberspanntheit des Freiherrn alles Maß und Ziel so völlig überschritten, daß die Herzogin sich mit einem Male zur Zeugin und zur Vertrauten eines ehelichen Zwiespaltes auserkoren fand, der schwer und tief genug war, um selbst eine Frau wie sie mit ernstem Erschrecken zu erfüllen. Sie konnte dies dem Freiherrn nicht verzeihen, denn er ganz allein und Niemand sonst trug nach ihrer Meinung die Schuld des Unheils. Sie nannte es unverantwortlich von ihm, daß er der Baronin nicht die Hand bot, um über eine Schwäche, über einen kleinen verzeihlichen Herzensirrscham fortzukommen; und wie natürlich, wendete ihre ganze Theilnahme sich unter diesen Verhältnissen der Verkannten, der Leidenden, der Baronin zu.

Es blieb der Herzogin in diesem Augenblicke auch keine andere Wahl, wenn sie sich nicht der ihr zur anderen Natur gewordenen Einmischung in fremde Angelegenheiten für die nächste Zeit enthalten wollte; und der Caplan hatte Recht gehabt mit seinem Worte: sie kann nicht rasten und nicht ruhen! – Die müßige Herrschsucht, das eitle Bedürfniß nach immer neuer scheinbarer Thätigkeit, die Lust, sich an fremden Empfindungen zu ergötzen, waren unersättlich und ohne Rast in der kalten, selbstsüchtigen, mit unruhiger Phantasie begabten Frau, und sie wurden nur von dem dreisten Selbstbetruge übertroffen, mit dem [8] sie sich in eine neue Rolle zu versetzen wußte, so oft die alte ihr beschwerlich oder unhaltbar für sie zu werden anfing.

Seit Jahren hatte sie den Caplan gemieden, weil er der Mißbilligung kein Hehl gehabt hatte, mit der er ihr Treiben und ihren Einfluß auf den Freiherrn und auf Angelika verfolgte, und sie war seit lange bestrebt gewesen, ihn in der guten Meinung des freiherrlichen Paares zu entwurzeln, ja, ihn zu entfernen. Jetzt schien sie dies völlig vergessen zu haben. Sogar der Gedanke, daß der würdige Mann sie und ihr frevelhaftes Spiel mit der Wohlfahrt ihrer Gastfreunde durchschaut habe und daß er es verdamme, hielt sie nicht ab, sich an ihn und seinen Beistand zu wenden, sobald sie seiner zu bedürfen glaubte; denn wie alle Selbstsüchtigen, besaß sie das festeste Vertrauen in die Selbstlosigkeit der Anderen und jenen Hochmuth, der für alles gethane Uebel schnelle Vergessenheit, für jeden neuen Einfall Zustimmung und Beistand zu finden erwartet, wenn demselben nur der Anschein eines edeln Zweckes anzudichten ist.

Der Caplan erkannte und durchschaute dies Alles; aber in der Gefahr, in welcher seine Freunde sich befanden, glaubte er sich jedes Mittels bediene, zu müssen, das eine Hülfe zu bieten schien, obschon seine Hoffnung auf ein Gelingen und sein Glaube an die Möglichkeit, die Ehe des Freiherrn herzustellen, nur gering waren.

Angelika war keine thatkräftige und war doch dabei eine stolze Natur. So lange sie sich berechtigt geglaubt hatte, mit ihrer ungetheilten Liebe die Liebe ihres Gatten, die er ihr zugeschworen, zu verdienen, so lange ihr reines Gewissen seine volle Achtung fordern konnte, hatte sie den Muth gehabt, dem Freiherrn in den Zeiten seiner geistigen Bedrängniß zu Hülfe zu kommen, und es hatte sie über sich selbst hinausgehoben, daß sie zu trösten, zu verzeihen, daß sie herzustellen vermochte. Seit sie sich schuldig glaubte, sich schuldiger fühlte, als sie war, [9] hatte eine Verzagtheit sie erfaßt, gegen welche der Caplan vergebens angekämpft, da er andererseits genöthigt gewesen war, Angelika mit ernster Strenge vor der Nachgiebigkeit gegen ihre Schwäche zu warnen, welche in den Lehren und Unterhaltungen der Herzogin immer neue Nahrung und Beschönigung gefunden hatte. Wer aber, wie Angelika, wahrhaften Sinnes und also eigentlich nicht geneigt ist, sich zu betrügen, wer sich selber seine Fehler zu Herzen nimmt und sie sich schwer verzeiht, weil er den Anspruch der Würdigkeit an sich macht, der fühlt auch die Verzeihung der Andern nicht als eine Wohlthat, sondern als eine Demüthigung, unter deren Last er sich nicht leicht erhebt; und wie furchtbar das übereilte Verdammungs-Urtheil ihres Gatten Angelika auch traf, es lag darin ein Etwas, das ihr willkommen war, das ihrem eigenen Empfinden, ihrem in diesem Falle übertriebenen Gerechtigkeitsgefühl entsprach.

Hätte der Freiherr sich dazu verstanden, sie über ihre Neigung für Herbert aufzuklären, hätte er sie liebevoll zu sich gezogen, so würde sie sich bestrebt haben, zu vergessen, und bemüht gewesen sein, die Liebe und das Wohlgefallen ihres Gatten wieder zu erringen. Aber der Freiherr hatte die Wahrheit gesprochen, als er gegen den Caplan behauptet, daß er eigentlich niemals eine wirkliche Liebe für Angelika gefühlt habe, und er hatte es, für sich eingenommen wie er war, ihr durch alle die Jahre nicht vergessen, daß sie ihn schwach gesehen und daß sie ihm einmal in Gegenwart des Geistlichen ihr einstiges inneres Mißfallen an seiner Person erklärt hatte.

Jetzt sich von Angelika im Angesichte der Herzogin einen jüngeren, einen Mann geringeren Standes vorgezogen zu sehen, von seinem Weibe das Geständniß hören zu müssen, daß sie einen Anderen liebe, das waren Kränkungen gewesen, die er nicht verzeihen und von denen er sich nur durch eine That befreien konnte, mit welcher er seine Selbstherrlichkeit vor sich [10] selber, vor Angelika und vor den Augen der Herzogin, ein für alle Mal feststellte.

Er hatte dabei keinen großen Widerstand in sich zu überwinden, denn wo der Stolz und die Eitelkeit in einem Menschen die Oberhand behaupten, werden vor denselben alle anderen Empfindungen und Rücksichten leicht zum Schweigen gebracht, und der unausgesetzte Verkehr mit der älteren, ihm beständig schmeichelnden und der Baronin geistig überlegenen Freundin hatte ihn seit lange gleichgültiger gegen Angelika und selbst gegen ihre körperliche Schönheit gemacht, als er es sonst wahrscheinlich geworden sein würde. Er brachte also kein schweres Opfer, er gab keine ihm unentbehrlich gewordene Gemeinschaft auf, als er sich von Angelika entfernte, und er fand mit dieser Entsagung dasjenige für sich wieder, was ein Mann von seiner Art am wenigsten entbehren kann, was er am höchsten schätzte: persönliche Befriedigung und das Wohlgefallen an sich selbst und an seiner Machtvollkommenheit.

Anders jedoch stand es um die Baronin. Der gewaltsame Entschluß ihres Gemahls gab ihr ein Recht, sich unglücklich zu fühlen, und da sie, wie Jeder, das Verlangen in sich trug, eine Folgerichtigkeit zwischen ihrem Erleiden und ihrem Verschulden zu entdecken, so überließ sie sich unwillkürlich ihren Gedanken an die entbehrte Liebe, und ihrem Schmerze um Herbert mit solcher Heftigkeit, daß sich eben an dieser heftigen Leidenschaft ihr krankhaftes Schuldbewußtsein bis zu jener Höhe steigerte, welche sich bereitwillig zu jeder Buße zeigt und eine schwärmerische Wollust in dem Leiden, in dem völligen Verzichten findet.

An der Selbstzufriedenheit des Freiherrn, an der Wollust, mit welcher seine Gattin sich verdammte, scheiterten die Versuche, welche der Caplan zu der Vereinigung der Getrennten unternahm. Der Freiherr gefiel sich überaus darin, den Geistlichen sowohl als die Herzogin von der Festigkeit seiner Entschlüsse[11] und seines Charakters wie von seinem strengen Ehrbegriffe zu überzeugen. Aus der Mühe, welche sich der Eine und die Andere, jeder auf seine Weise, mit seiner Bekehrung gaben, ersah er mit Vergnügen die Wichtigkeit, die sie ihm und seinem Schicksale beilegten; und die Nothwendigkeit, in den oft und in verschiedenster Weise wiederkehrenden Gesprächen über diesen Gegenstand seine Gründe den Gründen seiner Freunde entgegen zu stellen, bestärkte ihn in seinen Ueberzeugungen wie in seinem Vorsatze. Hochgehobenen Hauptes und heiterer Stirn aufzutreten, wenn er Alles um sich her gebeugt sah, war ihm ein durch nichts Anderes zu ersetzender Genuß; und mit einem Lächeln der Ueberlegenheit ermahnte er die Baronin wie seine Freunde, innere Erlebnisse nicht zur Schau zu tragen, ihre Mienen und ihre Stimmung nicht zu Verräthern an sich werden zu lassen und den Lauf des ruhigen täglichen Lebens nicht zu unterbrechen, weil man mit sich selber etwas abzumachen habe.

Ueberlassen wir es den Steinerts, sagte er gelegentlich, von sich, von ihrem Schicksale und von Eva's Herzensgeschichte auf zehn Meilen in der Runde sprechen und sich loben oder tadeln und beklagen zu lassen, je nach dem Belieben Anderer. Man muß sich unnahbar machen, wenn man unangetastet bleiben will, und mich dünkt, mit sehr geringer Selbstbeherrschung könnte die Baronin, mit etwas Achtung vor meinem berechtigten Verlangen könnte der Caplan und könnten Sie, meine theure Margarethe, das Vergangene, wie ich, auf sich beruhen lassen und mir die Unannehmlichkeit ersparen, mein und meines Hauses Leben von der Neugier meiner Leute unnöthig berührt zu sehen.

Das waren Empfindungen und ein Stolz, welche die Herzogin vollkommen begriff und würdigte. Sie stimmte mit der Ansicht des Freiherrn überein, daß es für den Adel jetzt doppelt geboten sei, sich in ungebrochener Würdigkeit, im Vollbesitze aller seiner Standesehren und Vorrechte vor dem niederen Volke zu [12] behaupten, und sie konnte bei der unverhohlenen Kälte und Entfremdung, mit welcher Angelika ihr seit den letzten Ereignissen begegnete, überhaupt nicht lange im Zweifel darüber bleiben, nach welcher Seite sie sich zu ihrem eigenen Besten wenden müsse.

Lange Zeit die Rolle der Trösterin, der Versöhnerin zu spielen, während die Baronin sich ihrem Troste unzugänglich zeigte und der Freiherr gegenüber ihren vermittelnden Bestrebungen seine Ueberzeugung aufrecht erhielt, wäre dem auf Erfolg gestellten Wesen der Herzogin ohnehin nicht möglich gewesen. Eine Ausgleichung aber, ein Verständniß können sich nicht herstellen, wo eigenwilliger Stolz in dem Menschen mächtiger als die verständnißvolle Liebe ist und wo eine wahrhafte Annäherung schon durch das absichtliche Dazwischentreten übelwollender Personen nicht zu Stande kommen kann. Von gleichem Stolze beseelt und fortgerissen wie ihr Gatte, gewann es daher die Baronin auch endlich über sich, es seinem Auge zu verbergen, wie unglücklich sie sei, wie unglücklich es sie mache, sich von ihm verstoßen zu wissen. Sie gewann es über sich, jene Ruhe an den Tag zu legen, in welcher der Freiherr sich zeigte, in der er seine ganze Umgebung zu sehen begehrte, eine Ruhe, die sie zu fühlen weit entfernt war und deren Anschein, obschon er sich's nicht eingestand, den Freiherrn nur noch fester in dem Glauben werden ließ, daß er sich in Angelika getäuscht, daß sie ihn nie geliebt und daß er in ihr nie das Herz besessen habe, welches ihn zu beglücken, ihm zu genügen fähig gewesen wäre.

Allen weiteren Belästigungen und Erörterungen zu entgehen, hatte der Freiherr bald nach seiner heimlichen Trennung von Angelika eine Einladung zu den großen Jagden angenommen, welche einer der Prinzen auf seinen Gütern um diese Zeit veranstaltete, und war erst kurz vor den Weihnachtstagen, und zwar in Begleitung verschiedener Gäste, wieder in das Schloß zurückgekehrt.

[13] Das Weihnachtsfest wurde mit gewohnter Freigebigkeit und Gastlichkeit begangen; die Gäste sollten bis über das Neujahr im Schlosse verweilen.

Befehlen der gnädige Herr, daß morgen der große Saal geöffnet und die Leute angenommen werden sollen? erkundigte sich am Sylvestertage der Haushofmeister, als der Freiherr ihn rufen lassen, um ihm einen Auftrag zu ertheilen.

Wie anders? antwortete dieser. Der Haushofmeister verneigte sich und ging davon. Es war das erste Mal, daß er diese Frage für nöthig erachtet hatte, das erste Mal auch, daß der Freiherr sich den Glückwünschen seiner Leute gern entzogen hätte. Aber es befanden sich im Schlosse unter den Gästen mehrere Personen, welche in manchem früheren Jahre Zeugen dieser herrschaftlichen Ceremonie gewesen waren, und der Freiherr hielt es für angemessen, von einem alten Herkommen nicht abzulassen.

Der Ahnensaal zu ebener Erde war ein schöner Raum. In den beiden großen Kaminen an seinem oberen und unteren Ende brannten am Neujahrsmorgen helle Feuer, und die Sonne, welche draußen den Schnee funkeln und die dicken Fransen des Rauhreifs an den Aesten der Bäume glitzern machte, schien so hell in den Saal hinein, als wolle sie die brennenden Feuer unsichtbar machen und beschämen.

Die lange Reihe der Ahnenbilder war sorgfältig abgestäubt worden, man hatte die Teppiche vor den gradlehnigen Canapee's über den Fußboden gebreitet, der Haushofmeister ließ auf dem schweren Marmortische die alterthümlichen Geräthschaften auftragen, deren man sich, seit die Baronin Angelika im Schlosse lebte, am Neujahrstage zu bedienen pflegte. Man nannte diesen Empfang im Ahnensaale das Familien-Frühstück, weil man dann die Mahlzeit beim Beginne des neuen Jahres gleichsam unter den Augen des ganzen hingegangenen Geschlechtes einnahm und [14] die sämmtlichen Beamten der Herrschaft mit einem Imbiß bewirthete. Während der Haushofmeister die silbernen Kuchenschalen und die Flaschen des süßen spanischen Weines kunstgerecht ordnete, kam des Freiherrn Secretär dazu.

Seht nur zum Rechten, sagte er, der Herr ist heute übler Laune! – Der Andere meinte, das sei jetzt nichts Seltenes. Doch mit Unterschied, bemerkte der Secretär; heute ist's besonders schlimm! –

Als der Haushofmeister zu wissen wünschte, was denn vorgefallen sei, ließ der Secretär sich erst eine Weile nöthigen, dann sagte er: Es sind heute unter den Sachen, die der Bote von der Post geholt hat, Briefe gekommen, die haben es gethan. Der Jude, welcher des Herrn Geldgeschäfte macht, kündigt ihm die vierzigtausend Thaler auf Rothenfeld, und es muß auch mit dem vertrackten Marquis wieder etwas vorgefallen sein, was mit den Geldangelegenheiten zusammenhängt. Ich sah große Zahlen und Berechnungen in dem Briefe, obschon der Herr ihn seitwärts hielt. Als er ihn zweimal gelesen hatte, steckte er ihn ein, aber seine üble Laune hatte er weg, denn – von Flies zu fordern haben wir schon lange nichts mehr!

Und dazu wieder die großen silbernen Toiletten, welche jetzt zu Weihnachten nach dem Muster der alten Waschgeräthschaften, die vor ein paar Jahren angeschafft wurden, für unsere gnädige Frau und für die Herzogin gemacht worden und angekommen sind! bemerkte kopfschüttelnd der Haushofmeister. Mich soll's wundern, wann die Herzogin einmal zu wünschen aufhören wird. Ewig kann das ja nicht dauern!

Freilich! Es geht Alles einmal zu Grunde in dieser wandelbaren Welt; aber après nous le déluge! Und wenn's denn nur immer bei dem après nous bleiben wollte, versetzte der Secretär, welcher sich die Schlagworte angeeignet hatte, deren er die Herrschaften sich bedienen hörte. Er fuhr indeß [15] erschrocken zurück, als in dem Augenblicke der Kammerdiener die Thürvorhänge aufhob und die ganze Gesellschaft, voran der Freiherr, die Herzogin am Arme, in den Saal eintrat. Sie hatten beide das Wort gehört, und unwillkürlich sagte der Freiherr zu sich selbst: Welch ein Anruf ist das! – Auch Angelika, deren übles Aussehen Allen auffiel, sah nach dem Secretär hinüber und ihre Mienen zuckten leise zusammen. Ihre Schwäche fing an, ihr oftmals die Herrschaft über sich zu rauben.

Die Frauen nahmen auf dem Canapee ihre Plätze, die Männer, der Freiherr in ihrer Mitte, standen in einer Gruppe in ihrer Nähe, als man meldete, daß der Pfarrer mit seiner Frau, der Amtmann mit seiner Schwester angekommen wären. Der Freiherr ging dem Geistlichen ein paar Schritte entgegen, reichte ihm und der Pfarrerin die Hand und hieß sie willkommen, als sie ihm ihre Glückwünsche aussprachen. Er schien Adam und seine Schwester nicht zu sehen, und doch hatten sie ihr Bestes gethan, sich heute bemerklich zu machen und es zu beweisen, daß sie nicht in Sorgen, sondern guten Muthes in das neue Jahr hinübergingen.

Der Amtmann hatte den Haarbeutel abgelegt und sich, wie Herbert das schon lange gethan, nach der neuen französischen Mode gekleidet. Auch Eva hatte die ländliche Dormeuse abgenommen und trug ihr schönes, braunes Haar, wie Herbert dieses liebte, frei um Gesicht und Rücken niederfließend. Sie sah auffallend hübsch aus, und die Blicke der männlichen Gäste richteten sich auf sie, als sie sich der Baronin näherte, ihr die Hand zu küssen, während der Amtmann noch immer da stand, erwartend, ob der Freiherr es endlich für angemessen finden werde, seine Gegenwart zu bemerken, ob er endlich die geflissentliche und sehr gnädige Unterhaltung mit dem Pfarrer unterbrechen werde.

Adam fand den Freiherrn in den letzten Monaten wesentlich [16] älter geworden, und wie er so von ihm hinaufsah nach dem verstorbenen Herrn und dann zu Renatus hin, der zwischen den Knieen des Caplans stand, konnte er sich eines Seufzers nicht erwehren; aber dieser Seufzer galt nicht dem eigenen Geschicke. Wer wird künftig für sie schaffen, wie wir's gethan? dachte er, und er fühlte den Groll, den er seit seinem Zusammenstoße mit dem Freiherrn gegen ihn gehegt, in seinem treuen, festen Herzen schwinden, da er sich baldiger Freiheit sicher und seinen Stern im Steigen wußte, während die Sorge seinem bisherigen Herrn immer näher rückte, daß er sie kaum noch von sich weisen konnte.

Plötzlich, als habe der Seufzer des Amtmanns ihn erst aufmerksam auf ihn gemacht, wendete er sich zu ihm und sagte: Ich dachte, Er wäre auf's Güterkaufen aus!

Diese Anrede hatte Adam nicht erwartet, aber da er den Freiherrn kannte, erschreckte sie ihn mehr als sie ihn kränkte. Was muß ihm geschehen sein, daß er sich so vergessen kann? dachte er, und gutherzig und nachsichtig wie ein Glücklicher, sagte er: Da ich nach meinem Abkommen mit dem gnädigen Herrn noch bis zum Herbste in seinem Dienste bleibe, konnte ich ja nicht ohne Urlaub fort, und hätte mich nicht unterfangen, den Herrschaften am letzten Neujahr meinen Glückwunsch schuldig zu bleiben. Möge es den Herrschaften so wohl gehen, als wir es von je mit ihnen und ihrem Dienste gemeint!

Adam war bewegt, und der Freiherr hörte das. Aber da er verstimmt und gereizt war, klang selbst der gute Wunsch ihm wie ein Vorwurf, und fast widerwillig sprach er sein kurzes: Ich danke, ich danke Ihm! zu seinem Untergebenen aus, der dies nicht lange mehr bleiben sollte. Er konnte den Ton gegen ihn nicht mehr finden, seit er Adam nicht mehr ganz zu ihm gehörend wußte, und er zwang sich zu der Frage, was Adam [17] denn für Plane habe, weil diese Frage eine Verzeihung und ein Anerkenntniß in sich schloß.

Ich habe ein Angebot auf Marienau gethan. Ich kenne das Gut genau, und der Besitzer kann es nicht mehr halten, sagte Adam.

Ich weiß, ich weiß! rief der Freiherr und wendete sich kurz und hastig von dem Amtmanne ab. Die Vorstellung, einen alten Lebensgenossen aus seiner Nähe scheiden, einen alten Edelmann von dessen Hause auswandern zu sehen und dafür einen Menschen niedern Standes, ja, seinen eigenen Amtmann zum Grenznachbar zu bekommen, die Steinerts sich einnisten zu sehen, wo die Herren von Raven seit langen Jahren fest und wohl gesessen hatten, war dem Freiherrn gar zu widerwärtig. Es kamen ihm seit diesem Morgen nichts als unangenehme Neuigkeiten zu.

Aber noch empfindlicher, als der Freiherr durch das Zusammentreffen mit dem Bruder, fühlte sich Angelika durch die Begegnung mit der Schwester berührt. Sie hatte Eva nicht wiedergesehen seit dem Tage, an welchem sie die Verse in Herbert's Pult gelegt, und die heiße Röthe der Scham übergoß ihr bleiches Antlitz, als sie Eva vor sich hintreten sah.

Das war also das Mädchen, welches der Mann sich erwählt hatte, den sie liebte, um dessentwillen sie mit sich selbst und mit ihren Pflichten zerfallen war, das Mädchen, welches Herbert ihr, der Gräfin Berka, der Baronin von Arten, der hochgebornen edlen Frau, vorgezogen hatte! Und mitten in der Pein dieser qualvollen Empfindung erkannte die Baronin in dem großen Medaillon, mit welchem Eva ihr weißes Busentuch über der Brust zusammengenestelt hatte, Herbert's sprechend ähnliches Portrait, welches eben heute anzulegen sie sich trotz der Abmahnung des Bruders nicht hatte versagen mögen.

Eva sah die Bewegung der Baronin, und ein Lächeln der befriedigten Eitelkeit flog über ihre vollen Lippen, als sie sich [18] niederbückte, um, wie sie das sonst gethan, die Hand der Gutsherrin zu küssen. Aber jenes siegreiche Lächeln war Angelika nicht entgangen; sie zog die Hand zurück, und mit einer Härte und Bitterkeit, die Niemand je von ihr gehört hatte, sagte sie: Laß' Sie es gut sein, ich kann die Heuchelei nicht leiden und ich kann Ihr nicht helfen!

Der Zorn der Baronin zeigte dem jungen Mädchen, wie mit hellem Lichte, sein ganzes Glück in vollem Glanze, und mit dem Worte schnell wie immer bei der Hand, während sie sich auch von Eifersucht ergriffen fühlte, entgegnete sie, der unverdienten Abweisung mit Freuden trotzend: Ich verlangte ja nichts, ich habe ja Alles, was ich wünsche, gnädige Frau!

Unverschämte! stieß die Baronin hervor und wendete ihr, bebend vor Zorn, den Rücken. Niemand hatte die Worte gehört, welche die Baronin mit der Schwester ihres Amtmanns gewechselt, aber der Zorn der Ersteren, das Siegesgefühl in den strahlenden Augen der Letzteren blieben nicht unbemerkt, und die Herzogin sowohl als der Freiherr und Adam wußten sich den Vorgang zu erklären, der, wie verschieden die Lebenslage der beiden Frauen auch war, hier das Weib dem Weibe in seiner natürlichen Leidenschaft gegenüber gestellt hatte.

Es war der erste Neujahrsmorgen, an dem es dem Freiherrn und seiner Gattin nicht wohl in ihrem Hause wurde, nicht frei unter ihren Leuten zu Muthe war, und an dem sie in den Mienen ihrer Umgebung spähten, weil sie nicht mehr die alte, unbedingte Sicherheit besaßen, nur auf Liebe und auf freie, verehrende Ergebenheit zu stoßen. Dem Baron war die Nähe des Amtmanns, der sich schon als eigner Herr fühlte, lästig, und die brieflichen Mittheilungen des Juweliers lagen ihm schwer im Sinne; Angelika fand sich durch Eva's Anwesenheit beleidigt, und erniedrigt durch das Bewußtsein, sich vor ihr verrathen, sich ihr gleichgestellt zu haben, während beiden Gatten [19] die unverkennbar neugierige Aufmerksamkeit ihrer Dienerschaft eben so wie die ängstliche Zurückhaltung des Pfarrers und der übrigen Beamten auffiel.

Die Leute wagten sich nicht wie sonst heran, sie sprachen ihre Wünsche nicht so herzlich und offen wie früher aus, und der Pfarrer hatte nicht mehr seine altgewohnte Anrede vernehmen lassen, daß Alles hier zu Lande bleiben möge, wie es bisher gewesen, weil es so am besten sei. Er und die Pfarrerin blickten immer nur ängstlich nach dem Amtmanne und nach dessen Schwester; auch die Wirthschafter und der Justitiarius hielten sich zu den Steinerts, so gut sie konnten. Die Amtskinder, wie man Adam und Eva in ihrer Jugend genannt hatte, waren der Gegenstand der allgemeinen Theilnahme; auf die Herrschaften sah man in der Besorgniß, was sie den Steinerts thun würden, was es mit diesen geben könne, und selbst aus den Worten der ergebenen Gratulation glaubte der Freiherr einen Vorwurf gegen sich und ein Mißtrauen in die Zusicherung des Wohlwollens und der Geneigtheit herauszuhören, welche er, nach alter Sitte und Gewohnheit, den im Dienste Befindlichen und Verbleibenden versprach. Was half diese Zusage des Freiherrn ihnen auch im Grunde? Man wußte nicht, wer an Adam's Stelle kommen würde, und das Wohlbehagen und Wohlergehen jedes Einzelnen hing vor Allem von dem guten Willen und der Rechtschaffenheit des Amtmanns ab. Was man an den Steinerts gehabt hatte, das war Jedermann bekannt; was kommen konnte, war nicht zu berechnen, und das versicherten die Verwalter und Wirthschafter jetzt Jedem, der es hören wollte, wie sie es sich unter einander längst gesagt hatten: wenn jetzt nicht ein eben so tüchtiger und rechtschaffener Amtmann in die Herrschaft käme, wie Adam Steinert es gewesen, so wäre kein Durchhalten möglich, und man würde etwas erleben, auch wenn sie selber, wie bisher, gewissenhaft das Ihrige thäten.

[20] Das Mißtrauen, die Unzufriedenheit, der Zweifel schwebten wie eine ansteckende Krankheit in der Luft. Niemand sah sie, Jeder fühlte sich von ihrem beängstigenden Hauche ergriffen, und wie lustig lodernd die Feuer in dem Saale auch brannten und wie hell die Sonne auch die lange Reihe der Ahnenbilder beleuchtete, es wurde Niemandem wohl bei diesem Neujahrs-Frühstücke; selbst Renatus machte die Bemerkung, daß die Großeltern und die Urgroßeltern auf den Bildern, wenn die Sonne so darauf scheine, ganz verdrießlich auf die Menschen niederblickten.

Der Wein schmeckte heute den Leuten lange nicht so gut als sonst, und die Pfarrerin fand, daß die Kuchen, welche Eva zum Feste in die Pfarre gesandt hatte, weit besser wären, als die im Schlosse aufgetragenen. Ihr Mann bemerkte, daß der Herr Caplan gealtert, sehr gealtert habe, daß auch der Freiherr, obschon er stärker werde, nicht mehr so gut aussehe, als noch vor wenig Monaten, und nun gar die Frau Baronin! – Er schüttelte den Kopf und faltete die Hände. Was der am Herzen nagte, darüber konnte man ja nicht im Zweifel sein. Wie mochte die sich an einem solchen Feiertage manchmal nach dem reinen Worte Gottes und nach den Eltern und Geschwistern sehnen!

Es war Allen leichter um das Herz, nachdem dieses Neujahrs-Frühstück erst vorüber war. Sonst hatte man sich darauf gefreut, heute hatte man es gefürchtet, und selbst der Freiherr nannte es heute in seinem Herzen eine leere, lästige Ceremonie, die er künftig abzustellen meinte.

Es war die erste Gewohnheit, das erste Herkommen seines Hauses, auf das zu verzichten er sich selbst gedrungen fühlte.

[21]
2. Capitel
Zweites Capitel

Das Jahr, welches dem Freiherrn unter schlechten Auspicien angebrochen war, bewies sich in seinem Fortschreiten diesen üblen Anzeichen entsprechend. Der Winter war lang und sehr hart, das Frühjahr kalt und naß. Man konnte also die Arbeiten erst spät beginnen, und die spärlich und ungleich aufgehenden Saaten versprachen nicht den gewohnten und gehofften Ertrag.

Der Freiherr, welcher sich niemals um die Bestellung des Landes gekümmert hatte und kein Landwirth war, fing jetzt, da er bald der Zuversicht und Sicherheit in das alte, ihm dienende Geschlecht der Steinerts entbehren sollte, plötzlich nach dem Seinigen zu sehen an, und mit der Unkenntniß des Neulings meinte er die übeln Ernte-Aussichten einer verminderten Sorgfalt des Amtmanns zur Last legen zu dürfen. Der Verdacht, daß er seine Schuldigkeit nicht thue, beleidigte Adam. Er vertheidigte sich lebhaft gegen denselben, aber in dieser gerechten Abwehr eines ungerechten Verdachtes glaubte der Freiherr nur den Hochmuth des Emporkömmlings sehen und beugen zu müssen, und er verlor überhaupt mehr und mehr seine heitere, selbstgewisse Ruhe, weil er seine bis dahin unumschränkte Herrschaft über seine Untergebenen und die unbedingte Geltung, deren er vor ihnen und in seinem ganzen Lebenskreise sich stets sicher gewußt hatte, nun, wohin er blickte, angezweifelt wähnte. Das machte die Zustände nicht besser, wohl aber ihm und seinen Leuten das Leben bitter und schwer, und vor allen Andern [22] hatten die Geschwister im Amthofe zum Schlusse ihres Aufenthaltes in der alten Heimath böse Tage, denn die Geldverlegenheiten des Freiherrn hatten sich in unerwarteter Weise gesteigert.

Mit dem Vertrauen des Ehrenmannes und des Edelmannes in die Ehrenhaftigkeit seines Standesgenossen und mit dem Bewußtsein, sich von dem Marquis für die ihm erwiesenen mannigfachen Gutthaten des Besten versehen zu dürfen, hatte der Freiherr demselben, um der Herzogin seinen fortdauernden guten Willen für ihren Bruder zu beweisen, sowohl bei Herrn Flies als bei einem Banquier in der Residenz ausgedehnte Credite eröffnet, und die Herzogin hatte diese Briefe für ihren Bruder mit der Versicherung angenommen, daß derselbe natürlich nur den beschränktesten Gebrauch davon zu machen denke. Sie hatte es entweder vergessen, wie oft und mit wie großen Opfern sie dem Marquis zu Hülfe kommen müssen, so lange sie selbst ihm zu helfen im Stande gewesen war, oder sie mochte erwarten, daß die Jahre und die Erfahrung ihn gebessert und von seinen alten, verschwenderischen Gewohnheiten zurückgebracht haben würden; indeß diese Hoffnung traf nicht zu. Denn nur wenig Tage hatte der Marquis in der Stadt verweilt, als er sich von einem Kreise von Emigranten umringt und schnell versucht fand, sich vor ihnen, deren üble Lage ihn dazu aufforderte, als den Beschützer, als den Freigebigen, als den großen Herrn von ehemals zu zeigen. Die Anerkennung, der lebhafte Dank, die er geerntet, waren verführerisch für ihn geworden. Seit langer Zeit hatte er sich endlich wieder einmal frei und als er selbst, endlich sich wieder einmal in einer ihm angemessenen Lage gefühlt, und fröhlich und leichtherzig gemacht durch die sichtliche Zufriedenheit, die er um sich her zu verbreiten im Falle war, hatte er des Geldes nicht geschont, hatte er gegeben und geholfen und erfreut, wo sich ihm die Gelegenheit dazu geboten. Er hatte niemals gerechnet und gezählt; die Herzogin hatte dies immer [23] für ihn übernommen, und sorglos die flüchtigen Tage und das flüchtige Geld hingleiten lassend, war er plötzlich doch betroffen worden durch die Summen, die er in liebenswürdigen Gefälligkeiten, in Hülfsleistungen aufgewendet hatte, die seinem Herzen Ehre gemacht haben würden, hätte er sie aus eigenen Mitteln zu leisten vermocht. Er wünschte einzuhalten, ja, mehr als das, er wünschte zu vergüten, zu ersetzen, und an das Spiel von Jugend auf gewohnt, hatten ihm die verführerischen Gunstbezeigungen desselben den sichersten und leichtesten Ausweg aus seinen Verlegenheiten zu versprechen geschienen. Aber das Spiel war ihm niemals besonders günstig gewesen und versagte sich ihm auch jetzt. Von einem Tage zum andern hoffend, immer leidenschaftlicher wagend, je weniger diese Wagnisse ihm einschlugen und je tiefer sie ihn in die Verlegenheit verwickelten, der er sich zu entziehen wünschte, hatte er allmählich Summen erhoben, welche die Auszahler stutzig werden ließen und welche endlich Herrn Flies bewogen, jene Anfrage und jene Berichte zu machen, die der Freiherr eben am Neujahrstage erhalten und die ihn genöthigt hatten, auf eine augenblickliche Deckung dieser bedeutenden Posten zu denken. Adam sollte Rath schaffen und Herr Flies sollte Geld schaffen; aber guter Rath war theuer, und Geld war es noch mehr.

Die republikanische Bewegung und der ihr folgende Krieg, die von Frankreich aus immer weiter um sich griffen, machten alle Capitalisten in der Anlage ihres Geldes vorsichtig und schwierig. In den Gegenden, in welchen sich revolutionäre Gesinnungen kund gaben, suchten ängstliche Besitzer sich ihrer liegenden Gründe zu entäußern, und wie der Werth des Grundbesitzes sank, stieg der Werth des baaren Geldes. Dem Amtmanne kam das sehr zu Statten. Er hatte seinen Handel wegen des schönen Gutes Marienau bereits lange abgeschlossen, ehe der Freiherr das neue Darlehn auf Rothenfeld und die Capitalien gefunden hatte, deren [24] er bedurfte, um die Wechsel des Marquis zu decken und um endlich den Bau der Kirche vollenden zu lassen, der im letzten Jahre nur wenig vorgeschritten war. Dem Freiherrn selber war freilich dieser Kirchenbau niemals eine persönliche Herzensangelegenheit gewesen; jetzt war er ihm aus mehr als einem Grunde lästig, und er würde ihn in diesem Augenblicke mit Freuden unterbrochen, die Kirche vorläufig unvollendet stehen gelassen haben, hätte er nicht fürchten müssen, eben dadurch den nachtheiligen Gerüchten Nahrung zu geben, die es ihm ohnehin so wesentlich erschwerten, Geld zu finden, selbst wenn er es mit hohem Zins bezahlte.

Mit Wirthschaftsbeamten zu verhandeln, welche die Stelle des Amtmannes ersetzen sollten, sich selbst um die Aufbringung von Geldern zu bemühen und das Geld, welches ihm bisher nur ein Mittel zur Erreichung seiner Zwecke und zur Befriedigung seiner Wünsche gewesen war, als Selbstzweck zu betrachten, fiel dem Freiherrn schwer. Er dachte daran, Einschränkungen zu machen, aber er wußte nicht, wie er das anfangen oder wem er sie auferlegen sollte, denn in der sorglosen Freiheit des Verbrauches erwachsen, war der Ueberfluß ihm zur Gewohnheit geworden, und er glaubte nur das Nothwendige zu haben, wenn er alles Dasjenige besaß, was ihm irgend wünschenswerth erschien. Sich etwas zu versagen, das verstand er nicht, die Herzogin zu beschränken, hätte ihm ungastlich und grade nach dem unangenehmen Vorfalle mit dem Marquis ungroßmüthig gedünkt. Die Bedürfnisse der Baronin waren immer mäßig gewesen, und ihr auch nur ein kleines Ersparniß vorzuschlagen, würde er in dem Verhältnisse, in welchem er jetzt zu ihr stand, als unehrenhaft und unanständig betrachtet haben.

Unglücklicher Weise hatte der Mann, welcher dazu ausersehen war, vom Spätherbste ab die Stelle des Amtmannes zu verwalten, den Freiherrn dadurch für sich einzunehmen gewußt, [25] daß er ihm bemerklich gemacht hatte, es ließen sich große Summen ersparen, wenn man den Insassen der Güter nicht so viel Freiheit ließe, wie die Steinerts es gethan, und namentlich bei dem Kirchenbaue könne man auch jetzt noch sehr beträchtliche Ausgaben vermeiden, wenn man nur die Insassen und Käthner, wie es sich gehörte, zur Arbeit heranzöge und verwendete. Das sollte nun Adam auf des Freiherrn Befehl noch zur Ausführung bringen.

Vergebens bewies dieser, daß man die Leute in dem letzten Winter, wo man einen Wald verkauft und völlig ausgeschlagen, sehr stark in Anspruch genommen habe, daß man ihnen bei der drängenden Arbeit in dem späten Frühjahre kaum die Zeit habe gönnen können, ihr Stück Garten und Feld zu bestellen, und daß man sie im Winter zu ernähren haben würde, wenn man sie jetzt nicht so viel als nöthig für sich selber sorgen ließe. Der Freiherr wollte davon nichts hören. Er war in eine Lage und in eine Stimmung versetzt, in welcher er immer nur der nächsten Belästigung enthoben sein wollte, und vor Allem schien es ihm darauf anzukommen, Herbert's ein für alle Mal ledig zu werden, der, trotz seines Verlangens, mit Eva zusammen zu sein, nur erst einmal wieder nach Richten gekommen war und sich bei der Beaufsichtigung des Baues durch einen jüngeren Gehülfen vertreten ließ.

Es blieb also Adam gar nichts übrig, als sich zu fügen und unter einer Bevölkerung, unter welcher seine Familie seit mehr als hundert Jahren in Liebe und Frieden gelebt hatte, schließlich wider seinen Willen den Frohnvogt zu machen. Er mußte die volle Arbeitszeit der Leute in Beschlag nehmen, sie rundweg abweisen, wenn sie auf die Nachsicht Anspruch machten, welche man ihnen sonst ohne große Opfer hatte bewilligen können. Das gab böses Blut. Wo die Leute beisammen waren, konnte man es sagen hören, daß es eine Sünde und Schande sei, [26] Christenmenschen in das Joch zu spannen, um eine Kirche aufzubauen, mit der sie nichts zu schaffen hätten, und um im Schlosse fremdes Volk zu füttern. Alle Arbeit wurde widerwillig gethan, Vorwände, mit welchen die Leute sich derselben zu entziehen suchten, gaben Anlaß zu Untersuchungen und Strafen; und diese Strafen machten das Uebel ärger. Heute hatte man Händel und Schlägereien zu schlichten, wenn einer von den Leuten sich bei den Arbeitsforderungen zu stark herangezogen oder einen Anderen bei den Arbeitserlassen einmal begünstigt glaubte, und morgen gab es lose Reden und freche Ausfälle gegen die Herrschaft vor Gericht zu ziehen. Es war, als sei der gute Geist entwichen, der hier bisher gewaltet hatte. Des Zankens, Anschuldigens, Strafens war gar kein Ende mehr. Hätte der Amtmann, wie der Freiherr es verlangte, alle diejenigen zur Rechenschaft fordern wollen, die sich widerspänstig zeigten, und diejenigen eingesperrt, welche grundlos Händel anzettelten, so hätte er noch beträchtlich an Arbeitskräften eingebüßt. Er mußte also ein Auge zudrücken, Mancherlei nicht hören, Vielerlei stillschweigend mit ansehen, um nur durchzukommen, und noch war der Sommer nicht da, als auf den Gütern, auf welchen bis dahin eine für jene Zeiten musterhafte Verwaltung geherrscht hatte, jener Zustand eingetreten war, der nirgends ausbleibt, wo die Befehlenden, weil sie Ungerechtes und Uebermäßiges heischen, Ungesetzliches und Maßloses geschehen lassen müssen, um sich von einem Tage zu dem anderen durchzuschlagen und sich damit zu vertrösten, daß auch übermorgen und nach übermorgen gehen werde, was gestern und vorgestern eben noch gegangen sei.

Dem Amtmanne war dieses Treiben ein Gräuel. Wie jeder, der das Land bebaut, hatte er frühzeitig begriffen, daß in der eigenen Lebensführung wie in der Leitung eines Gemeinwesens, mag dies nun groß oder klein sein, Voraussicht und mit ihr Zusammenhang im Handeln die Hauptsache sind; [27] und wenn er selber auch die Folgen des jetzigen Verfahrens nicht mehr zu tragen haben sollte, so peinigten ihn doch der gegenwärtige Zustand und die Gewißheit, daß die übeln Früchte desselben nicht ausbleiben könnten. Die Schullehrer klagten bereits, daß die Kinder, weil sie zu Hause die Arbeit der zum Dienste befohlenen Erwachsenen verrichten mußten, die Schule versäumten, der Pfarrer beschwerte sich, daß die Leute, weil ihnen gar keine Zeit für ihre eigene Arbeit mehr gelassen würde, Sonntags die Kirche nicht mehr besuchten, daß er das Wort Gottes vor leeren Bänken predigen müsse, während die große katholische Kirche, in der Niemand außer der Herrschaft und den Fremden seine Andacht halten und seinen Gottesdienst begehen könne, sich der Vollendung nähere.

Früher hätte der Freiherr von allen diesen Dingen in seiner sorglosen und heitern Unnahbarkeit nicht viel erfahren. Jetzt fragte er danach, fragte, weil er dies nicht gewohnt war, nicht immer an der rechten Quelle, und glaubte, da er häufig falsch berichtet ward, es mit einem Geiste des Aufruhrs zu thun zu haben, den er unterdrücken, und zwar mit Gewalt unterdrücken müsse, während er und sein Thun und Gebieten ganz allein die Unzufriedenheit und Aufsässigkeit erzeugten, die er dem bösen, von Frankreich kommenden Zeitgeiste entsprungen wähnte.

So viel stellte sich indeß an Einsicht für ihn bald heraus, daß er, um dem neuen Amtmanne gewisse Pflichten auflegen zu können, auch die drückendsten Geldverlegenheiten beseitigt haben müsse, und da bisher die schriftlich oder durch Dritte geführten Verhandlungen mit Herrn Flies zu keinem befriedigenden Abschlusse gelangen wollten, beschloß der Freiherr, persönlich einen Versuch zu einem Uebereinkommen mit ihm zu machen.

Er war ohnehin lange nicht in der Stadt gewesen; die Herzogin, welche von seinem Vorsatze sprechen hörte, nannte [28] einen solchen kleinen zeitweiligen Ortswechsel angenehm, und da Renatus ein großes Verlangen zeigte, mitgenommen zu werden, war der Freiherr schnell bereit, aus einer Geschäftsreise, die er antreten wollen, um sich aus Geldverlegenheiten zu befreien, eine Vergnügungsreise mit seiner ganzen Familie zu machen, welche bei der damaligen Art zu reisen nicht ohne einen ansehnlichen Aufwand zu bestreiten war.

Die Baronin, deren Gesundheit immer schwankender und deren Brustbeklemmungen immer häufiger geworden waren, hatte Anfangs eine Scheu vor dieser Reise getragen, da sie die zunehmende Wärme der Jahreszeit und die Unbequemlichkeit der Nachtquartiere fürchtete; aber der Freiherr hatte auf ihr Mitgehen gerechnet, Renatus bat ebenfalls, die Mutter möge doch nicht zu Hause bleiben, und die Baronin gab endlich gegen ihr richtiges Gefühl dem Verlangen der Ihrigen nach, weil sie für sich keine lebhaften Wünsche und kaum noch lebhafte Besorgniß hegte.

So fuhren denn an einem frühen Morgen die großen, vierspännigen Reisewagen vor das Portal. In dem einen wollte der Freiherr mit den beiden Frauen, in dem anderen sollte Renatus mit seiner französischen Bonne und der Kammerjungfer seiner Mutter fahren, die während der kurzen Reise den Dienst bei den beiden Damen zu versehen hatte; aber schon am ersten Reisetage zeigte es sich, daß die Baronin es nicht ertragen konnte, Tag über in der Gesellschaft der lebhaften Herzogin zuzubringen, und man mußte für den nächsten Morgen die Einrichtung treffen, sie den einen Wagen allein mit ihrer Kammerjungfer einnehmen zu lassen, um ihr die nöthige Ruhe zu gönnen.

Es war am Mittage des dritten Tages, nachdem man Richten verlassen hatte, als man dem Freiherrn, der das ganze erste Stockwerk des Gasthauses für sich in Beschlag genommen hatte, die Nachricht brachte, Herr Flies, den er zu sich bitten lassen, sei gekommen. Der Freiherr befahl, ihn herein zu führen, [29] und setzte sich auf das Sopha, den Besuch zu erwarten, damit er nicht nöthig hatte, ihm etwa entgegen zu gehen, denn nun er an der Schwelle der mündlichen Verhandlung stand, dünkte ihm diese noch lästiger als die schriftliche zu sein.

Als Herr Flies eintrat, hieß der Freiherr ihn mit den Worten: Sie sind pünktlich, lieber Flies! willkommen.

Ich bin ein Geschäftsmann! entgegnete dieser höflich. Aber der Freiherr konnte sich eines gewissen Erstaunens bei dem Anblicke des Juweliers nicht erwehren. Er kam ihm größer, ansehnlicher vor, denn er trug sich aufgerichteter als früher; seine Kleidung war einfach, indeß nach der Mode und von den besten Stoffen. Er hatte eine gewisse demüthige Weise, gewisse tiefe Verbeugungen und gewisse Manieren, die er sonst als Stammesgewohnheiten unwillkürlich zur Schau getragen, völlig abgelegt und dafür eine ruhige Haltung gewonnen, welche ihn dem Freiherrn wie einen Fremden erscheinen machte. Er hatte vorgehabt, ohne Weiteres mit Herrn Flies die Angelegenheit zu durchsprechen, wegen derer er ihn rufen lassen; nun er den Kaufmann vor sich hatte, dessen Augen klug und forschend auf ihm ruhten, wußte er nicht gleich, von welchem Punkte er die Sache in Angriff nehmen sollte, und wie alle vom Glücke Verwöhnten vor jeder Unbequemlichkeit zaghaft und zaudernd, sagte er: Wie geht es Ihnen, lieber Flies? Ich habe Sie lange nicht gesehen, ich war lange nicht hier; aber ich wollte meinem Sohne doch einmal eine Stadt zeigen und muß auch einen der hiesigen Aerzte wegen der Baronin zu Rathe ziehen.

So sind die Frau Baronin leidend? fragte Flies.

Recht sehr, recht sehr, antwortete der Freiherr mit sichtlicher Zerstreutheit; ich denke, der Doctor muß bald kommen!

Er hatte noch immer nicht den Muth, dasjenige zu verlangen, was er mit Leichtigkeit gefordert haben würde, als er sich noch im Vollbesitze seines Vermögens und seines Ansehens [30] gewußt hatte, und Herr Flies, welcher den Zustand des Freiherrn wohl erkannte, fand es daher angemessen, ihm mit der Bemerkung entgegen zu kommen, daß es ihm, da er den Arzt erwarte, wahrscheinlich erwünscht sein werde, die Geschäfte schnell zu beenden, und daß er ihm einen, wie er glaube, sehr annehmbaren Vorschlag für dieselben zu machen habe.

Der Freiherr, sehr zufrieden, daß er nicht derjenige zu sein brauchte, der die Verhandlungen in Gang brachte, und doch zugleich verdrießlich darüber, daß Flies sich so heiter und frei zu fühlen schien, während er selbst sich von dessen gutem Willen mehr als ihm lieb war abhängig wußte, verlangte den Vorschlag zu hören.

Herr Flies zog die Briefe, welche er von dem Freiherrn erhalten hatte, aus seiner Brusttasche hervor und sagte: Verstehe ich die Meinung Ihres letzten Briefes recht, Herr Baron, so wünschen Sie außer der Summe, welche auf Rothenfeld jetzt aufgenommen war, eine zweite Hypothek in gleichem Betrage auf Rothenfeld, und eine eben so große auf Neudorf eintragen zu lassen.

Der Freiherr bejahte das; Flies machte ein nachdenkliches Gesicht. Es war dem Freiherrn, als säße er angeklagt vor seinem Richter.

Die Posten sind stark, hob nach kurzem Schweigen der Kaufmann an, und Geld ist theuer! Es wird Ihnen große Zinsen kosten, Herr Baron, Zinsen, die kaum aufzubringen sein werden, wenn wir einmal ein Mißjahr haben, wie eben jetzt, und vollends wenn der Krieg ....

Der Freiherr wurde ungeduldig. Das sind Vorstellungen und keine Vorschläge, mein lieber Flies! rief er, ihn unterbrechend. Die ersteren habe ich mir selber längst gemacht, wollen Sie mich die anderen hören lassen?

Ich weiß nicht, ob sie dem Herrn Baron passen werden, [31] hob jener an. Ich denke mein Geschäft mit Nächstem einmal aufzugeben.

Natürlich, Sie sind ein reicher Mann! rief der Freiherr, dem die Gemächlichkeit des Kaufmannes unerträglich dünkte.

Nun, ich habe allenfalls zu leben, entgegnete dieser mit Gelassenheit, und ich fühle, daß es mir nicht mehr bekommt, die ganzen Tage im Laden und im Comptoir zu stehen. Fünfunddreißig Jahre solcher Arbeit lasten auf dem Menschen, und meine Frau hat auch ihre Ruhe verdient. Meine Tochter ....

Liebster Flies, unterbrach ihn der Freiherr, Sie dürfen glauben, daß Ihr Wohlergehen mich freut, aber die Vorschläge, welche Sie mir zu machen hatten ....

Hangen damit eben zusammen, Herr Baron! versicherte der Kaufmann. Wer sich zur Ruhe setzen will, muß vorsichtiger werden, als der Geschäftsmann, darf nicht Alles auf eine Karte, auf einen Wurf setzen und muß sich für den Fall, daß die Ruhe ihm doch nicht zusagt, immer ein Capital zur Hand halten, mit dem sich allenfalls einmal wieder etwas anfangen läßt. Ich wäre nicht abgeneigt, Geld auf Rothenfeld herzugeben, es ist ein schönes Gut; auch Neudorf ist ein schönes Gut, und es würde sich auch wohl auf Neudorf ein Capital beschaffen lassen; aber die zweite Hypothek auf Rothenfeld würde mir nicht conveniren, Herr Baron, und deßhalb wollte ich Ihnen den Vorschlag machen, ob Sie nicht etwas von Ihrem liegen den Besitze verkaufen wollten?

Der Freiherr fuhr auf: Verkaufen? – Sie werden doch nicht glauben, daß ich eines meiner Güter zu verkaufen denke? Sie denken doch nicht daran, daß ich Neudorf oder gar Rothenfeld, wo ich eben jetzt die Kirche baue, verkaufen soll?

Herr Flies lächelte kaum merkbar, und mit einem Blicke seiner klugen Augen, den ein Achtsamer nicht mißverstehen konnte, sagte er: Wie sollte ich adelige Güter kaufen wollen, [32] Herr Baron, und vollends die neue Kirche, was sollte mir die? – Nein, Herr Baron, ich dachte an Ihre Güter nicht; aber wie wäre es mit dem Hause, das der Herr Baron von der Fräulein Tante in Berlin ererbten? Es steht leer, wie ich gesehen habe.

Der Freiherr schwieg, denn obschon der Vorschlag, der ihm am leichtesten aus den Verlegenheiten helfen konnte, ihm sofort einleuchtete, widerstrebte ihm doch der Gedanke, sich irgend eines Besitzthumes zu entschlagen, auf das äußerste. Während er sonst seines Hauses in der Residenz mit großer Gleichgültigkeit gedachte, stand es ihm jetzt in seiner ganzen Würdigkeit vor Augen, und er fühlte sich mit mannigfachen Banden und Erinnerungen an dasselbe gefesselt. Was wollen Sie denn mit einem solchen Hause thun? fragte er endlich.

Herr Flies lächelte abermals, und so, daß der Baron es sehen mußte. Was ich damit machen will? – Ich war im vorigen Jahre mit Frau und Tochter in der Residenz und es hat den beiden dort gefallen. Meine Tochter liebt Musik, liebt das Theater, und ich habe nur das eine Kind. Ich denke deßhalb nach der Residenz zu ziehen, und das Haus der Fräulein Tante ist mit seinem großen Garten recht wie meine Tochter es sich wünscht.

Der Freiherr biß sich unwillkürlich auf die Lippe. Er hatte den Mann zu schonen, den er brauchte, aber es fiel ihm schwer, ihm nicht zu sagen, daß und wie sehr dieser Vorschlag ihm ungeeignet scheine, ja wie sehr er ihn beleidige. In seinem Hause, in dem Hause, an welchem, seit sein Großvater es erbaut, das stolze Arten'sche Familienwappen prangte, sollten Handel und Gewerbe künftig ihr Wesen treiben? Wo Fräulein Esther den Besuch des großen Friedrich empfangen, sollten Judenfrauen ihren Kaffee trinken? Nimmermehr! Er stieß den Gedanken weit zurück; der Kaufmann fügte sich augenblicklich, [33] aber er wollte nun auch von dem anderen Darlehn nichts wissen, weil er, so lange er nicht nach der Residenz übersiedele, seine hiesigen Geschäfte, für die er seine ganzen Capitalien brauche, fortzuführen denke; und da der Freiherr, beleidigt durch den Zwang, den Flies ihm anthun zu wollen schien, sich weder zum Nachgeben noch zu einem eingehenden Verhandeln geneigt bewies, so empfahl sich jener, die ganze Angelegenheit ruhig dem Ermessen des Freiherrn überlassend.

[34]
3. Capitel
Drittes Capitel

Einige Tage waren seit diesem Gespräche vergangen, und der Freiherr hatte sie nicht angenehm verlebt. Die Baronin fuhr zwar täglich aus, um ihrem Sohne die Stadt und deren Merkwürdigkeiten zu zeigen und sich an der Freude des Knaben zu ergötzen, aber die ungewohnte Lebensweise regte sie auf, die Luft in den enggebauten Straßen schien ihr sehr drückend, und der Ausspruch des zu Rathe gezogenen Arztes hatte auch nicht tröstlich gelautet, obschon er keine bestimmte Erklärung von sich gegeben. Es war für den Winter von einem Aufenthalte in einem milden Klima die Rede gewesen, Italien, an das man dabei dachte, konnte jedoch unter den obwaltenden politischen Verhältnissen nicht wohl zum Aufenthalte einer Leidenden gewählt werden. Dazu erinnerte der Freiherr sich mit Unbehagen und Bedenken des Geldaufwandes, welchen einst die italienische Reise seiner Mutter und seiner verstorbenen Schwester erfordert hatte; und sollte er auch die Gattin, wie die Schwester, über die Alpen gehen und nicht lebend wiederkehren sehen?

Er liebte Angelika nicht mehr, aber die Vorstellung, die junge, schöne Frau vor sich sterben zu sehen, ging ihm doch nahe, und dabei wollten seine Geldangelegenheiten sich durchaus nicht, wie er es wünschte, ordnen lassen. Die Kaufleute, denen es bekannt war, daß die Herren von Arten bisher alle ihre Geschäfte mit dem Hause Flies gemacht hatten, und die es wußten, wie dieses wohl im Stande wäre, das anscheinend so [35] sichere Darlehn zu leisten, wurden mißtrauisch, eben weil man ihnen das Geschäft anbot. Denn der bisherige Banquier der Herren von Arten konnte es sicherlich nur aus einem wichtigen Grunde zurückgewiesen haben. Sie zögerten, machten Schwierigkeiten, verlangten, wie Herr Flies es dem Baron vorausgesagt hatte, Zinsen, die ihn zu neuen Anleihen nöthigen mußten, und da der Freiherr auf solche Weise nun an sich selber die alte Erfahrung bestätigt fand, daß Geld und Credit für denjenigen, der sie braucht, stets schwer zu haben sind, so sah er sich immer wieder auf den Hausverkauf hingewiesen.

Die Nothwendigkeit hat eine überzeugende und verführerische Beredsamkeit. Je länger er ihr gegenüberstand, um so mehr räumte es sich der Freiherr ein, daß er eigentlich niemals Freude an dem Hause in der Residenz gehabt und daß Keiner der Seinigen dort gern oder glücklich gelebt habe. Seit es erbaut worden, hatte es mit Ausnahme kurzer Besuche, welche die Familie in der Stadt gemacht, fast immer leer gestanden, bis Fräulein Esther es bezogen; und weder die Erinnerungen an sie, noch jene, welche sich an die sechs Monate knüpften, die der Freiherr mit Angelika nach seiner Verheirathung in der Residenz zugebracht hatte, waren von der Art, ihn an das Haus zu fesseln. Auffallen konnte es Niemandem, daß er es verkaufte, da er es nicht benutzte. Die Schwierigkeiten, mit denen die grillenhafte Besitzerin die Abtretung des Grundstückes an einen Anderen belastet hatte, waren nicht unüberwindlich; und daß Herr Flies, den er als einen bequemen Geschäftsmann kannte, sich nicht kleinlich zeigen würde, wo er für sich und seine Familie etwas Angenehmes zu erreichen wünschte, darauf meinte der Freiherr rechnen zu dürfen.

Die Angelegenheit ließ ihm keine Ruhe, sie beschäftigte ihn am Tage, sie quälte ihn in der Nacht. In seinen Träumen ging er mit seinem Sohne in dem alten Hause umher, und [36] von den Wänden stiegen die Bilder der Tante herab und verfolgten ihn und den Knaben mit leidenschaftlicher Hast, daß er sich und das Kind nicht vor ihnen zu retten wußte. Wenn er angstvoll die Thüre und das Portal des Hofes erreicht hatte, so stand die Tante auch da wieder vor ihm und wehrte ihm den Ausgang; und jenseit des Gitters thürmten sich dichte Wolken auf, aus denen der Juwelier mit seinem zufriedenen Lächeln auf ihn herniedersah und ihn fragte: Was wollen Sie mit dem alten Hause, Herr Baron? Es ist darin für Sie nicht mehr geheuer!

Am Morgen nach einer solchen Nacht beschloß er, ein Ende damit zu machen, nur um der lästigen Gedanken los zu werden; aber der Mittag kam heran, ehe er sich dazu bringen konnte, den darauf bezüglichen Brief zu schreiben.

Herr Flies saß in behaglicher Sonntagsruhe mit Frau und Tochter in dem Garten hinter seinem Hause, als ihm das Schreiben des Freiherrn zu Händen kam, und da die Kriegsräthin mit ihrem Manne zu einer Picknickpartie auf das Land gefahren war, verstand es sich von selbst, daß Paul den freien Tag bei seinen Freunden und Beschützern zubrachte.

Von dem Herrn Baron von Arten! sagte der Diener, als er Herrn Flies den Brief übergab. Die Mutter warf dem Vater einen Blick des Einverständnisses zu, den er nicht beachtete. Er las das kurze Schreiben, sagte, daß er nicht ermangeln werde, sich morgen in der Frühe einzustellen, und entließ den Diener. Die Mutter fragte nichts, Herr Flies sprach auch nicht von der Sache; da sie aber Alle wußten, um was es sich handelte, konnten sie sich denken, was der Brief bedeute, und nur Paul sah fortwährend nach Herrn Flies hinüber, als wünsche er in den Mienen desselben die Antwort auf eine Frage zu lesen, die er nicht zu thun wagte. Er vermochte nicht bei dem Buche zu bleiben, mit dem er beschäftigt gewesen war; [37] er stand auf, ging fort, kam wieder – man war nicht gewohnt, ihn so unstät zu sehen.

Endlich, als Seba sich erhob, um einen Auftrag für die Mutter auszurichten, folgte er ihr nach, und seinen Arm in den ihrigen legend – denn der vierzehnjährige Knabe war fast so groß als sie – sagte er, während eine dunkle Röthe sein schönes, kräftiges Gesicht überzog: Seba, ist denn mein Vater hier?

Der bebende Ton seiner Stimme ging ihr zu Herzen, und sie drückte ihm beruhigend die Hand, als sie seine Frage bejahte.

Warum sagtest Du mir's nicht?

Was konnte es Dir helfen? gab sie ihm zur Antwort.

Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er: Ob er sich wohl nach mir erkundigt hat?

Sie entgegnete, daß sie es nicht wisse, aber sie stellte ihn nicht damit zufrieden.

Du würdest es wissen, wenn es geschehen wäre, sagte er, und ich bin kein Kind mehr, dem man mit Unwahrheiten ein Vergnügen macht. Er hat nicht nach mir gefragt!

Er seufzte, als er diese Worte sprach. Sie waren inzwischen zu den Anderen zurückgekehrt und es konnte nicht weiter die Rede davon sein. Indeß Seba sah, daß in seinem Innern die Aufregung nicht vorüber war, und als er sich später wieder eine Weile mit ihr allein befand, verlangte er zu erfahren, wo sein Vater wohne.

Seba erschrak. Weßhalb fragst Du mich das? sagte sie.

Er antwortete ihr nicht gleich, wie das seine Weise war, wenn er seine Rührung zu besiegen strebte, und sagte dann, sich gewaltsam zusammennehmend, während seine Lippen bebten: Ich möchte ihn doch wenigstens einmal sehen, meinen Vater! – Aber seine Bewegung war mächtiger als sein Wille, die Thränen traten ihm in die Augen, er schüttelte zornig und unzufrieden [38] mit sich selbst den Kopf und eilte aus dem Garten fort in das Haus.

Daß der Knabe nicht leicht von einer Sache abließ, die er sich in den Sinn gesetzt hatte, war eine Eigenthümlichkeit an ihm, welche Alle kannten, die mit ihm zu thun hatten, und Seba fand es daher für nöthig, als Paul's Pflegeeltern am Abend von ihrer Ausfahrt wiederkehrten, sie von seinem Verlangen und von dem ganzen Vorgange zu unterrichten. Daß man ihn davon zurückhalten müsse, seinen Vater aufsuchen zu gehen, darin stimmten Alle überein. Madame Flies und der Kriegsrath waren nur der Ansicht, daß man ihn vertrösten, ihn beschwichtigen solle, bis der Freiherr abgereist sei, die Kriegsräthin hingegen dachte es ihm gradezu und entschieden zu verbieten, ohne sich auf Gründe mit ihm einzulassen, aber wie immer nahmen Herr Flies und Seba sich des Knaben an.

Er ist reifen Verstandes und festen Sinnes, sagte der Erstere, und man soll auch von einem Knaben seines Alters blinden Gehorsam fordern, wenn man die Aussicht hat, ihn vernünftig von dem Rechten überzeugen zu können. Er muß völlig aufgeklärt werden über die Lage, in welche seine Geburt ihn versetzt hat. Er ahnt sie, ohne ihre bürgerlichen Folgen zu begreifen, und wie überall, so hat auch hier das halbe Wissen für die Empfindung etwas Verwirrendes, für den Verstand etwas Aufregendes. Was er aber zu hören hat, wird er am besten von Seba erfahren, da sie die Einzige ist, mit welcher er über diese Angelegenheit gesprochen hat, und bittere Kunde muß man wo möglich mit freundlichem Munde versüßen.

Er hielt es darauf der Tochter vor, was sie dem Knaben zu sagen habe, und man verabredete, daß man ihn unter irgend einem Vorwande in der Frühe, ehe er in die Schule gehe, zu Seba senden solle. Indeß die Kriegsräthin war keine Frau, die sich fremden Anordnungen zu fügen oder ihren Einfällen [39] und Aufwallungen zu gebieten vermochte, und sie mißtraute der rücksichtsvollen Schonung, die man Paul zu gewähren wünschte. Sie hatte, seit sie von der Ankunft des Freiherrn erfahren, sich der Hoffnung hingegeben, daß er sich nach Paul erkundigen, daß er schriftlich oder vielleicht gar persönlich nach ihm und nach seinem Ergehen und Verhalten fragen werde, und sie hatte nach ihrer Weise mancherlei Plane auf die Zufriedenheit des Freiherrn gebaut; denn nichts ist erfinderischer im Hoffen, als der sinkende Wohlstand, und im Sinken waren die Lebensaussichten der Kriegsräthin nun lange schon begriffen.

Der Präsident, welcher sonst im täglichen Verkehre mit dem Kriegsrathe es eben nicht gewahrt hatte, daß dieser dem allgemeinen Menschenloose des Alterns nicht entgehe, und der sonst auf das bescheidene Wesen und das sich Alles eigenen Urtheils enthaltende regelmäßige Arbeiten dieses Beamten einen besonderen Werth gelegt hatte, glaubte jetzt zu erkennen, daß eine maschinenmäßige Unterwürfigkeit dem Dienste nicht förderlich sei und daß man von einem alternden Manne keinen geistigen Fortschritt und keine Aenderung seiner Gewohnheiten mehr zu gewärtigen habe. Von einer Beförderung des Kriegsrathes, auf welche der Präsident seiner Zeit die schöne Laura hoffen lassen, konnte also jetzt nicht mehr die Rede sein. Es waren demselben bereits mehrfach jüngere, selbstdenkende Collegen vorgeschoben worden, die solche Auszeichnung durch Enthüllung jedes kleinen Mangels, der sich in der Amtsführung ihres älteren Collegen etwa nachweisen ließ, rechtfertigen zu müssen glaubten; und sich aus einem bevorzugten Mitgliede eines Collegiums plötzlich zu einem überwachten und getadelten herabsinken zu sehen, das war eine Kränkung, welche auch einen festeren Charakter als den des Kriegsrathes überwältigen und einen Stärkeren als ihn dahin bringen konnte, sich widerstandslos der Entmuthigung zu überlassen.

[40] Die gesellschaftlichen Folgen dieser Wandlung blieben natürlich denn auch nicht lange aus. Seit man nicht mehr mit Sicherheit darauf bauen konnte, den einflußreichen Präsidenten immer in dem Freundeskreise des Kriegsrathes zu finden, legte man nicht mehr dasselbe Gewicht auf dessen Einladungen, und da man bald bemerkte, daß der Präsident es nicht wie früher erwartete, überall, wohin er kam, den Kriegsrath mit seiner Frau zu finden, unterließ man es öfter, dieselben zu den Gesellschaften aufzufordern. Beide Eheleute empfanden das sehr bitter, aber wenn Herr Weißenbach geneigt war, sein Schicksal über sich zu nehmen, so war Laura anderer Ansicht. Was sie entbehren mußte, gewann einen doppelten Reiz für sie, und das Verlangen, wiederzugewinnen, was sie einst besessen hatte, die galante Freundschaft ihres alten Gönners und die darauf begründete gesellschaftliche Geltung, regte sie zu neuen Anstrengungen und Unternehmungen auf. Sich zurückzuziehen, weil das Glück sich von ihr wendete, war nach ihrer Meinung eine Schwäche, deren eine gescheite Frau sich nicht schuldig machen durfte. Wenn man den Leuten nicht mehr durch die Freundschaft des Präsidenten wichtig scheinen konnte, so mußte man suchen, ihnen das Haus in anderer Weise angenehm zu machen, und mit etwas mehr Aufwand, als man bisher getrieben hatte, ließ sich das wohl bewerkstelligen. Freilich wohnte man, seit Herbert einen Theil der Zimmer inne hatte, nicht mehr so gut und bequem, als früher, und auch die Handwerker ließen sich nicht mehr so leicht als sonst mit Versprechungen vertrösten. Aber man mußte nur Muth haben, nur gewisse tägliche Gewohnheiten ablegen, auf deren Entbehrung es ja für Menschen, die einen bestimmten Zweck im Auge hatten, nicht ankommen konnte; man mußte nur zeigen, daß man immer noch wohlauf, daß man aus eigenen Mitteln unabhängig sei, um seine alte Stellung zu behaupten und um dem Präsidenten zu beweisen, [41] daß es kein Eigennutz, sondern Freundschaft, reine Freundschaft sei, wenn man nicht aufhöre, eine Annäherung an ihn zu suchen, und sich Mühe gebe, die alten Beziehungen wieder anzuknüpfen.

Laura hatte übrigens mit dem Kriegsrathe jetzt ein leichtes Spiel. Ein Mann, der sein Selbstgefühl aus der Anerkennung gezogen, welche Andere ihm zollten, wird haltlos, wenn ihm diese fehlt; und unfähig, in sich selber zu beruhen, wird er leicht dahin gebracht, sich fremdem Willen unterthan zu machen, wenn er durch diesen hoffen kann, die ihm entschwundenen Vortheile wiederzugewinnen. Der Kriegsrath war ein bedächtiger Mann, ein überlegen der Haushalter gewesen, so lange er sich in seinem Amte geachtet wußte und so lange er seine Einnahmen und Ausgaben in strengem Gleichgewichte zu erhalten vermocht. Jetzt, da dies nicht immer gelingen, da die Abschlüsse seines Buches sich nicht mehr so sicher wie seine amtlichen Cassen-Abschlüsse gestalten wollten, konnte er den Anblick seines Haushaltsbuches nicht mehr ertragen, und weil ihn die Gewißheit peinigte, daß er mehr verbrauchte, als er sollte, hatte er es allmählich aufgegeben, seine Ausgaben zu verzeichnen und seine Rechnungen zu machen. Heimliche Angst, drückende Zweifel konnte er ertragen; aber Zahlen waren sein Leben lang ihm Freude und Genuß gewesen; Zahlen als Ankläger vor sich zu sehen, das ging über seine Kräfte, und sich wieder mit den Zahlen seiner Bücher auszusöhnen, war Alles, wonach er trachtete. Er war zu jeden Entbehrungen, er war sogar bereit, seiner Laura, wie sie es verlangte, die Verwaltung seines Einkommens zeitweilig ganz zu überlassen, nur mit seinen Zahlen sollte sie ihn versöhnen, denn die Zahlen standen vor ihm auf in regelrechter Reihe, und starrten ihn an und riefen nach Ausgleichung, und er konnte ihnen und konnte sich nicht helfen, wie auch die Angst und Scham ihm die bleich gewordenen Wangen rötheten. Die Summe der einen Seite wuchs immer [42] weiter über die Summe der anderen Seite hinaus, und weder Laura's Vertröstungen noch ihre kühnen und zuverlässigen Hoffnungen vermochten das zu ändern.

Seit Jahr und Tag hatte sie ihn darauf hingewiesen, daß ihnen einmal von dem Freiherrn eine nachhaltige Hülfe und Befreiung kommen müsse. Allerdings war die Theilnahme, welche derselbe für seinen Sohn bezeigte, niemals eine persönliche und keine lebhafte gewesen. Er hatte niemals selbst nach Paul gefragt; in allen den Verhandlungen, welche der Caplan mit der Kriegsräthin gepflogen, war des Freiherrn Name nie erwähnt, und es war für Paul auch außer der durch den Caplan regelmäßig besorgten Pensionszahlung weiter nichts gethan worden. Sie hatten die Schulzeugnisse des Knaben dem Caplan eingeschickt, hatten von diesem die immer wiederholte Weisung erhalten, ihn streng und einfach zu erziehen und wohl darauf zu achten, zu welchem Berufe Paul's Anlagen und Neigungen ihn führen könnten, da er für sich selber einzustehen haben werde. Nichts desto weniger war, wie Laura es ihrem Manne aus einander setzte, der Freiherr ihnen, die sie ihm sein Geheimniß so wohl bewahrten, ganz entschieden hoch verpflichtet, und daß endlich in dem Vater die Stimme des Blutes und des Herzens einmal für den Knaben sprechen, daß er endlich doch einmal kommen werde, selbst nach ihm zu sehen, daß der Anblick des ihm so gleichen Sohnes ihn bewegen, daß er ihnen danken werde, was sie für Paul gethan, das war für Laura über jeden Zweifel sicher. Man mußte nur warten, es nur mit Anstand durchhalten bis zu dem rechten Augenblicke, dann konnten die Folgen ihres einstigen raschen Entschlusses gar nicht fehlen, dann mußte der Kriegsrath die reichen Früchte ihrer Gutthat ernten und dann würde er auch eine neue Bestätigung ihrer Behauptung erhalten, daß er sich immer am besten stehe, wenn er dem Rathe seiner klugen und voraussichtigen Laura folge.

[43] Die Nachricht, daß der Freiherr in der Stadt sei, hatte Laura natürlich in eine große Aufregung versetzt. Alle die Plane, welche sie gehegt, standen jetzt an der Grenze ihrer Verwirklichung.

In jedem Augenblicke erwartete sie, eine Benachrichtigung von dem Freiherrn zu erhalten oder ihn plötzlich bei sich eintreten zu sehen. Sie ließ ihre Zimmer in besondere Ordnung bringen, sie kleidete sich zeitiger an, als sie sonst pflegte, um nicht bei einer etwaigen Ueberraschung in unangemessener Weise erscheinen zu müssen, und immer wieder ging sie an den Spiegel, um zu sehen, wie die Miene zurückhaltenden Verständnisses sie kleide, mit welcher sie dem Freiherrn entgegen zu treten dachte.

Sie hatte sich ein völliges System der Unterhaltung zurecht gemacht. Sie mußte als Erzieherin des Knaben der sittlichen Würde nicht ermangeln, sie durfte aber auch nicht eine übertriebene Sittenstrenge an den Tag legen, um den Vater nicht zu verletzen. Leichtlebig und doch ernsthaft, vornehm und doch zuvorkommend, selbstständig und fügsam mußte sie sich darstellen, um die Freundschaft des Freiherrn erwerben und ihm das Anerbieten nahe legen zu können, welches sie ihm zu machen wünschte, das Anerbieten, seinen Sohn an Kindesstatt zu adoptiren, um ihm mit dem Namen Weißenbach, mit dem Namen eines angesehenen Beamten eine Stellung in der Welt und in der Gesellschaft zu eröffnen, die sich ihm mit dem völlig unbekannten Namen Mannert nicht so leicht erschließen dürfte. Natürlich mußten sie und der Kriegsrath sich dann in einer Lage befinden, welche ihnen ein solches Opfer möglich machte; aber sie in diese Lage zu versetzen, konnte einem Manne von den Mitteln und dem Einflusse des Freiherrn gar nicht schwer sein. Sie lächelte, wenn sie sich die Wendung im Geiste wiederholte, mit der sie ihm den Vorschlag thun wollte, sie sah die gütige, zufriedene Miene, sie fühlte den freundschaftlichen Händedruck, durch welchen der Freiherr ihr seinen Dank bezeigte, und sie [44] hatte auch Nichts dagegen, wenn er es etwa angemessener finden sollte, ihrem Gatten einen besseren Posten in der Residenz zu schaffen. Sie war ihrer hiesigen Verhältnisse ohnehin jetzt müde, denn eine Mittelstadt war für eine Frau wie sie doch eigentlich niemals der rechte Wirkungskreis gewesen.

Es paßte Alles so vortrefflich zusammen, wie sie es sich ausgedacht hatte, es konnte nicht fehlschlagen, wenn nur der Freiherr kam, und kommen mußte er, weil sie sich sonst ja nicht zu helfen wußte. Wie sollte sich nicht fügen, was für sie so unerläßlich schien?

Da brachte plötzlich der Einfall des unseligen Knaben einen Stillstand in ihre muthig vorwärts gehenden Gedanken. Wenn Paul seinen Vorsatz ausführte, wenn er, ohne dazu ermächtigt zu sein, den Freiherrn aufsuchte, wenn dieser glauben konnte, daß man Paul geflissentlich von der Anwesenheit seines Vaters benachrichtigt, ihn vielleicht dazu verleitet habe, sich dem Freiherrn zu nahen, so war Alles verloren. Und dem Zufalle, der Laune eines Kindes, dem Verstande und der Beredsamkeit eines unerfahrenen Mädchens alle ihre Aussichten anzuvertrauen, das wäre eine Unvorsichtigkeit gewesen, deren sich nur ihr stets zuwartender, gelassener Mann oder Leute wie ihre Wirthe schuldig machen konnten, die es gar nicht mehr zu wissen schienen, daß man fremden Beistandes bedürfen könne.

Wollte sie nicht die Mühe langer Jahre vergebens getragen haben, nicht mit all ihren Hoffnungen im Angesichte des Hafens scheitern, so mußte sie ihre Maßregeln treffen, so mußte sie mit dem Knaben sprechen, und das sogleich, denn sie fühlte sich eben in der richtigen Verfassung für den Zweck. Sie wollte, wenn etwa der Freiherr am nächsten Tage käme, Herr über alle ihre Mittel sein! Ihr durfte die Unruhe den Schlaf dieser Nacht nicht rauben; für Paul hatte es keine Noth, denn – Kinder schlafen immer!

[45]
4. Capitel
Viertes Capitel

Paul war noch nicht zu Bette gegangen, als seine Pflegeeltern nach Hause kamen. Er stand am offenen Fenster und sah in die Straße hinaus. Gegenüber in dem Gasthofe brannte das Licht in vielen Fenstern; aber es war nicht das vornehmste Hotel, das lag mehr zur Seite, und sein Vater konnte doch nur in dem vornehmsten Gasthofe wohnen, der immer noch lange nicht so schön und prächtig war, als Schloß Richten mitten in dem großen Parke.

Schloß Richten lebte in den glänzendsten Farben in dem Geiste des Knaben. Alles, was er Großes und Erhabenes von den Prachtbauten der verschiedensten Zeiten gehört, Alles, was er den Schilderungen der Märchenwelt entlehnt, das hatte seine lebhafte Phantasie allmählich auf Schloß Richten übertragen. Je älter er geworden war, um so fester hatte sich in ihm das Verlangen ausgebildet, dieses Ideal seiner Gedanken wiederzusehen und, wie er das in mannigfachen Erzählungen gelesen, einst von seinem Vater in seinem Vaterhause aufgenommen zu werden. Seine ganze Entwicklung war auf dieses eine Ziel gerichtet. Und nicht wie der verlorene Sohn in der Bibel, nicht als ein Bettler, als ein Hülfesuchender wollte er vor seines Vaters Thüre treten. Gut und brav und geehrt wollte er sein, so gut, so brav, so geehrt, daß seine arme Mutter noch im Grabe stolz auf ihn sein durfte, daß er Lob und Liebe von des [46] Vaters Munde hören mußte, wie sie Seba, der er diese ganze Sinnesrichtung dankte, stets von ihren Eltern zu Theil ward.

Wie kam es aber, daß sein Vater ihn nicht suchte? Er hatte ihn ja so oft auf seinen Knieen geschaukelt, als Paul noch ein Kind gewesen war und niemals daran gedacht hatte, daß es etwas Schönes sei, geliebt zu werden. Und damals hatte er seine Mutter noch gehabt! Weßhalb liebte sein Vater ihn jetzt nicht mehr, da er keine Mutter mehr hatte, die ihn an ihr Herz schloß, da er wußte, wie elend seine Mutter umgekommen war, und da ihn außer Seba Niemand liebte? Alle Eltern liebten ihre Kinder; alle Väter hatten ihre Kinder bei sich; alle Väter freuten sich an ihren Kindern! Warum freute sein Vater sich nicht an ihm? Was hatte er verschuldet, daß sein Vater ihn nicht liebte, daß er ihn nicht sehen mochte, da er doch in seiner Nähe weilte?

Seit Jahren hatte er darüber nachgesonnen, ohne daß er sich die Sache zu erklären gewußt hätte, aber sie drückte ihn nur desto schwerer. Es ängstigte ihn, wenn seine Kameraden sich nach seiner Heimath, nach seinen Eltern, nach seinen Aussichten erkundigten, und gerade ihn, so meinte er, gingen sie immer mit solchen Fragen an. Er mochte nicht sagen, seine Mutter habe sich ertränkt, er mochte es Niemanden wissen lassen, daß sein Vater sich um ihn nicht kümmere, und Kinder verstehen es noch nicht, jene halben Antworten zu geben, mit denen Erwachsene sich vor einer ihnen unangenehmen Zumuthung zu schützen wissen. Aber eben die Befangenheit, die Verlegenheit, welche er nicht verbergen konnte, reizte die grausame Neugier seiner Genossen, weil sie ihnen ein ungewohntes Schauspiel bot; und Kinder sind wie die Fliegen, die sich stets auf wunde Stellen setzen.

Den ganzen Abend hatte er so am Fenster gestanden und in die Straße geschaut. Einstmals hatte die Mutter ihm befohlen: [47] Zähle die Fenster des Schlosses! Heute hatte er die Fenster der beiden Gasthöfe gezählt und zugesehen, wie die Lichter hinter denselben kamen und verschwanden, und sich gefragt und wieder gefragt: Wo mag denn meines Vaters Zimmer sein? Wo mögen denn wohl die glücklichen Kinder schlafen, welche die Rehe hinter dem Gitter füttern und die hinter den goldenen Scheiben des schönen Schlosses wohnen?

Eine große Traurigkeit hatte ihn dabei überfallen. Er mochte nicht essen und mochte auch kein Licht haben. Was sollte er auf der Welt, in der er nicht Eltern, nicht Geschwister hatte, in der Niemand nach ihm fragte? Wohin er seine Gedanken wendete, es freute, es reizte ihn nichts. Wozu sollte er lernen, wozu sich auszeichnen? Wer kümmerte sich um ihn? Was kam darauf an, ob etwas aus ihm wurde? – Er hätte gern weinen mögen, hätte er's nur gekonnt. Die Augen waren ihm so müde und so schwer wie das Herz, er konnte sie kaum erheben, sie sanken ihm immer wieder nieder, als hätte er etwas Böses gethan und dürfe sie nicht aufschlagen.

Es that ihm wehe, als plötzlich der helle Lichtschein ihn berührte, als die Kriegsräthin in das Zimmer trat und ihn fragte, weßhalb er hier im Dunkeln sitze. Aber er hatte es nicht nöthig sich zu entschuldigen, denn sie nannte es gut, daß er noch wach sei, nahm ihren Hut und Shawl ab, zog ihre langen Handschuhe aus und setzte sich dann dem Lichte gegenüber auf das Sopha. Ihr Hals und ihre Wangen sahen von der Erhitzung des Tages noch ganz roth aus. Sie hatte die entblößten Arme über einander geschlagen und sich weit nach hinten gelehnt. Das that sie immer, wenn sie mit dem Kriegsrathe oder mit Paul zu schelten gedachte. Es ließ auch nicht lange auf sich warten.

Paul! rief sie ihn mit ihrer trockenen Stimme an, die immer hart klang, wenn sie dieselbe nicht geflissentlich und [48] schmeichelnd sänftigte. Komm' einmal her, Paul, ich habe noch mit Dir zu sprechen!

Eine unbestimmte Ahnung durchzitterte ihn, und mit einer Bangigkeit, wie er sie nie zuvor empfunden, fragte er, ihren Mittheilungen voraneilend: Von mei nem Vater?

Wie kommst Du darauf? rief sie vorwurfsvoll, obschon seine Lebhaftigkeit ihr die Mühe einer Einleitung ersparte und ihr also recht erwünscht war.

Mein Vater ist ja hier, sagte er schüchtern.

Dein Vater, Dein Vater! wiederholte sie im Tone des Tadels; hat er Dir gesagt, daß er danach verlangt, Dein Vater zu sein? Hat er Dir gesagt, daß Du sein Sohn bist?

Paul sah die Kriegsräthin erschrocken an; er verstand nicht, was sie meinte.

Hat der Herr Baron von Arten oder haben wir es Dir jemals gesagt, daß Du sein Sohn bist?

Nein, versetzte er leise, denn jedes Wort, das die Kriegsräthin zu ihm sprach, schmerzte ihn mehr als ein Schlag.

Woher bildest Du es Dir denn ein? Woher kommst Du auf den Einfall?

Meine Mutter hat es mir gesagt, entgegnete er gepreßt.

Ach, Deine Mutter! rief die Kriegsräthin; Deine Mutter hätte auch etwas Klügeres und Besseres thun können, als Dir solche Dinge in den Kopf zu setzen; sie wußte ja am besten, wie es mit Dir stand!

Der Knabe regte sich nicht, aber seine Mienen drückten eine solche Angst aus, daß der Kriegsräthin bange davor wurde, und mit dem Gedanken, daß sie ein Ende machen und allen Thorheiten ihres Pflegesohnes vorbeugen müsse, sagte sie schnell und fest: Ist es Dir denn noch niemals aufgefallen, daß Deine Mutter keine Baronin war und nicht in dem Schlosse bei Deinem Vater wohnte?

[49] Er antwortete ihr nicht. Siehst Du also, fuhr sie fort, wie gedankenlos Du immer bist! Wenn Du es Dir nur ein wenig hättest überlegen wollen, würdest Du Dir Alles selber haben sagen können! Deine Mutter war ja gar nicht die Frau des Herrn Barons, war nur von niederem Stande, ein Bauermädchen oder so etwas, und gar nicht mit dem Herrn Baron getraut! Das ist aber eine Sünde und eine Schande, und darum hat der Herr Baron Dich fortgegeben! Er mochte Dich nicht bei sich haben und wollte Dich auch nicht an einem Orte lassen, an welchem alle Welt es wußte, wo Du herstammtest, und wo Dir Deine Geburt lebenslang zur Schande gereichen mußte! Was willst Du also von dem Herrn Baron?

Sie hätte noch lange so fortsprechen können, ohne daß der fassungslose Knabe sie unterbrochen, sie hätte ihn noch oftmals fragen können, ohne daß er ihr geantwortet haben würde. Er hörte Alles, als klinge es aus weiter, weiter Ferne dumpf und unverständlich zu ihm herüber, und doch traf ihn Alles bis ins Herz. Es war ihm, als höbe man ihn von dem Boden empor, auf dem er stehe, und drehe ihn in der Luft umher, und in aller seiner Pein hatte er doch den Drang, sich von den Qualen zu befreien, die man ihn erdulden ließ, sich loszureißen, fortzulaufen, die Hand zum Schlage zu erheben und dem Zorne, der beängstigenden Scham und der Verzweiflung Luft zu machen, die ihn fast erstickten, die ihn lähmten. Einmal in seinem Leben war ihm eben so, beinahe eben so zu Muthe gewesen: auf dem Balle, bei welchem der Graf Berka von dem Freiherrn von Arten gesprochen hatte, und wo ihm eingefallen war, was seine Mutter ihm gesagt hatte; aber die Pein, welche er jetzt eben litt, war weit größer, war noch weit schwerer! Er konnte sie nicht fassen, obschon er sie ertrug.

Nun, Paul, sagte die Kriegsräthin endlich mit milderem Tone, da sein starres Schweigen ihr lästig ward, nun weißt [50] Du, woran Du bist, und Du bist alt und klug genug, daß man es Dir sagen konnte. Du bist nur ein unehelicher Sohn des Herrn Barons, und er braucht sich, wenn Du eingesegnet bist, gar nicht weiter um Dich zu kümmern. Sei also ordentlich und vernünftig, und beweise ihm durch Deinen Gehorsam, daß Du die großen Wohlthaten, die er Dir gethan hat, verdienst. Er hätte gar nicht nöthig gehabt, Dich hier als unsern Sohn erziehen zu lassen; aber wenn Du ihm gehorchst, wenn Du ihn nicht ohne seine Erlaubniß an Dich erinnerst, wird er gewiß seine Hand nicht von Dir abwenden. Ich will sehen, was ich für Dich bei ihm zu erwirken und ob ich es nicht vielleicht für Dich durchzusetzen vermag, daß wir Dich an Kindesstatt annehmen, daß Du immer bei uns bleiben und daß Du doch auf diese Weise einen Namen bekommen kannst, mit dem Du Dich in der Welt und vor den Leuten sehen lassen darfst! Und nun geh', und schlafe Dich aus, und sei vernünftig!

Nein, nein! rief der Knabe so laut und plötzlich, daß die Kriegsräthin davor zusammenschreckte.

Du willst nicht gehen? fragte sie und nahm ihn bei der Hand.

Er zog seine Hand aus der ihrigen. Ich will keinen anderen Namen haben, ich will meinen Namen behalten, ich will Paul Mannert heißen und nicht anders!

Die Kriegsräthin schüttelte ärgerlich das Haupt und schob ihn fort. Heiße, wie Du willst, sagte sie, und geh' zu Bett! Das aber bitte ich mir aus, daß Du keine Dummheit machst und Dir nicht etwa beikommen läßt, den Herrn Baron belästigen zu gehen!

Sie nahm das Licht und verließ ihn; Paul blieb allein im Dunkeln zurück, aber das Dunkel genügte ihm nicht, es war ihm nicht undurchdringlich genug. Er eilte fort in seine Kammer, warf sich in seinen Kleidern auf sein Lager und [51] hüllte das Gesicht in die Kissen. Er wollte nichts sehen, nichts hören, es sollte ihn auch Niemand sehen, Niemand etwas von ihm hören.

Sterben, sterben, ich will sterben! rief es immer in seinem armen, jungen Herzen, und die bittere Scham brannte in seinem Gehirn, daß die Thränen ihm davon versiegten.

Sünde und Schande, hatte die Kriegsräthin gesagt. Sünde und Schande! sagte er sich immerfort, hörte er es immerfort um sich erklingen. Sünde und Schande waren es gewesen, die seine Mutter in den Tod getrieben hatten! Eine Sünde war es, daß er auf der Welt war, die Schande heftete sich an ihn, und ihr konnte er nicht entfliehen! – Nun wußte er, weßhalb seine Kameraden ihn immer um seine Eltern fragten, warum sie immer wissen wollten, wo er zu Hause sei. Sie hatten alle Mütter, die getraut mit ihren Männern waren, sie hatten alle Väter, die sich ihrer nicht zu schämen brauchten, sie hatten ein Vaterhaus, in das sie hineingehörten. Er hatte nichts, nicht Vater, nicht Mutter und nicht Heimath! Nichts war sein eigen als die Schande, die mit ihm geboren war; und nicht einmal seinen Namen wollte man ihm lassen, auch seinen Namen wollte die Kriegsräthin ihm nehmen, die ihn so gemartert hatte, daß er auch in seiner Herzensangst nicht mehr weinen konnte! Das war es gewesen, was ihn zum Aufschreien gezwungen, das war es gewesen, weßhalb er so ängstlich sein Nein, Nein! gerufen. Sein Name war das Einzige, das ihm gehörte. Er hatte nichts, nichts auf der Welt, als diesen seinen Namen, den sollte man ihm nicht nehmen, nur den Namen nicht!

Er schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und weinte endlich bitterlich. Aber schmerzlich, wie die Thränen ihm entquollen, befreiten sie ihn dennoch von der dumpfen, erdrückenden Angst, die auf ihm gelegen hatte, und er konnte wieder etwas [52] Anderes denken, als die Worte Sünde und Schande, obschon seine Gedanken aus derselben Wurzel stammten.

Er sagte sich, daß jetzt Alles anders sei, anders werden müsse. Es kam ihm vor, als sei der gestrige Tag schon lange, lange vergangen, so lange vergangen, wie die Zeit, in der er als kleines Kind mit der Mutter vor dem Schlosse gestanden hatte; denn gestern war er ja auch noch ein Kind gewesen, und jetzt war er das nicht mehr. O, nein, nicht mehr!

Er seufzte, als er sich dies sagte, und hätte doch nicht zu erklären vermocht, was in ihm vorgegangen sei. Er wußte nicht, daß er kein Kind mehr sei, weil das Leben ihn also zu seufzen gelehrt, weil der Schleier plötzlich vor ihm zerrissen worden war, der die Kindheit von dem Leben abtrennt, und weil an dessen Schwelle die kalte Unerbittlichkeit der Welt mit ihren Gefährten, dem Kummer und dem Schmerze, vor ihm gestanden hatten.

Er konnte nicht schlafen. Wirre Vorstellungen trieben sich in seinem Kopfe umher, daß der Kopf ihn schmerzte und die Unruhe ihn nicht rasten ließ. Die Finsterniß, welche er erst gesucht hatte, fing ihn zu ängstigen an, aber das frühe Tageslicht minderte den Zustand nicht, bis er endlich, als die Sonne schon drüben an den Dachfenstern des Nachbarhauses golden wieder zu scheinen anfing, müde und frierend einschlief.

Gegen die Gewohnheit mußte man ihn mehrmals wecken. Die Magd, welcher dies oblag und die ihm sein Frühstück gab, sagte ihm, er möge, ehe er zur Schule gehe, noch bei Mamsell Seba vorsprechen. Er hörte es, aber heute mochte er nicht zu Seba gehen. Sie wußte es ja auch!

Auf der Straße traf er wie immer mit einigen von seinen Kameraden zusammen; das war ihm unlieb. Er achtete nicht auf ihre Unterhaltungen, er konnte auch in der Schule sich nicht zwingen, dem Unterrichte zu folgen. Man kannte ihn nicht [53] wieder. Lehrer und Schüler fragten ihn, ob er krank und weßhalb er so traurig sei. Er versicherte, daß ihm nichts fehle. Er wollte auch gern lachen und munter sein wie sonst; aber es wollte ihm nicht gelingen. Es freute ihn nichts. Was sollte er auch hören, was sollte er sehen, was kümmerte ihn denn auf der Welt, als die eine verzweiflungsvolle Frage: wissen sie es denn, wer weiß es denn? – Es wurde ihm ärger und ärger zu Sinne, es zerriß ihm fast das Herz, denn er hatte es mit einem Male an sich selbst erfahren, was Unglück sei und wie es schmerze.

Aber während der arme Paul also die erste schwere Last des Lebens auf sich wuchten fühlte – und jungen, ungewohnten Schultern fällt sie zehnfach schwerer, als wir es ermessen – rühmte sich die Kriegsräthin gegen ihren Mann, daß sie es vorgezogen habe, sicher zu gehen, weil sie es nicht liebe, sich in wichtigen Angelegenheiten auf fremde Einsicht und Gewandtheit zu verlassen. Da sie zufällig Paul gestern noch am Fenster gefunden, habe sie ihm lieber gleich gesagt, was er früher oder später doch erfahren müssen, und sie habe es ihm kurz und rund heraus gesagt, denn das Vertuschen und Verweichlichen könne sie nicht leiden; der Mensch müsse bei Zeiten daran gewöhnt werden, die nackte Wahrheit zu ertragen.

Und wie hat Paul die Mittheilungen aufgenommen? fragte der Kriegsrath mit sichtlicher Besorgniß.

Wie soll er sie aufgenommen haben, entgegnete die Frau, Du kennst ihn ja! Er machte die großen Augen noch weit größer auf und starrte mich an, wie das seine Art ist, hinter der Du und die Flies'sche Familie Gott weiß welche Eigenschaften verborgen glaubt, und die mir von jeher einfältig und frech erschienen ist. Den Schlaf hat es ihm nicht geraubt, denn man hat ihn kaum erwecken können.

Der Kriegsrath gab sich damit wie jetzt überhaupt mit [54] allem Uebrigen zufrieden; aber er ging dennoch zu Madame Flies, ehe er sich in sein Bureau verfügte, um sie zu benachrichtigen, daß seine Frau mit Paul gesprochen habe und daß Seba es also nicht zu thun brauche, wenn der Knabe dies nicht selbst veranlasse. Denn, sagte er, meine Frau glaubt das zwar nicht, aber ich weiß, der Junge hat Ehrgefühl und Herz, es wird ihn wurmen und er wird's nicht leicht verwinden.

[55]
5. Capitel
Fünftes Capitel

Wie befindest Du Dich heute? fragte der Freiherr seine Gattin, als sie sich an dem Tage von der Tafel erhoben hatten.

Sie antwortete ihm, daß es ihr nicht übel gehe.

Aber Mama, sagte Renatus, Du hast ja Blut gespieen!

Der Freiherr ward achtsam, denn das war nie zuvor geschehen, und er erkundigte sich lebhaft, ob der Arzt davon benachrichtigt worden sei.

Angelika beruhigte ihn darüber. Sie sagte, wie der Doctor ihr versichert, daß dies gar Nichts auf sich habe, wenn sie sich nur vor heftigen Gemüthsbewegungen und vor Erhitzung hüte. Nur so bald als möglich auf das Land zurückzukehren, habe er ihr gerathen, und sie selber trage auch danach Verlangen, denn sie habe sich in den Städten niemals wohl befunden.

Der Freiherr meinte, sie sähe eben jetzt erhitzt aus, indeß sie wiederholte, daß sie sich erleichtert, ja freier fühle als seit langer Zeit, und nachdem er eine Weile etwas zu überlegen geschienen, sagte er, sich zu ihr wendend:

Da Du Dich nach Richten sehnst, meine Liebe, ist es mir recht erwünscht, daß ich meine Geschäfte hier beendet habe, und daß unserer Abreise von meiner Seite jetzt nichts mehr im Wege steht. Selbst Deine Aussage, daß Du Dich in der Stadt niemals so wohl befunden als in Richten, ist mir sehr erfreulich, – wie sich denn mitunter Alles leicht und geschickt fügt, während manchmal Alles uns zu widerstreben scheint!

[56] Angelika verstand nicht, was der Freiherr meinte oder worauf diese letzte Aeußerung sich beziehen konnte; aber seine Zutraulichkeit, sein ruhiges Eingehen auf die Unterhaltung überraschten sie, denn sein Verkehr mit ihr war seit ihrem Zerwürfniß so kurz und so ganz äußerlich gewesen, daß sie sich nicht erinnern konnte, irgend eine allgemeine Bemerkung von seinen Lippen gehört zu haben, wenn sie sich mit ihm allein befunden hatte. Sie fragte ihn, was ihn zu jener Betrachtung veranlaßt habe, und er antwortete:

Ich meinte damit, daß uns oftmals, wenn wir mit irgend einem Entschlusse nicht zu Stande kommen können, ein sogenannter Zufall über alle Schwierigkeiten forthilft. Geben wir ihm verständig nach, folgen wir seiner Weisung, so werden wir es plötzlich gewahr, daß alle unsere Bedenken auf falschem Boden erwuchsen, und welche Vortheile es uns bringt, welche Erleichterungen sich uns bereiten, wenn wir uns entschließen, diesen falschen Standpunkt aufzugeben und zu verlassen. Er hielt ein wenig inne und sprach dann, da er die Augen Angelika's mit einer Art von Besorgniß auf sich gerichtet sah, zögernd, aber doch mit anscheinendem Gleichmuthe: Ich habe mich seit Jahren mit der unnöthigen Sorge um das Haus der Tante Esther getragen. Jedes Frühjahr, jeder Herbst haben Reparaturen darin nöthig gemacht, und es ist ein Capital völlig unbenutzt und ungenossen geblieben, nur damit ein paar alte und zum Theil mürrische Domestiken, einige alte Bilder und ein paar alte Kläffer nicht von ihrer Stelle gerückt zu werden brauchen. Die Sorge bin ich endlich los!

Du bist der Sorge los, und wie das? fragte die Baronin.

Ich habe heute das Haus verkauft! entgegnete er und erhob sich, um ein Notizbuch von einem Seitentische zu holen. Angelika konnte sein Gesicht nicht sehen, er mochte sie auch nicht anblicken, und es war ihm unlieb, daß sie schwieg.

[57] Das gute, alte Haus! sagte sie nach einer Weile.

Du hast es nie geliebt, entgegnete er ihr, wie kannst Du es beklagen?

Ich dachte nur, wie Alles doch so wandelbar und so vergänglich ist! gab sie ihm zur Antwort. – Er blätterte in dem Notizbuche; sie ließ ihn gewähren, bis sie endlich mit der Schüchternheit, welche sie dem Freiherrn gegenüber jetzt niemals mehr verließ, leise die Frage aufwarf: Mußtest Du das Haus verkaufen, war es denn nicht zu vermeiden, Franz?

Aber er mißkannte den Ton der Betrübniß und der Sorge, der aus ihren Worten sprach, und ihn für einen Vorwurf haltend, sagte er: Der Kirchenbau in dem unseligen Rothenfeld hat zu viel Geld verschlungen, und die durch Herbert nöthig gewordene Entlassung Adam's macht mir große Schwierigkeiten. Es blieb mir keine Wahl!

Er wußte, was er ihr mit diesem Ausspruche that, und er bereute ihn sofort; denn wenn sie auch nicht mehr mit einander zu verkehren vermochten, ohne sich gegenseitig zu verletzen oder doch verletzt zu glauben, nöthigte der Zustand der Baronin ihm dennoch Theilnahme und Rücksicht ab. Er versuchte es also, sie mit seinen Worten und mit dem Ereigniß auszusöhnen, indem er leichthin von gewissen Einzelheiten der Gutsverwaltung und seiner Geschäftsverhältnisse zu reden anhob, deren er sonst niemals gegen sie erwähnte. Aber weit entfernt, sie zu beruhigen, erhöhten die Mittheilungen nur ihre Besorgnisse. Er ließ sie bemerken, daß sie in Mamsell Marianne, die er nach den Anordnungen von Fräulein Esther jetzt nach Richten nehmen müsse, eine Pflegerin erhalten werde, wie sie dieselbe schon lange nöthig gehabt habe; mitten in diesen Auseinandersetzungen unterbrach ihn jedoch Angelika plötzlich mit dem Ausrufe: Weiß es die Herzogin?

Nein, entgegnete der Freiherr, von der Frage nicht angenehm [58] berührt, und ich wünschte auch, daß ihr die Sache wenigstens vorläufig noch verborgen bleibe!

O gewiß, rief die Baronin, und beide, der Freiherr sowohl als Angelika, fühlten sich, wenn auch aus verschiedenen Gründen, eben durch die Erinnerung an die Herzogin verstimmter und gedrückter als zuvor. Die Unterhaltung gerieth völlig ins Stocken. Endlich sah der Freiherr nach der Uhr und sagte dann, auf den früheren Gegenstand des Gespräches zurückkehrend: Wie es mir überhaupt willkommen ist, von dem Besitze des Hauses frei zu werden, so ist mir es auch angenehm, daß grade Flies es kaufte. Er hat sich wie immer als einen bequemen Geschäftsmann, hinsichtlich des Kaufpreises auch nicht kleinlich bewiesen, und da er sein hiesiges Geschäft nun aufzugeben denkt, hat er mir freiwillig das Anerbieten gethan, Dich Dein Schlüsselgeld – denn ein solches kommt Dir zu – aus seinem Magazine wählen zu lassen, wobei er Dich sicher nicht beschränken wird. Es sind Leuchter, silberne Schalen, Kelche dort, die trefflich für unsern Altar passen und Dir und dem Caplan sicherlich Freude machen würden. Hat der Arzt Dir auszufahren gestattet und fühlst Du Dich dazu geneigt, so möchten wir, da die Herzogin auch Luft zu schöpfen wünscht, vielleicht noch heute diesen kleinen Einkauf abthun, und wir könnten dann auf morgen Mittag unsere Rückreise festsetzen.

Angelika, die sich von jeher gefällig den Anordnungen ihres Gatten gefügt, ließ sich dies jetzt immer doppelt angelegen sein. Sie erklärte sich also gleich bereit, die vorgeschlagene Fahrt zu unternehmen, aber es kostete sie eine große Ueberwindung; denn im sichern Reichthum, in den geordnetsten Verhältnissen erwachsen, und auferzogen in dem Glauben an die Unantastbarkeit des ererbten Besitzes, war sie von der Nachricht, welche sie eben jetzt erhalten hatte, sehr erschüttert worden. Nur die entschiedenste Nothwendigkeit konnte ihren Gatten, wie sie glaubte, bewogen [59] haben, das Haus in fremde Hände übergehen zu lassen; hatte er doch oftmals es ausgesprochen, wie er es für einen Mann in seiner Stellung geboten finde, in der Residenz ansässig zu sein und dort ein festes Domicil zu haben. Sie hätte ihn gründlich fragen mögen, was denn geschehen sei, sie hätte völlige Auskunft fordern mögen; die Weise, mit welcher der Freiherr die ganze Angelegenheit behandelte, zeigte ihr aber, daß er keine Erörterungen wünsche, und sie wollte ihm nicht beschwerlich fallen, da eine innere Stimme ihr verrieth, daß es ihm nicht leicht sei, den Gleichmuth zu behaupten, den er zu zeigen für angemessen hielt.

Schweigend Unruhe zu ertragen, muß man gesund sein, und Angelika war krank. Ihre Kammerfrau sah sie bedenklich an, als sie ihren Hut und ihren Shawl verlangte, um auszufahren; auch die Herzogin, welche man benachrichtigt hatte, und die gekommen war, die Ausfahrt mitzumachen, warnte davor; indeß auf den Ausspruch des Arztes gestützt, der sie freilich in ihrer gegenwärtigen Erregung nicht gesehen hatte, ließ sich die Baronin von ihrem Vorhaben nicht abbringen, und dem Freiherrn war daran gelegen, sie und sich selber zu zerstreuen.

Es war um die vierte Nachmittagsstunde, als sein Wagen vor dem Flies'schen Hause hielt, und wie immer, wenn er die Arten'sche Familie erkannte, kam der Juwelier heraus, sie zu empfangen und sie selbst in seinen Laden einzuführen. Angelika hatte das stets völlig in der Ordnung gedünkt, heute mißfiel ihr die Zuvorkommenheit des Mannes. Sie konnte sich überhaupt einer Abneigung gegen ihn nicht erwehren. Seine Höflichkeit däuchte ihr unwahr, däuchte ihr spöttisch zu sein. Was mochte er in diesem Augenblicke denken? Wie stolz mochte er sich fühlen, und weßhalb kam die Frau herein, die künftig in dem Hause wohnen sollte, das Angelika bisher gehört hatte, das ihrem Renatus einst gehören sollte?

[60] So wie jetzt in diesem Momente, war der Baronin noch nie zu Muthe gewesen. Es kränkte, es beleidigte sie Alles, selbst der freigebige Gleichmuth, mit welchem Herr Flies sie zwischen den werthvollen Gegenständen, die er vor ihr aufstellen ließ, zu wählen ersuchte. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie im Verkehr mit den Personen, von denen sie bedient ward, daran gedacht, daß sie vornehm sei, niemals hatte sie sich gefragt, ob man ihr die ihr gebührende Ehrerbietung zolle, niemals hatte sie darauf geachtet, wie ihr Gatte sich benehme. Heute dachte sie daran, heute achtete sie darauf. Denn sie meinte es dem Juwelier darthun zu müssen, daß sie die Freifrau von Arten sei und bleibe, auch wenn er das Haus besitze, das ihr Geschlecht erbaut hatte; sie hielt es für nöthig, ihn zu überzeugen, daß sie gleichgültig sei gegen die Werthgegenstände, welche er ihr darbot, und als theile der Freiherr ihre Gedanken, fehlte auch ihm heute die bequeme Leutseligkeit, die ihm sonst überall, wo er erschien, eine so freudige Zuvorkommenheit erweckte.

Die Herzogin, welche mit kleinen Einkäufen für sich beschäftigt war und daneben von Angelika bei ihrer Wahl zu Rathe gezogen wurde, wußte nicht, was das veränderte Betragen der Baronin und die Art und Weise bedeuten solle, mit welcher der Freiherr dem Juwelier begegnete, für den er sonst immer ein großes Wohlwollen geäußert hatte. Sie meinte es auf das Uebelbefinden, auf die Reizbarkeit Angelika's oder auf irgend eine Mißhelligkeit zwischen ihr und ihrem Gatten schieben zu müssen, zu welcher vielleicht diese Anschaffung der Altar-Geräthschaften den Anlaß gegeben habe. Herr Flies hingegen erklärte sich die Erscheinung leicht, wenn er auch keine Ursache hatte, sie unbeachtet hinzunehmen. Er blieb geduldig, wie es dem Verkäufer ziemt, er zeigte sich gefällig, obschon Angelika eine Lust daran zu haben schien, ihn und seine Leute zu bemühen; aber sein Ton ward kälter, sein klarer Blick senkte sich forschend und [61] fest in die von Erregung leuchtenden Augen der Baronin, und die Ueberzeugung, daß dieser Mann errathe, was in ihr vorgehe, daß er wisse, wie es nicht mehr so wohl stehe um das Haus des Freiherrn von Arten, und wie sie zum ersten Male schwere Sorge trage um die Zukunft ihres Gatten, ihres Sohnes, ihres Geschlechtes, empörten das stolze Herz der kranken Frau.

Sie ist eine Berka und weiß, wie ihre Sachen stehen; dachte der Juwelier. Nun, es kann ihr auch nicht schaden, wenn ihr Stolz gebeugt wird! – Und er hatte Recht! Heute, eben jetzt, da ihr Stolz gekränkt ward, fühlte die Baronin es mit schmerzlichem Genusse, daß sie stolz sei. Es befriedigte sie, dem reichen Juden ihren Stolz zu zeigen, sie hätte viel darum gegeben, wenn auch der Freiherr sich noch kälter gegen den Juwelier bewiesen, wenn Renatus nicht so freundlich mit der Frau desselben geplaudert hätte, wenn die Herzogin nicht dabei gewesen wäre! denn Angelika war zorniger, erbitterter, als sie sich je gekannt hatte, und doch fand sie sich durch diesen Zorn erniedrigt und er that ihr selber wehe, furchtbar wehe! – Das Herz klopfte ihr beängstigend, die Stirn schmerzte sie, die Pulse flogen ihr wie im Fieber. Sie konnte sich nicht in ihre Lage finden, sie spielte mit Bewußtsein eine Rolle, in der sie sich mißfiel. Und Alles, Alles mißfiel ihr heute, die Geräthschaften, für die sie sich endlich ausgesprochen hatte, der Verkäufer und ihr Gatte, das Leben und die Welt!

Komm', Renatus, rief sie endlich, als Herr Flies, sich verbeugend, die gewählten Gegenstände in das Hotel zu schicken versprach, komm' Renatus, wir sind fertig: laß uns gehen!

Als sie sich aber mit diesen in unmuthiger Eile ausgesprochenen Worten zu ihrem Sohne wandte, erblickte sie plötzlich einen anderen, älteren Knaben neben diesem stehend. Er war groß, schien breitschulterig werden zu wollen, und sein dunkles, [62] schönes Antlitz mit den mächtigen Augen und den hochgeschwungenen Brauen, sein voller, stolzer Mund sahen noch kräftiger neben dem blonden und sehr zart gebauten jungen Freiherrn aus. Das ganze Aeußere des fremden Knaben, der feste und doch angstvolle Blick, mit dem seine Augen an dem Freiherrn hingen, fielen ihr auf. Sie hatte sein Eintreten nicht bemerkt, sie war ihn überhaupt nicht gewahr geworden, bis eben jetzt, aber ein räthselhaftes Etwas in des Knaben Wesen und Erscheinung erfaßte sie mit plötzlicher Gewalt. Auch der Freiherr schien seiner erst in diesem Momente ansichtig zu werden. Angelika sah zu ihrem Gatten, sah zu dem Knaben hinüber. Da begegneten sich auch die Blicke des Freiherrn mit dem Blicke des fremden Knaben, und Angelika täuschte sich nicht, der Freiherr wurde bleich, während eine dunkle Röthe die Wangen des kleinen Fremden überzog.

Sie sah es, wie der Freiherr sich finster von ihm wandte, sie sah, wie des Knaben Brauen sich düster zusammenzogen, sie fühlte den scharfen, stechenden Blick, den er auf den Freiherrn, auf Renatus warf. Sie wollte ihren Sohn entfernen; aber auch dieser schien von den dunklen Augen des fremden Knaben festgehalten zu werden, und ihm nahe tretend, rief er: Aber der Knabe da sieht ja ganz wie Du aus, lieber Vater, leibhaftig wie Dein Bild im Ahnensaal!

Der Ausruf von Renatus machte auch die Herzogin auf den Vorgang aufmerksam. Sie wandte sich nach dem kleinen Fremden hin; Paul's Aehnlichkeit mit seinem Vater mußte Jeden überraschen.

Des Freiherrn Auge war über den Sohn Paulinens schnell und flüchtig fortgeglitten. Er hatte sich entfernt und Renatus mit hinaus geführt. Der Juwelier gab Paul ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen; aber der Knabe blieb wie angewurzelt [63] auf derselben Stelle stehen, und sein Blick, sein finster glühender Blick mit aller seiner Noth und Pein traf nur noch die Baronin, traf nur noch sie bis mitten in das Herz. Sie konnte den Blick nicht ertragen.

Auch das noch, auch das noch heute! rief sie und brach zusammen, während ein heißer Blutstrom ihren Lippen entquoll.

[64]
6. Capitel
Sechstes Capitel

Es war Alles still im Hause, aber Niemand schlief. Schrecken und Sorge hielten Jedermann wach.

Als die Baronin von dem Blutsturze befallen und der Arzt herbeigekommen war, hatte er es für unmöglich oder doch für höchst gefährlich erklärt, sie in diesem Zustande nach ihrem Hotel bringen zu lassen, in welchem ohnehin kaum die für eine solche Kranke unerläßliche Ruhe und Bequemlichkeit zu finden waren, und Herr und Madame Flies hatten augenblicklich mit der größten Bereitwilligkeit dem Freiherrn ihre ganze Wohnung und ihre Dienste zur Verfügung gestellt, die man unter diesen Verhältnissen annehmen zu müssen geglaubt hatte.

Vorsichtig hinaufgetragen, lag Angelika in dem besten Zimmer des Hauses, das in den Garten hinaussah, wohl gebettet, vor dem Schimmer der Nachtlampe geschützt, und hörte schlaflos die leisen Pendelschläge der Uhr aus dem Nebenzimmer an ihr Ohr klingen, die sich langsamer, ach, viel langsamer bewegten, als der fiebernde Schlag ihres müden Herzens. Ihre Kammerfrau befand sich an ihrem Lager, hinter dem Bettschirme wachte geräuschlos Madame Flies.

Nebenan in ihrer Stube saß Seba an dem offenen Fenster. Sie hatte sich nicht ausgekleidet. Sie mußte etwas erwarten, denn sie sah in kurzen Zwischenräumen immer wieder auf die Straße hinaus, und es war nicht die milde Schönheit der warmen [65] Sommernacht, die sie dazu verlockte. Paul war verschwunden, und man suchte ihn.

Als er am Nachmittage aus der Schule gekommen war, hatte er einen prächtigen Wagen, einen reich geschmückten Jäger vor der Thüre des Hauses stehen sehen. Ganz hingenommen von einem einzigen Gedanken, war er, wie er das oftmals that, in das Comptoir gegangen, um zu fragen, wem die schöne Equipage zugehöre.

Dem Freiherrn von Arten, sagte ihm der Lehrling. Paul starrte ihn bei den Worten so erschrocken an, daß der junge Mensch nicht wußte, was dem Knaben beigekommen sei, und ihm den Namen des Freiherrn mit der Frage wiederholte, ob Paul ihn nicht verstanden habe.

Ja, ich habe ihn verstanden, antwortete er, und ging hinaus; indeß er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Er lief die Treppe hinauf, sich oben zu verbergen. Aber wovor sollte, wovor hatte er sich zu verbergen? Ich habe ja nichts verbrochen, dachte er, und doch war ihm so bange, doch war er so verwirrt. Er konnte es nicht mehr aushalten oben in seinem Stübchen; sein Vater war ja unten!

Er wartete eine kleine Weile; er meinte, der Freiherr werde, da er nun im Hause sei, zu seinen Pflegeeltern kommen und ihn rufen lassen. Er horchte, ob die Thüre nicht aufgehe, ob Niemand die Treppe emporsteige, ob der Wagen fortfahre. Es blieb Alles still. Mit Einem Male sagte er sich: Wenn der Wagen fortfährt, dann ist es zu spät, dann ist Er auch fort! – und wie ein Pfeil schoß er die Treppen hinunter. Er öffnete die Stube, welche an den Laden anstieß; es war Niemand darin. Er suchte Seba, er hätte sie etwas fragen mögen, aber er mochte sich nicht noch einmal entfernen. Die Thüre nach dem Laden war nur angelehnt; er drückte sie behutsam weiter auf. Nun konnte er die Stimmen unterscheiden und hören, was man sprach;[66] aber nur Herr Flies und eine Dame redeten. Sollte mein Vater schon fortgegangen sein? fragte er sich, und das Verlangen, sich zu überzeugen, trieb ihn vorwärts. Wenigstens sehen wollte er seinen Vater doch. Er trat in den Laden hinein, man bemerkte es nicht, und doch mußte er mit beiden Händen den Tisch anfassen, um nicht aufzuschreien.

Ja, das war er! Nun kannte er ihn! Das war sein Vater, sein lieber Vater! Nun besann er sich auf Alles! Wie oft hatte er ihn in die Höhe gehoben, wie oft hatte er ihn geküßt, sein Vater, der Onkel Baron! Auf seinen Knieen hatte er ihn reiten lassen; auf dem Stuhle hinter dem Onkel Baron hatte er gestanden und seine kleinen Arme um dessen Hals geschlungen, bis der Onkel ihn zu sich gezogen und ihm die Geschichte erzählt hatte, die Geschichte – auf die er sich nicht mehr recht besinnen konnte und die ihm doch noch immer in den Sinn kam. – Sein ganzes Herz flog dem Freiherrn entgegen. Onkel Baron, lieber Vater! wollte er rufen im vollen Glücksgefühle – aber er ist ja nicht Dein Onkel, sagte er sich, und Vater darfst Du ihn nicht rufen, denn er will nichts von Dir wissen, weil Du in Sünde und in Schande geboren bist! – Er schauderte zusammen, er fühlte es wie einen Fluch über sich liegen.

Er blickte den Freiherrn an, er blickte die schöne, schlanke Dame an, er stand dicht neben dem blonden Knaben, er kannte sie alle!

Das war sein Vater, das war seines Vaters Frau, das war sein kleiner Bruder; der Bruder, welcher hinter den goldenen Fenstern des schönen Schlosses wohnte und der die Rehe und die Hirsche hinter dem Gitter füttern durfte. Er hätte ihm die Hand geben mögen, wenigstens mit dem Bruder hätte er sprechen und wissen mögen, wie er heiße. Er ging an ihn heran, indeß in dem Augenblicke bemerkte ihn Madame Flies, und dringend und leise befahl sie ihm: Geh', geh', lieber Paul! Geschwind, mach', daß Du fortkommst, Kind!

[67] Aber diese Anweisung bewirkte gerade das Gegentheil, obwohl er ihre Bedeutung ganz und gar verstand. Die Rührung, die Sehnsucht, welche er gefühlt, machten einer trotzigen Empfindung Platz. Er wollte nicht gehorchen, nicht hinausgehen; er wollte bleiben, er wollte sehen, was denn daraus werden würde. Endlich mußte der Freiherr sich doch umdrehen, endlich mußte er ihn doch erkennen, denn er war ja sein Sohn; und wenn er ihn erkannte –

Da drehten sie sich Alle um, da schlug die Bemerkung seines Bruders, der Aufschrei der Baronin an sein Ohr. Er sah, wie sein Vater sich kalten Auges von ihm wendete, wie man die Baronin als eine Sterbende davontrug, er fühlte, wie Madame Flies ihn heftig zurückstieß, und als falle es mit klingenden Hammerschlägen auf ihn nieder, so tönte es immerfort in seinem Kopfe: Mache, daß Du fortkommst! Sie waren Alle hinausgegangen. Er blieb ganz allein in dem Laden zurück.

Was gehe ich sie auch an? Was gehen sie mich an? dachte er, und doch fiel ihm die Einsamkeit sehr schwer. Er sah sich in dem Laden um, als müsse er sich Alles recht einprägen, damit er es nicht vergesse. Den Laden sehe ich auch nicht wieder, sagte er sich, und dabei merkte er erst, daß er beschlossen habe, fortzugehen. Er hatte schon die ganze Nacht daran gedacht. Er konnte es nicht aushalten, hier zu bleiben, wo Jedermann es wußte, daß er in Sünde und in Schande geboren sei. Er wollte seinem Vater nicht wieder vor die Augen treten, denn er liebte den Vater nicht mehr, er wollte von ihm nichts mehr wissen, nichts mehr hören, nichts mehr haben, gar nichts mehr haben!

Trotz und Verzagtheit, Liebe und Haß, erwachtes Ehrgefühl und erlittene Kränkung stürmten wild durch einander auf ihn ein, und dazwischen tauchte das Bild seiner Mutter, wie er es sich gestaltet hatte, vor seiner Seele auf, und er erinnerte sich, wie sie geendet, wie die Verzweiflung sie aus der Welt und in[68] den Tod getrieben hatte. Er wußte auch nicht, was er hier sollte; er mochte Niemanden sehen, von Niemandem gesehen werden, und am wenigsten von seinem Vater, der sich von ihm abgewendet, und von der Kriegsräthin, die ihm gesagt hatte, daß er in Sünde und Schande geboren sei und daß ein Schimpf auf ihm ruhen werde all sein Leben lang. Das wollte er nie wieder von eines Menschen Munde vernehmen; er wollte hin, wo Niemand ihm das sagen konnte, wo Niemand es wußte, Niemand ihn kannte – fort! Er nahm seine Mütze und ging. –

In der Unruhe und Aufregung, welche das Erkranken der Baronin veranlaßt hatte, beachtete man es nicht, daß Paul nicht um die gewohnte Stunde zum Vesperbrode kam. Als die Kriegsräthin ihn später vermißte, meinte sie, daß Schrecken und Furcht vor einer Strafe ihn abhalten möchten, vor ihr zu erscheinen, da sie ihm verboten, sich seinem Vater in den Weg zu stellen, und da er jetzt erlebt habe, welch ein Unheil er damit angerichtet. Indeß es war nicht seine Weise, ohne Erlaubniß fortzugehen oder sich feige einer Strafe zu entziehen, und als eine Stunde um die andere verging, als der Abend hereinbrach, als die Dämmerung der Nacht zu weichen begann, fing man unruhig zu werden an, und vor Allen zeigte sich Seba besorgt.

Man hatte Paul's Büchertasche unten auf dem Zahltische liegen gefunden; der Lehrling hatte ihn eine Weile im Laden stehen und dann fortgehen sehen. Man schickte zu den Knaben, mit denen er Verkehr hielt, er war aber bei keinem von ihnen gewesen; man fragte in der Straße, ob man ihn bemerkt, aber Niemand wußte sich dessen zu erinnern, und wer achtet auch an einem schönen Sommerabende, an dem die Leute alle draußen sind, auf das Kommen und Gehen eines Knaben?

Um elf Uhr, als Angelika ruhiger geworden war und als der Freiherr das Haus verlassen wollte, um sich in seinem Gasthofe zur Ruhe zu begeben, trat er in die Wohnstube der Flies'schen [69] Familie ein. Er fand nur Seba in derselben, und nachdem er gebeten, ihn augenblicklich zu benachrichtigen, wenn der Zustand der Baronin seine Anwesenheit erheischen sollte, fragte er: Wer war der Knabe, Mademoiselle, der sich in Ihrem Laden aufhielt, als die Baronin von dem üblen Anfalle betroffen ward?

Wie er das fragen kann? dachte Seba. Sie hätte ihm sagen mögen: Es ist Ihr Sohn, und Sie wissen das. Indeß sie überwand sich und antwortete: Es ist der Pflegesohn des Kriegsraths Weißenbach, der hier im Hause wohnt.

Sein Name?

Paul Mannert, sprach sie nachdrücklich, und wie fest das Auge Seba's auch auf den Freiherrn gerichtet war, sie konnte keine Veränderung in seinem ernsten Gesichte lesen. Das empörte sie, und, hingerissen von der Angst um ihren Schützling, voll Abscheu vor der Ruhe seines Vaters, die mit ihrer Sorge in so grellem Widerspruche stand, rief sie: Er ist aber nicht mehr da, der Knabe! Er ist fort, der Paul, und wir suchen ihn vergebens! Gott gebe, daß er in seiner Verzweiflung nicht wie seine Mutter geendet hat!

Wie ein Blitz zuckte es durch die Gestalt des Freiherrn, es zitterte in seinen Mienen, und mit bebender Lippe fragte er: Was wissen Sie von ihm, Mademoiselle?

Er mußte sich niedersetzen; Seba war über ihr eigenes Thun erschrocken, aber der Grimm gegen diese vornehmen Männer, die Alles unter die Füße treten zu können glaubten, die Empörung über die Herzenskälte des Freiherrn, die Erinnerung an die Schmach des eigenen Geschickes hoben sie über sich hinaus, und kalt und stolz, wie der Freiherr eben erst vor ihr gestanden hatte, sagte sie: Ich weiß wer der Knabe ist, weiß, daß seine Mutter in Verzweiflung ihren Tod im Wasser gesucht, und Gott gebe, daß er ihr's nicht nachgethan hat, denn er fühlte sich verstoßen!

[70] Der Freiherr fuhr auf. Er wollte die unberechtigte Anmaßung dieses Judenmädchens zurückweisen, aber das harte Wort erstarb ihm auf der Lippe, und wie im Schmerze schloß er die zornfunkelnden Augen. Das währte indeß nicht lange, dann hatte er seine Wahl getroffen, seine Entscheidung schnell gefaßt, und während Seba in ihrem Herzen noch darüber triumphirte, daß es ihr gelungen war, einen dieser Edelleute, den Freiherrn von Arten, der seines Kindes vergessen konnte, der Herbert beleidigt, der Adam gekränkt, der kein Herz hatte, so wenig Graf Gerhard ein Herz gehabt, unter ihrem Blicke zusammenbrechen und vor ihrem Worte zittern und leiden zu sehen, erhob der Freiherr sich und sagte mit schonender Herablassung: Ihre Aufregung macht Ihrem guten Herzen Ehre, Mademoiselle Flies, und der Unerfahrenheit muß man selbst den Mangel an der nöthigen Delicatesse nachsehen! Ich hoffe, daß man nichts versäumt, den Knaben aufzufinden, an dem Sie so viel Antheil nehmen! Der Vorsicht wegen will ich selbst dafür Schritte thun lassen! Leben Sie wohl, Mademoiselle!

Seba stand und blickte ihm nach. Sie biß die Zähne auf einander, um die laute Verwünschung zurückzudrängen, welche ihr aus dem Herzen auf die Lippen stieg. Sie hörte, wie der Baron leise mit ihrem Vater sprach, dem er im Hause begegnete, und zornig das Haupt schüttelnd, rief sie: Es giebt keine Gerechtigkeit im Himmel und auf Erden, wenn nicht einst der Tag der Vergeltung für sie Alle kommt, wenn sie nicht ernten müssen, was sie säeten!

Aber es blieb ihr nicht lange Zeit für ihre Gedanken. Ihr Vater, der Kriegsrath und die Kriegsräthin kamen herbei; sie sollte noch einmal Alles erzählen, was sie gestern von Paul gehört, was sie mit ihm gesprochen, und während sie im Grunde nur wenig zu sagen hatte, während sie gar keine Vermuthung hegte, die auf irgend eine Spur zu leiten vermocht hätte, wurde [71] die Kriegsräthin nicht müde, es immer zu wiederholen, mit welcher Voraussicht und Sorgfalt sie gehandelt, wie sie allein daran gedacht habe, dem geschehenen Unheil vorzubeugen, und wie nur der widerspänstige Charakter des Knaben, den er von seiner Mutter habe, sie um die Früchte jahrelanger Opfer gebracht, alle ihre Plane zerstört, die Baronin von Arten auf das Krankenlager geworfen und dem Freiherrn die übelsten Begriffe von der Erziehung gegeben haben müsse, welche Paul genossen. Sie verlangte Anerkennung, Trost und Zuspruch von ihrem Manne und von den Andern zu erhalten, und nicht ein einziges Mal fiel es ihr ein, welchen Antheil sie an der traurigen Gemüthsverfassung des armen Knaben hatte, und kein Vorwurf in ihrem Innern sagte ihr, daß sie und ihre unheilvollen Aufklärungen ihn aus dem Hause getrieben, in welchem sie, die Trostbegehrende, nie eine Aufwallung der Liebe, nie ein Herz für ihn gehabt hatte.

Während sich bei Seba und bei den Männern mit den fortschreitenden Stunden die Hoffnung, daß Paul freiwillig wiederkehren werde, verminderte, und die Sorge, daß er ein unglückliches Ende genommen habe, sich steigerte, gab die Kriegsräthin, als sie sich ermüdet zu fühlen begann, immer zuversichtlicher sich der Erwartung hin, Paul werde nach Kinder-Art von selbst nach Hause kommen, wenn Hunger und Müdigkeit ihn dazu trieben, und wenn man nur aufhören wolle, so ängstlich auf seine Wiederkehr zu achten. Er sei fraglos ganz in der Nähe, er warte nur auf die Gelegenheit, sich unbemerkt in seine Schlafkammer zu schleichen. Und stets bereit, die Umstände so anzusehen, wie es mit ihren Wünschen am besten zusammenstimmte, nannte sie es das Gerathenste, die Ruhe zu suchen und nicht um eines Knabenstreiches willen das Haus, die Nachbarschaft oder gar, wie es in Folge eines Schreibens, das der Freiherr dem Kriegsrathe für den Polizei-Director übergeben, geschehen war, [72] die Stadtbehörden in Bewegung zu setzen. Indeß weder der Schlaf, dem die Einen sich überließen, noch die Herzensangst, mit welcher Seba in ihrem Zimmer wachte, änderten das Geschehene; – Paul blieb aus.

Gegen den nächsten Mittag, als die Kammerjungfer der Baronin sich entfernt hatte, um aus dem Hotel verschiedene Gegenstände herbeizuholen, deren man für die Kranke bedurfte, hatte Seba deren Stelle an dem Lager eingenommen.

Die Sonne schien warm in das Zimmer hinein, durch die geöffneten und leicht verhängten Fenster stieg der Duft der Reseda aus dem Garten in das Gemach. Man hörte das leise Säuseln der Blätter, der linde Windhauch bewegte die Vorhänge, und hier und da schlich sich ein gedämpfter Sonnenstrahl hinein, seinen Schimmer über Angelika's bleiche Stirn und über ihr goldblondes Haar verstreuend. Es waren schwere Stunden gewesen, der Tag und die Nacht, die hinter ihr lagen. Sie hatte kein Auge geschlossen.

Als sie am verwichenen Nachmittage von ihrer Erschöpfung zu sich gekommen war, hatten ihre ersten Worte Paul gegolten.

Unfreiwillig habe ich seine Mutter getödtet, unfreiwillig giebt er mir den Tod! sagte sie zum Freiherrn, der düster brütend an ihrem Lager weilte. Sie verlangte nach Paul, sie wollte ihn sehen; man stellte ihr die Anordnung des Arztes dagegen auf, und sie verzichtete auf die Erfüllung ihrer Forderung. Aber ihre Gedanken blieben mit ihm beschäftigt, und selbst als die verwirrenden Nebel des Fiebers ihren Sinn überwältigten, sah sie ihn vor Augen. Bald rief sie, daß er sie ergreife, daß er sie morde, bald klagte sie sich an, daß sie ihm die Mutter nicht ersetzt habe, und gelobte ihm, es künftig zu thun. Dann wieder mußte sie ihn im Kampfe mit Renatus wähnen, denn sie schrie auf und beschwor den fremden Knaben, ihres Sohnes zu schonen, der schuldlos an all dem Unheil sei. Noch am Mittage, als [73] Seba an ihr Lager gekommen war, hatte sie gewacht, und erst unter Seba's Obhut, die mit so brennenden Erinnerungen an ihrer Seite saß, hatte sie Schlaf und Ruhe finden können.

Seba hatte die Baronin zuerst gesehen, als man sie, eine Bewußtlose, in dieses Zimmer brachte. Sie hatte es bis dahin geflissentlich vermieden, ihr zu begegnen, aber sie kannte dieses Antlitz. Sie kannte diese hohe, weiße Stirn, diese schmale, feine Nase, den kleinen Mund mit seinen weichen, vollen Lippen. Gerade so zogen an der Schläfe sich die blauen Adern unter der durchsichtigen Haut des Grafen hin, gerade so bogen seine leichten Brauen sich in der Mitte ihrer Wölbung aufwärts. Jeder Zug dieses schönen Antlitzes war ihr vertraut, und sein Anblick wendete ihr das Herz im Busen um.

Alles, was sie seit Jahren durchlebt und durchlitten, es drängte sich in ihr in diese Stunde zusammen! Sie mußte es noch einmal erleben und erleiden, sie konnte kaum der Hast ihrer eigenen Gedanken, der wilden wechselnden Gewalt ihrer Empfindungen folgen. Gerhard's Schwester lag in ihrem Vaterhause, eine zum Tode Erkrankte, vor ihren Augen da. Es war des Grafen Schwester, über der sie wachte, von deren Schlummer sie jede Störung fern zu halten strebte, – und Jahre lang hatte sie die Nächte im grimmen Schmerze durchwacht, in Verzweiflung durchweint, in Scham durchseufzt – um Gerhard's willen! Mit welcher Stirn würde er da stehen, wenn die Baronin einst Seba's Namen vor ihm nennen würde, den Namen des vertrauensvollen Mädchens, dessen Glück und Liebe er so frevelhaft gemordet! Wenn er, er selber es wäre, wenn er so daläge, hülflos mir hingegeben! dachte sie.

Tödtlicher Haß und das heiße Verlangen, sich zu rächen, schwelgende Erinnerungen und Erbarmen mit dem eigenen Leide bedrängten sie, und es dünkte sie ein Fluch, daß sie den Haß kennen lernen, daß die Verachtung statt der Liebe in ihr lebendig [74] geworden war. Dann wieder fühlte sie sich plötzlich über alle Trübsale fortgetragen, leicht und frei. Sie konnte auf ihre Vergangenheit zurückblicken wie auf eine abgelegte Hülle, die ihr fern lag, sie fühlte sich durch ihr Denken und Thun weit über sie hinausgehoben, und doch blutete ihr das Herz, doch schwammen ihre Augen in Thränen; denn wie sie auch danach rang, sich neu aufzuerbauen, – es blieben ihr doch unwiederbringlich jene unschätzbaren Güter verloren, ohne welche das Menschenleben trübe wird wie ein Tag, dem die Sonne bei seinem Aufgange und Niedergange nicht leuchtet: die freudige Erinnerung an die eigene Jugend und der Glaube an das Glück der Zukunft!

Und wenn sie eine Weile den eigenen Erinnerungen und dem Schmerze nachgegeben, dann fiel der arme Paul, ihr armer Paul ihr ein. Wo mochte er weilen, wo konnte er sein? Sie hätte hinauslaufen mögen, ihn zu suchen, aber wohin sollte sie sich wenden? Warum war er nicht zu ihr gekommen, der er doch vertraute, die er liebte, die ihn in ihr Herz geschlossen, als dieses Herz sich an Liebe und an Freude ganz verarmt geglaubt? Was mußte ihm geschehen sein, was mußte man ihm gethan haben, daß er ihrer nicht gedacht, daß er sie vergessen hatte? Es war ihr, als müsse sie ihn rufen, als könne er gar nicht ausbleiben, wenn sie ihn nur riefe; aber hier, an diesem Lager, durfte sie ihn nicht rufen, nicht seinen Namen nennen, denn hier, in ihrem Schutze, sollte die Gräfin Berka, die schöne Frau des Freiherrn von Arten, Ruhe finden, die Frau, um deretwillen die Mutter Paul's die sonnige Erde verlassen und sich begraben hatte in des Wassers kalte, dunkle Tiefe.

Wie aber, wenn auch Paul wirklich nicht mehr auf der Erde weilte? dachte sie; wenn auch seinen schönen jungen Leib die Wellen verschlungen hätten, wenn seine Augen, in deren hoffnungsreiche Fröhlichkeit sie sich so gern versenkt, gebrochen wären, wenn die Fluth ihn jetzt schon mit sich trüge weit hinaus,[75] hinaus ins Meer! Ihr graute vor der Vernichtung seiner jugendlichen Schönheit – ihr graute vor dem Tode. Und schwebte nicht vielleicht auch über dem stolzen, blonden Haupte, das hier vor ihren Augen schlummerte, schon des Todes Sichel? War denn jetzt Alles dem Untergange geweiht?

Sie neigte sich leise zu der Kranken hernieder, um zu hören, ob sie athme, da schlug Angelika matt die Augen auf und blieb mit dem träumerischen Blicke an Seba haften. Sie konnte sich nicht besinnen, wo sie war, sie schaute Seba mit Befremdung an, aber ihre Miene wurde dabei immer freundlicher, und beide Hände faltend, bewegte sie leise ihre Lippen.

Seba kniete nieder, um ihre Worte zu verstehen. Die Baronin schien das mit Ueberraschung zu gewahren. Sie faßte nach Seba's Hand; ein leises Ach! entfloh ihrem Munde, da sie dieselbe berührte, und mit schmerzlicher Klage sagte sie: Ich lebe also noch?

Ja, Gott sei Dank, Sie leben! rief Seba. Gott sei Dank, Sie leben! wiederholte sie, von einer Rührung ergriffen, die sie nicht bemeistern konnte, und Sie werden leben bleiben!

Die Baronin legte ihre Hand matt und langsam auf das Haupt der Knieenden. Ich bin sehr müde, seufzte sie, und die Augen schließend, während sie Seba's Hand in der ihrigen hielt, bat sie: Gehen Sie nicht von mir, es ist mir wohl in Ihrem Schutze!

Theure, theure Frau! rief Seba, indem sie die Hand der Kranken an ihre Lippen preßte und heiße Thränen ihre Augen füllten.

Was haben Sie? fragte die Kranke ängstlich. Aber Seba nahm sich schnell zusammen. Nichts, nichts, sagte sie. Ich bin so glücklich, daß Sie Ruhe finden, daß Sie mich um sich haben mögen!

Angelika drückte ihr die Hand, und aufs Neue nahm der Schlummer der Ermattung sie gefangen.

[76] Seba aber saß still und regungslos an ihrem Lager. Sie dachte des Uebels nicht mehr, das der Bruder dieser Frau ihr gethan, weil sie jetzt der Schwester liebend beistand; sie vergaß des eigenen Unglücks über dem Leiden dieser Frau, und wie Wolken sich bilden und vergehen, sich formen und ihre Formen wechseln, daß man nicht weiß, wofür man sie zu halten und wie man sie zu deuten hat, während doch das Auge und der Sinn sich nicht von ihnen abzuwenden vermögen: so zogen an ihrem Geiste die Gestalten des Grafen und des Freiherrn, Angelika's und Herbert's und der Geschwister aus dem Amthause vorüber, und dazwischen dachte sie des Knaben, dem sie so viel verdankte und dem sie von ganzem Herzen zu vergelten gewünscht.

Wie komme ich, eben ich denn gerade in diesen Menschenkreis? Weßhalb laufen alle diese Schicksalsfäden in dem Bereiche zusammen, den ich übersehe? Und was kann, was soll ich thun inmitten dieser Menschen? Ich, die ich selbst unglücklich und ohne alle Hoffnung bin? fragte sie sich immer und immer wieder.

Da quoll es warm in ihrem Herzen empor, jenes beseligende Lieben um des Liebens willen, das dem Menschen noch Glück bereitet, wenn er sich alles Wünschens und Wollens für sich selbst entschlagen hat, und mit überwallender Empfindung rief sie sich zu: Ich kann lieben, hoffen, helfen und trösten! Ich will hoffen für den armen Paul, und vor allem Dich trösten und Dir helfen, Du schöne, kranke Frau!

[77]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Alle Bemühungen bewiesen sich fruchtlos; Paul kam nicht wieder. Ein Arbeiter hatte spät am Abende einen Knaben, auf den die Beschreibungen des Vermißten paßten, am Außenhafen gesehen, aber wohin er gegangen oder wo er geblieben war, das hatte er nicht bemerkt. Die Polizei, die man in Bewegung gesetzt hatte, war ungeübt und lässig, und man kannte damals jene wundervollen Erfindungen noch nicht, welche, Zeit und Raum überwindend, dem Menschen fast eine Allgegenwärtigkeit verleihen und sich zu unfehlbaren Dienern und Boten unserer Freude, unseres Schmerzes, unserer Sorge machen. Man mußte abwarten und hoffen oder sich bescheiden, das Schlimmste zu erfahren, und in diesem Falle war die Liebe verzagter als der Eigennutz.

Die Kriegsräthin, welche ohne das ansehnliche Kostgeld ihres Pflegesohnes gar nicht auszukommen wußte, rechnete zuverlässig auf dessen Wiederkehr; Seba betrauerte seinen Verlust. Sie allein hatte die leidenschaftliche Natur des Knaben, die starken, tiefen Empfindungen gekannt, deren er fähig war, und die ihn in einem Augenblick vernichtender Enttäuschung leicht zu einem Aeußersten getrieben haben konnten. Wohin sie sich wendete, fehlte ihr Paul, vermißte sie ihren jungen Gefährten, dessen zuversichtliche Liebe ihr ein Bedürfniß geworden war, und mit dessen Zukunft sie sich zu beschäftigen liebte, wenn ihr der Muth gebrach, der eigenen Zukunft zu gedenken; und wie sie sich auch [78] dagegen wehrte, drängte sich ihr doch oftmals die entmuthigende Vorstellung auf, daß Paul besser daran gewesen sein würde, wenn er sich ihr nicht angeschlossen, und sich im Verkehr mit ihr nicht über seine Jahre hinaus entwickelt hätte.

Es war gut für Seba, daß die Familie von Arten noch immer in der Stadt war, die Baronin noch immer in dem Flies'schen Hause verweilen mußte, denn es gab Seba eine Beschäftigung, welche sie von dem Schmerze um den Knaben abzog.

Der Arzt hatte es, selbst als die dringendste Gefahr vorüber war, entschieden widerrathen, die Kranke in den Gasthof bringen zu lassen, und Madame Flies wollte davon auch gar nicht sprechen hören. Ihr gutes Herz und ihre bürgerliche Eitelkeit fanden eine große Befriedigung darin, eine solche Dame zu bedienen und zu pflegen, mit ihr beständig zu verkehren, ihren Umgangsgenossen von diesem Verkehr zu erzählen, und daneben dachte sie, in dem romantischen Glauben an die wunderbaren Wege der Vorsehung, von welchem nur wenige Frauen frei sind, man könne doch nicht wissen, wozu es gut sei, daß die Schwester des Grafen Gerhard eben in ihrem Hause erkranken müsse und daß sie ihre Seba und die ganzen Verhältnisse der Familie nun so unerwartet kennen lerne. In der Residenz hatten schon Grafen und Prinzen sich mit Jüdinnen verheirathet, und was Einer Jüdin widerfahren war, konnte der andern auch begegnen, besonders wenn dieses ihre Seba war.

Weniger angenehm war es dem Freiherrn, seine Gemahlin noch immer in der Obhut der Familie Flies zu wissen und sich von dieser eben in diesem Augenblicke Verbindlichkeiten auferlegen zu lassen, die er nicht bezahlen, nicht gleich vergelten konnte. Sein Geist war ohnehin verdüstert, sein Gemüth beschwert. Das plötzliche Wiedersehen seines Sohnes, an dem er einst gehangen, das eben so plötzliche Verschwinden desselben hatten einen furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht. Trotz des flüchtigen [79] Blickes, den er auf Paul geworfen, hatten die Schönheit des Knaben, die auffallende Aehnlichkeit mit dem von Arten'schen Geschlechte ihn erschüttert, und es war eine wundersame Freude gewesen, mit der er Paul's unleugbare Ueberlegenheit über Renatus anerkannt. Auch jetzt konnte er des Zwiespaltes in seinem Innern nicht Meister werden. Er ließ die eifrigsten Nachforschungen nach Paul anstellen, so widerwärtig das dadurch gemachte Aufsehen und die unvermeidliche Besprechung aller seiner persönlichen Verhältnisse ihm auch waren. Er litt unter dem Gedanken an den immer wahrscheinlicher werdenden Untergang des Knaben, und er trug doch kein Verlangen danach, ihn wieder vor sich zu sehen; aber auch Renatus mochte er nicht um sich haben, und vor Allem vermied er es, Seba zu begegnen, deren herbe Wahrhaftigkeit ihn schwer beleidigt hatte.

Selbst die Gesellschaft der Herzogin war ihm nicht willkommen. Ihre leichte Unterhaltungsgabe vermochte nicht, ihn zu zerstreuen, ihr Bestreben, ihn von sich abzuziehen, that ihm jetzt nicht wohl. Er fühlte sich allein und von jedem Anspruche an ihn belästigt. Erst nachdem er sich eines Tages eingestanden, daß auf ihm ein schweres, ein besonderes Schicksal laste, daß eine dämonische Gewalt, mächtiger als sein Wille, nicht aufgehört habe, ihn, seit er sich von Pauline getrennt und mit der Baronin verbunden habe, zu verfolgen, begann er seine Fassung wieder zu finden. Er kam sich eben durch diese Besonderheit seines Looses ausgezeichnet und wie durch seine Geburt und die Bedeutung seiner Person von den ihn umgebenden Menschen geschieden und über sie erhaben vor. War es doch etwas so Gewöhnliches, glücklich zu sein! Ein Jude wie Flies konnte das Glück für sich haben auf allen seinen Wegen, denn das Glück wohnt und waltet auf jener breiten Heerstraße des Lebens, auf der sich die Mittelmäßigkeit und die Niedrigkeit berechnend und schwachherzig bewegen. Ein Mann, der wie der Freiherr [80] seinem inneren Bedürfen, seinem Glauben an ein Ideales, der einzig den großmüthigen Regungen seines Herzens folgte, der seinen Ehrbegriffen und den unabweislichen Pflichten seines Standes nachzuleben hatte, der wandelte auf einem anderen Pfade, der hatte wenig Aussicht, auf seinem einsam erhabenen Wege dem Glücke zu begegnen. Was war es denn gewesen, als Großmuth, daß er einst sein Leben an das Leben eines armen Kindes gesetzt? Was war es gewesen, als sein Glaube an ein Ideales, der ihn bewogen, dieses Mädchen zu bilden? Seinen Standespflichten zu genügen, seinem alten Stamme zur Ehre hatte er das geliebte Geschöpf von sich entfernt und sich mit Angelika verbunden. Aus Achtung vor seiner Ehe und um Angelika seinen guten Willen zu beweisen, hatte er darauf verzichtet, Paulinen's Sohn unter seinen Augen aufwachsen zu lassen – und beide, Pauline und ihren Sohn, hatte der Tod ereilt, beide hatte er Angelika geopfert, der Frau geopfert, die ihn für einen Mann vergessen können, dem er großmüthig und vertrauend, wie er Angelika vertraut, sein Haus geöffnet. Großmuth und das Gefühl der Standesehre hatten ihn bewogen, die Herzogin und den Marquis gastlich bei sich aufzunehmen. Sein eigenes Ehrgefühl hatte ihn veranlaßt, sich auf das Ehrgefühl des Marquis zu verlassen, und wie hatte dieser ihm die Rücksicht für die Herzogin, wie hatte er ihm das Zutrauen gedankt, das er ihm bewiesen! – Großmuth war es gewesen, die ihn zu dem Bau der Kirche getrieben, als er Angelika nach einer äußeren Befriedigung ihres religiösen Sinnes trachten sehen, deren er für sein Theil nicht bedurfte; und all diese hohen Empfindungen, all sein edles Wollen hatten ihm keine beglückende Frucht getragen, hatten ihm die Liebe der Menschen nicht zugewendet, ja, waren von ihnen kaum erkannt geschweige denn gewürdigt worden. Sogar sein ältester Lebensgenosse, der Caplan, ward ihm nicht mehr gerecht, hielt nicht mehr zu ihm, wie er es erwarten durfte, und auch [81] die Herzogin hatte es nicht ganz begriffen, daß ein Mann wie er mit seinem Glauben, mit seinem Vertrauen und mit seiner Neigung nicht unterhandeln, daß er keine Gemeinschaft mehr mit seiner Gattin haben könne, wenn deren Hingabe für ihn nicht mehr eine volle und unbedingte war. Auch die Herzogin verstand ihn nicht vollkommen, nicht wie er's bedurfte. Er stand allein, ganz allein in seiner Umgebung, unter seinen Standesgenossen, weil ihnen allen der rechte Sinn des Adels verloren gegangen war. Aber das Bewußtsein dieser Einsamkeit warf ihn nicht nieder, sondern hob ihn in seinen Augen über die Andern hoch empor; denn »fortis in adversis«, »Muth in Widerwärtigkeiten« war der Wahlspruch seines Hauses! Mochte die Gunst des Lebens sich von ihm wenden und das Glück sich ihm entziehen, – den stolzen Herzschlag seines edeln Blutes, den frei über die Reihen der niedrig geborenen Menschen sich aufschwingenden Sinn seines alten adeligen Geschlechtes, den konnte ihm nichts rauben; und diese Vorzüge immer und gegen Jedermann mit Entschiedenheit geltend zu machen, das däuchte ihm in diesen Zeiten und in seiner besonderen Lage seine ideale Aufgabe, die wahre Aufgabe des Edelmannes zu sein.

Madame Flies jedoch, die in ihrer schlichten Güte wenig Ahnung von solchen idealen Lebensaufgaben hatte, weil sie sich immer an das Nächste und an das Natürliche hielt, sah es mit Erstaunen, wie ruhig und sicher der Freiherr einherschritt, wie das Verschwinden des Knaben, wie die Krankheit seiner Gemahlin, wie selbst die Verwicklung seiner Vermögensverhältnisse und alle jene Sorgen, von denen eine einzige zu tragen ihr schwer gefallen sein würde, ihn gar nicht anzufechten schienen. Sie wußte nicht, sollte sie ihn bewundern und loben, oder ihn verabscheuen und tadeln, aber sie konnte sich, wenn sie den Freiherrn am Krankenbette der Baronin sah, es wohl erklären, warum dieselbe seufzte, sobald er sie verließ, warum sie ihr und vor [82] Allem ihrer Seba so freundlich die weiße, schmale Hand entgegen reichte, so oft sie sich ihr nahten.

Die Kranke hatte nach dem Caplan verlangt und der Freiherr sogleich eine Staffette zu ihm gesendet; indeß es mußten Tage um Tage vergehen, ehe man auf sein Eintreffen rechnen durfte, und der Arzt sah, da er jede Aufregung für die Baronin scheute, die nothwendig verzögerte Ankunft des Geistlichen nicht ungern. Angelika hingegen fragte an jedem Morgen, ob der Caplan noch nicht angekommen sei, schien aber sonst kaum ein Bedürfniß nach Mittheilung zu haben. Sie lag meist still und in sich gekehrt mit gefalteten Händen da und verlangte wenig, wenn sie im Laufe des Tages ihren Sohn einmal gesehen hatte, dem sie mit ernster Zärtlichkeit begegnete. Seba, die ihr unverkennbar die liebste Pflegerin war, verließ sie selten. Einstmals, als sie wieder an ihrem Bette weilte und das Sonnenlicht sie wieder so hell wie an dem ersten Krankheitstage Angelika's umfloß, blieb diese lange in ihrem Anschauen versunken, dann reichte sie ihr die Hand und sagte: So wie in diesem Augenblicke hatte ich Sie in Ihrem weißen Kleide vor mir, als ich, aus dem ersten träumerischen Schlummer erwachend, den ich unter Ihrer Hut genossen, Sie für meinen Schutzgeist hielt! Sie blickten so liebevoll, so traurig auf mich nieder! Sie sind gewiß sehr gut! Und daß man Ihnen ansieht, wie sanft, wie glücklich Ihr Lebensweg gewesen und wie Sie reinen Herzens sind, das macht mir Ihre liebe Nähe so erquicklich!

Es fuhr wie ein Messerschnitt durch Seba's Brust. Alles Blut entwich aus ihren Wangen, ihre Lippen zuckten, und mit dem Ausrufe: Und das sagen Sie, eben Sie! sank sie vor dem Lager der Baronin auf die Kniee, das Gesicht in ihren Händen bergend. Aber in dem nämlichen Augenblicke kam ihr auch der Gedanke, daß sie Angelika erschreckt habe, daß sie sie nicht beunruhigen dürfe, und gewaltsam die Herrschaft über sich gewinnend, [83] richtete sie sich empor. Ihre Wangen waren noch bleich, indeß ihr Mund konnte wieder lächeln, und Angelika's Hände sanft in die ihren schließend, sprach sie freundlich: Wie mich das freut, daß meine Dienste Ihnen angenehm und meine Nähe Ihnen lieb ist! Nur danken, nur loben müssen Sie mich nicht, ich verdiene das nicht!

Wer eine Wunde in seinem Innern zu verbergen hat, wird feinfühlig für fremden Schmerz. Angelika hörte, daß in Seba's Worten mehr als jene höfliche Ablehnung eines Dankes verborgen war, mit der die gesellschaftliche Sitte sich ihr Dankescapital auf Zinsen legen läßt; darum wagte sie keine Frage zu thun, aber die Frage, was ihrer sanften Pflegerin begegnet sein, was sie erfahren und erlitten haben könne, beschäftigte sie fort und fort. Sie wünschte von ihr zu hören, sie wünschte zu wissen, ob ihre Theilnahme für Seba Werth besitzen könne, und sie hatte, als ihre Kräfte sich wieder hoben, keine große Mühe, Madame Flies von ihrem einzigen Kinde, von ihrer Seba sprechen zu machen.

Mit größter Genugthuung erzählte dieselbe der Baronin wie jedem Anderen von der fröhlichen Kindheit, von der ersten, blühenden Jugend ihrer Tochter, von den zahlreichen Bewerbern, welche sie zurückgewiesen, und wie sie jetzt mit ihren bleicheren Wangen und ihrem ernsten, stillen Blicke, so schön sie sei, doch lange nicht mehr so herrlich aussehe, als vordem.

Aber was hat Ihre Tochter denn so verändert? War sie krank oder was ist ihr geschehen? fragte die Baronin, die, abgesehen von ihrer Theilnahme für Seba, immer mehr von der Fremdheit der Lebensverhältnisse, welche sie umgaben, angezogen wurde.

Madame Flies schöpfte Athem. Also endlich war er doch gekommen, der Augenblick, auf den sie so lange gehofft, auf den sie sich vorbereitet hatte, seit die Baronin in ihrem Hause darniederlag, [84] endlich war er gekommen, endlich war er da! Sie rückte näher an das Bett heran, sah vorsichtig hinter den grünen Schirm, der das Lager der Baronin umgab, schob sich die Kantenhaube zurecht und sagte mit klopfendem Herzen, während sie vertraulich ihre Hand auf den Arm der Kranken legte: Aufrichtig, gnädige Frau Baronin, wissen Sie denn gar nichts von uns? Hat er Ihnen denn gar nicht von ihr gesprochen?

Angelika verstand sie nicht. Was soll ich denn von Ihnen wissen, meine Beste?

Nicht von mir, Gott bewahre, nicht von mir; denn was wir gethan haben, war unsere Schuldigkeit, und wir haben es sehr gern gethan! Nur von meiner Seba meinte ich! bedeutete die Mutter.

Von Seba – wer sollte mir wohl von ihr gesprochen haben? fragte Angelika.

Ich dachte der Herr Graf! – Aber freilich, der Herr Graf sind gerade .... Sie wollte sagen: wie der Herr Baron; indeß sie unterdrückte das Wort, und Angelika fiel ihr mit der Frage: Von welchem Grafen sprechen Sie? auch lebhaft in die Rede.

Madame Flies schwankte einen kurzen Augenblick. Sie wußte, daß sie auf dem Punkte stand, ein Unrecht gegen die Ruhe der ihr anvertrauten Kranken zu begehen, und daß Seba ihr sicherlich nicht danken würde, was sie unternahm; aber die Selbstsucht und die anmaßende Gewaltthätigkeit, von denen die Liebe so vieler Mütter nicht frei ist, trugen es über jede Rücksicht davon, und auf die wiederholte Frage Angelika's, welchen Grafen sie denn meine, antwortete sie schnell, als wolle sie es sich unmöglich machen, sich eines Besseren zu besinnen: Wen denn anders, als den Herrn Grafen Berka, den Grafen Gerhard, der im Quartiere bei uns lag!

Die Baronin schwieg. Es war lange her, daß Jemand [85] ihr von ihrem Bruder gesprochen hatte. In der Welt, in welcher sie lebte, wußte Jedermann, daß sie mit ihrer Familie zerfallen war, und man hütete sich, sie daran zu erinnern; aber sie hatte in den bangen Stunden, in welchen sie zu sterben geglaubt, sich lebhaft nach ihrem Vater und nach ihrer Mutter gesehnt, und hier in diesem Hause, in dem sie, fremd unter Fremden, einer Liebe theilhaftig wurde, welche sie an ihr Vaterhaus gemahnte, hier plötzlich von ihrem Bruder reden zu hören, kam ihr wie ein Gruß aus fernen Tagen, wie ein Gruß der Ihrigen vor.

Sie kennen meinen Bruder? fragte sie endlich.

Ob ich ihn kenne! rief Madame Flies, und erging sich in einer Schilderung des Grafen, in einer weitläufigen Erzählung der kleinen Erlebnisse, die man hier im Hause zur Zeit seines Aufenthaltes mit ihm gehabt, um dabei der Bewunderung gedenken zu können, welche er ihrer Tochter gezollt, und es mit lebhaftem Kopfschütteln völlig unbegreiflich zu finden, daß er ihres Hauses und ihrer Seba niemals gegen die Schwester Erwähnung gethan habe.

Angelika schwankte unentschlossen. Jene Schamhaftigkeit der Seele, welche die zuverlässigste Bewahrerin und Schutzwehr wirklicher Würde ist, machte sie davor zurückschrecken, einer Frau, welcher eben diese Eigenschaft fehlte, ein Vertrauen zu beweisen, das bei ihr sicherlich nicht wohl aufgehoben war; aber sie mochte auch den Bruder nicht gegen die Menschen undankbar erscheinen lassen, denen sie sich selbst zu so großem Danke verpflichtet fühlte, und die Rücksicht auf Andere trug es bei ihr über ihr eigenes Empfinden fort. Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht gesehen! sagte sie nach langem Zögern leise und begütigend.

Indeß sie hatte selbst diese Aeußerung zu bereuen; denn nun der Damm der strengen Zurückhaltung einmal durchbrochen war, überstürzte Madame Flies die Kranke mit den Fragen [86] ihres beschränkten Erstaunens, ihrer scharfsichtigen Neugier, und wie man sich von der harmlosen und doch quälenden Zudringlichkeit eines Kindes, nur um der Beunruhigung zu entgehen, oftmals mehr entlocken läßt, als man ihm irgend zuzugestehen dachte, so fand Angelika, als Madame Flies sich zurückzog, daß sie, solcher anmaßenden Herzlichkeit in ihrer Umgebung nicht gewohnt, der Fragenden mehr, weit mehr anvertraut, als sie irgend beabsichtigt hatte. Aber auch sie meinte erfahren zu haben, was ihr bisher nicht deutlich gewesen war. Sie meinte jetzt zu wissen, weßhalb Seba sich nicht verheirathet hatte, weßhalb ihre dunkeln Augen oft so traurig und forschend auf ihr ruhten, ja, weßhalb ihre Zärtlichkeit sie so warm umfing; und Seba wurde ihr nur werther, seit die Baronin sich sagen konnte: auch sie liebte hoffnungslos, auch ihr traten die Schranken entgegen, welche die Stände von einander halten, auch sie hat es gekannt, das hoffende Verlangen und das traurige Entsagen, und sie ist besser als Du, denn keine Pflicht verbot ihr, frei über ihre Liebe zu verfügen, und kein Eid stand zwischen ihr und ihres Herzens freier Wahl!

In dem einsamen Sinnen des Tages, in dem schlaflosen Brüten der Nächte hatte Angelika eine Einkehr in sich selbst gehalten, sich Bekenntnisse gemacht, wie man sie nie vor einem Andern, wie man sie nur dem eigenen Gewissen abzulegen vermag; denn es gibt ein Innerstes in dem Seelenleben fast eines jeden Menschen, das er nicht Preis geben kann, ohne das geheime Band zu zerreißen, welches die Elemente seines Wesens zusammenhält, ohne sich des freien Willens zu entäußern, der ihn zu einem selbstständigen Menschen, eben zu dem Menschen macht, als welcher er sich von der Masse seiner Mitmenschen unterscheidet. Jedes Bekenntniß, welches der Mensch vor einem andern Menschen ablegt, ist daher immer ein bedingtes. Die Persönlichkeit, die Meinung, der Glaube dessen, vor dem wir [87] sprechen, wirken auf uns zurück, und hüllenlos, schrankenlos wahr vermag der Mensch nur gegen sich selbst zu sein, wenn Geständniß und Urtheil, aus gleicher Quelle entspringend, in Eins zusammenfallen.

So lange sie sich in der Nähe und unter der geistigen Obhut des Caplans befunden, hatten sein religiöser Sinn und sein fester Glaube sie vor jedem Schwanken bewahrt. Sie hatte selbst die Sehnsucht nach dem ihr versagten Glücke eine Sünde in ihrer Brust gescholten. Das Beispiel des Caplans hatte sie zur Entsagung ermahnt, und wie der Freiherr es auf seine Weise that, hatte auch sie danach gestrebt, sich mit dem Gedanken an ihre bevorzugte Lebensstellung, mit der Erinnerung an ihren Rang und an ihre Geburt zu trösten und von dem Schicksale damit abgefunden zu glauben.

Aber die Gedanken und Anschauungen des Menschen gehören ihm nur an, wie die Frucht dem Samenkorn angehört. Sie werden in ihrer mehr oder weniger schnellen Entwickelung, wie in der Art ihrer Entfaltung durch die äußeren Umstände bedingt, und seit Angelika nicht mehr im Schlosse weilte, seit sie nicht mehr ausschließlich von ihren Standesgenossen umringt, nicht mehr von der Unterwürfigkeit ihrer Dienerschaft umgeben ward, fing die Welt an, ihr verwandelt zu dünken, weil der Blick sich änderte, mit dem sie in ihr Inneres und in das Leben schaute.

Von dem Tage ab, an welchem sie des Freiherrn Gattin geworden war, hatte die Ruhe sie geflohen. Schwere Enttäuschungen, Sorge um seinen Gemüthszustand, Gewissenszweifel, religiöse Kämpfe und Familienzerwürfnisse hatten ihre Seele nicht zum Frieden gelangen lassen, ehe die Herzogin ein Gast des freiherrlichen Hauses geworden war, und seit dem Erscheinen dieser Frau war Angelika nicht nur sich selber, sondern war ihr auch der Mann verloren gegangen, dessen Namen sie trug [88] und dem sie sich für gute und für böse Tage unauflöslich verbunden hatte.

Jetzt, da sie nicht mehr täglich auf die Unternehmungen und auf die Handlungsweise der Herzogin zu achten hatte, da die Anforderungen augenblicklicher Nothwehr sie nicht mehr in Beschlag nahmen und sie mit nachdenkender Prüfung auf die vergangenen Jahre zurückblicken konnte, wurden ihre Erlebnisse ihr klar und räthselhaft, deutlich und fast unbegreiflich zu gleicher Zeit. Sie konnte sich die Liebe nicht wegläugnen, welche sie für Herbert hegte, aber sie vermochte sich es jetzt völlig darzulegen, mit welcher berechneten Arglist die Herzogin sie dahin gebracht hatte, sich eine Neigung für den jungen Architekten zuzutrauen, und wie schlau und geflissentlich sie dieselbe in ihr zu nähren, ja, selbst durch ihr Abmahnen anzufeuern verstanden habe. Sie erinnerte sich, mit welchem Erschrecken es sie erfüllt, als die Herzogin ihr zuerst die Möglichkeit einer Liebe für Herbert vor das Auge geführt; sie durfte sich sagen, daß sie redlich dagegen angekämpft habe, und wenn sie daneben auf die Verwicklungen, auf das Unglück blickte, das über sie gekommen war, das ihrem ganzen Hause drohte, so vermochte sie sich nicht, wie der Freiherr, fest auf sich selbst zurückzuziehen, sondern sie fragte sich: Warum ward mir dieses Schicksal? Warum legte Gott mir Prüfungen auf, die zu bestehen er mich zu schwach gemacht hat? Grade jetzt, wo sie des festen, gottvertrauenden Glaubens nöthiger als jemals hatte, versagte er sich ihr, und ihr Verlangen nach der beruhigenden Nähe des Caplans steigerte sich an ihrem Trostbedürfnisse, obschon sie eben in ihrem gegenwärtigen Leiden die Führung und Fügung einer höheren, sie erziehenden und aufklärenden Macht zu erkennen geneigt war.

Krank und im höchsten Grade hülfsbedürftig, hatte sie sich in einem bürgerlichen Hause auf die Pflege einer ihr fremden Familie angewiesen gefunden. Keine Verwandtschaft, keine gemeinsame [89] Erinnerung, keine Gleichheit der Gesinnungen, nicht einmal der religiöse Glaube verband sie diesen Menschen. Man hatte die Baronin von Jugend auf gelehrt, die Bürgerlichen gering zu schätzen, die Juden zu verachten; ihre Wirthe, ihre Pflegerinnen, die das wußten, ließen sie es nicht entgelten, sondern umgaben sie mit einer Liebe, die ihr das Herz erwärmte und es ihr darthat, was der Mensch dem Menschen über alle Verschiedenheit des Glaubens, der Meinung und der Bildung hinaus zu sein vermag. Sie hörte es gar nicht mehr, was ihr Anfangs in der Sprache des jüdischen Kaufmanns auffällig gewesen war; sie merkte die Verstöße gegen die gute Form nicht mehr, welche Madame Flies sich in ihrem Eifer häufig zu Schulden kommen ließ. Sie sah nur das uneigennützige Wohlwollen, mit welchem man sie bediente, nur den Eifer, mit dem man ihre Wünsche zu errathen strebte; sie fühlte nur die Güte, von der sie in jedem Augenblicke umgeben ward, und oftmals meinte sie sich ihrer allmählichen Genesung nur darum zu erfreuen, weil ihre Pflegerinnen sich über dieselbe so glücklich bezeigten. Sie vergaß es fast, daß sie vornehm sei, so heimisch ward es ihr unter der Obhut ihrer Wirthe. Nur der Dank der Kranken, der jungen Frau gegen die ältere, mütterliche Pflegerin war in ihr lebendig, wenn Madame Flies sich neben ihr bemühte, und die Baronin hatte es bald genug erlernt, wie die Stunde der Noth die Schranken niederwirft, welche die Stände von einander halten; sie lernte es in ihrer Hinfälligkeit, wie erhebend es sei, bei seinen Mitmenschen freiwilliger Hingebung und reiner, erbarmender Menschenliebe zu begegnen.

Noch an dem Tage ihres Erkrankens hatte die Aussicht, daß die Familie Flies künftig das Haus von Fräulein Esther, das von Arten'sche Haus in der Residenz bewohnen werde, die Baronin in allen ihren Ansichten gekränkt; jetzt konnte sie mit [90] völliger Ruhe daran denken. Denn obschon ihr Befinden sich besserte, sagte ihr eine bestimmte und unabweisliche Ahnung, daß ihr Lebensziel ihr nicht allzu fern gesteckt sei, und vor dem Glauben an die eigene Vergänglichkeit verlor die Vorstellung von der Vergänglichkeit und Wandelbarkeit alles Bestehenden immer mehr ihre Schrecken für sie, bis sie ihr als eine Nothwendigkeit, ja, fast als eine Wohlthat zu dünken begannen. Wie den Freiherrn der Gedanke an die Wandelbarkeit und Vergänglichkeit aller Dinge zur stolzen Aufrechterhaltung seines Ichs und seiner persönlichen Bedeutung anreizte, so machte die gleiche Erkenntniß seine Gattin mild und weich, denn das Gleiche wirkt verschieden, je nach dem Boden, auf den es fällt, je nach den Elementen, mit denen es sich vermischt.

Muß ich doch meinen eigenen Leib, meines Geistes Haus, in Staub zerfallen lassen, sagte sich Angelika, wie dürfte mich's betrüben, daß ein Haus von Stein und Mörtel nicht auf ewige Zeiten hinaus denjenigen zu eigen bleibt, deren Väter es errichteten! Renatus hat seinen eigenen Leib und seinen eigenen Geist von Gott empfangen, mag er sich auch, gleich seinen Ahnen, sein eigenes Haus erbauen, und wie Gerhard und ich hier in diesem fremden Hause weilten und von seinen Bewohnern Gutes erfuhren, Liebe gewannen, so mag die schöne Seba in Gottes Namen in dem Hause leben, das wir unser eigen nannten und das ich einst bewohnte; nur – fügte sie seufzend hinzu – möge sie dort glücklicher werden, als ich!

[91]
8. Capitel
Achtes Capitel

Sie haben sich lange erwarten lassen, sagte der Freiherr, als an einem Abende der Caplan bei ihm eintrat, und fast wäre Ihre Gegenwart hier nicht mehr gefordert, denn ich kann Sie mit der erfreulichen Kunde empfangen, daß die Baronin ihrer Genesung entgegengeht. Wir sind also hoffentlich zum Längsten hier gewesen und werden die Schwüle der Stadt bald mit unserer frischen Luft vertauschen können, nach der auch unsere Kranke zu verlangen anfängt. Aber was bringen Sie uns, lieber Freund, der Sie von Hause kommen?

Zuerst meine Entschuldigung wegen meines späten Eintreffens.

Lassen Sie das, lassen Sie das! Unser ruhiges Leben hat Ihnen die Gewohnheit schnellen Aufbrechens genommen, ich kenne das, und im Grunde war das niemals Ihre Sache! rief der Freiherr, anscheinend in der besten Stimmung. Ich hoffe nur, daß nicht ein Unwohlsein Sie zurückgehalten hat!

Nur wirkliche Krankheit hätte mich hindern können, dem Rufe der Frau Baronin und meiner Pflicht zu folgen! sagte der Geistliche mit einer ernsten Zurückhaltung, die den Freiherrn zu der Frage veranlaßte: Sie hatten also andere Gründe, die Sie zum Verweilen zwangen?

Ja, Herr Baron, und sie waren nicht so erfreulich, als die angenehme Kunde, mit der ich hier empfangen werde! Da aber in allem Unglück sich immer noch etwas findet, was man [92] zu segnen hat, so möchte ich's ein Glück nennen, daß die Frau Baronin und die Frau Herzogin eben jetzt von Hause fern gewesen sind!

Der Freiherr sah den Geistlichen fest an und sagte: Sie lassen mich sehr langsam erfahren, was Sie mir zu sagen haben; es ist also sicher etwas recht Verdrießliches geschehen!

Leider mehr, als das! sprach der Caplan. Am Mittwoch vor Pfingsten langte der Wagen in Richten an, den man zum Abholen des Standbildes nach der Stadt gesandt hatte, und der Verabredung gemäß wurde es gleich nach Rothenfeld gebracht, um dort vor der Kirche abgeladen und ausgepackt zu werden. Da die Vorbereitungen für die Aufstellung im Voraus getroffen waren, gab der Bauführer denn auch die Weisung, mit der Errichtung der Gruppe sofort zu beginnen.

Und durch die Ungeschicklichkeit unserer Arbeiter ist sie beschädigt worden! rief der Freiherr.

Nein, Herr Baron! Der Bildhauer selbst hat sie, wie er übernommen, herausgebracht und auch die Auspackung besorgt.

Und die Arbeit, wie ist sie ausgefallen? unterbrach der Freiherr den Geistlichen noch einmal.

Es war eine lobenswerthe Arbeit; die Gestalt des Christus recht edel, der Kopf voll Ausdruck, und auch die Figur der büßenden Magdalena nahm sich schön und charakteristisch aus.

Sie sagen: es war eine schöne Arbeit, die Figur nahm sich gut aus – was soll das heißen? fragte der Freiherr.

Das Standbild ist zerstört! berichtete der Geistliche, und sein Ton und seine Miene verriethen die Empfindung, welcher er das Wort nicht gab.

Zerstört? Und wie, durch wen? rief der Freiherr lebhaft.

Durch geflissentlich erregten Glaubenshaß! antwortete der Caplan mit jener Selbstbeherrschung, welche ihm zur Natur geworden war.

[93] Den Freiherrn jedoch verließ in diesem Falle seine Fassung, und mit dem Fuße stampfend, rief er heftig: Unerhört! Das ist ganz unerhört! Sind denn jetzt alle Teufel los? – Aber er bereute diese Aufwallung eben so schnell, und sich niedersetzend, während er auch dem Geistlichen einen Sessel anwies, sprach er: Man sollte sich eigentlich in diesen Zeiten über nichts mehr wundern und auf jede Art von Ausschreitungen vorbereitet sein; dennoch überrascht uns, wenn uns widerfährt, was wir Andere in gleicher Weise erleben sahen. Verzeihen Sie meine Aufwallung und fahren Sie fort. Halten Sie mir nichts zurück, mein Freund, ich bin jetzt vollkommen vorbereitet.

Am Mittwoch, fuhr der Caplan fort, war, wie gesagt, die Gruppe angekommen, Samstags, als die Feierstunde nahte, hatte man die Arbeit des Aufstellens beendet; ich fuhr also nach Rothenfeld, das Geleistete zu betrachten. Die Gruppe gereichte dem ganzen Baue zur Zierde; man konnte in jeder Weise seine Freude daran haben. Man hatte keine Schwierigkeiten, keine Störungen irgend welcher Art bei der Aufrichtung gehabt. Die Arbeiter, welche niemals ein Kunstwerk gesehen, hatten es angestaunt; nun standen die Kinder draußen an dem Gitter und betrachteten es neugierig. Des Försters Sohn, ein aufgeweckter Knabe, fragte mich, ob das die Mutter Maria sei, die an dem Kreuze kniee. Als ich ihm Bescheid gab, ging der Candidat vorüber. Er war, wie immer, zum Pfingstbesuch zu seinen Eltern nach Neudorf gekommen, aber er hatte sich, was er doch sonst zu thun pflegte, bei mir nicht sehen lassen.

Der Bursche war mir stets zuwider, bemerkte der Freiherr, den Erzähler unterbrechend, und er weiß es, daß seine ehrgeizige Scheinheiligkeit, wie man diese Richtung von oben her jetzt auch beschützt, bei mir ihre Wirkung verfehlt!

Um so größer und unheilvoller war aber die Wirkung, welche er auf die Gemeinde übte, berichtete der Geistliche, der [94] sich geflissentlich jedes Urtheils ent hielt und sich nur auf die Mittheilung der Thatsachen beschränkte. In der Absicht, die Leute an ihn zu gewöhnen, hatte der Pfarrer seinen Sohn, wie seit Jahren, auch jetzt wieder am zweiten Feiertage für sich die Predigt halten lassen, und der Candidat mochte die Abwesenheit der Herrschaften für den geeigneten Zeitpunkt angesehen haben, in welchem er seinem Zorne gegen unsere Kirche einmal Luft machen und bei seinen Vorgesetzten sich damit eine geneigte Anerkennung verdienen könne. Die Aufstellung des Standbildes, meine zufällige Unterredung mit dem Knaben, deren Zeuge der Candidat eben so zufällig geworden war, boten ihm dazu den erwünschtesten Stoff und Anlaß, und er hat sich denn in den heftigsten Ausdrücken, in jenen landläufigen Redensarten gegen den Baalsdienst, gegen die Götzenanbetung, gegen die heimliche Verführung zu derselben und gegen unsere Kirche überhaupt, so lange gehen lassen, bis er es der Gemeinde endlich förmlich an das Herz gelegt, sich über die Gewalt zu beschweren, die man ihr mit dem Baue der Kirche angethan habe, und die Errichtung von Götzenbildern in dem Lande der reinen Lehre nicht zu dulden.

Die Frechheit kennt nicht Maß, nicht Ziel! rief der Freiherr, sich von seinem Sessel erhebend. Und die Leute, wie verhielten sie sich? Was thaten sie?

Es traf sich übel, daß ihrer Aufregung eine Gelegenheit, sich zu bekunden, dargeboten wurde. Mißgestimmt waren sie seit langer Zeit, und die Menge liebt es ja, Alles, worunter sie zu leiden hat oder wovon sie sich beeinträchtigt glaubt, auf eine und dieselbe Ursache und Quelle zurückzuführen. Als die Leute von Neudorf aus der Kirche nach Rothenfeld zurückkehrten, machten die Kammerjungfer der Frau Herzogin und der Koch eben ihren Feiertags-Spaziergang. Aus ihrer Heimath des Anblicks gewohnt, den das Standbild ihnen darbot, warfen ihr [95] religiöses Gefühl und ihre Rührung bei dem Gedanken an das verlassene, unglückliche Vaterland sie betend zu den Füßen des Heilandes nieder. – Sie knieend im Gebet erblicken, an ihrer Andacht Aergerniß nehmen und diesem Aerger Ausdruck geben, war bei den vorübergehenden Leuten Eines. Wir wollen unseren Sabbath nicht durch Götzendiener schänden lassen! rief eine Stimme, und als hätte es nur dieses Anstoßes bedurft, so erhob sich von allen Seiten der Ruf: Nieder mit dem Götzenbilde! Nieder mit den Götzendienern! Jagt das fremde Pack zum Lande hinaus!

Weiter, weiter! drängte der Freiherr.

Im Begriffe, mich hieher zu Ihnen zu begeben, kam ich mit meinem Wagen durch Rothenfeld. Schon beim Einfahren in das Dorf sah ich, daß etwas Ungewöhnliches vor sich gehen müsse, und das wüste Durcheinander lärmender Stimmen zeigte mir den Weg. – Der Caplan hielt einen Augenblick inne, dann sagte er: Erlassen Sie es mir, Ihnen die Scene zu schildern, die ich auf dem Kirchhofe erleben mußte. Die Leute kannten sich nicht in ihrer Aufregung. Alt und Jung, Männer und Weiber waren über die beiden Unglücklichen hergefallen. Man machte ihnen die Flucht unmöglich, man steinigte sie buchstäblich, während die kräftigsten unter den Männern das Standbild zu Boden rissen und mit Aexten darauf einhieben. Das Flehen, der Angstschrei der beiden Gemarterten übertönten das Geschrei und Toben der Wüthenden.

Aber war denn Niemand da, der Einhalt that? fragte der Freiherr, athemlos vor zorniger Erregung. Wo war der Pfarrer? Wo war Steinert? Wo war der Justitiarius? Und Sie selbst, Caplan ....

Sie vergessen, Herr Baron, daß der unselige Vorfall sich nicht in Neudorf, sondern in Rothenfeld ereignete, daß der Pfarrer also nichts davon erfuhr, bis Alles vorüber war – [96] und es wird ihm dies sicherlich das Erwünschteste gewesen sein. Steinert war über Land gefahren, und der Justitiarius, der sich unter den Besuchern der Kirche befunden hatte und gleich herzukam, hatte, wie ich, vollauf zu thun, die beiden Verwundeten ....

Verwundet – die Unglücklichen sind verwundet? Aber doch nicht ernstlich, es hat doch mit ihnen keine Gefahr, Caplan?

Der Caplan zuckte die Schultern. Die Verwundung des Kochs war unbedeutend, er ist völlig davon hergestellt. Mademoiselle Lise aber, die ein Steinwurf an die Schläfe traf – ist todt!

Der Geistliche hielt inne; der Freiherr schloß unwillkürlich die Augen. Er sprach kein Wort. Die Hände auf dem Rücken ging er mit schwerem Schritte im Zimmer auf und nieder. Ein Mord, sagte er endlich tonlos, ein Mord an einem schwachen, wehrlosen Weibe – entsetzlich! – Und die Herzogin – wie wird sie es vernehmen? – Und wieder fing er an umherzuschreiten.

Nach einer Weile hob der Caplan noch einmal an: Auch mich hatte ein Stein am Hinterkopfe verletzt ....

Sie, Sie, mein Freund? rief der Freiherr, in der Sorge um den altbewährten Lebensgenossen alles Andere vergessend und an den Geistlichen herantretend, dessen Hände er in lebhafter Bewegung ergriff. Darum also fiel mir Ihr übles Aussehen auf; aber freilich solch einen Anlaß, solch einen Grund war ich mir nicht vermuthend. Und jetzt, wie fühlen Sie sich jetzt?

Denken Sie nicht an mich, sprach der Caplan, die Wunde war nicht schwer, und – fügte er mit seiner sanften Stimme begütigend hinzu – der sie mir schlug, des Hirten armer, schwachsinniger Bube, wußte in Wahrheit kaum, was er gethan hatte.

Der Freiherr athmete schwer auf, drückte dem Geistlichen [97] tief ergriffen die Hand und wandte sich ab. Es widerstand ihm, seine Erschütterung zu zeigen. Er trat an das Fenster, das auf den Markt hinaussah, aber er gewahrte nichts von dem, was draußen vor seinen Augen vorging. Er war einzig mit dem so eben Gehörten beschäftigt, ganz in seine Gedanken versunken. So verging eine geraume Zeit. Beide Männer hielten vor einander zurück, was doch ausgesprochen werden mußte, und beiden ward das Schweigen drückender, je länger es sich fortsetzte.

Endlich raffte der Freiherr sich zusammen. Lassen Sie uns zu Ende kommen! sagte er finster und gepreßt. Wie verlief die Sache, und wie verließen Sie die Dinge?

Es war, als ob der Unfall, den ich erlitten hatte, sie zur Besinnung brächte. Ein paar Frauen in meiner Nähe riefen meinen Namen, sprangen mir bei, versuchten mich zu schützen. Ich redete ihnen zu, verlangte ihre Hülfe für die Unglückliche, der Anblick der Sterbenden erschreckte die Sinnlosen und brachte einen Stillstand in ihre wilde Aufregung. Diesen benutzte der Justitiarius. Er nannte sie Verbrecher und verlangte die Auslieferung des Mörders. Sie hatten nicht daran gedacht, daß sie ein Verbrechen begangen, daß sie einen Mord verübt hatten; sie schwankten, ob sie dieses Bewußtsein durch neue Unthat in sich übertäuben, ob sie sich durch neue Wildheit über ihr Erschrecken forthelfen oder sich aus Furcht zerstreuen sollten.

Da haben Sie das Volk, rief der Freiherr mit bitterem Hohne, da haben Sie das Volk, dessen Menschenrechte man anerkennen, dem man Freiheit und Gleichheit zugestehen, dem man Antheil an der Regierung des Landes zuerkennen soll! Rohe, wilde Bestien, nur durch Zwang zu bändigen, durch Strenge und Gewalt in den Schranken der Menschlichkeit zu erhalten! – Das sind die Freiheitshelden, die jenseit des Rheines ihr Wesen getrieben haben – Kirchenschänder und Mörder! Aber so wahr Gott lebt, ich denke es ihnen gründlich zu verleiden!

[98] Ja, sagte der Caplan, sie bedürfen der Zucht, sie können der Führung, der Leitung nicht entbehren und werden dies jemals schwerlich können. Aber soll das Messer für die That einstehen, die man mit ihm verübt? Soll die bildungslose Masse dafür einstehen, daß man also die freie Gleichberechtigung der Culte ausübt? Soll ein armer, irregeleiteter Bauernbursche es entgelten, wenn man von den Kanzeln des Landes unsere heilige Kirche schmähen darf? Soll es ihm hingehen, dem unreifen jungen Manne, dem lutherischen Candidaten, daß er sich auflehnte gegen das Gesetz seines Landes, gegen den Willen seines Königs, der unsere Gewissensfreiheit und unsere freie Religionsübung so gut wie die der Andersglaubenden zu schützen hat? Wollen Sie es dulden, daß dieser freche anmaßende Mensch Ihren Entschließungen, Ihrem freien Willen auf der Kanzel Ihrer eigenen Kirche entgegentritt? daß er Ihre Leute zur Beurtheilung Ihrer Handlungen aufreizt, daß er sie zu Ihren Richtern macht? – Ich für meinen Theil habe gleich gethan, was meines Amtes war. Ich habe noch an demselben Tage dem Fürstbischof einen Bericht der Vorgänge eingesandt. Ich habe ihn aufgefordert, bei der Regierung Beschwerde über den Angriff zu führen, der durch den Candidaten gegen unsere freie Religionsübung vollführt ist, und es müßte keine Gerechtigkeit im Lande mehr zu finden sein, wenn uns unser Recht, und dem Gotthard nicht das seinige werden sollte.

Es war selten, daß der Caplan sich also lebhaft äußerte, und dem Freiherrn fiel es daher auf. Er hatte in dem ruhigen Laufe der Zeiten es fast vergessen, daß sein alter Lebensgenosse noch etwas Anderes als nur sein Hausgeistlicher, daß er ein Mitglied jenes großen Clerus, jenes wundervollen Organismus sei, dessen Mitglieder, aus allen Schichten des Volkes hervorgehend, über die ganze Welt zerstreut, in sich vereinigt, und losgelöst von allen Banden der Familie, in Einem der Ihrigen [99] gipfeln, der sich die höchste irdische und geistliche Machtvollkommenheit zuerkennt, von welcher ein Theil auch dem geringsten Angehörigen dieses Bundes übertragen wird, so daß ein jeder zur Befestigung und Stärkung des großen Ganzen mitwirkt, während er sich von demselben getragen, gehoben und beschützt weiß. Aber es war dem Freiherrn nicht willkommen, daß der Caplan ihn in diesem Augenblicke an seinen Zusammenhang mit seiner Kirche mahnte, daß er für seinen Theil Maßregeln getroffen und selbstständige Schritte gethan hatte. Er sah dies als einen Uebergriff in seine Rechte an und er war eben jetzt noch weniger als sonst gewillt, seinen Rechten etwas zu vergeben.

Ohne daher auf die Anmahnungen des Caplans weiter einzugehen, sprach er kalt und ernst: Ehe wir daran denken dürfen, die Freiheit unseres Cultus zu vertreten, scheint es mir nothwendig, daß den Verbrechern ihre Strafe, daß Justiz geübt werde, wo gegen das Gesetz gefrevelt ward. – Was hat der Justitiarius gethan?

Der Caplan, der sich zurückgewiesen sah und dies für sich und mehr noch für die heilige Sache, der er diente, schwer empfand, ließ den Freiherrn seine Antwort eine kleine Zeit erwarten. Dann sagte er: Bei dem wüsten Angriffe, den man auf unsere unglücklichen Glaubensgenossen richtete, bei der Plötzlichkeit und Wildheit, mit der Alle zugleich über die Beklagenswerthen herfielen, war es nicht zu sagen, wer die That verübt. Jeder konnte, Niemand wollte der Mörder sein, und noch hatte der Justitiarius nichts entschieden, als Steinert von seinem Ausfluge zurückkam. Mit Einem Blicke übersah er, was geschehen war, mit Einem Satze war er vom Pferde, und rasch den Stephan aus Neudorf bei der Brust fassend, rief er: Wer's gethan hat, das weiß in diesem Augenblicke Gott allein, aber sein Theil Schuld wird dieser hier an all dem Unheil haben, denn ich habe sie oft genug von ihm gehört, die Redensarten [100] gegen den Kirchenbau und gegen die Fremden und die Franzosen. Er wird auch jetzt wieder der Anführer gewesen sein! Führt diesen hier vor allen Dingen weg, und dann wollen wir weiter sehen; das Uebrige wird sich finden!

Und was dann? fragte der Freiherr, dessen Miene sich belebte, da er hörte, daß eine entschlossene Hand über die Aufrührischen gekommen war.

Steinert selbst übergab dann Stephan den beiden Amtsboten; in dem Bestreben, sich zu rechtfertigen, zieh der Verhaftete Andere der Schuld, und auch diese hat man festgenommen; es sitzen ihrer acht. Murrend und drohend gingen die Männer, weinend und schreiend gingen die Weiber aus einander. Steinert eilte nach Neudorf in die Pfarre. Ich war nicht im Stande, meine Reise an dem Nachmittage fortzusetzen, und hätte ich es vermocht, so wäre es doch nicht zulässig gewesen. Ich mußte bleiben, um die Stelle zu weihen, wo die Erschlagene ruhen sollte, und um sie zu bestatten, und in Beidem habe ich keine Störungen erlitten. Ich habe ihr Grab in der Nähe des zertrümmerten Standbildes graben lassen, damit die Leute es auf ihrem täglichen Wege vor den Augen haben.

Der Caplan schwieg, der Freiherr hatte sich niedergelassen und den Kopf auf die Hand gestützt. Er schauderte zusammen, aber er sagte nicht, was ihn bewegte, bis er sich plötzlich mit dem Ausrufe: Gleich morgen muß ich hin, gleich morgen! von seinem Sessel erhob.

Um Ihre Rückkehr zu bitten, hatten sowohl Steinert als der Justitiarius mir auch aufgetragen! meldete der Caplan, indem er gleichfalls aufstand.

Und weshalb das? fragte der Freiherr.

Um zu begnadigen, wo jene nur Gerechtigkeit zu üben hätten!

Der Freiherr blieb vor ihm stehen. Und Sie würden[101] mir rathen, dem Gesetze vorzugreifen? Sie würden der Meinung sein, daß ich durch schwache Nachgiebigkeit ähnlichen Freveln Thür und Thor öffne?

Ich würde die höchste Strenge für den bewußten Urheber des Frevels fordern und Gnade üben ....

Der Freiherr fuhr auf. Strenge fordern, wo ich nicht zu richten habe, und freveln lassen, wo ich Herr bin? – Nein, Caplan! Ich gehe nach Hause, morgen – aber sie sollen sich meiner Rückkehr nicht zu freuen haben, sie sollen sehen, daß ich der Herr bin!

Der Caplan versuchte, Einspruch zu thun, des Freiherrn Ansicht umzustimmen, aber es gelang ihm nicht.

Ueberzeugung gegen Ueberzeugung! sagte der Freiherr. Sie folgten Ihrem Gewissen, als Sie sich an den Fürstbischof wandten, ich folge dem meinigen, indem ich mich meines Rechtes bediene, mir selber Recht schaffe, und ich muß der verruchten Rotte zeigen, was sie vor meinem Willen und Belieben gilt! Aber vor allen Dingen muß ich die Herzogin sehen! – Und der Thüre zuschreitend, sprach er zu sich selber: Das ist ein schwerer, schwerer Gang!

[102]
9. Capitel
Neuntes Capitel

Der Tod und das gewaltsame Ende ihrer Kammerjungfer erschütterten die Herzogin nicht in dem Grade, in welchem der Freiherr es gefürchtet hatte. Die Revolution mit ihrer Schreckensherrschaft hatte die Menschen ihres Landes hart gewöhnt, und die Herzogin hatte mehr verloren, hatte unter dem Beile der Guillotine zahlreiche Opfer fallen sehen, die einen anderen Anspruch an ihr Herz und an ihr Mitgefühl gehabt, als ihre Dienerin, wie sehr dieselbe ihr auch ergeben und bequem gewesen war. Hätte die Herzogin sich in Richten befunden, hätte sie heute die Dienste von Mademoiselle Lise empfangen und sie morgen entbehren, morgen mühsam einen Ersatz für sie suchen müssen, so würde sie ihren Verlust schmerzlicher bedauert haben und von dem Ereignisse mehr ergriffen worden sein. So aber übte die Entfernung ihre abschwächende Kraft. Die Herzogin hatte daneben die Bemerkung gemacht, daß die junge Kammerjungfer der Baronin eben so brauchbar und weniger launenhaft als die alte Mademoiselle Lise sei, und die Herzogin machte niemals einen unnützen Gefühlsaufwand, wo sie nicht etwas Bestimmtes damit zu erreichen dachte. Sie nannte die Todte ein Opfer ihres frommen Glaubens, eine arme Martyrin, und kaum hatte sie diese Bezeichnung für sie gefunden, als sie dieselbe mit so viel Leichtigkeit handhabte, als wäre es der Eigenname der Erschlagenen gewesen. Sie war mit jedem Ereignisse fertig, sobald sie die Form gefunden hatte, in der sie es betrachten und den [103] Anderen darstellen wollte, und wichtiger als alles Uebrige war ihr jetzt die Frage, ob sie den Freiherrn nach Richten begleiten oder in der Stadt zurückbleiben solle, um erst mit Angelika nach deren erfolgter Herstellung auf das Land zu gehen.

Daß man der Kranken den Vorfall in Richten verbergen müsse, verstand sich von selbst. Indeß für die plötzlich beschlossene Abreise des Freiherrn mußte man ihr doch Gründe angeben, und während man überlegte, was man ihr sagen sollte, ging die Herzogin mit sich selbst zu Rathe. Angelika hatte seit ihrem Erkranken sich weniger als sonst die Mühe genommen, den Anschein eines guten Einvernehmens zwischen sich und ihrem Gaste aufrecht zu erhalten. Die Frauen sahen sich oft in mehreren Tagen nicht; wenn die Herzogin sich entfernte, wurde also in ihrem Verhältnisse zur Baronin nicht eben viel verändert. Sie hatte neben ihr nicht zu gewinnen und nicht zu verlieren, aber dem Freiherrn konnte sie ihre Freundschaft beweisen, wenn sie sich erbot, ihn in einem Augenblicke zu begleiten, in welchem widerwärtige Ereignisse und unangenehme Pflichten ihn in Anspruch nahmen.

Während er es noch mit gewohnter Rücksicht überdachte, wie er in seiner Abwesenheit am besten für das Behagen der Herzogin sorgen könne, hatte diese ihren Entschluß gefaßt, und sanft ihre Hand auf seinen Arm legend, sagte sie: Heute, mein Freund, behandeln Sie mich nicht nach meiner Würde, denn nicht nur in der Ehe, auch in der Freundschaft verbindet man sich für gute und für üble Tage. Sie können nicht glauben, daß ich hier verweilen werde, wo ich Niemandem von Nutzen bin, und daß ich Sie allein nach Richten gehen lasse, wo es mir vielleicht doch hier und da gelingt, Ihnen mit meinem Geplauder über eine verdrießliche Stunde fortzuhelfen, und wo Sie an mir wenigstens eine verständnißvolle Zuhörerin besitzen, wenn Sie sich zu irgend welchen Mittheilungen aufgelegt fühlen. Das muß [104] feststehen unter uns, daß ich Sie jetzt begleite, und ich meine, auch unsere Kranke wird den Caplan ruhiger bei sich behalten, wenn sie weiß, daß Sie, mein Freund, deßhalb nicht ohne Gesellschaft bleiben müssen.

Der Freiherr, der wie gar viele Menschen jedes Opfer, welches ihm die Seinigen brachten, als selbstverständlich ansah, aber die geringste Gefälligkeit, welche ihm von Fremden bewiesen ward, hoch anzuschlagen liebte, weil er darin eine doppelte Befriedigung seiner Eitelkeit fand, nahm das Anerbieten der Herzogin mit warmer Erkenntlichkeit auf und an, und nachdem man sich über diesen einen Punkt verständigt hatte, legte alles Uebrige sich leicht zurecht. Man sagte der Baronin, daß eine schwere Krankheit von Mademoiselle Lise den Caplan so lange in Richten zurückgehalten habe, daß die Kranke nach der Herzogin verlange, und daß diese sich bewogen fühle, den Wunsch ihrer vieljährigen Dienerin zu erfüllen. Allein reisen konnte man die Herzogin nicht lassen, und da der Caplan eben erst angekommen, der Freiherr aber lange von Richten entfernt war, so lag es nahe, daß der Letztere die Herzogin nach Hause geleitete und daß er den Vorschlag that, auch Renatus mit sich zu nehmen, für welchen man den Aufenthalt in der Stadt bei der heißen Jahreszeit nicht vortheilhaft glaubte.

Die Baronin zeigte sich mit dieser Einrichtung einverstanden, ja, sie selber machte den Vorschlag, der Herzogin ihre Kammerjungfer ein für alle Mal abzutreten, da sie sich künftig von Mamsell Marianne bedienen zu lassen dachte, und Seba hatte kaum davon gehört, als sie sich erbot, die Pflege und Wartung der Baronin ausschließlich über sich zu nehmen, bis Marianne, die man sogleich benachrichtigen wollte, aus der Residenz bei ihrer Herrin eintreffen würde. Indeß dem Freiherrn wollte das nicht gefallen. Er war gerecht genug, die Dienste zu schätzen, welche Seba der Baronin bisher geleistet hatte, aber er konnte [105] den Zusammenstoß nicht vergessen, den er um Paul's willen mit Seba gehabt. Allerdings hatte ihr ruhiges und gleichmäßiges Betragen ihm später keinen Grund zum Mißfallen gegeben, und wenn er die Angelegenheit nur von Seiten der Bequemlichkeit betrachtete, so konnte er es gar nicht besser wünschen. Beide Frauen, die Herzogin und Angelika, wurden zufrieden gestellt, beide wußte er bedient, wie sie es bedurften, die Abreise brauchte durch die Wahl einer Kammerjungfer für die Herzogin nicht um eine Stunde verzögert zu werden, und man hatte für die Zukunft eine angemessene Verwendung für Marianne gefunden, während man den Aufwand für die Bedienung der Baronin sparte. Aber mit der fortschreitenden Erholung seiner Frau regte sich in dem Freiherrn ein immer lebhafteres Bedenken dagegen, sie überhaupt in dem Hause des Juweliers zu lassen, weil Herbert in demselben wohnte.

Er hatte augenblicklich daran gedacht, als die Baronin erkrankte, aber er hatte Herbert abwesend gewußt und sich damit beruhigt, daß Angelika das Haus verlassen haben werde, ehe jener in dasselbe wiederkehre. Nun, da er seine Gattin allein zurücklassen sollte, mußte er sich fragen, ob sie von jenem Umstande Kenntniß habe, ob und in wie weit Seba von den obwaltenden Verhältnissen unterrichtet sei und in wie fern er sich auf ihre Zurückhaltung verlassen könne. Mit Angelika jetzt von Herbert zu sprechen, hielt er nicht für rathsam, gegen die Flies'sche Familie irgend eine Abmahnung zu äußern, hätte ihm eine Beleidigung seiner eigenen Ehre gedünkt, und nachdem er in seinem Geiste das Für und Wider schnell erwogen, gab ein Blick auf die Gestalt Angelika's für seine Entscheidung den Ausschlag.

Er hatte immer nur von der baldigen und völligen Herstellung seiner Frau gesprochen, weil es ihm thöricht dünkte, sich unabweisliche Trübsal im Voraus zu vergegenwärtigen, aber jetzt, da er seine Entschlüsse danach zu fassen hatte, verbarg er [106] sich es nicht, was selbst der Arzt ihm kaum verhehlen mögen: Angelika hatte keine völlige Herstellung zu erwarten, er hatte von der Zukunft dieser Frau nicht viel zu hoffen, nichts mehr zu befahren. Er konnte und mußte ihr zu seiner eigenen Genugthuung gewähren, was sie wünschte, was sie freute. Er gönnte ihr also auch die Gesellschaft Seba's, er gönnte ihr den Aufenthalt im Flies'schen Hause, in dem man zu größerer Beruhigung der Scheidenden auch dem Caplan ein Unterkommen anbot, und zufrieden, sich allen Theilen gefällig zeigen zu können, durfte der Freiherr sich das Zeugniß geben, daß er unter diesen Umständen das Richtige thue, wenn er Angelika der Pflege Seba's überlasse, und sich getrösten, daß er auch in Richten das Nothwendige und Rechte zu thun nicht versäumen werde.

Die Zurüstungen für die bevorstehende Abreise wurden denn nun schnell gemacht, und da die Baronin zuversichtlich hoffte, daß sie in nicht zu ferner Zeit den Scheidenden werde folgen können, trennte sie sich von ihrem Gatten und selbst von ihrem Sohne weniger schwer, als man es für sie gefürchtet hatte.

Sowohl für den Freiherrn als für die Herzogin waren die Ereignisse traurig genug, welche ihre Abreise aus der Stadt veranlaßten, und doch athmeten beide freier auf, als sie sich auf dem Wege fanden. Keiner von ihnen vermißte die arme Kranke, jeder von ihnen fühlte sich fern von ihr erleichtert. Der Freiherr hatte doch gar manche Stunden, in denen er es sich nicht wegleugnen konnte, daß er, von aufgestachelter Eifersucht verblendet, eine schwere Ungerechtigkeit gegen seine Frau begangen habe, welche sie mit einer Ergebung trug, die ihm dieses Unrecht beständig ins Gedächtniß rief. Es kamen Augenblicke, in welchen er die Trennung, die er freiwillig und vermessen über sich und seine Frau verhängt hatte, als einen unheilvollen Schritt beklagte, und in denen Gewohnheit und aufwallende Neigung ihn zu ihr ziehen wollten; aber wo in einer Ehe selbstsüchtiger Stolz einmal [107] die Alles umfassende und tragende Liebe zurückgedrängt hat, wo das volle Vertrauen einmal anbrüchig geworden ist, da flüchtet die kleinste Mißhelligkeit sich in den Riß, nistet sich ein, schlägt Wurzel und wächst mit der nächsten noch unbedeutenderen Mißhelligkeit zusammen, bis sie stark genug werden, den Riß zu erweitern, und der Bruch wird vollends unheilbar, wenn, wie in dem freiherrlichen Hause, ein scharfes Auge und eine geschickte Hand bereit sind, dem natürlichen Lauf der Dinge arglistig nachzuhelfen. Der Freiherr wußte, daß seine Gattin unglücklich war, er fühlte sich auch nicht glücklich, aber die Herzogin verstand es, jede der Baronin günstige Stimmung in dem Freiherrn entweder zu verbittern oder zu unterdrücken, und was im Beginne nur ein müßiges Spiel für sie gewesen, war ihr allmählich zum Lebenszweck geworden.

Sie hatte am Anfange weder für den Freiherrn noch für Angelika eine besondere Vorliebe gefühlt, aber die Leichtigkeit, mit welcher dieser sich für ihre selbstsüchtigen Zwecke benutzen und ausbeuten ließ, und das heimliche Widerstreben gegen ihren Einfluß, das zu allen Zeiten immer wieder in der Baronin rege geworden war, bis es sich zu einem entschiedenen Mißtrauen und einer nicht mehr verhehlten Abneigung gegen die Herzogin gesteigert, hatten auch die Empfindungen der letzteren bestimmt, und sie fand ein Wohlgefallen daran, es sich auszusprechen, daß sie ihrem guten Vetter, dem Freiherrn, eben so ergeben sei, als sie dessen kränkelnde, empfindsame und für ihn in keiner Weise passende Gemahlin hasse! Ja, dieser Haß war ihr zum eigentlichen Genusse geworden, weil er eine starke, mächtige, sie immer belebende und antreibende Empfindung war. Sie liebte, sie pflegte diesen Haß in sich.

Es versetzte sie in die beste Laune, nun einmal aller Rücksichtnahme für Angelika enthoben zu sein, und auch der Freiherr fand es leichter und angenehmer, die geistreiche, witzige, mit [108] allen Dingen leicht und schnell fertige Herzogin zu unterhalten, als eine Kranke neben sich zu haben, deren kummervolles Herz, deren besorgter Sinn sich nicht von den Gegenständen abziehen ließen, mit denen sie erfüllt und beschäftigt waren.

Das Wetter war schön, die Gegend, durch die man fuhr, zeigte sich im günstigsten Lichte, die Unbequemlichkeiten, welche das Reisen in jenen Tagen immer noch mit sich brachte, wurden bei der guten Jahreszeit wenig fühlbar, und die Herzogin hatte in ihrem Wanderleben so mannigfache Beschwerden und Entbehrungen ertragen lernen, daß diese Reise an des Freiherrn Seite ihr in der That Vergnügen bereitete. Seine Zuvorkommenheit und ihre Dankbarkeit, seine Galanterie und die heitere Gefallsucht, die geistvollen Frauen nie verloren geht und sie selbst im späten Alter den Männern noch zu erwünschten Gesellschafterinnen macht, steigerten sich an einander, und ihre Gleichaltrigkeit ließ sie beide immer leicht vergessen, daß die Tage der Jugend so fern hinter ihnen lugen. Der Freiherr betraf sich mehrmals bei dem Bedauern, daß er der Herzogin nicht vor zwanzig, vor fünfundzwanzig Jahren so nahe gestanden habe als jetzt; auch sie selber dachte daran, daß es sich mit einem Manne von den Eigenschaften des Freiherrn wohl hätte leben lassen, wenn er ihr, wie ihr Gatte, einen Herzogstitel zu bieten gehabt hätte; und wie die Kindheit es liebt, sich spielend in das Alter der Erwachsenen hinein zu denken, so gefielen die Reisenden sich darin, von ihren Erinnerungen die hellen Farben der Jugend zu entlehnen, um sich mit ihnen vor sich selbst zu schmücken. Sie spielten mit einander Jugend, wie die Kinder Alter spielen, und auf das beste unterhalten durch den Selbstbetrug, einander noch mehr angenähert als je zuvor, schwanden die Reisetage ihnen so anmuthig dahin, daß der Freiherr fast des Anlasses vergaß, der ihn in die Heimath zurückgerufen hatte.

Indeß mit der Annäherung an seine Grenzmark konnte er [109] sich der Gedanken, die er gern geflohen, doch nicht mehr entschlagen, und die Herzogin bemerkte, wie er still und stiller wurde. Es war spät am Nachmittage, als sie den Wald erreichten, der sich von der Grenze bis nach Neudorf hinzog. Die Hitze war während der letzten Wochen sehr groß gewesen; die Sonne stand noch hoch. Wie mit rothem Golde übergossen, glühten die braunen Stämme der Kiefern, und über ihren breiten, grünen Dächern, auf ihren leuchtenden Wipfeln flammte das heiße Licht. Kein Lufthauch störte die Stille in dem weiten Walde, dessen mächtige, schlanke, von ihren reichen Kronen überwölbte Stämme sich wie die Hallen eines Tempels weithin vor den Reisenden ausdehnten. Man meinte es zu sehen, wie die brütende Hitze den harzigen Stämmen ihren balsamischen Duft entlockte und wie aus den einzelnen moorigen Wiesen, die sich zwischen dem Walde hinzogen, die letzte Feuchtigkeit entwich. Lautlos flogen die Vögel von Zweig zu Zweig, nur die Käfer summten, und langsam, wie beladen mit zu schwerer Bürde, flogen einzelne Bienen über den Wagen hin, während hellfarbige Schmetterlinge ihm in gaukelndem Fluge paarweise folgten.

Auf den Befehl ihres Herrn hatten die Diener geschäftig den Wagen zurückgeschlagen, und in dem Walde umherschauend, sagte der Freiherr, indem er sich mit leichter Hand die Stirn trocknete: Ah, endlich auf eigenem Grund und Boden, endlich in freier, heimischer Natur!

Die Herzogin sah ihn an, als wolle sie sich überzeugen, ob er ernsthaft spreche, und sagte dann lächelnd: Gewisse Dinge kann ich auch meinen ältesten und besten Freunden immer nur mit Mühe glauben, und daß Sie, mein Cousin, sich wirklich an der rohen Natur erfreuen können, daß es Ihnen Vergnügen macht, das Gras auf einer Wiese und das Wasser in einem Bache zu betrachten, davon werden Sie mich nicht überreden. Ueberlassen wir das den Leuten, die, wie der Apostel der Uncultur, [110] wie der grillenhafte, unerzogene Rousseau, in der Gesellschaft ihren Platz nicht zu behaupten und mit ihres Gleichen nicht zu leben verstehen. Wir, die wir in unserer Väter Schlössern geboren wurden, dünkt mich, sind nicht dazu gemacht, die Neigungen der gefiederten Waldbewohner und der in Hütten Geborenen zu theilen. Die Bewunderung der Natur ist mir ein zu bürgerliches Vergnügen, ist revolutionärer, als es scheint, und ich für meinen Theil – ich fühle sie nicht!

Der Freiherr, bei welchem solche Einfälle der Herzogin sonst einen schnellen Wiederhall fanden, nahm diesen nicht mit der erwarteten Bereitwilligkeit auf. Das verdroß sie; sie lehnte sich in die Wagenecke zurück, in der Gewißheit, daß ihr Reisegefährte seine Unachtsamkeit bald zu vergüten streben werde. Aber ihre Voraussetzungen täuschten sie, und von der Wärme ermüdet, von der sanften Bewegung des Wagens gewiegt, ließ sie die Augenlider sinken, und bald hatte der Schlummer sie überwältigt.

Dem Freiherrn kam das sehr gelegen. Seine Freude an dem eigenen Grund und Boden währte dieses Mal nicht lange. Schon als er nach der Stadt gefahren, hatte er mit Mißvergnügen gesehen, wie stark die Waldungen mitgenommen waren. Grade die mächtigsten Stämme, die Zierden und der Stolz des Waldes, waren mit diesem Theile der Waldungen der unbarmherzigen Axt erlegen, und jetzt, wo er, von der andern Seite kommend, in die Ferne sah, fand er die Gegend so verändert, daß sie ihm fast wie fremd erschien. Gleich am Eingange des Waldes konnte man die Neudorfer Kirche, welche sonst erst am Ausgange desselben sichtbar gewesen war, erblicken. Es nahm sich nicht übel aus; es mochte auch vortheilhaft sein, daß man das große Terrain zur Seite des Weges gerodet hatte, denn es war schwerer Boden, der nach gehöriger Behandlung guten Ertrag versprach. Aber alle diese Aenderungen waren nicht freiwillig [111] gemacht; sie waren von einer Nothwendigkeit geboten worden, und es war nicht mehr das heitere Auge des zufriedenen Besitzers, mit dem der Freiherr auf den weiten, schönen Theil des Waldes blickte, der nach den abgeschlossenen Contracten im nächsten Herbste auf Betrieb des Käufers fallen mußte. Er genoß diese Natur nicht mehr rein, er berechnete ihren Ertrag.

Er konnte sich nicht verbergen, daß er eine völlige Aenderung in seiner Lebensführung eintreten lassen müsse, wenn er erhalten wollte, was noch sein war, wenn er auf Renatus vererben wollte, was er überkommen hatte. Aber wie er auch darüber sann, er fand nicht, daß er ein Ungehöriges gethan, er hatte immer nur das von seinen Verhältnissen Geforderte geleistet, und er war so völlig mit seinen Gewohnheiten und Anschauungen verwachsen, daß ihm eine wirkliche Einschränkung unmöglich dünkte. Daß ein Edelmann von Haus und Hof vertrieben, wie seine Freundin heimathlos und flüchtig werden könne, das begriff er, und fast däuchte ihm dieses Loos erträglicher, als inmitten seiner Standes- und Lebensgenossen von seinen Gewohnheiten abzuweichen, oder eine Stufe von der Höhe hinunter zu steigen, auf welcher die Herren von Arten sich hierlands seit Generationen behauptet hatten. Er wiederholte es sich, daß er in seinem vollen Rechte sei, er versuchte endlich, sich es klar zu machen, daß im Grunde gar nichts geschehen sei, ihn zu beunruhigen; denn was war es denn so Wichtiges, daß man ein altes, unbehagliches Haus verkaufte, oder daß man Wälder ausschlagen ließ, um die Mittel für einen großartigen Bau und für neue Cultivirungen zu schaffen? Man konnte in der Residenz, wenn man es wollte, ein schöneres, bequemeres Haus erbauen, und die Herrschaft hatte des Waldes von allen Arten noch genug. Indeß wie oft er sich dies Alles auch wiederholte, es wollte ihm das Wohlgefühl nicht wiedergeben, mit welchem sonst der erste Schatten seines Waldes ihn [112] erfüllt, und es waren lauter unerfreuliche Bilder, lauter trübe Vorstellungen, die sich in seinem Geiste entwickelten.

Ein scharfer Luftzug schreckte ihn aus denselben empor. Er wurde achtsam, die Sonne schien nicht mehr durch das Laub. Er hörte den Ton des Regenpfeifers, und nicht fern vom Wege klopfte und hämmerte der Specht. Das Wetter hatte sich geändert, während sie durch den Wald gefahren waren. Es überlief den Freiherrn fröstelnd. Auch in seiner Seele klopfte und mahnte es heute gar vernehmlich, und sich in seinen leichten, weißen Reisemantel hüllend, sagte er halblaut und seufzend zu sich selber: Es ändert sich eben Alles; es währt hienieden nichts! – Aber er unterdrückte die Gedankenreihe, welcher der Ausruf entsprungen war, wie jene, welche sich an ihn knüpfen wollte.

Von dem Luftwechsel erwachte die Herzogin. Man hatte das freie Feld erreicht; einzelne Dohlen schwangen sich mit versuchendem Flügelschlage von dem Boden auf, hoben die Köpfe, als wollten sie sehen, woher der Wind komme, und flogen dann dem Walde zu. Krächzend und mit schallendem Flattern folgte ihnen die ganze Schaar. Wir bekommen ein Gewitter, sagte der Freiherr; die Krähen suchen Schutz. Aber ich hoffe, daß wir Richten noch erreichen, bevor das Wetter aufkommt.

Die Kutscher trieben die Pferde an, man fuhr schnell an den Gegenständen und an den Menschen vorüber. Auf den Wiesen war Alles in voller Thätigkeit; man war in der Heu-Ernte und hastete sich bei dem heraufziehenden Wetter, wenigstens die wartenden Wagen noch voll zu laden, um sie womöglich trocken unter Dach zu bringen. Trotzdem erregte das Erscheinen der beiden Reisewagen ein großes Erstaunen. Niemand war von der Heimkehr des Freiherrn unterrichtet gewesen, und man hielt erschrocken mit der drängenden Arbeit inne. Die Mützen flogen bei dem Anblicke des Freiherrn mit gewohnter Unterthänigkeit von den Köpfen, aber die Gesichter lachten nicht so [113] freudig wie sonst, wenn der Freiherr nach längerer Abwesenheit heimzukehren pflegte. Man fragte einander, was diese unerwartete Ankunft zu bedeuten habe, aber man war nicht begierig, die Antwort des Befragten zu vernehmen; und daß die Herzogin bei dem Freiherrn saß, während die Baronin nicht mitgekommen war, das steigerte die unheimliche Angst, von welcher die Leute sich in der Erinnerung an ihre Missethat ergriffen fühlten.

Jeder Einzelne wollte nicht gern besonders wahrgenommen werden, sondern trat lieber hinter seinen Nebenmann zurück; denn sie dachten, wen der Herr ins Auge fasse, auf den richte sich sein Verdacht so wie sein Zorn. So geschah es, daß die Leute, Alt und Jung, zurückwichen, wo des Freiherrn Wagen vorüberfuhr, und sein scharfes Auge bemerkte das und wußte es zu deuten. Man fürchtete in ihm den Richter, das sollte und mußte so sein. Er war nach Hause gekommen, um strenges Gericht zu üben, aber nichts desto weniger kam es ihm bitter an, denn er fühlte sich dadurch von den Leuten geschieden, die er bis dahin gewissermaßen mit sich Eins gewußt hatte, und ihre scheuen, mißtrauischen Blicke mißfielen ihm.

Im Pfarrhause saß die Pfarrerin wie immer am Fenster in dem großen Lehnstuhle; sie sah hinaus, als sie die Wagen kommen hörte, aber sie fuhr schnell mit dem Kopfe zurück, und als man an dem Hause vorüberkam, war sie verschwunden.

Jetzt wird der Herr Pfarrer von Ihrer Rückkehr unterrichtet, bemerkte die Herzogin, und er wird keine Hymne singen, wenn er sie erfährt.

Gewiß nicht, entgegnete der Freiherr, aber ich finde es unangenehm, Schrecken zu erregen und Furcht einzuflößen.

Trösten Sie sich mit dem Sturme, der über das Land fährt. – Er erschreckt uns auch, aber wir beugen uns seiner Gewalt und er befreit die Luft, damit wir ungehindert und frei in ihr athmen.

[114] Er antwortete ihr nicht. Man hatte den Wagen und die Fenster schließen müssen. Wie Binsen bogen sich die jungen Bäume zu beiden Seiten der Landstraße unter dem schweren Drucke des Sturmes, der Himmel verdüsterte sich mehr und mehr, die dunklen Wolkenmassen rückten einander nach jedem Windstoße näher, ballten sich zusammen, senkten sich tiefer hinab, und wirbelnd flogen die hohen Staubsäulen empor, wo der Wind den ausgedörrten Boden berührte. Bisweilen hörte man fernen Donner rollen, und dann zuckte es hell durch die dunkle Luft, daß man nicht wußte, ob ein Sonnenstrahl noch einmal seinen Weg durch die Wolken gefunden oder ob es der Blitz sei, der die Gegend erhelle. Das Wetter drohte sehr schwer zu werden, und Jedermann hat es auf dem offenen Lande zu fürchten, wenn das Gewölk sich grünlich färbt, als berge es den zerschmetternden und vernichtenden Hagel in seinem Schooße.

Vor der Kirche in Rothenfeld ließ der Freiherr das Fenster herunter. Ein Blick ließ ihn Alles übersehen. Vorn, dicht an dem eisernen Gitter, erhob sich der Grabhügel, welcher die Reste von Mamsell Lise umschloß. Von dem Crucifixe war der rechte Flügel mit dem Arme des Heilandes heruntergeschlagen; ohne Kopf, die Hände verstümmelt, knieete die Büßerin zu seinen Füßen. Der Freiherr mochte den Gräuel nicht sehen, die Herzogin war blaß geworden und biß die Lippen zusammen. Sie sprachen beide nicht.

Im Amte liefen ein paar Knechte umher, die Fensterladen und Thorflügel festzuhaken, während der Hirt die eilende Schafheerde in den Hof trieb. Oben in ihrer Stube schloß Eva das Fenster, aber sie konnte es nicht gewältigen, und es bog sich ein Mann heraus, ihr Hülfe dabei zu leisten. Der Freiherr erkannte ihn, es war Herbert. Der Caplan hatte ihm nichts von dessen Anwesenheit berichtet, er mochte vielleicht auch erst nach der Abreise des Geistlichen in Rothenfeld eingetroffen sein, und es war [115] natürlich, ja, sogar gefordert, daß er sich hier aufhielt, daß er im Amte wohnte. Der Freiherr würde unzufrieden gewesen sein, hätte er den Baumeister nicht bei seinem Werke gefunden, und er war nun eben so unzufrieden, ja, noch unwilliger darüber, als er ihn eben da erblickte, wo er hin gehörte. Es war für den Freiherrn nicht mehr herauszukommen aus dem Mißmuthe und aus den Verdrießlichkeiten, und ärgerlich sagte er zu sich selber: Mag er sein, wo er will, heirathen soll er nicht, ehe er seine Arbeit hier vollendet hat und so lange die Steinerts in meinem Dienste stehen!

Je mehr er an innerer Ruhe verlor, je mehr er sich aus seinem gewohnten Gleichmaße herausgerissen fühlte, um so reizender wurden ihm die Macht und die Gewalt, über die er zu verfügen hatte, und während ihm noch vor einer halben Stunde die Scheu, mit welcher man ihn empfing, einen betrübenden Eindruck erzeugt hatte, fing er jetzt mit einem ihm bis dahin völlig fremden Vergnügen zu überlegen an, wie er die Missethäter strafen, wie er sie entgelten lassen wolle, daß sie sich gegen seinen Willen aufgelehnt und Hand angelegt hatten an das Heiligthum, das er errichtet.

Der Regen strömte vom Himmel, es blitzte nicht, aber ein elektrisches Feuer flammte zitternd durch die ganze Luft, als die beiden Reisewagen in das große eiserne Gatterthor einfuhren, rasch die Allee durchflogen und auf der Rampe vor dem Portal hielten. Die Diener sprangen von ihren Sitzen, triefend und mit nassen Händen hoben sie Renatus aus dem Wagen, die Bonne und die Kammerjungfer folgten, und vorsichtig half der Freiherr selbst der Herzogin auszusteigen und die Stufen zu überschreiten, welche der wolkenbruchartige Regen schnell unter Wasser gesetzt hatte.

Im Schlosse war Alles in der größten Bestürzung. Es war noch niemals vorgekommen, daß der Freiherr in solcher [116] Weise, ohne sich anzumelden, nach Hause zurückgekehrt war. In den Zimmern hatte man, weil man Hagel besorgte, der Vorsicht wegen die Läden geschlossen, die Möbel waren während der Abwesenheit der Herrschaft mit Decken verhüllt, die Dienerschaft hatte es sich in ihren Räumen bequem gemacht und mußte erst zusammengeholt werden. Es waren natürlich gar keine Vorkehrungen für die gewohnte Bequemlichkeit der Herrschaften getroffen, und während Alles durch einander lief und Jedermann sich hastete, um zur rechten Zeit ein Abendbrot bereit zu haben und die Zimmer wohnlich herzustellen, hielt man doch die aus der Stadt zurückkommende Dienerschaft, wo man ihrer habhaft werden konnte, fest, um in aller Eile zu erfahren, was es bedeute, daß die Baronin nicht mitgekommen sei, um zu fragen, wie der Freiherr die Nachrichten aus Rothenfeld und Neudorf aufgenommen, und um es mit ungläubigem Erstaunen zu vernehmen, daß die kranke Baronin noch immer bei den Juden wohne, bei denen der Unfall sie betroffen; daß die Tochter dieser Juden ihre Pflegerin und ihre Herzensfreundin sei, daß der Freiherr sein Haus in der Residenz verkauft habe, und daß die alte, spukhafte Mamsell Marianne zur Bedienung der Baronin nach Richten berufen worden, weil die Kammerjungfer jetzt die Stelle der französischen Mamsell bei der Herzogin vertreten solle, was ihr auch nicht an der Wiege vorgesungen sei. Dazwischen ließ man ahnen, daß es die Baronin sicherlich nicht weit in Jahren bringen werde. Der Kammerdiener vertraute dem Secretär, daß der Doctor sie eigentlich aufgegeben habe, und wenn die Frau Baronin ihre Augen schließe, dann wolle er nicht hinsehen.

Der Secretär fragte, ob er es denn für möglich halte, daß der Freiherr .... er sagte nicht zu Ende, was er dachte.

Der Kammerdiener antwortete, man müsse sie kennen, wie er; sie sei falsch und schlau, wie kein Mensch es sich nur denken könne. Auch er nannte keinen Namen, und doch meinte nach [117] einer halben Stunde Einer wie der Andere im Schlosse: nur davor sollte der liebe Herrgott sie bewahren, und das werde der Freiherr auch nicht thun. –

Draußen tobte das Wetter in ununterbrochener Heftigkeit, aber selbst die alte, schreckhafte Beschließerin, welche es sonst nicht leicht versäumte, bei solchem sichtlichen Zorne Gottes ihr Vaterunser zu beten, merkte heute gar nicht, was um sie her geschah. Die überraschenden Neuigkeiten, das Verwundern, das Vermuthen und Prophezeien nahmen sie wie alle ganz und gar in Beschlag; denn wie allen Menschen von beschränktem Gesichts- und Gedankenkreise verschwand ihnen vor dem Nächsten, das sie beschäftigte, die ganze übrige Welt, und es hätte eines Erdbebens bedurft, um das Hauspersonal von dem Erstaunen über die plötzliche Ankunft der Herrschaft und von der Frage, was denn nun kommen und geschehen werde, abzuziehen.

[118]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Einsam und verdüstert ging der Freiherr in seinen Gemächern umher. Er hatte die weiten Räume sonst immer gern gehabt, heute waren sie ihm zuwider. Sie kamen ihm leer vor. Er begab sich nach dem Flügel, den seine Frau bewohnte; dort war noch Alles zugeschlossen. Er kehrte also wieder um, er wußte auch selbst kaum, was er dort gewollt. Im Vorübergehen trat er bei Renatus ein. Der Knabe war ganz von dem Wiedersehen seines Hundes hingenommen, hatte seine Spielgeräthschaften ausgekramt und achtete wenig auf den Vater. Der Freiherr verweilte nur kurze Zeit bei ihm und fand sich bald wieder in seinen Zimmern allein.

Es überfiel ihn eine marternde Unruhe. Sein Schloß schien ihm wie ausgestorben. Er hatte geglaubt, allen Zusammenhang mit der Baronin verloren zu haben, jetzt fehlte ihm die unsichtbare Fürsorge, mit der sie ihn umgab, ohne daß er ihr Eingreifen und Thun gewahrte; ihm fehlte eben so die Nähe des Caplans, so selten er diesen in der letzten Zeit auch im Vertrauen gesehen; es fehlte ihm eben Alles, selbst der Pendelschlag der Uhren, den er zu hören gewohnt war. Sie waren alle abgelaufen. Er ging sie selber aufzuziehen. Es war eine Mühe, die er sich sonst nie zuvor gegeben, aber er mußte etwas thun, um das unheimliche Gefühl der Vereinsamung zu überwinden. Er kam sich wie ein irres, über den Ruinen seines eigenen Daseins wandelndes Gespenst vor, und plötzlich dachte er mit [119] Grauen der Tage, in denen einst Paulinens Gestalt ihn in diesen Zimmern spukhaft umschwebt hatte. Dann wieder sah er die bleiche, hinsinkende Angelika und den Knaben vor sich, der ihn mit so starrem, angstvoll flammenden Blicke angesehen.

Es war ihm, als presse die Luft in diesen Räumen, die ihm eben noch so leer gedäucht, ihm Kopf und Brust zusammen, er mußte die Fenster öffnen. Es regnete noch immer, auch das Gewitter war noch nicht vorüber. Die feuchte Kühlung, welche herein drang, erfrischte ihn, aber sie vermochte seine Ungeduld nicht zu besänftigen. Er verlangte nach einer Ableitung für dieselbe, und rasch seine Hand erhebend, schellte er dem Diener. Es soll sogleich ein Bote nach Neudorf reiten, befahl er, und den Pfarrer zu mir rufen!

Es ist sechs Uhr vorüber, gnädiger Herr! bemerkte der Diener.

Und? fragte der Freiherr, indem er ihn gebieterisch anblickte.

Der Diener verneigte und entfernte sich schweigend. Ehe der Reitknecht sattelte und nach Neudorf kam, ehe der Pfarrer anspannen ließ und in Richten sein konnte, mußte es halb neun Uhr werden und der Freiherr bei dem Abendbrode sein.

Er ist wie ausgetauscht! dachte der Diener, während er die Treppe hinunterstieg, und es widerstrebte ihm, den Befehl zu überbringen; denn es war sonst nie des Freiherrn Art gewesen, seine Untergebenen zur Unzeit zu bemühen oder sie in ihren Feierstunden zu stören, und eben seine rücksichtsvolle Menschlichkeit gegen den Geringsten seiner Leute hatte ihm deren Liebe und Verehrung erworben.

Er hatte den Diener auch kaum entlassen, als er sich selber die Berechnung machte, wie er sich ein lästiges Erwarten einer lästigen Besprechung auferlegt; indeß er liebte es nicht, seine Befehle zu widerrufen, und um die langsam schleichenden Stunden [120] zu bewältigen, setzte er sich endlich an seinen Schreibtisch nieder, die Postsendung zu mustern, welche für ihn nach der Abreise des Caplans in Richten angekommen war.

Aber er hatte die Tasche kaum geöffnet, als er die Zeitung und alles Uebrige zur Seite legte, um ein Couvert zu betrachten, dessen Handschrift ihn in eine lebhafte Ueberraschung versetzte. Er hatte sie seit Jahren nicht gesehen und doch war sie ihm vertraut genug. Mit einer Hast, die gegen seine sonstige Gemessenheit sehr abstach, erbrach er das Siegel, auf dem mit festem Drucke das gräflich Berka'sche Wappen ausgeprägt war, um den Brief zu lesen, den ersten Brief, welchen sein Schwiegervater seit dem Familienzerwürfniß an ihn richtete.

»Ich bin lange mit mir zu Rathe gegangen,« schrieb der Graf, »ob ich Ihnen schreiben, oder mich auf den Weg machen sollte, Sie aufzusuchen; und nun ich mich zu dem ersteren entschlossen, da ich Sie nicht zu überraschen und durch die Gewalt des Augenblickes zu bestimmen wünschte, weiß ich kaum noch, mit welchem Namen ich Sie nennen soll. Wo sich nach einer langen, ungetrübten Lebensgemeinschaft, die man von beiden Seiten als einen Vorzug zu schätzen wußte, ein Bruch aufthut, der durch viele Jahre offen bleibt, verändert die Zeit, die uns in unserem eigensten Wesen umgestaltet, auch nothwendig die beiderseitigen Verhältnisse, und kein Erfahrener kann an die Möglichkeit glauben, das alte Band und die früheren Zustände wieder zu finden oder wieder herzustellen. Trotzdem mag es zwischen uns, wo die nächsten und heiligsten Bande des Blutes ihre Ansprüche geltend machen, vielleicht gelingen, sich in neuer Weise und auf neuem Boden zu vereinigen, und ich biete Ihnen die Hand, lieber Arten, um diesen Versuch zu machen.

Ich verhehle Ihnen nicht, daß ein bestimmtes Ereigniß mir den nächsten Anlaß zu diesem Briefe gegeben und den Entschluß, Ihnen eine Versöhnung vorzuschlagen, in mir zur [121] Reife gebracht hat. Ich habe meinen sechzigsten Geburtstag begangen, und vorwärts blickend auf die Jahre, die mir noch gegönnt sein können, zurückschauend auf den Weg, den ich gegangen bin, wird Alles einheitlicher, sieht Alles sich milder und weniger ungewöhnlich an.

Was ich meiner Tochter einst nicht verzeihen zu können glaubte, den Abfall von der Lehre, in der sie mit uns vereinigt war, und ihren Uebertritt zur römischen Kirche, das habe ich als eine Thatsache hinnehmen lernen, wofern sie ihr Glück und ihren Frieden in ihrem neuen Bekenntnisse findet. »In meines Vaters Hause sind viel Kämmerlein«, – mag sie weilen, wo ihr die Sonne am wärmsten scheint. Sie ist um ihret-, nicht um meinetwillen in der Welt; sie ist uns eine gute Tochter gewesen, sie ist Ihnen sicherlich eine würdige Gattin geworden. Glaubte sie dazu der kirchlichen Gemeinschaft mit Ihnen nöthig zu haben, so that sie vielleicht wohl, dieselbe zu suchen, und Gott wird ihr mit seinem Troste nahe geblieben sein, in welcher Form sie sich auch zu ihm gewendet hat, sofern nur ihr Streben ein Gott wohlgefälliges gewesen ist.

Ich habe unsere Angelika, ich habe meine Tochter schwer vermißt, als ich gestern ein Decennium meines Lebens abschloß, und auch Angelika's Gedanken werden bei mir gewesen sein. Ich und ihre Mutter haben die Härte bereut, mit der wir sie von uns gewiesen, unser täglicher Segenswunsch hat das Verdammungs-Urtheil längst entkräftet, das wir einst gegen sie gefällt, und ihr eigenes Mutterherz wird sie gelehrt haben, daß die Elternliebe zwar beleidigt, aber nicht zerstört werden, daß sie irren, aber auch bereuen kann.

Man sagt mir, Angelika sei krank, Sie hätten sie nach der Stadt gebracht, einen der dortigen Aerzte zu Rathe zu ziehen. Hat sie nicht verlangt, uns zu sehen? Hat sie nicht daran gedacht, uns Kunde von sich zu geben? Und wollen Sie uns [122] dieselbe zukommen lassen, wenn Sie dieses Schreiben empfangen haben werden? Ihre Mutter und ich sind in schwerer Sorge um sie.

Unsere Glaubensstrenge hat den Bruch veranlaßt, der uns, mein theurer Arten, so lange von unserem Kinde und von Ihnen, mein alter, werther Freund, entfernt gehalten hat. An uns, die wir die Trennung verschuldeten, ist es daher, eben so offen und unumwunden die Versöhnung zu versuchen; und mich dünkt, diese Erklärung kann und muß allen Ihren Anforderungen und Bedenken Genüge thun. Es ist ein Freund, der von Ihnen die alte Freundschaft, es sind Eltern, die von Ihnen ihre Tochter wieder zu erhalten wünschen, Großeltern, die sich danach sehnen, Ihrem Renatus die segnende Hand auf das Haupt zu legen. wir haben Angelika's Sohn noch nicht gesehen.

Meinem ältesten Sohn ist nach zwei Töchtern vor wenig Wochen der Erbe geboren, der ihm und meinem Hause fehlte. Wir haben ihn an meinem Geburtstage taufen lassen, die ganze Familie ist bei mir versammelt. Wollen Sie kommen, den Kreis vollzählig zu machen, in dem wir Sie entbehren? Oder verlangen Sie es, fordert es Ihr Gefühl, erheischt es Angelika's Befinden, daß wir Sie in Ihrer Heimath suchen kommen? – Ich überlasse Ihnen die Entscheidung.

Für unsere Tochter füge ich von mir und ihrer Mutter nichts hinzu. Es gibt Dinge, die über das Wort erhaben, weil sie selbstverständlich sind. Unsere besten Wünsche, unsere Liebe, unser Segen sind mit ihr und mit Ihnen Allen! Und so lassen Sie uns denn in Zukunft wieder immerdar zusammenstehen, wie wir einst zusammenstanden, als Verwandte und Freunde in Neigung und in anerkennender Achtung.«

Der Freiherr las den Brief noch einmal, nachdem er ihn beendet hatte, und es wäre schwer gewesen, aus seinen Mienen die Wirkung zu erkennen, welche er auf ihn machte, denn er [123] konnte sich selber keine Rechenschaft darüber geben. Freude war es nicht, was er empfand.

Die Dinge müssen zur rechten Zeit kommen, um uns angenehm zu sein! rief er endlich im Selbstgespräche aus, während er sich von seinem Platze am Schreibtische erhob und den Brief aus den Händen legte.

Wäre dem Freiherrn ein solches Schreiben, ein solches Eingeständniß und eine solche Aufforderung zur Versöhnung bald nach dem Zerwürfniß dargeboten worden, so würde er sie ohne alle Frage bereitwillig und mit Freuden aufgenommen haben und damals sehr zufrieden gewesen sein, in dem alten, gewohnten Geleise mit so viel Zugeständnissen und Nachsichten, wie jedes Familienleben sie erheischt, weiter fortzugehen. Aber das Zusammenleben innerhalb der Familie hat, weil es kein sittlich frei gewähltes, sondern ein zufällig bestimmtes ist, als erstes Bedingniß die ununterbrochene Dauer, die duldsam machende und den Blick beschränkende Gewalt der langen Gewohnheit für sich nöthig. Werden diese vermittelnden Elemente einmal zerstört, ist der Zauber gebrochen, der uns über Charakterverschiedenheit, ungleiche Lebensansichten und Ueberzeugungen, der uns über Alles dasjenige leicht fortsehen machte, was uns an den uns angeborenen Menschen störte und von ihnen im Grunde trennte, so ist auch die Schranke aufgehoben, welche alle Theile innerhalb eines gewissen Gleichmaßes zusammen und einzelne derselben eben deßhalb in ihrer freien und völligen Entwicklung – im Guten wie im Schlimmen – zurückgehalten hatte. Jeder nimmt dann frei den Weg, den er bedarf, bildet sich persönlicher, eigenartiger aus; macht man später einmal wieder den Versuch, das Ungleichartige in die alten Bande und Verhältnisse zurückzuführen, so ist dies eigentlich in Wahrheit niemals möglich, und der alte Ausspruch, daß man über seinen Zorn die Sonne nicht untergehen lassen solle, beweist sich als [124] eine tiefe Weisheit, wofern man überhaupt eine Herstellung der früheren Verbindungen ersehnt.

Alle Eingeständnisse und Zugeständnisse, welche Graf Berka seinem Schwiegersohne und alten Freunde in diesem Versöhnungsbriefe machte, hatten für den Freiherrn nur etwas Peinigendes. Er war der Berka'schen Familie nun einmal entwöhnt. Es hatte in derselben bei großen Vorzügen, die er auch jetzt noch anerkannte, immer eine gewisse Familienbeschränktheit geherrscht; man hatte dem Ergehen und Thun des Einzelnen eine viel zu große Bedeutung beigelegt und damit geringfügige Ereignisse zum Gegenstande weitläufiger Besprechungen und unverdienter Theilnahme gemacht. Das war ihm auffällig erschienen, so lange er außerhalb der Familie gestanden hatte, war ihm als Angelika's Verlobter ein wenig lästig gewesen, und er hatte sich aus dieser übertriebenen Familienliebe später die Züge in Angelika's Charakter erklärt, die er als Empfindsamkeit und als zu große Ansprüche an die Leistungen und Empfindungen der Anderen zu bekämpfen für nöthig gehalten.

Jetzt – er fuhr sich unmuthig mit der Hand über die Stirn – jetzt kam diese Versöhnung ihm sehr ungelegen, und zurückweisen konnte, durfte er sie nicht, wollte er nicht gegen Angelika, die in ihres Herzens Tiefen nie aufgehört hatte, sie zu wünschen, ein Unrecht begehen, wollte er der Kranken nicht einen ihr erwünschten Trost entziehen. Und selbst um der Meinung seiner Umgangsgenossen willen mußte er die dargebotene Hand seines Schwiegervaters freundlich zu ergreifen scheinen! Aber je länger er darüber nachsann, um so schwerer und unwillkommener dünkte ihm diese erneute Annäherung.

Er wußte, wie wenig die Geistesrichtung der Herzogin und ihre Ansprüche und Gewohnheiten mit denen der Berka'schen Familie zusammenstimmten. Es kam ihm daneben nicht willkommen, die Berka's so nahe in seine Verhältnisse blicken zu [125] lassen. Er konnte sich denken, mit welchen Augen sie den Kirchenbau betrachteten, welche Fragen der Graf, der in der eigenen Bewirthschaftung seiner Güter große Befriedigung fand und glänzende Erfolge erzielte, wegen der Ausschlagung der Wälder und wegen der Entlassung der Steinerts an ihn richten würde. Es beunruhigte ihn, daß seine Schwiegereltern gerüchtweise von seinen augenblicklichen Geldverlegenheiten, von dem Verkaufe des Hauses erfahren haben könnten, und vor Allem dachte er mit Schrecken daran, wie sie die Tochter, die er einst so blühend und so hoffnungsreich aus ihrer Hand erhalten, jetzt wiederfinden mußten.

Er nahm den Brief noch einmal auf, aber er konnte sich nicht überwinden, ihn noch einmal zu lesen, und ihn auf den Tisch schleudernd, rief er ärgerlich: Ich wollte, sie hätten mich mit ihrer späten Versöhnlichkeit verschont!

Trotzdem mußte er zu einem Entschlusse kommen, und rasch, wie man etwas Lästiges abzuthun sucht, warf er mit fester Hand die folgenden Zeilen auf das Papier:

»Empfangen Sie, theurer Freund, meinen nachträglichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstage, den wir doppelt zu segnen haben, da er Sie zu einer für uns so erwünschten Einsicht und Entschließung geführt hat. Ich nehme die Versöhnung, welche Sie mir bieten, ohne alles weitere Erörtern an, und meine Frau wird glücklich sein, ihren verehrten Eltern die Hand küssen und ihren Segen wieder empfangen zu können. – Leider war ich genöthigt, da Geschäfte mich hieher riefen, sie unter der Obhut des Caplans noch in der Stadt zurückzulassen. Ein Brustübel, dessen Symptome sich schon vor der Geburt unseres Sohnes zeigten und in Zwischenräumen immer wieder bemerkbar machten, hat sich plötzlich entschieden ausgebildet und sie vor wenig Wochen mir zu rauben gedroht. Auf dem Wege der Genesung, ist sie der größten Schonung bedürftig, und ich bin [126] eben deßhalb noch nicht im Stande, Ihnen, theurer Graf, und der Gräfin, die ich meiner aufrichtigen Ergebenheit zu versichern bitte, anzugeben, wie und wann ich meiner Frau die Mittheilung Ihres Briefes werde machen können und in welcher Weise wir unser Wiedersehen mit Ihnen einzurichten haben, damit es auf die Kranke nicht zu erschütternd wirke. Ich hoffe, daß ich Angelika in acht Tagen ihre Reise nach Richten antreten lassen darf, und ich will noch heute den Caplan von Ihrem Briefe in Kenntniß setzen, oder besser ihm Ihr Schreiben übermachen, damit dieser erfahrene und bewährte Freund, der mein und Angelika's Vertrauen ganz und gar besitzt, vorsichtig den Augenblick wähle, in welchem wir meiner Frau die von ihr sicherlich ersehnte, sie aber eben so gewiß sehr erschütternde Kunde zugänglich machen dürfen.

Meinen Sohn habe ich aus der Stadt mit mir hieher genommen. Er sieht seiner Mutter völlig gleich und wird, wie ich hoffe, Ihre Liebe gewinnen, da er ja das älteste Ihrer Enkelkinder ist. In der Erwartung, Sie, bester Graf, und die Gräfin bald persönlich zu begrüßen,

der Ihrige.«


Er las das Geschriebene zu wiederholten Malen, ohne recht damit zufrieden zu sein. Er wollte nicht entgegenkommen, er wollte sich nicht ablehnend zeigen, und er ersah an der Art und Weise seines Erwägens, wie fremd die Familie seiner Frau ihm geworden war und wie fest die Abneigung gegen sie in seinem Innern gewurzelt hatte. Jetzt, da sie ihm, wie er es nannte, grundlos eine Versöhnung aufnöthigten, nachdem sie sich einst eben so grundlos von ihm und von ihrer Tochter losgesagt, weil diese sich freiwillig dem Bekenntnisse ihres Gatten angeschlossen, fühlte er sich fast erbitterter gegen sie, als zuvor, und daß er dieser Erbitterung nicht Worte geben durfte, daß er gezwungen war, sich aus Rücksicht auf Angelika und auf die[127] Welt einer fremden Willkür hinzugeben, verdüsterte seine Seele nur noch mehr. Hätte er mit einem Federstriche Alles, was ihn umgab, vernichten können, er würde ihn gethan haben, auf die Gefahr, selbst dabei zu Grunde zu gehen; und mitten in seinem zornigen Grimme dünkte ihm eben dieser doch wieder seiner und seiner Natur so unangemessen, daß er grade davon am allermeisten litt. Er konnte das ideale Bild, welches er von sich selber stets vor Augen gehabt und im Herzen getragen hatte, nie mehr in seiner Reinheit wiederfinden: das heißt, er wußte, daß er ein für alle Mal sich selbst verloren hatte.

Grade, als der Freiherr den Brief an den Caplan beendete, meldete man ihm den Pfarrer.

Er soll kommen! befahl er kurz, und übergab dem Diener die Briefe an den Grafen und an den Caplan mit der Anweisung, sie sofort nach der Stadt zu senden, damit die am nächsten Morgen durchpassirende Post sie noch mitnehmen könne.

Mit raschem Schritte ging er dem eintretenden Geistlichen entgegen. Der Pfarrer hatte sich auf eine harte Stunde vorbereitet. Er war nicht unterrichtet gewesen von dem Vorhaben seines Sohnes; er beklagte und verdammte von Grund der Seele die in Rothenfeld geschehenen Frevelthaten und Verbrechen, denn er besaß nicht des Candidaten wilden Glaubenseifer; er war duldsam und gelassen, und er hatte sich, als er zu so ungewohnter Stunde vor den Freiherrn beschieden worden war, fest gelobt, daß er, seine Würde und seine Ueberzeugung wahrend, dennoch versuchen wolle, den gerechten Zorn des Gutsherrn zu besänftigen. Aber der Empfang, welcher ihm zu Theil ward, ließ ihn das Aeußerste befürchten.

Ohne ihm, wie er es sonst stets gethan, die Hand zum Gruße zu bieten, ohne ihm einen Sessel anzuweisen, sagte der Freiherr, während er den Greis inmitten des Zimmers stehen bleiben ließ: Ich habe Sie gleich kommen lassen, weil ich zuvor [128] mit Ihnen im Klaren sein wollte, ehe ich weiter gehe, und weil Sie, Pastor, Sie ganz allein, mir für all den Schaden und für all das Unheil verantwortlich sind, die hier angerichtet worden! Wer hieß Sie, den frechen Burschen meine Kanzel besteigen zu lassen? Wer hieß Sie ....

Gnädiger Herr! fuhr der Pastor auf, den sein Vaterherz wie seine gekränkte Amtsehre alle seine Vorsätze vergessen machten, – gnädiger Herr, Sie sprechen zu einem Vater von seinem Sohne! Sie sprechen zu einem Geistlichen, zu dem bestallten Pfarrer dieser christlichen Gemeinde, der ohne Frage die Befugniß hat, sich von seinem Sohne, von einem unbescholtenen jungen Manne, einem geprüften Candidatus theologiae in seinem Amte vertreten zu lassen, wenn er dieses nöthig findet!

Ja, allerdings, das ist es grade! Ich spreche zu dem Vater! betonte der Freiherr scharf, eben weil er mir als Vater einzustehen hat für die Frechheit seines Sohnes! Ich spreche zu dem von mir erwählten und eingesetzten Pfarrer, weil er sich unterfangen hat, gegen meinen Glauben, gegen die Religion, zu der ich und mein Haus uns bekennen, in meiner Kirche und von meiner Kanzel herab freveln zu lassen!

Der Pfarrer machte eine abweisende Handbewegung. Die Kirche ist des Herrn, die Kanzel ist ihm heilig und der Wahrheit, Herr Baron, auf die wir getauft sind, auf die wir unser Bekenntniß abgelegt und die rein und lauter zu verkünden wir mit unserem Amtseide beschworen haben! rief der Pfarrer, und seine Stimme und seine Haltung hoben sich, je länger er vor dem Freiherrn stand. Freilich steht es geschrieben: Es soll Friede sein auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Und so weit es an mir gewesen, habe ich Frieden zu halten gestrebt, obschon es meinen Augen kein Wohlgefallen gewesen ist, hier, mitten in unserer lutherischen Gemeinde, die katholische Kirche sich erheben und ihre Heiligenbilder aufrichten zu sehen! [129] Aber, Herr Baron, es steht eben so geschrieben: Ich bringe euch nicht den Frieden, sondern den Krieg! Und wie ich für mein Theil danach getrachtet habe, den Frieden hier zu Lande nicht zu stören, so vermag ich vor meinem Gewissen den jüngeren Streiter nicht darob zu tadeln, daß er von heiliger Stätte die Gemeinde warnte, daß er ihr die Gefahren zeigte, welche ihr drohen, daß er verkündet hat, was ihm sein Herz geboten! Es kommt für Jeden einmal der Tag, an dem er mit unserem Martin Luther rufen muß: Hier stehe ich! Ich kann nicht anders! Gott helfe mir! Amen!

Der Pfarrer hatte die Hände gefaltet, er war sehr gerührt. Seit Jahren hatte er sich mit dem Gedanken getragen, daß es ihm einmal beschieden sein könne, nach dem Vorbilde des herrlichen Paul Gerhard von Heimath und Amt vertrieben zu werden; jetzt fühlte er sich dem Augenblicke nahe, und seine Erschütterung würde zu jeder anderen Stunde auf seinen Patron ihre Wirkung nicht verfehlt haben, denn des Freiherrn Herz war leicht bewegt und die kirchlichen Streitigkeiten waren ihm bei seiner religiösen Gleichgültigkeit im Grunde sehr verhaßt. Aber er sah auch in dieser ganzen Angelegenheit nur eine Auflehnung gegen seine gutsherrliche Macht, und bitter, wie sein Ton es gegen den Pfarrer heute von Anfang an gewesen war, sagte er: Lassen Sie die Beispiele und die Bibel-Citate! Was ich mit Ihnen abzumachen habe, dazu finde ich den Ausdruck in mir selbst, und wenn denn einmal durchaus die Bibel die Belege liefern soll, so mag das Wort Ihnen und der Gemeinde zur Richtschnur dienen, daß Jedermann der Obrigkeit unterthan sein soll, die Gewalt über ihn hat! –

Er machte eine kurze Pause und sprach danach: Ich bin Herr auf Richten, in Rothenfeld und in Neudorf! Die Kirche in Neudorf ist mein! Sie haben Ihr Amt von mir, Sie wohnen in meinem Hause, auf meinem Grund und Boden, [130] unter meiner Jurisdiction; die Leute, welche Ihre Gemeinde bilden, sind von mir abhängig, zum großen Theile mir hörig – bedenken Sie das wohl! – Ich hindere Sie in Ihrem lutherischen Bekenntnisse nicht; beten Sie, singen Sie, predigen Sie, wie Sie wollen – das ist Ihnen und meinen Leuten von den Staatsgesetzen gewährleistet! Aber merken Sie es sich: wo Sie es sich beikommen lassen, etwa auch einmal als Glaubensstreiter, von Ihrem Gewissen getrieben, meine religiöse Freiheit auf meinem Grund und Boden anzutasten, da hört Ihre religiöse Freiheit auf, da beginnt meine gutsherrliche Machtvollkommenheit, und – der Freiherr wurde roth vor Zorn – daß der Gotthard sich nicht unterfängt, sich jemals wieder innerhalb meiner Grenzen blicken zu lassen ....

Herr Baron! fiel der Pastor ihm in die Rede, Herr Baron! – Die Stimme versagte ihm, und wie der Zorn des Freiherrn Wange geröthet, hatte der Schrecken das Antlitz des Greises entfärbt. Aber er nahm sich zusammen, und mit ruhiger Würde an den Freiherrn herantretend, sagte er: Es ist ein Amt des Friedens, das der Herr in meine Hand gelegt hat. Ich habe es bis hieher verwaltet nach bestem Wissen und Gewissen, und ich hatte fest gehofft, in demselben fortarbeiten zu können bis an meinen Tod. Indeß Gott hat es anders beschlossen. – Er hielt aufs Neue inne, und mit bebender Stimme, aber dem Freiherrn ruhig in das Auge sehend, sprach er: Menschenfurcht soll die letzten Tage meines Lebens nicht entehren. Ich werde meinen Sohn nicht abweisen von der Thür seines Vaterhauses, auch wenn er irrte und sein heiliger Eifer ihn zu weit geführt hat; ich werde ihm und mir nicht Schweigen auferlegen, wo der mir anvertrauten Heerde Gefahr zu drohen scheint, und – bin ich doch der Einzige nicht, dessen Bleiben hier fürder nicht mehr ist!

[131] Er verneigte sich tief und wollte sich zum Gehen wenden. Der Freiherr hielt ihn nicht zurück.

Thun Sie ganz nach Ihrer Ueberzeugung, sprach er, aber verlassen Sie sich darauf, daß ich mir hier Ordnung und Gehorsam schaffen werde!

Der Pfarrer ging still hinweg. Der Freiherr sah ihm mit kaltem Auge nach. Meine Läßlichkeit hat es verschuldet; sie fühlen sich alle hier als Herren! Es war Zeit, ein Ende damit zu machen und die Zügel in die eigene Hand zu nehmen, sagte er zu sich selber, während er nach der Uhr sah. Dann klingelte er und befahl, das Abendbrod herzurichten und die Frau Herzogin zu benachrichtigen, wenn es geschehen sein würde.

Der Pfarrer aber fuhr, als er vom Schlosse kam, im Amthofe vor. Er wollte Fassung gewinnen, ehe er seine greise Lebensgefährtin wiedersah; er mußte auch einen Menschen haben, zu dem er sprechen konnte, denn in sich zu verschließen, was ihn bestürmte und bedrängte, bis er nach Neudorf kam, das, fürchtete er, würde über seine Kräfte gehen. Und der Adam hatte es ja auch erlebt.

Und offene Arme, offene Herzen, und ein volles Mitgefühl empfingen den schwer gekränkten Mann. Man hatte die Heimkehr des Freiherrn gescheut, man hatte es mit Besorgniß angesehen, daß er so plötzlich und unangemeldet eingetroffen, und doch kam Allen unerwartet, was geschehen war. Sie waren im Amte dem Gotthard eben nicht freund; sie gönnten es ihm, daß sein Hochmuth eine gründliche Lection erhielt; aber den Pfarrer, den Greis, den sie zu verehren gelernt von Kindesbeinen an, so herzzerrissen zu sehen, das betraf sie selber tief. Sie mochten ihn nicht allein in die Pfarre zurückkehren lassen, denn allerdings, der Amtmann wußte, was es heißt, die Schwelle eines heimathlichen Hauses zu betreten, das man bald für immer meiden soll. Man ließ den Knecht, welcher den Pastor gefahren, [132] zu Fuße gehen, man rückte zusammen, und Alle fuhren sie, so spät es war, mit dem Pastor: der Amtmann, die Eva und der Architekt.

Die Pfarrerin hatte, die Minuten zählend, am Fenster gestanden, seit ihr Mann durch die Botschaft des Freiherrn abgerufen worden war. Sie wußte nicht, was sie denken sollte, als der Wagen voll Gäste vor ihrer Thüre hielt; sie konnte nicht fassen, was geschehen war, als man es ihr meldete. Sie weinte, sie klagte, sie schalt den Sohn, sie tadelte ihren Gatten, daß sie sich nicht fügsamer gezeigt, und nannte doch gleich darauf den abwesenden Sohn ihres Lebens Stolz und Freude, und dankte Gott, daß er ihrem Manne Kraft verliehen, als sein Streiter auszuharren bis zum Ende.

Der Pfarrer setzte sich nieder, seine Gedanken zu sammeln. Er wollte dem Sohne schreiben, seine Meldung an das Consistorium machen, aber ihm fehlte noch die Ruhe für solch ein Thun, und Adam hielt ihn auch davon zurück.

Warten Sie, Herr Pfarrer, warten Sie bis morgen, bat er. Es war ein Anderes zwischen dem Freiherrn und zwischen mir; ich stand für mich allein, Sie stehen für Ihr Amt; ich konnte gehen, Sie müssen zu bleiben trachten, oder wollen Sie sich freiwillig einen Nachfolger hieher setzen lassen, der sich dem Willen der Herrschaft besser fügt, der Herrendienst dem Gottesdienst voranstellt?

Die Pfarrerin trat schnell auf Adam's Seite. Sie hoffte, der Freiherr werde in sich gehen, die gütige Baronin werde wiederkehren und vermitteln; sie meinte, Gotthard könne, auch ohne seinem Gewissen etwas zu vergeben, sich einlenkend an den Freiherrn wenden. Sie wollte von dem Amtmanne, von Herbert, von Eva und von ihrem Manne Zuspruch haben; aber sie hatten sich alle über den Freiherrn zu beschweren, und [133] wie vermochte man ihm beizukommen, was hatte man noch weiter mit ihm zu befahren?

Man konnte zu keinem befriedigenden Abschlusse gelangen, und es war schon spät, als man sich trennte.

Das Gewitter war vorüber, die Wolken hatten sich zertheilt, der Mond stand hell am Himmel und goß sein volles Licht über die blühenden und duftenden Lindenbäume vor des Pfarrers Thüre, von denen unter dem leisen Windhauche die Regentropfen niederfielen. Die Nachtigall, welche in den Büschen rechts vom Hause nistete, lockte und flötete in langen Tönen durch die stille Nacht, man sah die Falter langsam schweben, die Mondesstrahlen glänzten und zitterten in dem leicht bewegten Teiche, von dem der Nebel silbern in die Höhe stieg.

Der Pfarrer und seine Frau begleiteten ihre Gäste vor das Haus hinaus. Nach dem Unwetter und neben ihrer Aufregung wirkte die friedensvolle Schönheit der Natur doppelt stark auf sie. Der Greis sah mit stillem Blicke um sich her. Dann nahm er sein Käppchen von dem weißen Haar, und seiner Frau Hand in seine gefalteten Hände schließend, sprach er, an die Dichtung seines Vorbildes Paul Gerhard denkend, fromm und gläubig, während es feucht in seinen Augen schimmerte:


Der Sonne, Mond und Winden
Weist ihre eig'ne Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da mein Fuß wandeln kann!
[134]
11. Capitel
Eilftes Capitel

Wie es herumgekommen, das wäre nicht leicht zu sagen gewesen, aber am folgenden Morgen um die Frühstückszeit wußten sie es in allen drei Dörfern, was geschehen war, und wer es etwa noch nicht erfahren hatte, der konnte doch an den finstern und sorgenvollen Mienen der Leute sehen, daß sich etwas Schlimmes ereignet hatte und Schlimmes zu befürchten war.

Es hatte den Freiherrn nicht schlafen lassen in der Nacht, und wider seine Gewohnheit war er früh am Morgen nicht zur Herzogin gegangen, sondern hatte sich gleich an die Geschäfte gemacht. Der Justitiarius war lange bei ihm gewesen und dann in das Amt gegangen. Er wollte dem Adam erzählen, daß der Freiherr selbst der Gerichtsverhandlung beizuwohnen denke, was er sonst nie gethan, und daß er die Sitzung schon auf morgen anberaumt habe. Sie schüttelten beide die Köpfe dazu, aber sie sprachen wenig; es ging ihnen zu nahe.

Während dessen war der Freiherr nach Rothenfeld gefahren, um jetzt, bei ruhigem Wetter, den dort angerichteten Schaden in Augenschein zu nehmen. Er wollte die Statue hergestellt haben, ehe die Berka's kämen, und wünschte diesen Besuch auch nicht allzu weit hinausgeschoben zu sehen, eben weil er ihm lästig war. Es drängte sich so Vieles zusammen, was geordnet und abgethan werden mußte, und wie er sich auch vorsetzte, sich davon nicht beunruhigen zu lassen, gab es ihm doch etwas [135] Hastiges, das seinen Leuten auffiel und das mit seiner schönen, würdigen Gestalt gar nicht zusammenstimmte.

Als er in Rothenfeld vor der Kirche seinen Wagen verließ, sah er Herbert mit dessen jungem Gehülfen aus dem Portale derselben heraustreten. Dieses zufällige Zusammentreffen war grade, wie er es sich wünschte, und leicht den Hut lüftend, während die beiden ihm entgegen kamen, sagte er: Sehen Sie diesen Vandalismus! Ich erwarte in Nächstem die Baronin zurück, habe auf den Besuch ihrer Familie zu rechnen und mag der Heimkehrenden und den Gästen den Anblick dieser wüsten Zerstörung nicht bereiten. Wie ist da Rath zu schaffen?

Herbert, welcher wie der Freiherr auch erst am vorigen Tage, und zwar wie dieser kurz vor dem Ausbruche des Unwetters in Rothenfeld eingetroffen war, hatte gleich am Morgen, noch ehe er die Arbeit in der Kirche in Augenschein genommen, die Gruppe besichtigt und die Stücke, welche man abgeschlagen, hereinbringen lassen, um zu untersuchen, ob man sie anzupassen und so die Gruppe herzustellen hoffen dürfe. Glücklicher Weise hatte Adam gleich nachge schehener That die abgeschlagenen Stücke bis auf die Splitter zusammensuchen lassen, und da Herbert sich aus Neigung viel mit plastischen Entwürfen beschäftigt hatte und obenein der Modelleur noch anwesend war, welcher die Stuckverzierungen über dem Altare angebracht, so waren, noch ehe der Freiherr gekommen, schon die nöthigen Verabredungen getroffen worden, und dieser durfte sich also der Aussicht hingeben, wenigstens diesen Schaden so gut als möglich ausgeglichen zu sehen.

Das heiterte ihn auf; er nahm selbst die Fragmente zur Hand, paßte sie an einander, ertheilte Rathschläge wegen der Politur der Stellen, an denen die Restaurationen gemacht werden mußten, trat dann in die Kirche ein, und ihr Anblick befriedigte ihn, ja er übertraf seine Erwartungen.

[136] Man hatte innen wie außen die letzten Gerüste fortgenommen, der weite, hohe Raum zeigte sich frei und schön. Die Pfeiler strebten kräftig und doch leicht in die Höhe und trugen das Dach, dessen fein gegliederte Wölbung dem Auge, ohne es zu drücken, eine wohlthätige Schranke setzte. Ueberall waren die Verhältnisse so richtig eingehalten, das gebotene Material so geschickt benutzt, daß des Freiherrn Kennerblick sich mit sichtlichem Vergnügen in dem bis auf unbedeutende Ausschmückungen nun fast vollendeten Baue erging.

Schön, sehr schön! rief er mehrmals aus; ich muß Sie loben, Herbert! Sie verstehen Ihr Fach; ich bin zufrieden! – Nun nur schnell die letzte Hand ans Werk gelegt! Wann meinen Sie, daß wir die Kirche weihen können?

Wenn der Holzschnitzer uns den Beichtstuhl liefert, wie er versprochen hat, und die übrigen Arbeiter ihre Zeit einhalten, so denke ich Ihnen heute in drei Wochen die Schlüssel des Baues überliefern zu können, sagte Herbert nach kurzem Besinnen.

Gut, gut! rief der Freiherr abermals, und plötzlich nachdenkend, fügte er hinzu: Wir haben heute den zehnten des Monats. In drei Wochen wollen Sie fertig sein. Lassen Sie uns, den störenden Zufälligkeiten ihren Raum gewährend, die Uebergabe des Baues, der Sicherheit wegen, erst am Schlusse der vierten Woche erwarten, so sind wir dem dreizehnten des Juli nicht allzu fern und mögen, die Weihung der Kirche auf diesen Tag verlegend – welcher der Namenstag der Herzogin, der Margaretha-Tag ist –, unserem Gäste eine Ehre damit erweisen und ihr Andenken dauernd mit unserem Baue verknüpfen.

Er sah sich danach noch einmal in allen Theilen der Kirche um, betrachtete den Taufstein in der Sacristei, ließ sich das Gewölbe öffnen, welches man zur Familiengruft bestimmt, stieg die Treppe zum Thurme hinauf und oben um sich schauend, sagte er, als er den auf der Birkenhöhe errichteten Freundschaftstempel[137] ebenfalls vollendet sah: Sehr brav! In der That, Herbert, Sie haben sich wacker daran gehalten!

Die Freude, ein großes Unternehmen so wohlgelungen seinem Ende nahe zu sehen, ließ ihn vergessen, mit welchen Opfern dies erkauft war, und gab ihm plötzlich seine freie, vornehme Sorglosigkeit zurück. Er hatte sonst nichts so sehr geliebt, als heitere Gesichter um sich zu haben und Zufriedenheit um sich her zu verbreiten. Diese alte, schöne Neigung wallte auch jetzt wieder in ihm auf. Es fiel ihm ein, daß er ein Mittel habe, Herbert, wie er es wünschte, zu vergelten, ja, daß er ein Unrecht, eine Uebereilung und, was ihm schlimmer als dies Alles dünkte, einen Verstoß gegen die Klugheit ungeschehen machen könne, wenn er sich dieses Mittels richtig zu bedienen wisse. Er ging von einer Seite des Thurmes nach der anderen, bis er abermals der Birkenhöhe gegenüber stand, und dorthin schauend, wiederholte er: Sehr gut, sehr gut! Sie haben mich in der That durchaus befriedigt und, fügte er mit leichtem Lächeln hinzu, es wird mir lieb sein, Sie gleichfalls zufrieden zu stellen.

Herbert verneigte sich und sagte ablehnend: Herr Baron, ich habe nur gethan, was meine Pflicht war, was jeder Andere an meiner Stelle auch gethan hätte!

Wie bescheiden! scherzte der Freiherr; aber wir sprechen mehr davon. Sie können mich heute um fünf Uhr dort drüben erwarten, wo ich Sie hoffentlich wie hier zu loben haben werde.

Herbert, der nicht gewillt war, sich von dem Manne, welcher ihm so schwer zu nahe getreten, als Gunst gewähren zu lassen, was Eva's freier Wille ihm in wenig Monaten zugestehen konnte, bedauerte, daß er auf die Ehre verzichten müsse, den Freiherrn auf die Höhe zu begleiten, und erst jetzt schien dieser es zu bemerken, wie kühl der Baumeister seine Lobsprüche aufgenommen, wie gemessen und wortkarg er ihm geantwortet [138] hatte. Er sah ihn mit schnellem und prüfendem Blicke an und fragte dann: Was hindert Sie, mich drüben im Tempel zu erwarten?

Ich reise noch vor Mittag ab, gnädiger Herr!

Sie gehen nach der Stadt?

Nein, Herr Baron!

Der Freiherr zauderte, dann sagte er mit schlecht verhehltem Argwohn: Sie haben doch von der Krankheit der Baronin und von ihrem Aufenthalte im Flies'schen Hause Nachricht?

Ja, Herr Baron, und eben deßhalb habe ich meine Zimmer dem Herrn Caplan zur Verfügung gestellt, da ich, so lange er dort weilt, nicht dahin zurückzukehren gedenke!

Der Freiherr verstand ihn. Wie ein Cavalier gehandelt! dachte er; aber es war ihm unangenehm, Herbert dieses Zugeständniß nicht versagen zu können, und noch widerwärtiger war ihm die Vorstellung, daß jener es für nöthig erachtete, die Baronin durch seine Zurückhaltung vor dem eifersüchtigen Verdachte ihres Gatten zu schützen. Ueberall, wohin er blickte, gewahrte er jene Annäherung des bürgerlichen Standes an den Adel, die sich nicht mehr zurückdrängen ließ, weil die fortgeschrittene Bildung die Kluft bereits ausgefüllt hatte, welche sonst die Stände von einander geschieden. Nur um es nicht errathen zu lassen, daß ihm in Herbert's Antworten etwas mißfallen habe, verlangte er zu wissen, wohin er gehe.

Herbert versetzte, daß er bis morgen in Marienau beschäftigt sei.

Das gefiel dem Freiherrn auch nicht. Was machen Sie dort? rief er spöttisch. Hat Steinert in dem Schlosse denn nicht Platz genug?

Im Gegentheil, er findet es, wie die meisten Schlösser, weit größer, als das Gut es tragen kann! gab Herbert, der seinen Unmuth und seinen beleidigten Stolz vor dem Freiherrn immer nur mühsam in Schranken hielt, ihm in gleichem Tone zur Antwort. Wir haben die Flügel des ruinenhaften Schlosses [139] eingerissen, um einen Schafstall und eine Brennerei daraus zu bauen.

Herbert sagte das mit sichtlichem Vergnügen, weil er wußte, daß es seinem Hörer nicht genehm war. Und schon wieder hatte dieser es vor Augen, wie der Bürgerstand sich in den Rittergütern einnistete, wie das Gewerbe sich ausbreitete, wo sonst ein Edelmann frei und stolz auf seinem Erbe saß, und wie Herbert sich mit voller Sicherheit schon zu den Steinerts rechnete.

Um des Freiherrn gute Laune war es nun gethan. Er wiederholte kurz zusammenfassend seine Anordnungen und Befehle, hieß den Gehülfen sich am Nachmittage nach der Höhe begeben, und schied von Herbert mit der Bemerkung, daß er ihn bei der Abnahme des Baues noch sehen werde.

Als er in das Schloß zurückkehrte, sagte man ihm, daß der Amtmann da sei, nach des Herrn Befehlen zu fragen. Es war das immer so gehalten worden, wenn der Freiherr längere Zeit von Richten entfernt gewesen war, aber dieses Mal handelte es sich um mehr als eine alte Sitte.

Was bringt Er? rief der Freiherr dem Amtmanne entgegen, da dieser die Anrede desselben abgewartet hatte.

Adam trat näher an ihn heran und sagte mit einem sorgenvollen Ausdrucke: Ich habe nichts Neues zu bringen, gnädiger Herr, denn was hier geschehen ist, haben Sie durch den Herrn Caplan erfahren, und es ist nicht der Art, daß man es wiederholen mag. Aber – er zögerte, schien die rechte Form nicht gleich zu finden, und sagte dann mit Ueberwindung: Ich komme mit einer Bitte, gnädiger Herr!

Ah, rief der Freiherr, dem die demüthige Haltung des sonst so straffen Mannes nicht entging, sie haben Ihn abgesandt!

Der Amtmann schüttelte das Haupt. Es hat mich Niemand abgesendet und Niemand weiß davon. Ich komme auch nicht [140] um meinetwillen, aber ich wollte Sie bitten, gnädiger Herr – halten Sie morgen nicht selbst Gericht!

Es war ihm sauer geworden, dies auszusprechen; der Freiherr hatte offenbar auch eine ganz andere Bitte zu hören erwartet. Rathschläge, und nun gar unerbetene Rathschläge von seinen Untergebenen anzunehmen, war niemals seine Sache gewesen, und der Gedanke, daß Adam sich die Freiheit, ihn unaufgefordert zu berathen, nur gestatte, weil er bald aus seinem Dienste scheide, machte ihm die Warnung, denn auf eine solche hatte Adam es ja abgesehen, nicht willkommen. Er war eben daran, sie hart zurückzuweisen, aber der Ausdruck von anhänglicher Sorge, mit welchem der Amtmann auf ihn blickte, ließ den Freiherrn innehalten; und erst nach einer Weile warf er die Frage auf: Wie kommt Er auf den Einfall, mir abzurathen?

Die bloße Frage gab dem Amtmanne Zuversicht, und aus fester Ueberzeugung sprechend, sagte er: Das ist kein Einfall, gnädiger Herr, denn ich würde mir nicht erlauben, Ihnen mit meinen bloßen Einfällen beschwerlich zu fallen. Aber der gnädige Herr kommen nicht so unter die Leute, wie ich, und können nicht wissen, wie es unter ihnen aussieht und was in ihren Köpfen spukt.

Nun, mich dünkt, davon hätten sie mir jetzt den schlagendsten Beweis geliefert, rief der Freiherr, und eben deßhalb sollen sie dieses Mal die verdiente Antwort von mir selber haben!

Thun Sie das nicht, gnädiger Herr! bat Adam dringender. Sie, gnädiger Herr, sind besser als unser Einer unterrichtet von dem, was draußen in der Welt geschieht; aber es ist, als ob es durch die Luft verbreitet würde, denn dem ärmsten Käthner und Einlieger geht es im Kopfe herum, daß es anders und besser für ihn werden müsse. Er weiß, daß die Hörigkeit vieler Orten aufgehoben wird – er hat von Ablösungen und hat auch von schlimmen Dingen gehört, die auf einigen Gütern geschehen sind ....

[141] Und die Elenden würden geneigt sein, sich ein Beispiel daran zu nehmen, meint Er? – Nun, versuch' Er's – halte Er ihnen das gute Beispiel vor!

Dem Amtmanne stieg das Blut zu Kopfe, aber er biß die Zähne zusammen, damit das Wort des Zornes nicht über seine Lippen ginge, und mit erzwungener Gelassenheit sprach er: Wir Steinerts sind geringe Leute gewesen, gnädiger Herr, als der Herr Baron Erasmus Einen von uns zu seinem Verwalter gemacht hat, und wir sind auf dieser Herrschaft zu Etwas geworden und auf unsere Weise vorwärts gekommen. Das dürfen und werden wir nie vergessen! Darum eben habe ich meine Dankespflicht erfüllen und – fügte er mit einer Weichheit hinzu, die dem kräftigen Manne sehr wohl anstand – meine Anhänglichkeit an den gnädigen Herrn, die auch nicht gleich zu Ende ist, weil man von einander geht, beweisen wollen, als ich heute herkam. Ich, gnädiger Herr, habe hier nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren, als Ihre gute Meinung, und nichts zu thun, als daß ich mein Gewissen wahre!

Die Rechtschaffenheit, die Treue und Herzensgüte des Amtmanns sprachen so unverkennbar aus jedem Worte, daß selbst die Voreingenommenheit des Freiherrn davor nicht Stich hielt, und wider seinen Willen bewegt, sagte er: Ich will es glauben, Er meint es gut!

Ja, bei Gott, ich meine es gut, und wir Alle haben es immer gut gemeint! rief Adam. Aber gerade darum, gerade darum bitte ich Sie, lassen Sie es hier beim Alten. Es ist ein Segen, wenn der Arbeiter, auf dem die Lasten schwerer liegen als es gut ist, sich sagen kann: Wenn der Herr es wüßte – er würde helfen! Es ist ein anderer Segen, wenn der Missethäter, dem das Gesetz gerecht wird, die Hoffnung hegen mag, der Herr werde Gnade walten lassen, wo der Richter nur die Strenge des Gesetzes auszuüben hat. Der Justitiarius und [142] ich hatten uns schon erlaubt, dem Herrn Caplan an's Herz zu legen, daß er um Gnade für die Leute bitten möge. Zwischen dem Herrn, der die Macht hat, und dem Arbeiter und Hörigen, der die Lasten trägt, muß eine Schutzwehr sein für beide Theile, und dazu sind wir da. Auf uns, auf den Justitiarius und auf den Amtmann, sind seit allen Zeiten die Klagen und Beschwerden gefallen, und wir konnten sie tragen, denn wir forderten, richteten und straften nicht für uns. Wir hatten an den Herren einen Rückhalt, die Herren hatten in unserer Strenge und Gewissenhaftigkeit eine Entschuldigung, wenn man sich beschwerte, und die Leute hatten ihre Hoffnung auf der Herren Nachsicht und gnädiges Gewähren. So ist es gegangen all die Jahre her, wir sind fertig geworden mit den Leuten und die Leute haben in Liebe zu den Herrschaften hinaufgesehen, fast wie zum lieben Herrgott, denn wie zu diesem konnten sie zu jenen persönlich nicht so leicht heran. Lassen Sie es dabei, gnädiger Herr, stellen Sie sich nicht den Leuten selber gegenüber, es ist nicht gut für alle Theile, und wie die Leute nun hier einmal wider die neue Kirche und auch sonsten aufgeregt sind .... Er brach ab und sagte kurz: Thun Sie es nicht, gnädiger Herr, es kann ein Unglück geben!

Adam hatte nie zuvor seine Meinung in solcher Weise vor seinem Herrn auszusprechen gewagt und dieser nie eine ähnliche Auseinandersetzung von einem seiner Untergebenen angehört. Er ließ Adam eine Weile, ohne ihm zu antworten, stehen, sei es, daß dessen Worte doch mehr Eindruck auf ihn gemacht hatten, als er zu zeigen für gut befand, oder daß er mit sich nur über den Bescheid zu Rathe ging, den er Adam geben wollte; dann sagte er: Er hat mir Seine Ergebenheit beweisen wollen, und das lobe ich. Ich danke Ihm dafür, und wenn Er mich künftig einmal brauchen sollte, werde auch ich mich daran erinnern, daß die Steinerts lange in unseren Diensten [143] gewesen sind. Im Uebrigen beurtheilt Er die Dinge, wie Er sie versteht, und Er hat's ja selber eingestanden, daß ich sie besser verstehen und also anders ansehen muß, als Er. Eben daß die Leute immer von Einem an den Anderen appellirten, hat das ganze Regiment gelockert. Es hat Jeder drein geredet – zuletzt sogar der Gotthard. Habe ich das Regiment, und ich denke es in die Hand zu nehmen ganz und gar, da hat's mit dem Hin und Her ein Ende, und das thut endlich Noth!

Er setzte sich nach diesen Worten an den Schreibtisch nieder, so daß er Adam den Rücken zudrehte, wandte sich dann noch einmal zu ihm zurück, um ihm einen Auftrag an den Gärtner zu geben, der auf dem Kirchenplatze einige Aenderungen machen sollte, fragte nach dem Ertrage der Heuernte und ob Adam im Stande sein würde, zu einem bestimmten Zeitpunkte gewisse Zahlungen zu leisten; dann entließ er ihn.

Sie wollen nicht hören, sie wollen sich nicht helfen lassen! dachte Adam, aber es that ihm wohl, daß er sich das Herz erleichtert und das Seinige gethan hatte. Von dem Pfarrer zu reden, für ihn eine Fürbitte um der Gemeinde willen einzulegen, wie er es vorgehabt hatte, dazu war er gar nicht gekommen. Indeß wie Alle, die ein gutes Ziel im Auge haben, gab er seine Hoffnung nicht leicht auf, und es war nun die Ankunft des Caplans, auf die er sich vertröstete. Konnte der auch nichts ausrichten, ließ der Freiherr sich gar nicht bedeuten, dem greisen Pfarrer den Weg der einlenkenden Verständigung zu eröffnen, mußten die alten Leute wirklich von Neudorf fort, nun, so hatte Eva Recht, so gab es in dem Hause zu Marienau Raum genug, den greisen Freunden der verstorbenen Eltern ein warmes Plätzchen zu bereiten und die alten Leute durchzuhalten, bis Gotthard sie einmal in seine Pfarre führte. Für den Adam Steinert auf Marienau war das eben keine große Sache.

[144]
12. Capitel
Zwölftes Capitel

Wie seine Dienerschaft und seine Beamten den Freiherrn verändert gefunden hatten, so ward der Caplan, als man ihn nach seiner Ankunft zu der Baronin führte, durch ihren Anblick in Erstaunen gesetzt, wennschon er es verstand, ihr diesen Eindruck zu verbergen. Aber es war nicht allein ihre körperliche Schwäche, die ihn überraschte, es war etwas Fremdes in sie gekommen, das er sich nicht gleich zu deuten wußte. Während es ihm bedünken wollte, als habe sie jenen ihr schon als junges Mädchen eigenthümlichen Ausdruck gebietender Vornehmheit verloren, hatte sie doch an Sicherheit und Bestimmtheit in ihren Aeußerungen gewonnen, und er vermißte an ihr die freiwillige Unterordnung, mit welcher sie ihm sonst genaht war.

Nach dem Briefe, welchen der Caplan von dem Freiherrn erhalten, hatte er nicht anders glauben können, als daß es der Baronin um seinen geistigen und geistlichen Beistand zu thun sei, daß sie zu beichten und das Abendmahl aus seiner Hand zu empfangen begehre. Indeß wie erfreut sie sich über seine Ankunft auch bezeigte, sagte sie ihm dennoch, daß sein Ausbleiben ihr wohl gethan habe, und daß sie glaube, ihr Alleinsein in diesem fremden Hause sei ihrem Seelenheile förderlich gewesen.

Als der Caplan zu wissen begehrte, wie sie dies meine und in welcher Weise der Umgang mit ihren Pflegern ihren Sinn gewandelt habe, versetzte sie: Auf die einfachste Weise von der Welt! Hätte ich Sie, mein Freund, hier gehabt, da ich [145] zu sterben glaubte, so hätte ich mich Ihnen, wie immer, mit allen meinen Schmerzen und Sorgen in die Hand gegeben und nur an mein eigenes Heil, an meinen Trost gedacht, und Sie würden vielleicht in Ihrer mitleidigen Barmherzigkeit mir nicht gesagt haben, daß auch in dem Verlangen nach geistiger Erhebung und Vervollkommnung sich die Selbstsucht des hochmüthigen Menschenherzens verbergen kann. Hier aber habe ich unter Menschen gelebt, von denen, wie ich glaube, sich keiner mit der eigentlichen Sorge um sein Seelenheil beschäftigt. Herr Flies und seine Frau haben bis in ihre jetzigen Jahre hinein so viel Nothwendiges zu thun gehabt, daß ihnen keine Zeit geblieben ist, über sich selbst nachzudenken; und Seba lebt so ausschließlich für die Befriedigung der Anderen, daß sie die eigene darüber ganz vergißt, oder daß sie dahin gekommen ist, ihre Zufriedenheit in dem Wohlbefinden Anderer zu genießen.

Der Caplan wandte ihr ein, daß sie in Gefahr stehe, Gleichgültigkeit gegen das geistige Leben mit Seelenfrieden und Gewissensfreudigkeit zu verwechseln; aber sie wollte dies nicht zugestehen.

Ich habe Herrn Flies einmal gefragt, sagte sie, wie er es angefangen habe, sich seine beschauliche Ruhe und Klarheit anzueignen.

Und was hat er Ihnen geantwortet? erkundigte sich der Geistliche, dem daran gelegen sein mußte, die Leitung über das Herz der durch ihn bekehrten Frau nicht zu verlieren.

Ich habe an jedem Tage nach bestem Wissen meine Schuldigkeit gethan, hat er mir gesagt, und habe also immer die Zuversicht in mir getragen, auf dem richtigen Wege zu sein.

Der Caplan machte eine Bewegung mit dem Kopfe, die es kund gab, daß er diese Antwort vorausgesehen hatte, und meinte danach: Darin verbirgt sich die Selbstzufriedenheit aller derer, welche glauben, durch ihre eigene Kraft zur Seligkeit [146] gelangen, welche meinen, mit guten Werken, die in der Religion der Juden eine große Rolle spielen, den Himmel erwerben zu können. Aber es ist nicht nur das Thun, das selig macht, es ist ....

Zum ersten Male ließ Angelika ihren geistlichen Freund seinen Ausspruch nicht vollenden, und lebhafter als er es von ihr gewohnt war, rief sie: Nein, es ist gewiß und allein das Thun und nicht das Streben, das Vollbringen und nicht das Wollen, die uns glücklich, die uns selig machen! Ich habe das hier in meiner Einsamkeit und in meinem Leiden tief empfunden! Was habe ich nicht Alles gedacht und wie Weniges gethan! Mit den großen Fragen und Geheimnissen habe ich mich beschäftigt, in welche wir kurzlebigen Geschöpfe uns hineingebannt fühlen, wenn wir über die enge Schranke unseres Daseins hinauszublicken wagen; von meinen widerstrebenden Gefühlen hin und her getrieben, habe ich mich nur um mein Empfinden, um mein Seelenheil gesorgt, und es darüber ganz und gar versäumt, für das Heil derjenigen zu sorgen, die Gott in meinen Lebensweg gestellt hat, oder etwas zu leisten, was mich hätte in der Erinnerung trösten und aufrichten können. Und an Niemandem hat sich meine Selbstsucht schwerer versündigt, als an dem Knaben, den wir jetzt vergebens suchen.

Das Schicksal Paul's, von dessen bisherigem Leben und von dessen Verschwinden sie sich durch Seba ausführliche Kunde verschafft hatte, das weltliche Ergehen ihrer Familie lagen ihr vor allem Anderen am Herzen und namentlich beschwerte die Erinnerung an Paul ihr das Gewissen.

Sie nannte es einen schweren Fehler, daß sie immer nur dasjenige zu lieben vermocht habe, was ihr eigen gewesen sei, was sie durch ihre Selbstsucht mit ihrem Herzen vermitteln können, während ihr jetzt von Fremden die uneigennützigste Menschenliebe zu Theil geworden sei – von Fremden, die sie [147] um ihres Stammes und um ihres Glaubens willen so tief unter sich gewähnt. Und an Niemandem, wiederholte sie, hat sich meine Selbstsucht schwerer versündigt, als an dem armen Knaben, welchen wir jetzt vergebens suchen. Ich habe es in meiner Eifersucht und in meiner ungerechten Verachtung gegen die Mutter dieses Knaben einst hochmüthig verschmäht, ihm die Stelle in dem Hause meines Gatten einzuräumen, die ihm gebührte, die sein Vater ihm gewähren wollte. Das hat sich nun gestraft; sein bloßer Anblick hat mich gedemüthigt, wie ich's verdiente. Damit ein Kind so vollständig die Züge seines Vaters wiedergiebt, so völlig seines Vaters Ebenbild werde wie dieser Knabe, muß viel Liebe zwischen den Eltern desselben geherrscht haben, mehr Liebe, mehr Hingebung, als der Freiherr und ich für einander in der Zeit empfanden, welche unserem Sohne das Leben gab. Wenn ich unseren Renatus betrachte, der seinem Vater so wenig ähnlich sieht, kommt er mir neben jenem Sohne meines Gatten wie ein Enterbter, komme ich selbst mir neben der unglücklichen Mutter Paul's wie die Unglücklichere vor, denn sie besaß sicherlich die Neigung des Barons weit mehr, als ich. Paul ist im wahren Sinne des Wortes ein Kind der Liebe, und er wird wiederkommen! Sein keckes, stolzes Antlitz verbürgt ihm das Glück, das solchen Kindern eigen sein soll!

Der Caplan hatte nicht im entferntesten voraussehen können, ein Urtheil wie dieses von der Baronin zu vernehmen, weniger noch, daß sie diese Verhältnisse in Seba's Anwesenheit besprechen würde. Ausschließlich wie die Kaste, in welcher sie geboren war, hatte Angelika früher Alles, was ihre und der Ihrigen Lebensverhältnisse betraf, der Kenntniß und dem Urtheile dritter Personen zu entziehen gestrebt; jetzt nannte sie diese Art der Zurückhaltung eine Maskerade vor sich selbst. Denn, sagte sie, ich täuschte damit nur mich, und ich habe hier erfahren, daß Fremde wußten, was ich vor mir selbst verbarg. Ich habe eine[148] schwere Lehrzeit durchgemacht, aber sie ist nicht an mir verloren gewesen. Obschon ich schwach bin, gehe ich doch gekräftigt aus ihr hervor. Der Ausspruch: Wen der Herr liebet, den züchtigt er! der mir sonst immer hart und darum der göttlichen Liebe nicht angemessen erschienen ist, hat sich mir zu einer Wahrheit erhoben. Dafür danke ich Gott, und ich werde auch von Ihnen, mein theurer Freund, künftig nicht mehr fordern, was Sie mir nicht gewähren können, was man sich selbst erringen oder entbehren muß!

Und was hätten Sie derart gefordert? fragte der Caplan, der immer vorsichtiger und achtsamer wurde, je weniger er im ersten Augenblicke den Gemüthszustand der Baronin zu beurtheilen vermochte. Welches Verlangen hätten Sie gestellt, das Ihnen aus der Gnadenfülle unserer trostesreichen Kirche nicht befriedigt werden können?

Ich verlangte .... Sie hielt inne, schien zu überlegen und sagte danach, als wolle sie ihrem Berather keinen Zweifel über sich lassen: Ich verlangte Vergessenheit – und ich habe sie nicht gefunden!

Der Caplan lächelte, als sähe er ein Kind seine Händchen begehrlich nach der Mondessichel erheben. Freilich, sagte er, der Lethestrom ergießt seine Wellen nicht durch die christliche Welt, er ist versiegt! Aber, fügte er mit ganz verändertem Tone und mit gehobener Haltung hinzu, aber flösse er auch reich und voll vor unseren Lippen, wie dürften wir begehren, daraus zu trinken? Wie dürften wir Vergessenheit verlangen für irgend etwas, das Gottes Rathschluß uns erleben ließ? Ich erkenne Sie und Ihren gottergebenen Sinn in diesem Wunsche nicht wieder, meine theure gnädige Frau!

Der Caplan verstand die Kunst, die Menschen sprechen und schweigen zu machen, und die Baronin fühlte diese seine Macht. Ohne noch ermessen zu können, ob es der Einfluß ihrer nichtchristlichen [149] Umgebung, ob es ein Erwachen ihrer protestantischen Erinnerungen oder eine Folge ihrer eigenen einsamen Grübelei sei, welche die Baronin zu einem von seiner Führung unabhängigen Gedankengange verleitet hatten, hielt er es für angemessen, sie wenigstens von dem Aussprechen ihrer Gedanken abzuhalten, denn das Wort ist gestaltend und das Gestaltete ist lebendig und tritt, uns selber bannend, für und wider uns auf. Und wie es wahr ist, daß nur derjenige frei bleibt, der zu schweigen versteht, so ist es eben so wahr, daß man den Menschen hindern muß, sich seine Gedanken festzustellen, wenn man die Herrschaft über ihn mit Leichtigkeit behaupten will.

Er ließ eine geraume Weile im Stillschweigen vergehen; dann fragte er, als falle es ihm unmöglich, sich in die Vorstellung der Baronin hinein zu versetzen: Und was war es denn eigentlich, das Sie so dringend zu vergessen wünschten?

Angelika hatte, in ihren Ruhesessel zurückgelehnt, in stiller Betrachtung vor sich niedergesehen, aber bei der Frage des Caplans richtete sie das Haupt empor und entgegnete: Es ist mir wunderbar, ganz wunderbar zu Muthe. Ich fühle, als wären wir lange, lange getrennt gewesen. Eine Krankheit wie die meinige, in der man vom Leben zu scheiden glaubt, bildet einen tiefen Abschnitt in unserem Dasein, sondert uns von unserer Vergangenheit, hebt uns über sie und über uns selbst hinaus. – Ich weiß Ihnen das Alles kaum zu erklären, weiß es mir selber kaum zu deuten, und stehe doch vor lauter Erfahrungen, die ich mir nicht wegleugnen kann – auch wenn ich es wollte. Es sieht mich Alles fremd an, wenn ich auf die letzten Jahre meines Lebens zurückblicke; es kommt mir Alles, selbst kürzlich erst Erlebtes, unwahrscheinlich, ja unmöglich vor. Ich sehe die Dinge, die Menschen anders als bisher, und, warum sollte ich es Ihnen verschweigen, selbst Sie, selbst Ihre Stimme, selbst Ihre Worte klingen meinem Ohre so fremd, daß ich Mühe [150] habe, mich darein zu finden; auch Ihre Frage befremdet mich.

Des Caplans Miene wurde ernster und strenger. Sein milder Sinn, sein nachsichtiges Herz hatten es doch früh gelernt, die Herrschaft über die Geister als eine Befriedigung zu empfinden, und er war zu sehr von der wohlthätigen Wirkung überzeugt, welche die den Geist beschränkende Zucht seiner Kirche über die Menschen ausübt, um die Herrschaft, welche er gewonnen und besessen, wieder aus der Hand geben zu mögen. Der Frevel gegen das Heiligenbild und der in Richten an einer schuldlosen Bekennerin des katholischen Glaubens von den Lutheranern verübte Todtschlag, selbst die Art und Weise, mit welcher der Freiherr das Ereigniß aufgenommen, hatten des Caplans Seele doch mehr erbittert, als er sich dessen bewußt war, und die Art von Auflehnung gegen seine Führung, mit der die bis dahin so fügsame Baronin ihm entgegentrat, erinnerte ihn zur rechten Zeit daran, daß Herrschaft, um wirksam zu sein, keine Unterbrechung erleiden darf.

Ich glaube es wohl, sagte er, daß meine Stimme Ihnen fremd geworden ist, daß meine Frage Sie befremdet. – Denn es müssen verlockende Weisen gewesen sein, mit denen Sie Ihrem Herzen schmeichelten, bis es zu solcher Selbstzufriedenheit gelangen, bis Sie glauben konnten, der leitenden Hand fortan entbehren, zu können, der Disciplin entwachsen zu sein. – Er schüttelte mitleidig das Haupt: Sie wähnten, auf sich selbst bauen zu können, und haben es verlernt, sich selbst zu prüfen, sich selbst die nothwendigsten Fragen ehrlich vorzulegen und wahrhaft zu beantworten. Deßhalb befremdet Sie meine bestimmt gestellte Frage; deßhalb auch, gnädige Frau, klingt Ihnen meine Stimme, die Stimme der Wahrheit, jetzt wie eine fremde; deßhalb weichen Sie der Antwort aus. Aber ich bin im Stande, mir diese Antwort selbst zu geben. Sie haben ....

Angelika wollte ihn unterbrechen; der Caplan gab es nicht [151] zu. Sie sind krank, meine arme, theure Freundin, sagte er; eine lebhafte Gereiztheit steigert Ihre Ausdrücke, daß auch Sie mir wie verwandelt scheinen, und ich möchte Sie hindern, von sich auszusagen, was Sie reuen könnte. Lassen Sie mich Ihnen ein Bild Ihres Seelenzustandes geben, wie er mir erscheint, und es soll Ihnen nicht benommen sein, mich des Irrthums zu überführen, wo ich ihn begehe.

Er rückte an den Sessel der Baronin heran, legte seine Hand auf die Lehne, auf welcher sie die ihrige ruhen ließ, und sprach mit dem Tone eines ruhigen Berichterstatters: Sie sind in diesen Tagen der Einsamkeit Ihr Leben durchgegangen, haben sich und Andern – die Baronin schüttelte verneinend das Haupt, und der Caplan ersah mit Befriedigung daraus, daß er es nur mit ihr zu thun habe – haben sich Ihre Schicksale zergliedert und haben sich gesagt: ich war nicht glücklich, wie ich es erwarten durfte, mir ward ein schweres Loos zu Theil, ein Loos, das groß und würdig zu tragen über meine Kräfte ging. Wie durfte die göttliche Allwissenheit mir ein solches zuerkennen, ohne daß die göttliche Gerechtigkeit dadurch beeinträchtigt wurde? –

Er sprach langsam und ohne sein Auge von der Baronin zu entfernen, die lautlos vor sich niedersah, während ihre Wangen sich rötheten und ihr Athem sich schneller hob. Die Hand langsam von der Lehne des Sessels erhebend und auf ihren Arm legend, fuhr er immer mit derselben Ruhe fort: Sie hatten hier eine anscheinend glückliche Familie um sich, Sie erfreuten sich ihrer Hülfe – Familienliebe dünkte Sie, in Ihrer augenblicklichen Hülfsbedürftigkeit, als das höchste, das erstrebenswertheste Gut – und Sie sind durch Gottes Sie erleuchtenden Rathschluß von Ihrer angeborenen Familie getrennt worden, ohne in dem Herzen Ihres Gatten gerade jenem Sinne für Familienleben und Familienliebe zu begegnen, nach denen es [152] Sie verlangte. Darin erblickten Sie einen Mangel an göttlicher Gerechtigkeit ....

Nein, o nein! rief die Baronin, nicht darin ....

Hören Sie mich zu Ende, begehrte der Caplan. Ich weiß es, nicht darin allein glaubten Sie einen Mangel an göttlicher Gerechtigkeit zu erblicken. Aber daß Sie früh dazu bestimmt waren, die Schuld und die Versündigung des Freiherrn theilend tragen zu müssen, daß Sie, der Liebe zu einem gleichaltrigen Manne entbehrend, die ganze Kraft Ihres Herzens erst kennen lernten, als es für Sie nicht mehr gestattet war, über Ihr Herz zu verfügen; daß Ihre Neigung sich einem Manne zugewendet hat, der sie nicht erwiderte, einem Manne, dem Sie nie angehören konnten, auch wenn Sie ihm in der vollen Freiheit Ihrer Jugend begegnet wären – daß Sie kämpften, sich besiegten, ohne die Frucht Ihres Sieges in dem Frieden Ihrer Ehe zu genießen; daß Sie schuldig schienen, ohne es zu sein; daß des Freiherrn Glaube Ihnen nicht vertraute; daß sein beleidigter Stolz keine Versöhnung zwischen Ihnen zuließ, wie Ihr Herz sich auch in Reue vor ihm demüthigte – das Alles machte Sie zweifeln an der allweisen Gerechtigkeit des Herrn. – Und, fuhr er fort, während sein Auge zu leuchten begann, hier auf dem einsamen Lager, verlassen von dem Beistande der religiösen Tröstung, den zu entbehren Ihr Herz noch viel zu schwach war, hier in dem Hause, nach welchem Ihre irrende Empfindung sich oft mit sträflicher Liebe hingesehnt, weil der Mann hier weilte, dem Sie Ihre Liebe zugewendet hatten, hier trat die Versuchung abermals an Sie heran, und von ihr verleitet, haben Sie sich gesagt: Ich habe gelitten, nicht gefehlt! Ich bin unglücklich gewesen und nicht schuldig! Ich habe vergessen wollen und es nicht vermocht! Ich bin also nicht verantwortlich für das, was über meine Kräfte geht! All mein Streben nach Vollendung hat mich nicht beglückt und diejenigen [153] nicht beglückt, die zu beglücken ich gewünscht habe! Hier sind zufriedene Menschen, die nicht über sich denken und hinleben in gleichgültiger Gedankenlosigkeit; ich will hingehen und werden wie sie! Ich will werkthätig werden wie sie und meine geheimen Neigungen nicht prüfen, ich will den Menschen wohlthun, dem Tage leben, der Zeitlichkeit leben, wie diese Familie hier, und wenn dann meine Stunde schlägt, so will ich hintreten vor den Thron des Herrn und ihm sagen: Du hast mich geschaffen mit meiner Schwäche und Sündhaftigkeit, du hast die Versuchung in meinen Weg gestellt, ohne mir die Kraft des freudigen Siegens zu geben; dein ist meine Schuld, nicht mein – ich wasche meine Hände in Unschuld!

Er hätte noch lange so fortsprechen können, ohne daß die Baronin ihn unterbrochen haben würde. Sie hatte ihre Hände auf ihren Knieen gefaltet, ihr Haupt ruhte auf ihren Händen. Wie die Stimme des Gerichtes tönten die langsam und gewichtig gesprochenen Worte des Geistlichen auf sie hernieder, sie glaubte eine Offenbarung zu vernehmen, ein Wunder zu erleben; denn dies Alles, eben dies Alles hatte sie sich gesagt, diese Zweifel hatten ihr Herz bewegt, zu diesen Schlüssen hatte es sie gedrängt. Wie ein Erleuchteter, ein Seher erschien ihr der Mann, der also ihre innerste Seele erkannte. Sie war wieder völlig willenlos in seine Hand gegeben. Freilich hatte er ihr Nichts gesagt, als was sie ihm seit Jahren immer und immer wieder in ihren Bekenntnissen anvertraut, und doch traf es sie wie mit einem Zauber; denn der Mensch, wie oft er sich auch seine eigene Seele zergliedert und enthüllt, ist sich neu und überraschend, wenn ein Anderer ihm das Bild entrollt, das er diesem selbst geliefert hat, und in der Ueberraschung vergißt er, daß er dies gethan.

Der Caplan hatte seinen Sitz verlassen. Hoch und ruhig auf die Gebeugte niederblickend, hütete er sich, sie zu erheben. [154] Er wußte, daß er sie zu schonen hatte, und die Baronin war ihm theuer; aber auch jetzt wieder empfand er, was er sich als einem der Glieder jener großen hierarchischen Verbrüderung schuldig sei, die sich die Herrschaft über den Menschengeist als ihr angestammtes Erbe und Recht zuerkennt.

Es war nicht sein persönliches Belieben und Empfinden, es war nicht nur das Wohl und Wehe, nicht nur die Unterwerfung dieser einen, am Abhange ihres Lebens stehenden Frau, mit denen er es zu thun hatte. In dieser Frau hatte er das Geschlecht derer von Arten an der Kirche und in der Kirche festzuhalten; aus ihrer Hand mußte und konnte er am sichersten die Machtvollkommenheit über den Knaben gewinnen, der bestimmt war, den stolzen Namen fortzupflanzen; und wäre das auch nicht gewesen – er schuldete es sich und seiner Kirche, eine Seele in ihren Banden festzuhalten, die ihr einmal gewonnen worden war und deren Bekehrung seiner Zeit viel von sich sprechen machen.

Es war still in dem Zimmer; der Caplan stand sinnend an der Seite der Baronin. Da er sie also in sich versunken sah, reichte er ihr die Hand. Es ist jetzt an Ihnen, meine arme Freundin, sprach er, mich meines Irrthums, wie ich Sie bat, zu zeihen, wenn ich mir einen solchen zu Schulden kommen ließ.

Sie hob ihr Antlitz in die Höhe, es war von Thränen überströmt. O, Vergebung, Vergebung! war Alles, was sie sagen konnte, denn ein krampfhaftes Weinen unterdrückte ihre Worte.

Seba, die sich während dieser Unterredung im Nebenzimmer aufgehalten, trat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, in die Thüre. Der Ton der Weinenden gab ihr nach ihrer Meinung ein Anrecht dazu, denn sie hatte einzustehen für das Befinden der ihr anvertrauten Kranken.

[155] Um Gottes willen, was ist geschehen? rief sie, unbeirrt durch die gebietende Erscheinung des Caplans, indem sie auf die Baronin zueilte und an ihrem Sessel niederknieete.

Nichts, nichts! entgegnete Angelika mit sanfter Abwehr.

Nichts? wiederholte Seba, während ihre klugen Augen sich von der Kranken zu dem Geistlichen und von diesem zu der Kranken wandten. Nichts – und Sie weinen, daß es Ihnen den Athem versetzt, und Ihre Hände sind so kalt? – Sie wollte auffahren in ihrer zornigen Besorgniß, aber sie überwand sich, und mit schneller Ueberlegung sich an den Geistlichen wendend, sagte sie: Herr Caplan, wir haben die Ehre, Sie unsern Gast zu nennen, und sind sehr glücklich darüber; da man aber mit seinen Gästen doch in Frieden und Freundschaft leben soll, lassen Sie uns ein Abkommen mit einander treffen!

Dem Caplan, der mit erprobtem Scharfblicke in der ganzen Haltung Seba's die Entschlossenheit eines festen Herzens erkannte und der von der Baronin bereits erfahren hatte, wie sehr diese für ihre Pflegerin eingenommen war, kam es darauf an, in Angelika keine Art von Mißtrauen gegen ihn aufkommen zu lassen. Er hielt sie wieder fest in seiner Hand, und er war wie immer gern bereit, ihr so viel Freiheit der Bewegung zu vergönnen, als er ihrem Heile angemessen glaubte. Es war sonst nicht in seiner Art, ähnlichen Aufrufen, wie Seba an ihn richtete, mit Leichtigkeit zu begegnen. Die Sprache der Galanterie, die er mit seiner Würde unvereinbar fand, hatte seinem Ernste ohnehin nie zugesagt und lag ihm jetzt noch ferner; aber er ging, von einer plötzlichen Ueberlegenheit bestimmt, auf Seba's Forderung freundlich ein und versicherte, daß er sehr bereit sei, jeden von ihr gemachten Vorschlag anzunehmen, wofern er ihm entsprechen könne.

O, gewiß, rief sie, Sie können es, nur ein wenig Güte und ein wenig Selbstverleugnung sind dazu vonnöthen! – Sie [156] kauerte neben Angelika's Sessel auf einem Schemel nieder und sagte lächelnd: Aber ich muß weit, sehr weit ausholen dürfen!

Und wie weit? fragte der Caplan, dem die Achtsamkeit nicht entging, mit welcher die scherzende Seba in den Mienen der Baronin zu lesen trachtete.

Von der Schöpfungsgeschichte an, entgegnete sie; denn wie Juden und Christen in ihren religiösen Meinungen und Vorstellungen auch aus einander gehen, die Erzählung von der Reihenfolge, in welcher Gott die Welt erschaffen hat, die haben sie gemein, und ....

Und? wiederholte der Caplan, dem Seba's geflissentlich spielendes Plaudern nur einen erhöhten Begriff von ihrer willensstarken Klugheit gab.

Und, sprach sie, sichtlich zufrieden mit sich und mit dem Eindrucke, den sie auf den Caplan machte, und es steht geschrieben: erst als Gott der Herr den Körper Adam's in Kraft und Schönheit vor sich sah, hauchte er ihm den Odem seines Geistes ein!

Der Caplan konnte seine Ueberraschung über diese Wendung nicht verbergen. Er verneigte sich vor Seba mit der Versicherung, daß er sich diese Aufklärung zu Nutze machen werde. Sie that, als höre sie nicht, daß er sie verspotte, und sich von ihrem Schemel aufrichtend, rief sie mit einem Tone leichtfertiger Zuversicht: Thun Sie das, beherzigen Sie mein Gleichniß, hochwürdiger Herr, denn ich mache sonst von dem Rechte Gebrauch, das mir der Freiherr und der Arzt einräumten, als sie die Frau Baronin mir und meiner Pflege übergaben: ich lasse Niemanden zu ihr ein, der ihr irgend eine Aufregung verursacht!

Sie haben starke Begriffe von Autorität, ich achte das, entgegnete der Caplan, dem der Charakter dieses Mädchens immer bedeutender erschien, und Sie sind geneigt, Ihre zufällige Herrschaft zu gebrauchen, wie mir scheint!

[157] Die Baronin wollte einlenken, weil sie fürchtete, Seba könne dem Caplan mißfallen; aber diese war gewohnt, sich selbst zu helfen. – Wollen Sie mich tadeln, wenn ich zu genießen suche, was noch mein, nur noch wenige Tage mein ist? fragte sie. Bis Mademoiselle Marianne eintrifft, gehört die Frau Baronin mir, und ich habe für ihr Wohlbefinden einzustehen. Es wird nicht lange dauern, und – die Augen wurden ihr feucht, obschon sie lächelte – mein Regiment ist aus! Dann, Herr Caplan, dann thun Sie Alles, was Ihnen geboten scheint, nur unter meiner Obhut, nur hier, soll meine Kranke heiter sein, soll die Frau Baronin nicht so weinen!

Sie weinte aber selbst, während sie diese Worte sprach. Die Baronin hatte ihr die Hand gereicht, Seba drückte sie an ihre Lippen. Der Caplan war jeder Bewegung, jeder Miene Seba's gefolgt. Er sah die Zärtlichkeit, mit welcher die Baronin an ihrem Munde hing, die Sorge, mit der sie auf den Eindruck achtete, den des Mädchens dreister Freimuth auf ihn machen würde, und er war zu klug, um sich in einen Kampf einzulassen, den er vermeiden konnte, ohne dadurch zu verlieren. Denn einen Streit mit einem nicht ebenbürtigen Gegner aufnehmen, heißt diesen erheben, indem man sich erniedrigt, und der Caplan besaß die vorsichtige Selbstbeherrschung des Clerus, dem er angehörte. Er verstand zu warten, aber er verstand mehr als das: er kannte die Menschen und hatte früh gelernt, sie zu beobachten.

Er hatte Seba gesehen, da sie eben in das jungfräuliche Alter getreten war, und ihr sanftes, schüchternes Wesen hatte damals nicht errathen lassen, zu welcher Kraft und Entschlossenheit sie sich entwickeln würde. Es mußten besondere Umstände mitgewirkt haben, ihr dieses Charaktergepräge aufzudrücken und sie in solcher Weise über ihre Jahre und ihre Lebensverhältnisse zu erheben. Sie hatte nicht jene Weichheit, welche das Mädchen zu kennzeichnen pflegte, sie besaß die ganze Sicherheit einer vom [158] Leben geprüften und durch dasselbe gereiften Frau. Sich unterordnend und liebevoll dienend, war sie doch die Herrschende in ihrem Vaterhause, und auch ihr Einfluß auf Angelika war unverkennbar. Wie aber war sie zu der Selbstbeherrschung gelangt, welche ihr die Macht über Andere sicherte? Denn nur derjenige, welcher seiner selbst gewiß ist, erlangt eine Gewalt über die Anderen.

Fast gegen seinen Vorsatz hatte er sein klares Auge scharf auf sie gerichtet, und sie ertrug und erwiederte seinen Blick mit Festigkeit. Nur ihre Wangen färbten sich, und der Mund, jener schwer zu beherrschende Verräther unserer Gedanken, zuckte leise, wie in stolzem Trotze. Der Caplan glaubte genug gesehen zu haben, und senkte mild die Lider, während er sich mit freundlichem Worte für diesen besonderen Fall als von ihrer besseren Einsicht und größeren Sorgfalt überwunden nannte. Ja, er ging noch weiter; er erbot sich, um jede angreifende Unterhaltung zu vermeiden, die Baronin, so lange sie in Seba's Obhut sei, nur in deren Beisein zu sprechen, denn er wisse, wie hoch ein gewissenhaftes Herz übernommene Verpflichtungen halte, und wie liebevoll man über ein Leben wache, das man mit Mühe und Aufopferung in einem geliebten Menschen zu erhalten gestrebt habe. Die Baronin reichte ihm dankbar die Hand; sie hatte gefürchtet, daß der Caplan sich erzürnen, daß er sich gegen Seba aussprechen könne, und sie liebte Seba.

Niemals war eine Freundschaftsversicherung, niemals ein Geständniß gegenseitiger Zuneigung zwischen den beiden Frauen ausgesprochen worden; sie hatten einander auch nicht um ihre Schicksale befragt, sich ihre Erlebnisse nicht besonders anvertraut, wie Frauen dies so leicht und gern thun; aber Bedürfniß, Hülfsleistung und Dankbarkeit hatten eine Neigung und endlich eine Liebe zwischen ihnen erzeugt, die so natürlich entstanden war, daß beide ihr rasches Wachsthum kaum gewahrten. Seba [159] freute sich in jedem Augenblicke an der formvollen Güte der Baronin, die Baronin genoß unablässig ihrer Pflegerin bereitwillige Hingebung. Sie rühmte dem Geistlichen, welch glückliche Tage sie verlebe, seit sie alle Dienste, deren sie bedürfe, von der Hand einer Freundin empfange, und seit sie gelernt habe, wie süß es sei, zu fordern, wo man mit der Möglichkeit des Gewährens dem Andern eine Freude zu bereiten sicher sei.

Der Caplan widersprach ihr nicht. Im Gegentheil, er erkannte Seba's Vorzüge unbedenklich an; nur einmal warf er die Frage auf, ob die Baronin irgend etwas über den Weg erfahren habe, welchen die Charakterbildung ihrer Freundin genommen, ob sie irgend welche Kenntniß von deren sittlichen und religiösen Anschauungen habe. Sie verneinte Beides, that danach aber doch die Aeußerung, daß sie vermuthe, Seba sei unvermählt geblieben, weil sie eine unglückliche Liebe im Herzen trage. Der Caplan nannte dies unwahrscheinlich, da das Mädchen Eigenschaften und Vorzüge besitze, welche auch einem anspruchsvollen Manne genügen müßten. Die Baronin schwieg eine Weile, indeß ein ihr in der Beichte zur Gewohnheit gewordenes Vertrauen in den Caplan und das Verlangen, ihre Seba nicht als eine Verschmähte erscheinen zu lassen, trugen über ihre Verschwiegenheit den Sieg davon, und zögernd, als bekenne sie eine eigene Erfahrung, sagte sie, daß ihrer Freundin Liebe, wie sie glaube, einem Manne gegolten, von welchem nicht nur ihre Religion, sondern auch sein Stand sie geschieden habe.

Sie kennen seinen Namen? fragte der Caplan; da die Baronin die Antwort nicht augenblicklich gab, ließ er jedoch selbst die Frage fallen, und erst nach einer Weile sagte er, wie man eine flüchtige Bemerkung hinwirft: Ich würde mich wundern, wenn Mademoiselle Flies sich hätte leicht entmuthigen lassen, denn an Willenskraft hat sie offenbar nicht Mangel, und Standesvorurtheile lassen sich gar oft besiegen, wenn nur die kirchlichen, [160] die religiösen Hindernisse zu besiegen sind. Wie anders aber würde dieses Mädchens Wesen sich entfaltet haben, wenn seine übergroße Selbstgewißheit durch die Erkenntniß jener göttlichen Liebe gemildert worden wäre, von welcher alle irdische Liebe nur der Abglanz eines schwachen Strahles ist!

Er brach dann diese Unterhaltung ab, sicher, daß sie in der Baronin nachwirken würde, und er hatte sich darin nicht getäuscht. Sie war unverkennbar bemüht, Seba in die Nähe des Caplans und diesen zu Erörterungen über religiöse Fragen zu bringen, wenn Seba irgend auf solche einzugehen geneigt war. Aber nachdem die Baronin auf ihren Wunsch an einem der folgenden Tage gebeichtet und das Abendmahl empfangen hatte, hielt grade der Caplan sich fest an sein gegebenes Versprechen und schien, jeder angreifenden Unterhaltung geflissentlich ausweichend, es nur auf die Pflege und Erheiterung der Kranken abgesehen zu haben.

[161]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel

Der Freiherr hatte sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen, er hatte selbst zu Gericht gesessen über die Angeklagten und Schuldigen. Aber auf den Besitzungen des Freiherrn wie überall auf dem Lande hing und hängt der niedere Mann an dem Hergebrachten. Aus dem Hergebrachten schöpft er seine Einsicht, nach dem Hergebrachten richtet er seine Folgerungen, auf das Hergebrachte stellt er sich, wenn er mit seinen Erwartungen sich an die Zukunft wendet, und was ihn von diesem Boden entfernt, flößt ihm ohne Weiteres Mißtrauen ein.

Mancher von den Insassen der Güter war wegen kleinerer oder größerer Vergehen in den letzten Jahren zur Verantwortung gezogen worden; indeß er hatte es dann, wie Adam sehr richtig bemerkt, gleich seinen Vordern, auf den Amtmann und den Justitiarius geschoben, und alle Theile hatten einander gekannt, hatten mit einander zu verkehren gewußt und ungefähr voraussehen können, worauf sie sich gefaßt zu machen hätten. Jetzt, da der Freiherr selbst Gericht halten wollte, war es ein Anderes.

Es waren Frevel geschehen, wie sie bis dahin nicht vorgekommen waren, nicht hatten vorkommen können, und da sich in den Köpfen der unaufgeklärten und kurzsichtigen Menge die Begriffe wunderlich kaleidoskopisch zusammensetzen und gestalten, hatte sich, weil die erschlagene Kammerjungfer und der gemißhandelte Koch Fremde gewesen, und weil der verwundete Geistliche [162] ein Katholik war, die Vorstellung der Leute bemächtigt, sie sollten nicht von ihrem rechtschaffenen protestantischen Herrn Justitiar nach ihrem alten Rechte und Herkommen gerichtet werden, sondern nach fremden und katholischen Gesetzen, die eben deßhalb der gnädige Herr, der ja auch katholisch war, selbst handhaben wolle. Dagegen habe der Herr Pfarrer Einspruch gethan und der gnädige Herr ihm die Pfarre zur Strafe abgenommen. Nun werde der Caplan an seine Stelle kommen und allem wahren christlichen Wesen in der Gemeinde mit Schrecken ein Ende gemacht werden.

Wo hier und da eine derartig verwirrte Vorstellung dem Amtmanne oder dem Justitiarius zu Ohren gekommen war, hatten sie dieselbe zu bekämpfen versucht, aber es ist ein Kennzeichen der Unvernunft, daß sie sich nicht überzeugen lassen mag; und wenn es dann doch gelungen war, einen oder den andern von den Männern zu beruhigen, so kamen die Frauen, welche sich weinend und wehklagend bei der Pfarrerin Raths erholen gingen, mit beängstigenden Voraussichten, mit dem Glauben an die schlimmsten Möglichkeiten in ihre Wohnungen zurück, und die mißtrauische Angst wuchs nur noch höher empor.

Unglücklicher Weise wichen die Anordnungen des Freiherrn nun auch von dem Hergebrachten ab. Sonst hatte man die Termine in der Gerichtsstube in Rothenfeld abgehalten, die Angeschuldigten waren auf wohlbekanntem Wege nach der Gerichtsstube gegangen oder gebracht worden, hatten sich an den Häusern, zwischen den Gärten hin gedrückt und in der Gerichtsstube den Justitiarius, den Schreiber, den Schulzen in der gewohnten, ihnen allen bekannten Alltagstracht gefunden, und die Angelegenheit war, wie schlimm sie für den Betroffenen auch sein mochte, doch ohne besonderen Schrecken für ihn abgegangen. Diesmal war das anders. Diesmal hatte man die Angeklagten in das Schloß beschieden, und Jedermann machte [163] sich nun auf das Aeußerste gefaßt. Denn warum ließ man's nicht beim Alten, wenn man nicht besondere Absichten hegte? Schon der Weg über den großen Schloßhof, den die Angeklagten in Begleitung der beiden Büttel vor aller Welt Augen zurücklegen müssen, war eine schwere Pein und eine Strafe für sie gewesen. Als sich das Gitter der Mauer, die den Hof umgab, dann hinter ihnen geschlossen hatte, als ihre Weiber und Angehörigen, die hingekommen waren, sie zu sehen, ihnen nicht in den Schloßhof folgen dürfen, war ihnen die Angst vollends zu Kopfe gestiegen, und nun gar da zu stehen in dem großen hohen Zim mer des Erdgeschosses, durch dessen Bogenfenster der Tag so hell hineinschien, da zu stehen vor der langen, grünen Tafel, an welcher der Justitiarius und der Schreiber, beide schwarz und feierlich gekleidet, weil sie vor dem Freiherrn zu erscheinen hatten, dessen Eintritt erwarteten, das hatte die Leute in dem Glauben bestärkt, daß man es auf sie abgesehen habe und daß ihnen zugefügt werden solle, was noch Keinem von ihnen hier zugefügt worden und was überhaupt noch nicht dagewesen sei.

Hoch aufgerichtet und mit finsterem Blicke über die Angeklagten hinstreifend, war der Freiherr in den Saal getreten, hatte sich an dem oberen Ende des Tisches niedergesetzt und dem Justitiarius ein Zeichen gegeben, das Verhör zu beginnen. Dieser, der es allerdings wußte, daß der Freiherr ein warnendes Exempel zu statuiren und den Leuten seine Gewalt fühlbar zu machen wünschte, kannte aus vieljähriger Erfahrung nichts desto weniger die dem Landmanne eigenthümliche, zögernde Hartnäckigkeit und das stumpfe Leugnen eines Schuldigen genugsam, um sich von seinem ruhig fortschreitenden Verhöre nicht abbringen zu lassen. Aber der Freiherr hatte niemals einer solchen Gerichtssitzung beigewohnt, und die Menschen, mit denen er es hier zu thun hatte, waren ihm in ihrem Charakter und in ihrer [164] Art und Weise fast völlig fremd. Wenn seine Unterthanen sonst einmal vor ihm selbst erschienen waren, hatte er sie als Bittsteller vor sich gehabt, und wer sich einer Schuld bewußt gewesen war, hatte sich gehütet, in seinen Bereich zu kommen. Selbst die eigentliche Angst und Noth, denen man meist, so gut es gegangen, abgeholfen, waren nicht leicht bis zu ihm gedrungen, und heute, wo er Angst und Noth und Schuld und scheues Mißtrauen, Alles auf einmal vor Augen hatte, empörten sie ihn.

Die düstern Mienen, der stumpfe Ausdruck, das abwartende und hinhaltende Zögern, das Schweigen auf bestimmt vorgelegte Fragen, das geflissentliche Umgehen und Leugnen der feststehenden Thatsachen regten seine Ungeduld auf und machten ihm die Leute vollends verächtlich. Er sah eine Auflehnung gegen sich und sein bestimmtes Wissen von dem Vorgefallenen darin, wenn die Schuldigen sich bestrebten, sich womöglich aus der Schlinge und Gefahr zu ziehen, und während der Justitiarius gelassen den Leugnenden einen Fuß breit nach dem andern von dem Boden streitig zu machen suchte, auf dem sie sich behaupten wollten, war der Freiherr, müde des frechen Lügens und des unverschämten Trotzens, aufgefahren und hatte befohlen, von den Leuten mit Gewalt das Eingeständniß der feststehenden Thatsachen zu erzwingen.

Es war ein schlimmer Augenblick, als man mit Stockschlägen gegen die Angeklagten verfuhr, denn es war das nicht vorgekommen seit Menschengedenken. Wohl hatte man zu allen Zeiten jugendliche Missethäter mit dem Stocke gestraft, aber man hatte nicht Geständnisse mit dem Stocke erpreßt, und es kam dem Justitiarius hart an, als der Freiherr den Befehl ertheilte. Leise bittend, versuchte er davon abzumahnen, indeß der Freiherr gab ihm kein Gehör. Er fühlte einen Widerwillen gegen die vor ihm stehenden Uebelthäter, er kam sich wie erniedrigt dadurch vor, daß er in ihrer Nähe sein, ihren Anblick [165] ertragen, die Schliche und Winkelzüge ihrer engen Köpfe verfolgen, den Ausflüchten und Listen nachspüren sollte, mit denen sie sich zu retten strebten, und er vergaß, daß nichts als sein eigenes Gelüsten, ihnen seine Oberherrlichkeit klar zu machen, ihn zu dem Amte gezwungen hatte, das verwalten zu müssen er wie eine Schmach empfand.

Ungerührt und nur angewidert von dem Anblicke der sich im Schmerze windenden und demüthigenden Schuld, ließ er die erlangten Geständnisse zu Protokoll nehmen, und stehenden Fußes sprach er seine Willensmeinung aus. Das Recht über den des Todtschlags Eingeständigen stand nicht dem Freiherrn, sondern dem Staate zu. Es wurde also der Befehl ertheilt, ihn noch in dieser Stunde, in Ketten geschlossen, an das Gericht der Kreisstadt abzuliefern. Auch die Strafen gegen die übrigen Angeklagten wurden sofort verhängt und fielen härter und strenger aus, als man es des Landes hier gewohnt war. Der Freiherr schien sich an dem Leiden Anderer für die Pein entschädigen zu wollen, welche dieser Morgen ihm bereitete.

Mit eigener Hand unterschrieb er das Verhör und den Bericht, die nach der Kreisstadt mitgegeben wurden, eigenhändig unterzeichnete er das Urtheil seiner Leute, und finsterer noch, als er gekommen war, schritt er, ohne sie und ihr niedergeworfenes Flehen eines Blickes zu würdigen, an ihnen vorüber und zum Saale hinaus.

Er hatte die Angelegenheit erledigt haben wollen, ehe die Baronin wiederkehrte, ehe die gräflich Berka'sche Familie auf das Schloß kam. Nun hatte er sie abgethan, und doch fühlte er sich nicht leichter. Es war ein Mißton in sein Inneres gekommen, den er sich selber nicht zu deuten wußte, aber er hörte ihn immerfort peinlich in sich erklingen, er konnte ihn nicht verstummen machen. Das Wohlwollen, welches er gegen seine Unterthanen sonst gefühlt hatte, war wie aus seiner Brust gerissen; [166] er sah mit verachtendem Widerwillen auf das Volk herab, und ein bitteres Hohnlachen war die Antwort, die er sich gab, als er seine gegenwärtigen Erfahrungen und seine jetzige Stimmung mit den philanthropischen Bestrebungen und Ansichten seiner jungen Jahre verglich.

Er hatte früher sich oftmals darüber ausgesprochen, daß ein Edelmann seine Würde nirgends so völlig behaupten könne, als auf seinem Grund und Boden; daß er einen großen und schönen Theil seiner Standesvorrechte opfere, wenn er sich hinter die Mauern der Städte zurückziehe und in die Nähe der Höfe begebe, und obschon er von Natur gesellig war, hatte sein Hang zu völliger, selbstbestimmter Freiheit ihn das gesonderte Leben auf dem eigenen Hofe immer als einen Vorzug betrachten machen. Jetzt dünkte es ihm angenehm, der Nähe und der Berührung mit der stumpfen Masse des niederen Volkes möglichst enthoben zu sein, und sein ästhetischer Widerwille gegen dessen Rohheit schlug, ohne daß er sich dessen klar bewußt war, in jene auf das bessere Blut begründete aristokratische Geringschätzung des Volkes um, das ihm gehörte und aus dessen Arbeitskraft er die Möglichkeit zu seiner freien, edelmännischen Selbstbestimmtheit und Willkür schöpfte.

Er war unzufrieden mit Allem, was ihn umgab, er meinte immer und immer aufs Neue zu erkennen, daß er sich auf falschem Wege befunden, daß er nicht genug Zucht gehandhabt, daß er in gütiger Lässigkeit überall zu viel freies Belieben um sich her bestehen lassen; denn das freie Belieben des ungebildeten und unreifen Menschen begann ihm, je schärfer er die Verhältnisse ins Auge faßte, immer entschiedener als die Quelle alles Uebels zu dünken, und während er in seiner warmherzigen und glückverlangenden Jugend daraus den Schluß gezogen haben würde, daß man mit allen möglichen Mitteln danach streben müsse, der Unbildung durch Verbreitung von Aufklärung ein[167] Ende zu machen, meinte er jetzt verdüsterten Sinnes aus seinen eigenen Erfahrungen zu erkennen, daß der einzelne Mensch und vor Allem die große Masse durch Güte nicht zu gewinnen und der bildenden Erziehung nicht zugänglich sei, daß man ihr also keine Freiheit verstatten dürfe, wenn man sich und sie selber nicht der Gefahr eines gefährlichen Mißbrauchs dieser Freiheit aussetzen wolle.

Immer geneigt, in Allem, was ihn persönlich betraf, an eine gewissermaßen sichtbare Einwirkung der Vorsehung zu glauben, schien es ihm ein Fingerzeig des Himmels zu sein, daß diese Erkenntniß sich ihm eben durch einen gegen seinen Kirchenbau verübten Frevel neu bestätigte. Er war gegen denselben in den letzten Jahren gleichgültig geworden, er hatte selbst oft gewünscht, ihn nicht begonnen zu haben; nun, da der Bau sich so stattlich erhob, daß er seine künstlerische Lust neben der Besitzesfreude daran hatte, nun wurde er durch ein von der wüsten Rohheit begangenes Verbrechen daran gemahnt, daß die Masse des Zügels und der Zucht nicht entbehren könne; und daß diese ihr unerläßliche Zügelung ihr von dem protestantischen Pfarrer nicht angelegt worden sei, dafür meinte er die Beweise jetzt zur Genüge erhalten zu haben.

Während er eben so erbittert als schwermüthig im Laufe des Tages und noch spät am Abende im vertrauten Gespräche mit der Herzogin seine Seele von ihrem Kummer zu entlasten strebte, brannten und brüteten der Zorn und der Haß gegen ihn in den Gemüthern seiner Hörigen. Nicht nur die Familien der Schuldigen und Bestraften waren in ihren Herzen gegen ihn empört, auch die völlig Schuldlosen, auch die besten und ihm bis dahin anhänglichsten unter seinen Leuten waren ihm aufsässig und verwünschten mit seiner Hartherzigkeit auch sein Herrenrecht. Sie hätten es nicht zu sagen gewußt, was sich in ihnen und in ihrem Verhältniß zu ihrem Herrn geändert hatte, [168] aber der Amtmann und der Justitiarius erkannten, was geschehen war, und hatten in ihrer richtigen Voraussicht und in richtigem Verständniß des Volkscharakters und des Menschenherzens den Freiherrn von persönlichem Einschreiten in der eigenen Sache fern zu halten gewünscht.

Es war nicht die Härte der Strafe, ja, nicht einmal die Art, in der man die Schuldigen zum Geständniß gezwungen, gegen welche das Bewußtsein der Leute sich auflehnte. Es hatte, seit die erste Aufregung in den Pfingsttagen vorüber gewesen war, kaum einen Menschen auf den Gütern gegeben, der das Geschehene nicht bedauerte und der nicht der vollen Meinung gewesen wäre, daß es bestraft werden, schwer bestraft werden und die Strafe hingenommen werden müsse. Hätte der Herr Justitiarius den des Todtschlags schuldigen Stephan in Ketten nach der Stadt geschickt, hätte er den Stellmacher, der nach der Aussage des Kochs diesen niedergeworfen und mißhandelt hatte, schließen, ihn bei Wasser und Brod, wie der Freiherr es gethan, in das seit Jahren nicht mehr benutzte sogenannte Verließ einsperren, und den blödsinnigen Burschen, der den Herrn Caplan verwundet, von dem Büttel peitschen lassen, sie würden es hingenommen haben, ohne mehr denn gewöhnlich zu murren und zu klagen; denn der Justitiarius war dazu da, auf das Recht zu sehen. Er handelte nicht für das Seinige, er war dem Herrn verantwortlich und ward dafür bezahlt, auf des Herrn Vortheil und Zukommen zu achten so gut wie der Amtmann. Er konnte nichts verzeihen, er konnte nichts schenken, er konnte und durfte nicht Gnade für Recht ergehen lassen. Aber der Herr konnte es, dem Herrn hatte Niemand zu befehlen, er war Niemandem verantwortlich, er konnte Erbarmen haben – und er hatte kein Erbarmen gehabt.

Ein Wunder war das, wie die Leute meinten und es zu einander sagten, freilich nicht; denn was wissen die Reichen und [169] Vornehmen von der Noth und der Sorge des Armen? Ob der Freiherr da war, ob er lebte oder starb, seine Frau und sein Sohn wohnten in dem Schlosse, Wald und Feld, Wiese und Höhe gehörten ihnen. Seit Menschengedenken war es ihnen von Vater auf Sohn so zugefallen. Ohne daß sie die Hand rührten und den Arm bewegten, war ihnen Alles in den Mund gewachsen und sie hatten nach Keinem zu fragen gehabt, und gethan und gelassen, was ihnen wohlgefallen. Wer hatte denn den gnädigen Herrn zur Rechenschaft gezogen, als die Pauline in das Wasser gesprungen war? Ob man einem Menschen in der Hitze des Augenblicks das Leben nimmt, oder ob man ihn langsam dahin bringt, daß er es sich vor Verzweiflung selber nehmen muß, das sei wohl das Nämliche, ja, das Letztere sei im Grunde schlimmer. Denn die fremde Kammerjungfer hatte ihr ehrliches Begräbniß gehabt, und die arme Pauline, die guter Leute Kind gewesen war, wie nur Eine, war ohne Sang und Klang als ekler Leichnam auf einem unbezeichneten Platze in der Ecke des Kirchhofes eingescharrt worden, hatte mit ihrem Selbstmorde ihrer Seele Seligkeit verscherzt, und selbst das Haus hatte man niedergerissen, worin sie einst gewohnt. Wenn das nicht eine Sünde und ein Verbrechen gewesen war, dann war nichts Sünde; aber freilich, dem Armen sieht man auf die Finger und dem Reichen durch die Finger, und dem armen, gedrückten und geplagten Menschen wird das Herz zuletzt so voll gemacht, daß er sehen muß, wie er sich's befreit, wenn für ihn nicht Erbarmen zu finden ist, wo er es zu suchen hat.

Den ganzen Tag hindurch standen die Thüren im Amte und in der Pfarre nicht still. Die Leute kamen, um vor Leidensgefährten sich auszusprechen. Sie wußten gut genug, daß der Amtmann und seine Schwester sich über die Herrschaften zu beschweren hatten, sie wußten, daß es dem Pfarrer und [170] seiner Frau hart ankommen würde, die Pfarre zu verlassen, sie hofften von der Unzufriedenheit der Gekränkten Aufmunterung für ihre eigene Erbitterung und ihren Haß zu finden, und wenn sie sich nicht nach Erwarten aufgenommen fanden, gingen sie mit erhöhtem Widerwillen und neuem Grolle von dannen, denn sie sagten sich: Was schiert's im Grunde den Amtmann und den Pfarrer, was aus uns wird? Der Amtmann hat sein Schäfchen in das Trockene gebracht, und zu leben hat der Pfarrer auch. Sie sind Einer wie der Andere, es hat keiner ein Herz im Leibe für des Armen Noth. Sie treten Alle, Alle auf den Armen. Aber auch der Wurm krümmt sich und sticht, wenn er's vermag, er muß nur den rechten Fleck und den rechten Augenblick abzupassen wissen.

Es sah übel aus in der Herrschaft! Das alte patriarchalische Verhältniß, auf welches der Freiherr so stolz gewesen, war nach allen Seiten hin bis auf den Grund zerstört. Er fühlte sich geschieden von seinen Leuten, er hatte das Bewußtsein, ihre Liebe und Verehrung eingebüßt, ihren Haß auf sich geladen zu haben, und sie waren ihm verhaßt geworden. Der Amtmann begann die Tage zu zählen, die er in dem ihm jetzt so lästigen Dienste noch zu verleben hatte, Eva konnte es kaum erwarten, sich und Herbert und den Bruder von jedem Zusammenhange mit den Herrschaften frei zu sehen; der Justitiarius seinerseits fand sich durch das persönliche Einschreiten des Freiherrn in seiner Amtswürde beeinträchtigt, und in der Pfarre war man eigentlich am niedergeschlagensten, denn nicht allein für sich, nein, für die ganze Gemeinde fürchtete man dort das Aeußerste.

[171]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel

Während dessen lebte die Baronin stille friedliche Tage in Gesellschaft ihrer Freundin und ihres geistlichen Berathers. Man hatte ihr im Garten unter den großen Bäumen ein leichtes Zeltdach aufschlagen lassen, in welchem sie vom Morgen bis zum Abend weilte. Die Nähe der bevorstehenden Trennung machte die Freundinnen nur des Glückes bewußter, welches sie jetzt genossen, und doch meinte Seba zu fühlen, daß Angelika sie in einer ihr sonst nicht eigenthümlichen Weise beobachte, daß sie ihr etwas sagen wolle, etwas auf dem Herzen habe, und es fiel ihr auf, daß sie, seit der Caplan im Hause war, das Gespräch so häufig auf religiöse Fragen und Gegenstände richtete, die sie sonst geflissentlich vermieden hatte. Auch von ihren Familienverhältnissen sprach sie jetzt noch öfter und noch rückhaltloser, als sei ihr daran gelegen, der Freundin ein Zeichen ihres Vertrauens zu geben, und es wollte Seba überhaupt bedünken, als suche die Baronin jetzt geflissentlich ihr nahe und näher zu treten, als walte neben dem natürlichen Zuge ihres Herzens noch eine Absicht in ihr vor. Es war, wie gesagt, regelmäßig der Caplan, welcher die Unterhaltung ablenkte, wenn die Baronin in seinem Beisein der geistigen Wandlungen gedachte, die sie erlebt, wenn sie des Trostes erwähnte, den sie in dem Anlehnen an einen unsichtbaren Helfer und in dem Beistande eines treuen, welterfahrenen und verschwiegenen Berathers gefunden habe, und Seba wußte ihm dies Dank. Auch[172] hatte er sich trotz seiner Zurückhaltung bald genug in das Leben der Flies'schen Familie hineingefunden und das Zutrauen der Eltern und der Tochter eben durch seine Zurückhaltung gewonnen.

Er besaß alte Bekannte und Freunde in der Stadt, hatte mit seinen geistlichen Amtsgenossen, deren es mehrere an der katholischen Kirche des Ortes gab, von Alters her Verkehr, und da er außerdem in den Morgenstunden die Bibliotheken zu besuchen pflegte, während auch die noch immer nicht aufgegebenen Nachforschungen nach Paul einen Theil seiner Zeit beanspruchten, waren Seba und die Baronin nach den ersten Morgenstunden, in welchen Angelika mit dem Caplan die gewohnten religiösen Betrachtungen wieder aufgenommen hatte, sich bis zum Mittag selber überlassen.

Eines Morgens hatten sie in dem hellen Sommerwetter lange und ruhig plaudernd bei einander gesessen. Man erwartete am folgenden Tage das Eintreffen von Mamsell Marianne, und die Heimkehr der Baronin sollte dann in kleinen Tagereisen vor sich gehen. Die Freundinnen hatten die Möglichkeit eines Wiedersehens besprochen, das durch den Umzug der Flies'schen Familie nach der Residenz gar sehr erschwert ward; ein ausführlicher Briefwechsel war verabredet worden, als die Baronin sich erhob, um, auf Seba's Arm gestützt, in den Gängen des Gartens umher zu wandeln. Man konnte dabei einige der Nachbarhäuser sehen; die Baronin wollte wissen, wem sie gehörten, und plötzlich den Kopf nach dem Flies'schen Hause zurückwendend, fragte sie, ob Herbert's Zimmer nach der Seite des Gartens gelegen wären.

Herbert's Zimmer? Also Sie wußten es, daß er in unserem Hause wohnt? rief Seba und wurde roth, als habe sie sich ein Unrecht vorzuwerfen und als bereue sie den Ausruf.

Zweifeltest Du daran? entgegnete die Baronin; sieh', da bin ich scharfsichtiger gewesen. Ich erkannte grade an der [173] Sorgfalt, mit welcher Ihr es vermiedet, Herbert's vor mir zu gedenken, daß Ihr Alle wußtet, was ich für ihn empfunden habe, und ich hatte mir vorgenommen, es Dir zu sagen – denn weßhalb sollte ich es Dir verschweigen, da ich Dich wie eine Schwester liebe?

Sie verlangte sich niederzusetzen, und Seba meinte sie nie schöner als in diesem Augenblicke gesehen zu haben. Ihre Augen glänzten, obschon die Lider sie verschämt bedeckten, ihr Mund lächelte, während der Schmerz ihn leise umspielte, und es lagen in ihrer Stimme wie in ihrem ganzen Ausdrucke eine Unschuld und Wahrhaftigkeit, die etwas Ueberwältigendes für Seba hatten.

Ich habe viel gelitten, liebe Seba! nahm die Baronin das Wort: denn schön, wie die Empfindung war, die mich zu Herbert zog, war sie mir nicht mehr erlaubt. – Sie hielt wieder inne und sagte dann: Es war sein Mitleid mit mir, das mich rührte; es waren seine Jugend und seine Warmherzigkeit, die mich zu ihm zogen. Ich trug eine Sehnsucht nach Liebe in der Brust, und ich vergaß, daß Gott nicht jedem Menschen die Erfüllung seiner Wünsche für zuträglich erkennt. Ich wollte glücklich sein nach meinem Ermessen, nicht das Glück erkennen, welches Gottes Rathschluß mir zuertheilt hat, und ich habe noch immer Stunden, in denen ich ohne den Beistand meines guten Beichtigers mich nicht auf mich selber verlassen könnte, obschon der Tod ein guter Lehrmeister ist und man in seiner Nähe mit neuen Augen sieht. Ich habe viel, recht viel gelernt, als ich mich ihm verfallen glaubte, und ich habe mit Gottes Beistand noch Vieles zu vergüten in der Welt. Auch Herbert habe ich Unrecht gethan und will versuchen, es ihn vergessen zu machen. Sage ihm das, Liebste, wenn Du ihn wiedersiehst, und – fügte sie mit tiefer Traurigkeit hinzu – Du sollst es wissen, Du ganz allein: ich fürchte, ich werde daran sterben, daß ich mein ungenügsam Herz und meine Pflicht nicht [174] mit einander zu vereinen, daß ich mir nicht genügen zu lassen wußte.

Seba hätte ihr Muth einsprechen mögen, aber sie vermochte es nicht. Eine Traurigkeit wie diese schien ihr über den Trost erhaben zu sein, und die Baronin hatte es auf einen solchen auch nicht abgesehen, denn sie ergriff Seba's Hand, schloß sie in die ihrige und sagte: Ich wollte Dir das gern sagen, liebe Seba, damit Du siehst, wie sehr ich Dir vertraue, wie ich Dich liebe und kein Geheimniß vor Dir haben will! Aber – und sie schlang ihren Arm mit mädchenhafter Zärtlichkeit um Seba's Nacken – auch von Dir, Liebe, weiß ich mehr, als Du mir anvertraut hast, und auch das wollte ich Dir eigentlich sagen, ehe Marianne morgen kommt und ehe wir von einander gehen!

Seba bog sich zurück, daß sie sich von dem Arme Angelika's freimachte, sah sie mit starrem Auge an und sprach kalt und tonlos: Sie wissen Nichts!

Doch, Liebe, ich weiß! sagte jene, die nicht fassen konnte, was mit Seba vorging.

Aber diese ergriff die Hand der erschreckten Frau, und sie eben so schnell, als sie dieselbe erfaßt hatte, wieder von sich stoßend, rief sie hart und fest: So vergessen Sie, was Sie wissen!

Die Baronin verstummte; Seba sah finster brütend vor sich nieder. Sie hatte es wohl vernommen, wie Angelika ihr unaufgefordert zum ersten Male das schwesterliche Du gegönnt; sie hatte sich dessen gefreut, sie war gerührt worden von der Hingebung, mit welcher ihr die Baronin ihr Vertrauen gewährt hatte, um das ihrige zu erhalten. Nie hatte ihr Herz sich mehr befriedigt, nie hatte sie sich glücklicher, als in der Liebe dieser Frau gefühlt, und eben durch das flüchtige Glück heraufbeschworen, trat das Schrecken ihrer Vergangenheit plötzlich wieder dämonisch vor sie hin. Sie kämpfte einen bittern, schweren Kampf. Das menschlich berechtigte Verlangen, einmal in ihrem [175] Leben ihr Herz zu entlasten, die Scheu es auszusprechen, was sie erlitten und gefehlt hatten, und vor Allem die Sorge, der kranken Angelika ein Mitwissen und einen Schmerz aufzuladen, welche für sie, für Gerhard's Schwester, schwerer als für jeden Andern zu tragen sein mußten, stritten in Seba's Inneren mit wechselnder Gewalt, aber die Liebe für Angelika trug über jedes selbstsüchtige Verlangen den Sieg davon, und matt und wie erschöpft von ihrem stillen Ringen und Selbstüberwinden, sagte sie: Die Stunde ist nun da, vor der mir oft gebangt hat und in der ich auf Deine Liebe verzichten oder fordern muß, was nur große Liebe gewähren kann! Glaube, daß ich nicht unwerth bin der Liebe und des Vertrauens, deren Du mich würdigst; glaube, daß sie mein Glück, mein höchstes Gut sind – aber frage mich Nichts!

In ernstem Schweigen blieb sie an der Seite der Baronin sitzen. Angelika war auf einen solchen Ausgang nicht gefaßt gewesen. In ihr Mitleid mit der Freundin mischte sich ein Gefühl der Kränkung. Sie war es nicht gewohnt, sich zurückgewiesen zu sehen, und was konnte, was mußte zwischen ihrem Bruder und Seba vorgegangen sein, daß diese vor der Erinnerung mit so kranker Scheu zurückwich? Sie mochte die Gedanken nicht verfolgen, welche sich ihr aufdrängten, und beiden Frauen kam das Dazwischentreten des Caplans gelegen, der, eben heimgekehrt, gleichzeitig mit den brieflichen Nachrichten des Freiherrn auch ein Schreiben der Gräfin Berka erhalten und diese nun beide der Baronin zugänglich zu machen hatte.

Angelika war sehr ergriffen, als sie zum ersten Male wieder ein direktes Lebens- und Liebeszeichen der Ihrigen erhielt. Und ich sollte meine Leiden nicht segnen, ich sollte nicht erkennen, daß die Vorsehung ihre wundersamen Wege hat und daß sie uns für unsere Schmerzen himmlische Belohnungen zu bereiten weiß! rief sie, während ihre bebenden Hände die Briefe ihrer [176] Eltern an ihre Lippen drückten und ihre Augen in Freudenthränen glänzten. Ja, gewiß, es gibt wunderbare Ausgleichungen und Herzenstrost, wenn man desselben eben nöthig hat! –

Sie mochte kaum bedenken, wie wehe sie Seba mit diesen Worten that, denn die ganze Rücksichtslosigkeit des Glückes war über sie gekommen; aber der Caplan sah die Niedergeschlagenheit in des Mädchens Mienen, und es entging ihm eben so wenig, daß die Baronin den Ausdruck ihrer Freude nicht so ausschließlich wie sonst an ihre Freundin richtete. Es mußte etwas zwischen ihnen vorgefallen sein, es mußte sich ein Zwiespalt zwischen ihnen aufgethan haben, und dem Geistlichen kam dies nicht unerwünscht; denn die Gesellschaft eines Freidenkenden, eines Zweiflers hat, selbst wenn er seine Meinungsäußerung zurückhält, immer ihre Gefahren für die Ruhe eines Herzens, das man in den Banden des zweifellosen Glaubens und in den geistigen Schranken festzuhalten wünscht, in welche der kirchliche Zwang die Seelen bannen muß, um seine Gewalt über sie nicht zu verlieren; und ohne den Anschein der Neugier auf sich zu laden, hatte der Caplan dennoch in den verschiedenen Unterhaltungen mit Madame Flies und mit der Kriegsräthin den Namen des Mannes erfahren, welchen Seba geliebt hatte. Er war, wie Seba's Wesen sich ihm kund gab, für sein Theil überzeugt, daß sie dem Grafen näher gestanden, als ihre Eltern und ihre Freunde wußten, daß sie ihre Unschuld an ihn verloren habe und daß eine Festigkeit und Abgeschlossenheit wie die ihrige nicht aus einem jungfräulich unentweihten Herzen erwachsen konnten.

Aber weit mehr als die kleine Verstimmung, welche die Freundinnen gegen einander augenblicklich hegten, seinen Absichten entsprach, war die Versöhnung mit ihrer Familie ihm für Angelika bedenklich, und er fragte sich, ob in diesem Falle es nicht geboten sei, die Freundschaft und den Zusammenhang [177] seines Beichtkindes mit Seba zu begünstigen, um in dieser ein Gegengewicht gegen den Einfluß zu gewinnen, den der erneute Verkehr mit ihrer Familie auf die Baronin auszuüben nicht verfehlen konnte. Er hielt es für wahrscheinlich, daß die Gräfin Berka die liebevolle Hingebung der Baronin an die Tochter ihres Juweliers sehr auffallend finden und nicht billigen würde; er sah es voraus, daß bei dem Grade von Selbstständigkeit, den die Baronin eben jetzt gewonnen hatte, ein Widerspruch ihrer Familie sie nur fester an Seba binden müsse, und er hielt es für gut und heilsam, wenn sich gleich Anfangs irgend ein trennendes Element zwischen sein Beichtkind und dessen protestantische Angehörige stellte, wenn dem Herzen der Baronin auch von dieser Seite kein volles Genügen geboten, wenn ihr vielmehr Hindernisse und Beunruhigungen in den Weg gestellt wurden, welche zu beseitigen, zu beschwichtigen und tragen zu helfen, sie ihres religiösen Glaubens und seines Beistandes nöthig haben mußte.

Da der Freiherr es von dem Ermessen des Caplans und von den Wünschen der Baronin abhängig gemacht hatte, in welcher Weise das Wiedersehen mit ihren Eltern ausgeführt werden sollte, erklärte Angelika sich sofort bereit, auf den Vorschlag ihrer Mutter einzugehen, die sich erboten hatte, die Tochter holen zu kommen und sie selber nach Richten zu geleiten, wo der Vater sie erwarten und wohin die übrigen Familienmitglieder sich erst begeben sollten, wenn das Befinden der Baronin ohne Nachtheil den Verkehr mit einem größeren Menschenkreise zulassen würde.

Ein reitender Bote des Grafen hatte die Anfrage und das Anerbieten der Gräfin überbracht und sollte den Bescheid der Tochter mit zurück nach Berka nehmen. Der Graf hatte ihm einen zweiten Boten nachgesandt, der die Wiederkehr des ersten auf halbem Wege erwarten sollte, um dann mit dem Relaispferde[178] den ersehnten Brief der Tochter so schnell als möglich in die Hände der Eltern zu bringen. Am Abende des nächsten Tages konnte er in Berka, am Morgen des fünften Tages konnte die Gräfin in den Armen ihrer Tochter sein.

Die erste Freude kennt nicht Raum, nicht Zeit; sie überflügelt beide, um dann in sehnsüchtiger Ermüdung das unerbittlich gleichmäßige Fortschreiten der Secunden desto schwerer zu empfinden. Sie kennt Nichts, als ihr Ziel, und vergißt mit erbarmungsloser Gleichgültigkeit, was hinter ihr liegt, was sie noch von ihrem Ziele trennt und was sie opfern muß, es zu erreichen. Nur Ein Gedanke, nur Eine Empfindung waren in der Baronin mächtig: das Glück über die ihr bevorstehende Vereinigung mit ihren Eltern und Geschwistern.

Daß sie sich von ihren Pflegern trennen, daß sie Seba verlassen mußte, schien ihr völlig zu entfallen; sie schien sich nicht zu erinnern, wie ihr vor dem Abschiede gebangt, wie sie noch vor wenig Stunden alle ihre Hoffnung darauf gerichtet hatte, sich den Zusammenhang mit der Freundin zu erhalten, vor der kein Geheimniß zu haben ihr eine Herzensbefriedigung gewesen war. Selbst der Zurückweisung, die sie erfahren, gedachte sie in diesem Augenblicke nicht, und Seba liebte sie zu sehr, um sie an sich zu mahnen und die Freude der Baronin durch ein Zeichen ihres eigenen Schmerzes beeinträchtigen zu mögen.

Angelika hatte beabsichtigt, in ihren Zimmern Nichts rühren und Nichts einpacken zu lassen, bis Marianne dies thun könnte; jetzt ließ die Ungeduld sie nicht rasten. Sie hatte ihren Eltern selbst geschrieben und den Caplan beauftragt, den Freiherrn, mit genauer Angabe der getroffenen Verabredungen, von ihrem Entschlusse in Kenntniß zu setzen. Mit dem Kalender in der Hand hatte sie die Tage gezählt, welche bis zu ihrer Ankunft in Richten noch verfließen mußten. Man hatte die Nachtquartiere ausgewählt und die Maßregeln so getroffen, daß mit [179] der Estafette, die man dem Freiherrn sandte, auch die Benachrichtigungen an die verschiedenen Gasthausbesitzer mitbefördert wurden, und kaum waren diese Geschäfte abgethan, so verlangte die Baronin, selbst Hand an das Einpacken wenigstens der kleinen Geräthschaften zu legen, deren sie sich zu bedienen pflegte.

Da sie zu schwach war, sich längere Zeit stehend zu erhalten und in den Stuben umher zu gehen, trug Seba ihr die Schatullen und Kästchen zu, holte die verschiedenen Gegenstände, welche Angelika nicht mehr nöthig zu haben glaubte, herbei, und die Baronin bat und forderte, bestimmte und begehrte, wickelte ein und packte und war so von ihrer Arbeit hingenommen, daß sie es gar nicht bemerkte, wie Seba still geworden war und welche Traurigkeit sich über sie gelagert hatte.

Auf den Wunsch der Baronin mußte der Caplan hinuntergehen, um Herrn Flies und seine Frau von dem Geschehenen in Kenntniß zu setzen. Sie kamen beide herauf, es wurde Alles noch einmal besprochen; das sichtliche Bedauern ihrer Wirthe, sie bald scheiden zu sehen, rührte die Baronin und erweckte ihre ganze Dankbarkeit. Sie war gut und herzlich gegen Seba's Eltern, sie sprach auch dieser zu, aber es war etwas Rasches, Flüchtiges in ihrer Weise, es war der Ton nicht mehr, den Seba kannte, der aus dem tiefsten Herzen kam, und mit aufsteigendem Zweifel fragte sie sich: Hätte ich auch sie vergebens geliebt?

Am anderen Tage kam Mamsell Marianne. Man hatte sie zu der Baronin beschieden, ohne sie von dem geschehenen Verkaufe des Hauses, in welchem sie ihr ganzes Leben zugebracht, in Kenntniß zu setzen, und es kostete Mühe, sie zu beruhigen, als sie es erfuhr. Die Baronin behielt sie bei sich, nahm augenblicklich ihre Dienste an, um ihr durch die Gewißheit, daß sie ihrer Herrin nothwendig sei, die Trennung von der alten und den Uebergang in die neue Heimath zu ersetzen. [180] Marianne that ihr Bestes, aber für sie war der Abstand, welcher die Nichte ihres Fräulein Esther, die Freifrau von Arten-Richten von den Personen trennte, in deren Hause sie ihre Frau Baronin zufällig antraf, ein gar zu großer. Sie konnte sich nicht darin finden, die gnädige Frau ohne ihre Dienerschaft zu sehen, es kränkte sie, wenn nicht ein Kammerdiener, sondern Seba der Baronin den Tisch bereitete und die Speisen zutrug, und es beleidigte alle ihre Vorstellungen, wenn Angelika, was sie jetzt immer that, die Freundin Du hieß und ihr mit Schmeichelnamen und mit den freundlichsten Worten für ihre Dienste dankte. Unter dem Vorwande, ihr die Mühe abzunehmen, strebte Marianne danach, Seba von diesem Thun zurückzuhalten, und die Baronin selbst ersuchte die Freundin aus Rücksicht für Marianne, die alte Dienerin walten zu lassen. Seba erkannte und ehrte die Beweggründe Angelika's, aber mit den feinen Sinnen eines zärtlichen Herzens empfand sie, wie mit dem Hinzukommen von Mamsell Marianne eine fremde Welt zwischen sie und Angelika getreten sei. Sie mußte eine stumme Zuhörerin machen, wenn Marianne von den zahlreichen Verwandten und Bekannten der Häuser von Arten und von Berka erzählte, die in der Residenz ansässig waren, wenn sie von der Herrschaft sprach, die zu ihres Fräuleins Zeiten in das Haus gekommen oder die Gäste der Baronin gewesen waren, als diese die Residenz bewohnte. Sogar die feierlich unterwürfige Art, in der sie zu der Baronin redete und mit der sie sie bediente, fiel Seba auf, und während sie sich bis dahin des Gedankens erfreut hatte, daß Angelika es in ihrem Hause und in ihrer Pflege so gut als möglich gehabt habe, fing es sie zu beunruhigen an, daß sie doch Mancherlei entbehrt haben könne, und das that ihr wehe. Sie kam sich arm vor, weil sie fürchtete, daß sie nicht Alles zu schaffen und zu gewähren vermocht habe, was lange Gewohnheit ihrer Freundin zu einem, von der weniger Verwöhnten nicht gekannten und also auch nicht vorausgesehenen [181] Bedürfniß gemacht. Der Dank Angelika's, den sie bis dahin mit gutem Glauben aufgenommen hatte, begann sie zu ängstigen, aber die Baronin, die sonst mit höchstem Verständniß jeder Regung in dem Herzen der Freundin zu folgen pflegte, hatte jetzt keinen anderen Gedanken, als den an ihre Mutter.

Es war schon spät am Abend, als die Gräfin Berka, an dem festgesetzten Tage, vor dem Flies'schen Hause vorfuhr. Man hatte Angelika willfahren und ihr das Wiedersehen der Mutter gleich nach deren Ankunft gestatten müssen, um der sie aufregenden Spannung und Erwartung ein Ende zu machen. Seba hatte die Gräfin zu ihrer Tochter hinaufbegleitet, sie hatte gesehen, wie sie einander in die Arme gesunken waren; dann hatte sie sich entfernt. Mehr als eine Stunde war vergangen, ehe die Baronin durch Mamsell Marianne den Caplan zu sich bescheiden und dann auch Seba und ihre Eltern bitten ließ, sich zu ihr zu bemühen.

Die Gräfin kannte Herrn Flies und seine Frau. Sie hatte manche Bestellung, manchen Einkauf bei ihnen gemacht und sie immer für rechtschaffene Leute gehalten. Sie erinnerte sich, daß Graf Gerhard einmal in ihrem Hause gewohnt habe, und wußte es ihnen recht sehr Dank, daß sie sich der Baronin so eifrig angenommen. Aber es dünkte ihr so natürlich, daß eine Familie wie die Flies'sche sich eine Pflicht und eine Ehre daraus machte, der Baronin von Arten beizustehen, sie fand es so selbstverständlich, daß Seba sich glücklich fühlen müssen, ihrer Tochter, ihrer Angelika, helfen und dienen zu dürfen; und es waren nicht Seba's Hingebung und Liebe, die sie schätzte und anerkannte, sondern der richtige Tact, mit welchem diese sich zurückzog, seit die Gräfin ihre Stelle neben der Tochter wieder einnahm.

Angelika war wie von einem Zauber befangen und gelähmt. Sie fühlte es, wie die herablassende Freundlichkeit ihrer Mutter [182] ihre Gastfreunde und vor Allen Seba kränken mußte, sie hörte so gut wie diese das Abfindende und Verabschiedende in dem Dankesworte der Gräfin; aber sie mochte die Mutter nicht tadeln, von der sie so lange getrennt gewesen war, sie wagte nicht, ihr in diesen ersten Stunden des Beisammenseins es zu erklären, welch lebhafte Neigung, welche Freundschaft sie für Seba fühlte, und Seba's Verschlossenheit hatte sie in ihrem eigenen Empfinden irre gemacht.

[183]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel

Die Nacht verging der Baronin nicht gut. Die Freude hatte sie zu sehr aufgeregt, die Erinnerungen langer Jahre hatten sie zu mächtig bestürmt, die Nähe ihrer Mutter hatte ihr nach dem ersten Aufwallen der Freude und der Rührung es fühlbar gemacht, welche Wandlungen in und mit ihr vorgegangen waren, und was der Freiherr durch rasches Nachdenken in sich zum Bewußtsein gebracht hatte, jene Einsicht, daß lange Trennungen eine Rückkehr in die früheren Verhältnisse unmöglich machen, das bewies sich für die Baronin durch das Zusammensein mit ihrer Mutter.

Der Caplan fand sie, als er am Morgen zu ihr kam, in einer Niedergeschlagenheit, die sehr gegen die freudige Erwartung der vergangenen Tage abstach, und ohne daß er sie darum zu befragen brauchte, schilderte sie ihm den Kampf in ihrem Herzen. Trotz der Herrschaft, welche ihr Gatte über sie ausgeübt, hatten die Jahre und die natürlichen Verhältnisse sie an eine Selbstbestimmung gewöhnt, in welcher sie sich durch die Gräfin in jedem Augenblicke beschränkt fand. Weil sie mit ihrer Mutter, seit sie ihr Vaterhaus verlassen, nur einmal und wenige Tage beisammen gewesen war, und weil diesem flüchtigen Beisammensein eine durch lange Jahre fortgesetzte Trennung gefolgt war, hatte sich Angelika's Bild in dem Herzen ihrer Mutter nur in ihrer mädchenhaften Gestalt, nur in dem töchterlichen Verhältnisse erhalten, und mit der Tochter wieder vereint, hatte die Gräfin, [184] da ohnehin die Krankheit Angelika's dazu verlockte, sich der Bestimmung über sie, wie eines ihr unter allen Umständen gebührenden Rechtes bemächtigt. Wer aber einmal der Zucht und Leitung entwachsen ist, fühlt sich von ihr beengt, und am schwersten, wenn sie sich auf Kleinigkeiten und auf die freie Bewegung innerhalb gleichgültiger Dinge erstreckt. Es ängstigte Angelika, wenn die Mutter ihr Dieses rieth und Jenes gebot, sie Dieses thun und Jenes lassen hieß, während sie wahrscheinlich aus freiem Antriebe das Gleiche gethan haben würde. Sie fand sich zu einem Widerspruche geneigt, den sie sich zum Vorwurf machte, und zwang sich zu einer Fügsamkeit, die ihr schwer fiel, weil sie sich sagte, daß ohnehin eine Trennung zwischen ihr und ihrer Mutter obwalte, über die kein guter Wille ihnen hinweghelfen könne und die schmerzlich anzudeuten die Gräfin nicht unterlassen hatte.

Angelika hatte es deutlich gesehen, daß ihre Mutter sich verletzt gefühlt, als jene sie gebeten, erst um elf Uhr zu ihr zu kommen, da sie die Gewohnheit und das Bedürfniß habe, die Stunde von zehn bis elf Uhr mit dem Caplan zuzubringen, und eben so hatte die Gräfin es nicht zurückhalten können, daß ihre Tochter in dem Ausdrucke ihrer Dankbarkeit und Freundschaft gegen die Flies'sche Familie ihr zu weit zu gehen scheine. Das Alles hatte Angelika verstimmt, und auch über Seba beschwerte sie sich endlich.

Der Caplan hatte ihr ruhig zugehört. Als sie ihre Mittheilungen abbrach, sagte er: Erkennen Sie in dieser neuen Erfahrung, meine theure gnädige Frau, wie häufig der Mensch in seinem Wünschen irrt, wie wenig es seinen Erwartungen entspricht und seinem Glücke dient, wenn die ersehnte Erfüllung ihm gewährt wird. Ich fürchtete es, daß jene ausschließliche Mutterliebe, die ihr Kind allein besitzen, die es selbst mit seinem Gotte nicht theilen mag, Sie beunruhigen würde, und es ist [185] gekommen, wie ich es voraussah. Nehmen Sie diese Erfahrung als eine Erkenntniß hin, die der Himmel Ihnen darbietet, und fügen Sie sich der Frau Gräfin in dem Gleichgültigen, in dem Unwesentlichen, um desto fester Ihre selbsterworbene und selbständig bethätigte religiöse Ueberzeugung zu behaupten. Verbergen Sie sich vor der Frau Gräfin weder mit Ihren abweichenden Meinungen, noch mit jenen religiösen Uebungen, welche unsere Kirche uns auferlegt, und auch in Bezug auf Ihre Freundin thun Sie Ihrem Empfinden keinen Zwang an. Die Dankbarkeit ist eine heilige Pflicht, aber eine noch erhabenere Aufgabe ist es, dem Irrenden die Hand zu reichen und dem Menschen, dessen Auge verdunkelt ist, daß er sich selber nicht zu erkennen vermag, ein Führer und eine Stütze zu sein. Ich billige und lobe es, daß Sie sich Seba in Ihrer Weise näherten, daß Sie sie an sich zogen und ihr Vertrauen zeigten, um Vertrauen zu gewinnen; nur vergessen dürfen Sie es nicht, daß dieses reichbegabte Mädchen von Jugend auf sich selber überlassen war, daß ihr der geistige, der göttliche Anhalt fehlte, dessen wir uns rühmen und getrösten, und daß sie also leichter als viele Andere vom rechten Pfade sich verirren konnte.

Eine dunkle Röthe, ein Erschrecken flogen über die Baronin hin. Halten Sie es für möglich ....! rief sie und wagte nicht, dem Gedanken Worte zu geben, den der Geistliche in ihr erweckt.

Er zuckte die Schultern. Wir sind Alle fehlbar! sagte er mild. Ihre Freundin Seba ist zu großer Liebe, zu großer Hingebung geneigt, und unsere jungen Edelleute – einen jungen Cavalier bezeichneten Sie mir ja aber als den Gegenstand von Seba's Neigung – unserer jungen Edelleute Sitten sind nicht streng. Wer kann es wissen, ob es dem armen Mädchen nicht unmöglich ist, Ihr Vertrauen zu erwiedern, ob es sich nicht verbirgt, aus Furcht, Ihrer Liebe verlustig zu gehen? Haben [186] Sie Geduld mit ihr und weisen Sie sie um ihres Schweigens willen nicht zurück.

Die Baronin hatte die Hände unwillkürlich gefaltet. Sie konnte sich in die Anschauung des Geistlichen nicht gleich finden, denn sie hatte Seba immer weit über sich gestellt, hatte in ihr das Urbild weiblicher Herzensreinheit geliebt und verehrt, und sollte sie jetzt plötzlich schuldig, sollte sie sich in einem sträflichen Zusammenhange mit ihrem Bruder denken. Sie wollte diese Vorstellung von sich weisen, den Caplan eines unbegründeten Verdachtes zeihen, aber es stimmte so Vieles zusammen, es erklärten sich mit dieser Voraussetzung für die Baronin plötzlich einzelne auffallende Erlebnisse, die sie mit Seba gehabt hatte, sie konnte den in ihr erweckten Zweifel an der Unschuld ihrer Freundin nicht mehr unterdrücken. Weit entfernt jedoch, sich dadurch von ihr losgetrennt zu fühlen, stieg ein sie überwältigendes Mitleid für Seba in ihr empor und erhöhte und erhob die Liebe, welche sie bisher für sie gehegt hatte.

Der Caplan störte sie in diesem Empfinden nicht. Er hatte ohnehin ihre Achtsamkeit auf andere Vorgänge zu lenken, denn man durfte der Baronin die Nachricht von den in Richten geschehenen Ereignissen nicht länger vorenthalten, wenn man sie nicht gleich nach ihrer Ankunft einer Erschütterung durch irgend eine zufällige Mittheilung derselben aussetzen, und wenn man, worauf es dem Freiherrn besonders ankam, den gräflichen Eltern die Kenntniß gewisser Verhältnisse entziehen wollte.

Alles, was sie hören und erfahren mußte, steigerte mit den Sorgen der Baronin ihr Verlangen, bald wieder in ihrer Heimath zu sein. Sie hoffte ausgleichen, vermitteln zu können; die Aufregung, in welcher sie sich befand, täuschte sie über das Maß ihrer Kräfte. Sie entwarf Plane für eine völlig neue Lebensführung, sie traute es sich zu, ihren Gatten allmählich zu einer solchen überreden zu können, sie wünschte vor allen[187] Dingen die Entfernung des Pfarrers zu verhüten, und wie sie noch vor wenig Tagen die Ankunft ihrer Mutter ersehnt hatte, so wünschte sie jetzt, grade wie bei dem ersten Besuche, welchen ihre Eltern ihr in Richten gemacht, daß die Anwesenheit derselben erst vorüber und sie in der Lage sein möchte, die von ihr jetzt für unerläßlich gehaltene Einwirkung auf ihren Gatten zu versuchen.

Die Gräfin bemerkte es, daß Angelika zerstreut war, wollte den Grund davon entdecken und zeigte sich unzufrieden, als ihr dieses nicht gelang. Die beiden Frauen, wie sehr sie einander auch liebten, kamen sich nicht von Herzen nahe, sie hatten an einander vielerlei zu schonen, und Angelika sprach es gegen den Caplan noch an demselben Abende aus, wie sie fühle, daß eine Frau, selbst wenn ihre Ehe dem Ideale einer solchen nicht entspräche, ihre Heimath doch ausschließlich in dem Hause ihres Gatten, in der mit ihm begründeten Familie habe, und daß es sicherlich nicht leicht für sie sein werde, die Ansprüche ihrer angebornen Verwandten zu befriedigen, den alten Pflichten zu genügen, ohne die neuen zu beeinträchtigen.

Der Caplan gab ihr dies zu. Er sah, daß er von dem Einflusse der Berka'schen Familie nichts mehr zu befürchten habe, und er war es also, der die Baronin abermals ermahnte, sich ihrer Mutter so weit als möglich fügsam zu beweisen, der die Gräfin ersuchte, sich die Freundschaft, welche die Baronin für die Tochter ihrer Wirthe hege, ohne Einspruch gefallen zu lassen. – Es handelt sich um wenig Stunden, gnädige Gräfin, sagte er, um etwas Gefälligkeit gegen die schwärmerische Empfindungsweise der Frau Baronin, und es ist schön, wenn die Jugend ihre Gefühle für dauernd, für unendlich hält!

So ging der letzte Tag vorüber, den Angelika im Flies'schen Hause zu erleben hatte. Es gab vielerlei zu thun; die schöne Zierlichkeit, welche Seba in den von der Baronin bewohnten [188] Zimmern zu erhalten gewußt, selbst während die Krankenpflege dem Hindernisse in den Weg gestellt, mußte jetzt allmählich zerstört werden. Die Gräfin war beständig an der Seite ihrer Tochter, Mamsell Marianne und der Kammerdiener der Gräfin ließen die Koffer auf den im Hofe stehenden Reisewagen schnallen, die Baronin hielt sich ruhig auf ihrem Sessel. Sie schien jetzt mehr als während ihrer ganzen Krankheit darauf bedacht, sich zu schonen und ihre Kräfte zusammen zu halten. Nur ihre Blicke wanderten umher; sie suchten Seba und folgten ihr, und einmal, als die Baronin sich erhoben hatte und die Freundinnen sich in dem Nebenzimmer zufällig allein befanden, schlang die Baronin ihre beiden Arme um Seba's Hals, und sie an sich drückend, sagte sie: Laß uns einander nicht verloren gehen, glaube an mich, wie ich an Dich, und laß mich hoffen – laß mich hoffen, daß wir uns einst so wie in Liebe auch im Glauben noch zusammenfinden! O, daß Du es kenntest, das selige Gefühl, sich durch die Gnade eines Mittlers dem Throne des Höchsten zu nähern, und all seine Sünden, all seine Leiden und Schmerzen durch das Vertrauen auf den himmlischen Erlöser von sich genommen zu fühlen! Denke an mich, so oft Du betest, Seba, und so oft ich mich in Demuth vor dem Heilande beuge, soll Dein Name auf meinen Lippen sein, und ich will beten, zu ihm beten, daß er Dich zu sich rufe und daß wir einst zusammen auf unseren Knieen unsere Herzen zu ihm erheben!

Sie sah schön und verklärt aus, als sie also sprach. Seba betrachtete sie mit Rührung. Du bist sehr gut, meinst es sehr gut mit mir, Angelika, sagte sie, indem sie ihre Hände gefaßt hielt und ihr tief ins Auge blickte, und ich werde Dich nie vergessen! Denn Du hast mir mehr gegeben, bist mir mehr geworden, als Du ahnen kannst! Laß Dir das genügen; laß es [189] Dir genügen und liebe mich immer, immer! Was auch kommen möge, liebe mich!

Sie ging von dannen; die Baronin schaute ihr gedankenvoll nach, dann knieete sie nieder, nahm das Crucifix Amanda's, welches sie immer am Halse trug, in ihre Hände und betete lange und still. Sie nahm Abschied von diesen Räumen und flehte Gottes Segen auf das gastliche Haus ihrer Freunde, auf das ungläubige und der Erleuchtung und des Trostes so bedürftige Herz ihrer Freundin herab.

Am folgenden Morgen um elf Uhr, so hatte man es verabredet, sollte die Baronin in dem Reisewagen nach dem Gasthofe fahren, in welchem die Gräfin abgestiegen war, mit dieser noch ein Frühstück einnehmen und dann für die erste, absichtlich sehr kurz bestimmte Tagereise aufbrechen. Von den Segenswünschen ihrer Gastfreunde begleitet, wollte die Baronin das Haus verlassen, aber die Trennung von Seba fiel ihr gar zu schwer, und voll Verlangen, keinen der wenigen ihnen noch gegönnten Augenblicke zu verlieren, vermochte sie endlich Seba dahin, sie zur Gräfin zu begleiten und bis zu ihrer Abreise noch bei ihr zu verweilen. Als man in den Gasthof kam, fand man in dem Zimmer der Gräfin den Tisch bereits gedeckt. Der Caplan hatte noch einen Besuch bei dem Propste machen wollen, und sein Kommen wurde erst nach dem Frühstücke erwartet.

Die Gräfin war in ungewöhnlich guter Laune; sie rühmte das Aussehen ihrer Tochter, zeigte sich auch gegen Seba, obschon sie dieselbe nicht erwartet hatte, freundlicher und herzlicher, und erkundigte sich dazwischen doch wieder mit solcher Geflissenheit nach dem Befinden der Baronin, und ob sie sich auch recht frisch, recht kräftig fühle, so daß Angelika endlich die Frage aufwarf, ob sie denn heute etwas Besonderes zu leisten habe, weil die Mutter sich so ängstlich um den Zustand ihrer Kräfte sorge.

Die Gräfin lächelte. Der Zufall hat Dir eine Ueberraschung [190] zugedacht, sagte sie; fühlst Du Dich im Stande, sie zu genießen?

Ach, mein Vater! rief Angelika, indem sie sich erhob.

Nein, nicht der Vater, entgegnete die Gräfin, während auf ein leises, von ihr gegebenes Zeichen die Thüre des Nebenzimmers sich öffnete und in aller seiner stolzen Schönheit Graf Gerhard in das Zimmer trat.

Mit einem Ausrufe der Freude warf die Baronin sich ihm an die Brust; aber fast in demselben Augenblicke wendete sie sich um, und ihrer Bewegung folgend, sah der Graf jetzt plötzlich Seba vor sich stehen.

Bleich wie der Tod und keines Wortes mächtig, trat er zurück. Seba hatte die Ecke des Marmortisches erfaßt, an dem sie stand; sie mußte sich halten, um nicht umzufallen. Die Baronin war auf den nächsten Stuhl gesunken, die Gräfin stand mitten in dem Gemache und sah, ohne den Vorgang zu begreifen, mit Schrecken auf ihre Kinder, und um sich her.

Was ist das? Redet, redet! Was bedeutet das? rief sie, während sie sich zur Tochter wendete.

Frage nicht, o, frage nicht! rief diese. Indessen die Lebhaftigkeit der Mutter überhörte es, und sich gebieterisch zu ihrem Sohne wendend, sprach sie: Kennst Du dieses Mädchen? Rede, rede, Gerhard! Was ist Dir dieses Mädchen?

Aber kein Ton von des Grafen Lippen gab ihr Antwort. Wie von einem Banne befangen, hingen seine Augen an Seba's starrem, bleichem Antlitze, an ihrem zuckenden Munde. Er hätte fliehen mögen, aber er konnte die Stelle nicht verlassen; er hätte sprechen mögen, aber Seba's brennendes Auge schloß ihm den Mund und noch immer wartete die Gräfin auf eine Antwort.

Da richtete Seba sich empor wie Einer, der mit Aufbietung aller seiner Kraft gewaltsam seine Fesseln sprengt, und schön wie eine Judith in ihrem wilden Zorn, flammend in [191] ihrem Rachegefühl, rief sie: Was ich ihm war? – Sie lachte, daß es den Andern Mark und Bein durchschauerte – was ich ihm war? – Ein Zeitvertreib für eine müßige Stunde, ein billiger Triumph noch im Moment des Scheidens, weiter nichts, weiter nichts! – Gewettet hatte er beim Wein in seiner Cameraden lustiger Gesellschaft, daß er mich besitzen würde, und – hier vor seiner Mutter, hier vor seiner Schwester, vor Dir, Angelika, will ich es bekennen – meine Liebe hat ihm das Gewinnen leicht gemacht, denn .... sie hielt inne, der Athem versagte ihr, die verhaltenen Thränen drohten sie zu ersticken, und plötzlich in ein Weinen ausbrechend, das aus den Tiefen ihres gequälten Herzens kam, fügte sie hinzu – denn ich habe den Elenden geliebt mit aller Inbrunst eines reinen Herzens, mehr als mich selbst, mehr als Vater und Mutter, mehr als Alles auf der Welt!

Sie hatte ihre Kraft erschöpft, sie mußte sich niedersetzen, und den Kopf auf ihre Arme legend, die sie auf dem Tische ausgebreitet, weinte sie mit verborgenem Gesichte.

Auch die Gräfin hatte sich setzen müssen; nur Gerhard stand wie ein Gerichteter zwischen den drei Frauen da. Plötzlich erhob sich die Baronin, ging mit raschem Schritte zu ihrem Bruder, und seine Hand ergreifend, während sie ihn zu Seba hinzuziehen suchte, rief sie: O, vergüte! Vergüte, mein Bruder! Sühne, was Du an ihrem edeln Herzen gesündigt hast! Laß sie die Deinige werden, sie, die ich wie eine Schwester liebe!

Aber der Graf wehrte seiner Schwester, und fast tonlos, so daß nur das Schweigen der Frauen seine Worte hörbar machte, sprach er: Und wenn ich es wollte – es kann nicht sein!

Da hob Seba den Kopf in die Höhe, und ihn mit kaltem Auge messend, sagte sie, während, den Andern zum Erstaunen, ihren Zügen und ihrer Stimme die Ruhe wiederkehrte: Und wenn Du es wolltest und wenn Du es dürftest – Du vermöchtest [192] es nicht! Denn wie könntest Du mir die vertrauensvolle Liebe wiedergeben, die ich einst für Dich gehegt habe? Wie könnten Dein Rang und Dein Name mich damit versöhnen, Dein Weib, das Weib – eines Ehrlosen zu werden, den ich verachte, wie ich ihn einst geliebt!

Seba! flehte Angelika, flehte die Gräfin.

Halte ein! rief der Graf, indem er zusammenbrechend sich zu den Füßen seiner Mutter warf, die sich unwillkürlich von ihm wendete.

Seba regte sich nicht. Mit eisigem Blicke sah sie auf den Grafen hin, die Stille war entsetzlich, sie konnten einander athmen hören. Mit einem Male stand sie auf, sah um sich her und schien etwas zu suchen.

Die Baronin erhob sich ebenfalls; sie errieth, was jene vorhatte, und nahm ihre Hand, um sie zurückzuhalten.

Ich will fort, sagte Seba matt; meines Bleibens ist hier nicht. – Sie ging nach ihrem Hut und Shawl.

Du darfst, Du kannst nicht gehen! versicherte Angelika, die sich selber kaum aufrecht zu erhalten wußte.

Sorge nicht, ich habe ertragen gelernt! gab Seba ihr zur Antwort.

Sie setzte achtlos den Hut auf, nahm den Shawl um ihre Schultern und wollte sich entfernen. Da warf Angelika sich vor ihr nieder, und die Hände flehend zu ihr erhoben, bat sie: Denke meiner nicht mit Haß!

Deiner? Deiner? Wie könnte ich? versetzte Seba, indem sie Jene in ihre Arme schloß, und noch standen sie, ihre heißen Thränen mit einander mischend, Brust an Brust gelehnt, als die Gräfin zu ihnen herantrat.

Seien Sie barmherzig, bat sie, vergeben Sie, und Gott wird auch Ihnen seine Vergebung angedeihen lassen!

Seba schüttelte schweigend das Haupt. Ich habe mich [193] vor mir selbst gedemüthigt bis zur Zerknirschung, und mich in mir selbst erhoben, sagte sie; ich habe durch Liebe zu sühnen gesucht, was ich aus blinder Leidenschaft gesündigt; ich bedarf keiner anderen Vergebung! Ich habe mir selbst verziehen! – Mag er, wenn er es kann, das Gleiche thun!

Und ohne den Grafen weiter eines Blickes zu würdigen, verließ sie das Zimmer und das Haus.

[194]
16. Capitel
Sechszehntes Capitel

Es war eine traurige Reise, welche die beiden Frauen zurückzulegen hatten. Graf Gerhard, der, von der Hochzeit eines Cameraden kommend, zufällig mit seiner Mutter in dem Gasthofe zusammengetroffen war, hatte die Stadt noch in der nämlichen Stunde verlassen; die Abreise der Frauen hatte wegen der Erschöpfung der Baronin bis zum Nachmittage hinausgeschoben werden müssen.

Die Gräfin war tief erschüttert, Angelika völlig herzzerrissen und fassungslos. Sie hatte der Mutter mit einem Eide geloben müssen, daß kein Wort über diesen furchtbaren Vorgang jemals von ihren Lippen kommen solle, und die Gräfin hatte, von ihrem Sohne ein gewandeltes Leben fordernd, ihm das gleiche unverbrüchliche Schweigen zugesagt. Der Gedanke, daß ihres Sohnes Ehre der Welt gegenüber also nicht angetastet werden würde, das war der Trost, an dem sie sich emporrichtete, wenn das vernichtende Urtheil, welches Seba über ihn gesprochen, in seiner unerbittlichen Strenge in dem Herzen der Gräfin nachklang.

Der Caplan, dem es nicht hatte verborgen bleiben können, daß Seba die Baronin nach dem Gasthofe begleitet und daß sie dort mit dem Grafen Gerhard zusammengetroffen war, hatte keine Mühe, sich das Geschehene zu deuten, und die Stimmung der beiden Frauen, deren Begleiter er war, zu erklären. Er richtete keine Frage an Angelika, aber er verstand es, weßhalb [195] sie mehr als je zuvor von der Sorge um die Erziehung und Charakterbildung ihres Sohnes hingenommen schien, und er suchte sie bei diesen Gedanken festzuhalten.

Da man um der Baronin willen immer erst spät am Morgen aufbrechen konnte, war es schon gegen Abend, als man auf der Herrschaft anlangte, und Angelika's Traurigkeit ward mit der Ankunft auf ihrem eigenen Grund und Boden nicht vermindert. Der Anblick des Pfarrhauses, des Amthofes, des frischen Grabes auf dem katholischen Kirchhofe riefen ihr keine tröstlichen Erinnerungen und Vorstellungen in das Gedächtniß. Als sie an der schönen, neuen Kirche vorüberfuhren, wagte sie nicht, die Mutter auf dieselbe aufmerksam zu machen, und die Gräfin äußerte sich nicht darüber.

Es wurde der armen Angelika immer banger um das Herz. Mit Einem Male rief sie: Um Gottes willen, was ist das?

Man sah zum Wagen hinaus; das ganze Gehöft, welches, zwischen Rothenfeld und Richten gelegen, aus zwei kleinen Wohnhäusern und einer Gruppe von Ställen und Scheunen bestanden hatte, war in einen Trümmerhaufen verwandelt. Die nackten Schornsteine sahen gespenstisch und geschwärzt aus dem sie umgebenden Schutthaufen hervor, die dicken, schweren Rauchsäulen qualmten mit ihrem erstickenden Geruche zu dem blauen, leuchtenden Himmel hinauf.

Einer der Wirthschafter, welcher bei dem Auseinanderlegen und Löschen der noch brennenden und schwelenden Balken die Aufsicht führte, kam auf einen Anruf an den Wagen heran. Er meldete, daß das Feuer mitten in der Nacht in beiden Scheunen fast gleichzeitig ausgebrochen und, wie es sich herausgestellt, wahrscheinlich von dem stumpfsinnigen Sohne des Hirten, den man gestern mit einer Prügelstrafe zum Abschiede aus der Haft entlassen hatte, angelegt worden sei. Die Bewohner der beiden Häuser hatten nur ihr Leben retten können; [196] die ganze Heuernte war verbrannt, der Verlust, selbst die Baulichkeiten abgerechnet, sehr empfindlich. Man hatte nun abermals ein neues Verbrechen gegen das Eigenthum des Gutsherrn zu bestrafen.

Und ich bin so schwach! seufzte Angelika. Sie fühlte, daß ihr mehr zu tragen auferlegt war, als ihre Kräfte ihr gestatteten.

Man mochte es machen, wie man wollte, die Gräfin erfuhr schon jetzt von den auf den Gütern obwaltenden Verhältnissen mehr, als ihre Tochter wünschte. Sie versuchte Angelika damit zu beruhigen, daß solche Ereignisse ja öfter vorkämen, daß man vor der gleichen Böswilligkeiten nirgends sicher sei, und die Baronin gab sich diesem Troste, so gut sie konnte, hin.

Als man vor dem Schlosse vorfuhr, waren seine Bewohner heruntergekommen, die heimkehrende Herrin und deren Mutter zu begrüßen; aber man fand sich allseitig nicht wohl aussehen. Der Freiherr und der Graf, welche die Nacht hindurch von dem Brande wach erhalten worden waren und beide in den Jahren standen, in denen Anstrengungen, Schrecken und Sorgen sich nicht so leicht als in der Jugend überwinden lassen, sahen ermüdet aus. Den Grafen betrübte dazu die Hinfälligkeit seiner Tochter; der Freiherr bemühte sich, seiner Schwiegermutter die frühere, freie Herzlichkeit zu zeigen; indeß er war verdüsterten Sinnes, er mußte sich zur heiteren Rücksichtnahme für seine Gäste zwingen, und der Gräfin Herz war, ebenfalls beschwert, nicht dazu angethan, ihm seine Aufgabe zu erleichtern. Nur die Herzogin besaß sich ganz und gar und kam durch ihre kluge Haltung Allen wesentlich zu Hülfe.

Sie hatte sich völlig matronenhaft gekleidet, und Angelika konnte nicht umhin, so genau sie die Herzogin kannte, sie doch mit Verwunderung zu beobachten und zu betrachten. Ihre Stirn war ernst geworden, ihr Blick hatte den schmelzenden Ausdruck verloren, ihr Mund sein anmuthiges Lächeln. Jeder, [197] der die Herzogin jetzt zum ersten Male sah, mußte sich sagen, diese Frau habe ein schweres Schicksal mit Ergebung getragen und überwunden. Bescheiden jede Rücksichtnahme für sich zurückweisend, wußte sie alle ihre Sorgfalt als auf die Baronin gerichtet darzustellen, und wie bei jeder solchen Täuschung, wie bei jeder solchen heuchlerischen Schaustellung zwang grade die Dreistigkeit derselben diejenige zum Schweigen, welche sich von ihr beleidigt und abgestoßen fühlen mußte.

Angelika konnte ihren Eltern nicht sagen, daß die Herzogin sie unglücklich gemacht, daß sie ihr ihres Gatten Liebe entzogen, ihre Ehe zerstört, ihren Seelenfrieden vernichtet habe; denn wie bei dem ersten Besuche, welchen Graf Berka und seine Frau der Tochter abgestattet, hatte diese die Ehre ihres Mannes und ihres Hauses vor den Eltern zu vertreten, und es wollte sie bedünken, als sähen ihre Eltern schärfer, als sie wünschte, als wären sie über gewisse Dinge und Verhältnisse besser unterrichtet, als ihr lieb war.

In Erinnerung an die frühere Anwesenheit des gräflichen Ehepaares, bei welcher man das erste Frühstück auf der nach dem Parke gelegenen Terrasse eingenommen hatte, damit die Leute aus den Dörfern die Eltern ihrer Herrschaft sehen könnten, hatte man auch jetzt an dem Tage nach der Rückkehr der Baronin, der ein Sonntag war, am Nachmittage den Park geöffnet und ein Vesperbrod im Freien aufgetragen. Ganz wie damals war die Mahlzeit an dem oberen Ende der Terrasse vor dem chinesischen Häuschen hergerichtet. Wie damals standen die Diener in ihrer Gala-Livree bereit, es zu präsentiren; die Baronin ging nur nicht mehr so freundlich plaudernd und so schön an dem Arme der Gräfin einher, der Graf und der Freiherr trugen nicht mehr die stattlichen Röcke aus farbigem Sammt, auch sie hatten allmählich die goldbesetzten dreieckigen Hüte und die wohlfrisirten Perrücken abgelegt. Aber die runde, breitkrämpige [198] Kopfbedeckung, die weiten, schmucklosen Tuchröcke, die breitklappigen Westen, die dicken Halstücher machten immer noch einen fremden Eindruck an ihnen, und sie schienen den Degen an ihrer Seite doch immer noch zu vermissen.

Ausgestreckt auf ihrem Ruhebette, in ihren weißen Kleidern, mit dem weißen Schleier über dem blonden Haare, sah die Baronin einer Nonne gleich. Sie war nicht mehr die hohe, gebietende Gestalt, deren Schleppkleid einst so prächtig ihren gemessenen Bewegungen gefolgt war; sie und die Gräfin hatten nicht mehr die kleinen Federhütchen auf, und es war auch Niemand aus den Dörfern gekommen, sich an der Schönheit und Stattlichkeit der Herrschaften zu erfreuen. Die Leute waren nicht begierig, dem Freiherrn unter die Augen zu treten, und noch weniger begierig, ihn zu sehen. Die Gartenarbeiter, welche im Vorübergehen verstohlen nach den Herrschaften hinaufsahen, meinten, daß die Diener sich jetzt besser als die Herren ausnähmen. Die Zeiten hatten sich eben geändert, und die Menschen mit ihnen.

Die Gräfin saß mit ihrem Sonnenschirme an der Seite ihrer Tochter und hielt ihr das zu grelle Licht ab; die Herzogin, mit einer Filetarbeit beschäftigt, leistete ihnen Gesellschaft. Den Enkelsohn an der Hand haltend, spazierte der Graf mit seinem Schwiegersohne umher; aber es waren nicht die sie zunächst umgebenden Dinge, nicht die leuchtende Pracht des Abends, nicht die Schönheit des Parkes, welche sie beschäftigten. Der Krieg hatte die Grenzen Frankreichs lange schon überschritten, große Ereignisse, große Gefahren standen an dem Horizonte, die Welt ging unverkennbar einer Neugestaltung mit raschem Schritte entgegen, und es fragte sich, ob man darauf hoffen dürfe, sich in ihr zu behaupten, wenn man ihr Schranken zu setzen versuchte, oder ob man sich ihr fügen müsse, um nicht in ihr unterzugehen.

Des Grafen und des Freiherrn Meinungen waren sehr [199] verschieden; sie verständigten sich nicht wie sonst, und weil sie entschlossen waren, das kaum hergestellte gute Einvernehmen zwischen sich aufrecht zu erhalten, sprach keiner von ihnen seine letzte Ueberzeugung aus. Man gab von beiden Seiten mit vorsichtiger Zurückhaltung nach, man überwand sich, man schwieg, man beobachtete einander, man suchte zu errathen, was der Andere meinte, sich ihm gefällig zu zeigen, ohne der eigenen Ansicht etwas zu vergeben. Ein solcher Verkehr ist aber eine schwere Arbeit und kein Genuß, und die Männer wendeten sich bald wieder der Gesellschaft der Frauen zu, in welcher die Unterhaltungsgabe der Herzogin die Fremden zu fesseln und von allem Störenden mit kluger Berechnung abzulenken wußte.

Inzwischen sann der Freiherr über die Weise nach, in der er der Flies'schen Familie seine Erkenntlichkeit für die der Baronin geleisteten großen Dienste bezeigen möchte, und bei dem Wohlstande jenes gastlichen Hauses war das keine leichte Sache. Man konnte nicht daran denken, Herrn Flies eine Entschädigung für die gehabten Kosten anzubieten; eines jener Geschenke von Werthgegenständen, denen man den Charakter eines Andenkens verleiht, war in diesem Falle auch nicht angebracht, denn die Frau und die Tochter des Juweliers hatten unter seinen Vorräthen nur zu wählen, und weil der Freiherr glaubte, daß er sowohl den Wünschen seiner Frau als dem Gefühle ihrer Pflegerin gleichzeitig am besten begegnen könne, wenn er sich zu einer jener Liebesgaben erbötig zeigte, die man sonst nur mit seines Gleichen austauscht, that er der Baronin den Vorschlag, Seba mit der Copie ihres bald nach ihrer Verheirathung in der Residenz gemalten Miniatur-Bildes zu beschenken. Man hatte diese Copie damals gleich nach der Vollendung des Originals nehmen lassen, um sie der Gräfin zum Weihnachtsfeste zu bescheren. Das Familienzerwürfniß hatte diese Absicht vereitelt; jetzt mochte man auf eben diese Gabe für die Gräfin aus begreiflichem[200] Grunde nicht zurückkommen, und einfach in einen emaillirten Goldreif als Medaillon gefaßt, schien das Portrait vor allem Andern geeignet, den Dank des Freiherrn und die Freundschaft der Baronin am edelsten und ehrenvollsten auszusprechen.

Indeß wider sein Erwarten fand der Freiherr bei Angelika nicht gleich die freudige Zustimmung, auf welche er gerechnet hatte. Sie war verlegen, ihre Blicke richteten sich nach ihrer Mutter, als sei sie unsicher, ob diese eine solche Liebesgabe billigen würde; aber grade dieses Letztere bestimmte den Freiherrn, seinen Vorschlag geltend zu machen, und Angelika zeigte sich dann auch schnell und völlig mit der Absicht einverstanden. Der Freiherr selber schrieb den Brief, denn er selbst wollte der Geber des Angedenkens sein und in einer über jedes Abwägen hinausgehenden Weise sich mit der Flies'schen Familie abgefunden haben; aber er ermächtigte Angelika, ihren Dank hinzuzufügen.

Das bedingte sowohl, was sie schreiben, als die Art, in welcher sie schreiben konnte, sie mußte sich an Allgemeines halten. Nur am Ende ihres Briefes wiederholte sie den von ihrem Gatten gebrauchten Ausdruck, daß es ihr eine große Freude sein würde, den ihr so theuer gewordenen Freunden jemals dienstlich sein zu können; und sie fügte dieser Versicherung den für Seba völlig verständlichen Nachsatz hinzu: »Glaube mir, daß der Gedanke an Dich und an unser letztes Beisammensein mich nie verlassen, daß mein Herz für Dich beten wird wie für mich selbst, und daß Du mir die höchste Liebe erweisen würdest, wenn Du es mir sagen wolltest, ob ich irgend etwas für Dich, für Dein Glück und für den Frieden Deiner Zukunft thun kann!«

Der Freiherr sah es, wie Angelika eine Locke ihres Haares abschnitt und in die Rückseite des Medaillons einlegte. Er las die von ihr geschriebenen Zeilen, ohne eine Bemerkung darüber zu machen. Die Ausdrucksweise jener Zeit war eine conventionell [201] gesteigerte, man bediente sich großer Worte für die lebhaften Empfindungen, die man geflissentlich in sich nährte, und daß es an Gefühlsergüssen zwischen der Baronin und Seba nicht gefehlt haben würde, darauf war der Freiherr gefaßt gewesen. Es gefiel ihm freilich nicht besonders, daß seine Frau das Judenmädchen mit Du ansprach, er tadelte es auch gegen seine sonstige Weise im Beisein der Gräfin, und diese gab ihm Recht. Sie äußerte sich überhaupt nicht beifällig über Seba; Angelika wagte es nicht, sie zu vertheidigen, man konnte es jedoch in ihren Mienen lesen, daß diese abfälligen Urtheile sie betrübten.

Im Uebrigen gingen die Tage im Schlosse ruhig hin. Nach der Ermüdung durch die Reise mußte man der Baronin Zeit zur Erholung gönnen, durfte man nicht daran denken, Gesellschaft zu sehen; und da der Besuch der Eltern ohnehin nicht eben lange währen sollte, wünschten sie, sich der Tochter ohne Störung zu widmen. Alles was man unternahm, wurde mit Rücksicht auf die Kranke gethan. Man konnte sich nicht darüber täuschen, daß für sie keine Herstellung zu hoffen sei und daß nur Schonung und Ruhe ihr Dasein noch zu fristen vermöchten. Jedes Gespräch, das sie erregen konnte, wurde vermieden, sie selber schien vor allen Erörterungen über ihr Leben, über den Freiherrn, über die Herzogin, über die Plane, welche sie für die Erziehung ihres Sohnes hegte, Scheu zu tragen. Auf die mißbilligende Bemerkung ihres Vaters, daß man im Schlosse fast nur noch Franzosen im Dienste habe, entgegnete sie, die Noth dieser geflüchteten Leute und die Rücksicht auf die Fürbitte der Herzogin hätten sie dazu gebracht, sich ihrer zu bedienen. Und, fügte sie mit einer gewissen Ueberwindung hinzu, wenngleich ich selbst für Renatus die alten, uns angestammten deutschen Diener lieber gehabt hätte, so ist es doch andererseits viel werth, daß er jetzt nur Personen um sich findet, die ihn in seinen religiösen Begriffen nicht verwirren. Kinder haben des völligen Einklanges in ihrer Umgebung sicherlich am nöthigsten.

[202] Die Eltern ließen diese Unterhaltung fallen; aber es gab der Gegenstände in Schloß Richten gar zu viele, die man nicht berühren mochte. Der Graf, der schon aus der Ferne von den schwankenden Vermögensverhältnissen seines Schwiegersohnes Kunde gehabt hatte, überzeugte sich, daß der Schade tiefer gehe, als er geglaubt, und versuchte, da er viel praktische Umsicht besaß, dem Freiherrn unter der Hand zu rathen, wie man mit dem Verkaufe eines Theiles der Güter den andern sichern und dauernd erhalten möge. Der Freiherr wies jedoch jede Mittheilung und jeden Rath zurück. Man war und blieb also beisammen, ohne mit einander zu leben. Man hätte einander lieben mögen, brachte es aber nicht weiter, als bis zu einer gegenseitigen nachsichtigen und mitleidigen Duldsamkeit. Wie die Eltern auch an der hinsiechenden Tochter hingen, wie schwer die Trennung ihnen werden mußte, sie sprachen nicht davon, ihren Besuch über die festgesetzte Zeit zu verlängern, und weder der Freiherr noch Angelika vermochten sie dazu aufzufordern, denn die Einweihung der Kirche stand nahe bevor, es gab für diese noch mancherlei zu ordnen, und man durfte nicht wünschen, den Grafen und seine Gattin zu Zeugen derselben zu haben.

Der zweite Besuch, welchen ihre Eltern der Baronin in Richten machten, war dem ersten in vieler Beziehung ähnlich, und Angelika erfuhr an sich selber, wie wundersam oftmals in unserem Leben entfernte Zeitpunkte einander gleichen, wie sich zu wiederholen scheint, was wir erleben, während wir selbst uns gewandelt finden und Alles um uns her gewandelt ist.

Weil man sich vor dem Scheiden gefürchtet hatte, fühlte man sich leichter, als es überstanden war, und wie nach der ersten Abreise ihrer Eltern wurden auch dieses Mal der Freiherr und Angelika durch eine äußerliche Thätigkeit in Anspruch genommen.

[203]
17. Capitel
Siebzehntes Capitel

Die Beschwerden, welche der Caplan bei seinem Bischofe, und die Meldung, welche der Pastor bei der Regierung gemacht hatte, hatten ihre Früchte getragen. Mit dem Bischof durfte man sich leicht zu verständigen hoffen, denn die Entfernung des Pastors war bei dem Freiherrn, selbst wenn er genöthigt sein sollte, ihn zu pensioniren, eine beschlossene Sache, und die Errichtung eines Pfarramtes in Rothenfeld, für welches natürlich der Caplan ins Auge gefaßt war, stimmte den Bischof für alle Maßnahmen des Freiherrn im Voraus günstig. Einmal von seinen drückenden Verlegenheiten befreit, bewegte dieser Letztere sich in seiner alten Weise, und da er, was er unternahm, vollständig zu thun, was er besaß, vollkommen zu besitzen liebte, wollte er, nun der Bau beendigt war, die Kirche auch mit einem vollständigen Personal versehen. Der ansehnliche Vorrath von Kirchengeräthschaften, den man in der alten Capelle im Schlosse seit zwei Jahrhunderten gesammelt und der mit den neuerworbenen Stücken schon einen hübschen Kirchenschatz begründete, sollte seinen Sacristan bekommen, man mußte einen Glöckner haben, der den Kirchendiener machte, und vor Allem wünschte der Freiherr, der ein großer Freund des Kirchengesanges war, die Einweihung der Kirche nicht ohne einen solchen zu vollziehen.

Von diesem Verlangen bis zu dem Gedanken, sich dauernd ein Quartett von Knabenstimmen für die Kirche zu sichern, war es für den Freiherrn nicht weit. Angelika erhob ihre [204] wirthschaftlichen Bedenken dagegen, indeß der Freiherr wußte sie über dieselben zu beruhigen und fand den Weg, sie für seine Wünsche zu gewinnen. Er meinte, da man nur eine kleine katholische Gemeinde für die Kirche habe, müsse man eine wohlthätige Stiftung mit der Kirche in Verbindung setzen, und dies sei ohne große Opfer auszuführen. Wenn man einen jungen Geistlichen zum Sacristan ernenne, der des Orgelspieles mächtig und im Stande sei, einigen Knaben außer dem Unterrichte der Musik den gewöhnlichen Schulunterricht zu ertheilen, so könnte man neben der Kirche eine kleine katholische Schule errichten und sich, wenn man die heranwachsenden Knaben immer zu den Lebensberufen anleitete, für welche sie Anlage oder Neigung bethätigen, allmählich eine Anzahl wohlerzogener katholischer Handwerker oder Beamten heranbilden, die zugleich den Stock für die Ausbreitung der Kirche innerhalb der Herrschaft abgeben würden. Vier Knaben aus armen und wohlgesitteten Familien zu erziehen, war sicherlich ein gutes Werk, und eine solche kleine Colonie auf den Gütern zu erhalten, keine Aufgabe, welche irgendwie die Kräfte des Gutes überschritt.

Für ein solches wohlthätiges Unternehmen durfte man natürlich sicher sein, die Zustimmung der Baronin schnell zu erlangen, und der Bischof, dem so unerwartet die Möglichkeit geboten wurde, einen jungen Geistlichen anzustellen, ein paar Leute als Glöckner und Kirchendiener zu versorgen und einigen strenggläubigen Familien durch Unterbringung ihrer Söhne seine Zufriedenheit auszudrücken, stimmte dem ganzen Vorhaben mit großer Anerkennung bei.

Aber auch den Wünschen des Caplans kam die Absicht des Freiherrn entgegen. In der entsagenden und begeisterten Liebe seiner Jugend hatte er sich von der Welt zurückgezogen und auf eine weitgreifende Thätigkeit innerhalb der Kirche, ja, selbst auf das Walten in einer Gemeinde verzichtet, um dem [205] Andenken einer Geschiedenen zu leben, um ihrem Bruder nahe zu sein und sich selber aufzuerbauen. Indeß eine Jugendliebe wirft nur bleiche Strahlen auf das spätere Leben, und wenn der Caplan sich auch sagen durfte, daß er Angelika der Kirche gewonnen habe, war doch grade mit den fortschreitenden Jahren oft der schmerzliche Gedanke über ihn gekommen, daß er das reiche Maß seiner Kräfte nicht genug gebraucht, daß er nicht genug gewirkt für die Verbreitung und den Ruhm der Kirche, der er angehörte; und eben die letzten traurigen Ereignisse in Rothenfeld hatten ihm wie eine Mahnung gedäucht, die ihm noch vergönnten Lebenstage eifriger zu benutzen.

Es schien ihm ein Wink des Himmels, ein sichtbares Eingreifen des Höchsten zu sein, daß Gott der neugegründeten Kirche, wie in den ersten Tagen des Christenthums, gleich ihren Blutzeugen zugesellt, und die Vorstellung, daß dies Alles habe geschehen müssen, um ihm eine Mahnung und ein Sporn zu sein, ward immer mächtiger in ihm. Er hatte mit ruhiger Erhebung einst der Grundsteinlegung zu der Kirche beigewohnt, ihren sehr verzögerten Bau gelassen fortschreiten sehen; nun zählte er die Tage, welche bis zu ihrer Einweihung vergehen mußten.

Seit seinen jungen Jahren hatte er die Kanzel nicht betreten, nicht unter der erhabenen Wölbung eines Gotteshauses gepredigt, nicht vor dem Altare einer Kirche die Messe celebrirt. Viele Hoffnungen waren ihm verloren gegangen, auf Manches hatte er verzichten lernen. Er begann zu fühlen, daß er älter werde, weil der Kreis seiner Wünsche, Plane und Erwartungen sich verengte. Neues Streben und damit neue Hoffnung in sich aufnehmen, heißt aber, sich eine neue Jugend schaffen, und wie sollte man diesem Reize widerstehen, auf diese Möglichkeit verzichten, so lange man noch die Kraft dazu empfindet? Es war die Sehnsucht nach verlängertem Leben, ohne welche der Mensch [206] dem Tode noch früher verfallen würde, es war das halb unbewußte Verlangen nach Lebenslust, die in dem einst so entsagungsfähigen Manne noch im hohen Mannesalter den Ehrgeiz weckten.

Er und der Freiherr theilten jetzt den Verdruß, den sie Seitens der protestantischen Kirche zu tragen hatten, und fanden sich in der Thätigkeit für die Einweihung der Kirche mit Genugthuung zusammen. Man hatte schon lange eines der zum Amte gehörenden, aber außerhalb des Amthofes und sehr nahe bei der Kirche gelegenen Gebäude zur Kirchenwohnung ersehen. Bisher hatten die Wirthschafter sie inne gehabt; nun, da man dem künftigen Amtmanne überhaupt kein so breites Leben wie den Steinerts einzuräumen dachte, sollten die Wirthschafter im Amthause ihr Unterkommen finden und der Sacristan mit den vier Knaben, welche der Freiherr zu Assistenten bei dem Gottesdienste zu haben wünschte, ihre Wohnung bei der Kirche erhalten. Es war dabei auf einen verheiratheten Glöckner abgesehen, der die Beköstigung des Sacristans und seiner Schüler übernehmen könne.

Eine Zeit lang hatte der Freiherr, von der Herzogin beeinflußt, wohl die Absicht gehegt, auch den Caplan nach Rothenfeld übersiedeln zu lassen; aber er hatte dessen Anwesenheit, während jener mit der Baronin in der Stadt gewesen war, doch mehr vermißt, als er erwartet haben mochte, und grade der Hinblick auf Angelika machte es ihm wünschenswerth, den ihr so werthen Mann in ihrer Nähe und auch in der Nähe des Knaben zu lassen, dem die Aufsicht und der Unterricht des Caplans mit jedem Tage nöthiger werden mußten.

Während man in nächtlicher Stille die Särge aus dem bisherigen Erbbegräbnisse in die Marmorgruft der neuen Kirche brachte und der Caplan die weißen Rosenbüsche an der Eingangsthür derselben pflanzen ließ, während die Kanzel ihre letzten Verzierungen erhielt, der aus der Stadt angelangte Beichtstuhl [207] aufgestellt ward und der Freiherr sich mit dem Fürstbischof ins Einvernehmen setzte, damit dieser, der den Grundstein eingeweiht, auch am Margarethentage die Einsegnung des fertigen Baues übernähme, ward er es nicht sonderlich gewahr, daß die Herzogin ungewöhnlich viel Briefe erhielt und schrieb, daß sie öfter theilnahmslos erschien und, seit der Graf und die Gräfin Berka das Schloß verlassen hatten, von Reiseplanen sprach, die ihr neuerdings gekommen sein mußten, denn es war nie davon zuvor die Rede gewesen. Sie zeigte sich jetzt weniger als sonst bemüht, den Freiherrn zu unterhalten, bewies der Kranken wirklich jene Sorgfalt, deren Anschein sie während des Besuchs der Berka'schen Familie angenommen hatte, und trotz ihrer Abneigung gegen die Herzogin konnte Angelika es nicht übersehen, daß eine Veränderung mit derselben vorgegangen war und daß sie jetzt wie der mehr als in den verwichenen Jahren dem Bilde entsprach, welches Angelika in den ersten Tagen sich von ihr gemacht hatte.

Als der Postbote wieder einmal nach der Stadt geritten war, um die Posttasche abzuholen, brachte er in dieser neben dem eigenhändigen Schreiben des Fürstbischofs, das seine Zusage enthielt, auch ein großes, aus der Residenz kommendes, mit mehreren Siegeln verschlossenes Paket für die Herzogin, sowie die Antwort Seba's auf die Sendung und die Briefe des Freiherrn und Angelika's.

Seba dankte dem Freiherrn in einem kurzen Schreiben, dessen formvolle Haltung er rühmend anerkannte, für die Freude, die er ihr bereitet, für die gütige Weise, in welcher er ihren geheimen Wunsch errathen und befriedigt habe. Auch der Brief an die Baronin war nicht eben lang. Seba schickte ihr, da sie augenblicklich über kein anderes Bild von sich verfügen konnte, ein kleines, in Pastell gemaltes Portrait, das sie in ihrem sechszehnten Jahre darstellte. Es war kurz vor der Zeit gemacht [208] worden, in welcher sie den Grafen hatte kennen lernen, und der ganze Zauber seelenvoller Kindlichkeit und Unschuld lag in dem Bilde noch über dem edlen, holden Antlitze ausgebreitet. Die Baronin hatte dieses sie rührende Bild, das in der Stube des Vaters hing, nie zuvor gesehen.

»Sei um mich nicht in Sorge«, schloß Seba ihren Brief an die Baronin. »Es ist mir wohler und freier um das Herz, als seit gar langer Zeit. Nicht alle Naturen können die gleiche Straße gehen und jede muß ihre Befreiung und Befriedigung auf ihre eigene Weise suchen. Da ich Dich liebe, thut es mir wohl, Dich in Deinem Glauben und in Deinem Anlehnen an Deine Kirche glücklich zu denken; gönne Du mir, da Du mich liebst, die Erhebung und Auferbauung meiner Seele und meiner Zukunft auf meine Weise. Du erwartest die Gerechtigkeit aus der Hand des Höchsten, der mit seiner Vorsehung Dein Leben lenkte; ich entbehre dieses Glaubens, ohne der Ueberzeugung und des Trostes zu entbehren, daß unsere selbstbestimmten Thaten in unseren Leiden und Freuden ihre Folgerichtigkeit haben; und Deine Liebe und die letzten Augenblicke, die ich mit Dir verlebte, haben mir dies wieder vollgültig dargethan. Die Genugthuung, deren ich bedurfte, ist mir jetzt geworden.

Der Herr Baron und Du, meine Angelika, legen es mir beide nahe, eine Bitte, der Gewährung sicher, an ihn zu richten. Sie soll denn, wenn auch nicht eigentlich für mich, gesprochen werden. Herbert, der jetzt seine Aufgabe im Dienste des Herrn Barons vollendet hat, ist mir sehr werth und mir in manchen schweren Stunden ein Freund gewesen. Er sehnt sich, seine Eva in das Haus zu führen, das Du mit uns bewohnt hast und das er in diesen Tagen von meinem Vater für sich kaufte. Lege das Glück meines Freundes dem Herrn Baron ans Herz. Herbert und Eva sind zwei so einfache, so schuldlose Naturen, [209] daß es, wie ich mir denke, auch Dich erfreuen müßte, sie bald vereinigt zu sehen. Herbert hat seine Aufgabe zu des Herrn Barons Zufriedenheit beendet, möge dieser seinen Baumeister dafür in der Weise belohnen, die ihn am meisten beglücken wird! – Ich spreche diese Bitte ohne Herbert's Wissen aus. Sollte es Dir, wie ich es für möglich halte, angemessener scheinen, sie als Deinen Wunsch zu bezeichnen, so nenne mich nicht, und laß uns, wie in Liebe, so in dem stillen, verschwiegenen Wirken für das Glück der Anderen stets verbunden bleiben!«

[210]
18. Capitel
Achtzehntes Capitel

In Rothenfeld und in Richten, im Amthofe wie im Schlosse hatte man vollauf zu thun. Der Glöckner mit Frau und Kindern, der Sacristan mit seinen vier Schülern waren eingetroffen. Eva hatte auf Anweisung des Freiherrn das Haus für sie eingerichtet, die Vorräthe für den ersten Bedarf des neuen Hausstandes herbeigeschafft, und wie leicht der Freiherr dies auch veranschlagte, fiel es für die Verwaltung doch immer in das Gewicht, denn der Unterhalt für zehn Personen will erworben sein.

Im Schlosse langte um die festgesetzte Stunde der Fürstbischof, wie zur Grundsteinlegung, mit seinen Vicaren und Caplänen an, und Angelika, obschon sie sich danach zurückzog, um ihre Kräfte für den nächsten Tag zu Rathe zu halten, ließ es sich nicht nehmen, ihm bis an die Schwelle ihres Hauses entgegen zu gehen. Sie wollte die erste sein, welche des verehrten Greises Segen für sich und ihren Sohn erbat.

Im Laufe des Tages hatte der Bischof verschiedene besondere Unterredungen mit dem Freiherrn und mit dem Caplan; auch mit der Herzogin wanderte er im letzten Sonnenscheine noch auf der Terrasse umher. Renatus, an dem sie, ohne auf ihn zu achten, mehrmals vorübergegangen waren, hörte, daß sie von Italien sprachen, und fragte am Abende die Mutter, weßhalb sie nicht auch einmal nach Italien reisten, wenn es dort so schön sei.

Herbert war schon seit zwei Tagen im Amthause. Er hatte dem Freiherrn am bestimmten Termine den Bau übergeben, die [211] Schlüssel ausgeliefert, und dieser hatte es an Lob und Anerkennung für den Architekten auch jetzt nicht fehlen lassen. Eine Einladung, in das Schloß zu kommen, war an Herbert nicht ergangen, aber der Freiherr hatte ihn aufgefordert, am Abende des Festtages sich zu der Mahlzeit auf der Birkenhöhe einzustellen, und er hatte dies schicklicher Weise nicht ablehnen dürfen, obschon ihm jede Begegnung mit den Schloßbewohnern peinlich war.

Die ganze Nacht hindurch hatte der Gärtner mit seinen Gehülfen Kränze und Guirlanden zu den Ehrenbogen geflochten, die den Eingang der Kirche, den Altar wie die Kanzel zieren sollten. Als der Morgen in seiner Herrlichkeit heraufzog, waren der Gehülfe und Herbert schon auf den Füßen, um die Ausschmückung für die Kirchenfeier zu überwachen und zu leiten.

Es hatte in der Nacht stark gethaut, nun dehnten und wiegten sich unter dem heißen, entfaltenden Sonnenstrahle die feuchtglänzenden Blätter und Gräser. Kein Wölkchen stand am Himmel. Ueber die Getreidefelder wehte der Morgenwind, daß die Halme sich neigten und hoben und die noch weiß schimmernde Aehrenfülle des Weizens und der Gerste sich unter dem leisen Luftzuge wie die zitternden Wellen eines glänzenden Wasserspiegels schillernd bewegten. Die Vögel stiegen überall aus Feld und Busch empor und schwangen sich mit jubelndem Gesange hoch hinweg über das goldene Kreuz des Kirchthurmes, welches, wie Angelika es einst ersehnt hatte, jetzt weithin leuchtend in die Ferne strahlte.

Früh um neun Uhr ging der Glöckner zum ersten Male an sein Amt.

Angelika stand an dem Fenster ihres Zimmers; sie sah gedankenvoll in die Gegend hinaus. Ich habe einen sonderbaren Traum geträumt, sagte sie zu Marianne. Ich ging allein, vor euch Allen in die Kirche; es war ein prächtiger Tag, und ich fühlte mich so leicht, daß ich die Erde gar nicht berührte. Ich [212] wandelte ruhigen Schrittes durch die Luft, ohne mich darüber zu verwundern. Nur Eines fiel mir auf: die Tannenbäume, welche vom Gitter nach der Kirche führen, standen in voller Blüthe und trugen statt der Zapfen die schönsten weißen Rosen. Ich freute mich so darüber!

Indem sie diese Worte sprach, ertönten die ersten Schwingungen der Glocken durch die Weite. Angelika's Herz wallte auf, sie hielt in ihrer Erzählung inne und knieete nieder.

Es drängte sie, dem Herrn dafür zu danken, daß er sie die Erfüllung ihres Gelöbnisses erreichen lassen, daß sie den Tag erlebte, an welchem die Glocken ihrer Kirche fernhin mahnend zu ihr hinüber schallten, und sie dachte nicht daran, daß es andere, ganz andere Gefühle waren, welche dieser fremde Klang in den Herzen ihrer Unterthanen weckte.

Nach kurzem, inbrünstigem Gebete richtete sie sich auf. Sie mußte ihren Gatten sehen.

Du hier? rief er, als sie bei ihm eintrat, und ihre Hand ergreifend, hieß er sie willkommen, während er sie zu einem Sessel geleitete. Die Glocken der Kirche tönten fort und fort. Der Freiherr und Angelika waren beide sehr bewegt. Sie fühlten sich durch ein gemeinsam Gewolltes und Erreichtes, sie fühlten sich durch die heiligsten Bande, durch die schmerzlichsten Erinnerungen, durch Leiden und Freuden, durch die Hoffnungen und Sorgen für ihres Sohnes Zukunft verbunden und zu einander gehörend. Niemals waren sie in ihrem Denken und Empfinden mehr im Einklange gewesen, als unter dem ersten, feierlichen Läuten dieser Glocken, und doch hatten sie es verlernt, sich einander vertrauend hinzugeben. Vereinsamt und zagend standen sie sich gegenüber, das Herz that beiden wehe, weil jeder von ihnen seine Aufwallung zurückhielt.

Endlich überwand der Freiherr sich. Wir sind am Ziele, sagte er, und wie man auf der Höhe eines Berges der Mühen, [213] mit denen man ihn erstieg, leicht vergißt, um sich der herrlichen Fernsicht zu erfreuen, so dürfen auch wir, der Opfer, die wir bringen müssen, fortan nicht mehr gedenkend, uns des Geschaffenen erfreuen, das denen, die nach uns kommen werden, von uns Kunde geben und unsere Namen in eine ferne Zukunft tragen wird. Laß uns einander Glück dazu wünschen!

Er küßte sie mit Feierlichkeit auf die Stirne, und unfähig, ihre Erschütterung zu verbergen, zu scheu, sich ihm in die Arme zu werfen, küßte sie ihm die Hand. Das fuhr ihm wie ein Stich durchs Herz.

Angelika, Beste, was thust Du? rief er erschrocken aus. Aber sie sah ruhig zu ihm empor und sagte: Laß es geschehen! Es hat mir wohlgethan, lieber Franz, Dich so mild gestimmt zu finden, und ich gewinne dadurch den Muth, eine Bitte an Dich zu richten!

Er setzte sich an ihre Seite; sie blieb eine Weile in schweigendem Nachdenken versunken, dann sagte sie: Ich möchte mich dazu des Bildes bedienen, das Du eben jetzt gebrauchtest, Lieber! Man sieht vom erreichten Ziele die Dinge freier an, und – Du wirst Dich darüber so wenig zu täuschen vermögen, als ich – auch mein Ziel wird bald erreicht sein! Da möchte ich den Personen, denen ich genaht bin, so weit es möglich ist, gern freundliche Erinnerungen hinterlassen!

Der Freiherr unterbrach sie. Sie hatte bisher niemals von der Wahrscheinlichkeit ihres frühen Todes zu ihm gesprochen. Er versuchte ihre Ahnung zu bekämpfen, er wollte sich selber die Wehmuth verscheuchen, es gelang ihm Beides nicht.

Was uns auferlegt ist, werden wir erwarten und tragen müssen, sagte Angelika ergeben, aber erfülle meinen Wunsch. Lege noch heute Eva's Hand in Herbert's Hand. Es würde mich schmerzen, wenn er, der uns so schön gedient, und der – jetzt wirst Du mir es glauben – rein und ehrenhaft Dir gegenüber dasteht, unserer mit Abneigung gedenken sollte.

[214] Der Freiherr schloß, wie unter einer schmerzlichen Berührung, unwillkürlich die Augen, seine Brauen, seine Lippen preßten sich zusammen: Angelika blieb ruhig und gelassen. Das Erlebte lag weit hinter ihr.

Der Tag ist uns, die wir den Bau begründet haben, ein hohes Fest, sprach sie; Du wünschest ihn der Herzogin zu einem Ehrentage zu machen. Laß ihn für Herbert, für Eva und für ihren Bruder gleichfalls zu einem Tage freudiger Erinnerung werden, und auch mein Herz wird ihn dann als einen doppelt gesegneten empfinden, denn ich werde Deine Verzeihung in der Gewährung meiner Bitte empfangen zu haben glauben.

Laß die Vergangenheit begraben sein, laß uns auf die Zukunft blicken, sagte der Freiherr mit milder Abwehr, und sei es, wie Du's wünschest. Noch heute will ich Eva meine Zustimmung verkünden.

Angelika dankte ihm dafür. Sie wollte Zeit und Stunde wissen; ihr Gatte bat, ihm dies zu überlassen; er wollte sich wie immer die Freiheit augenblicklicher Entschließung vorbehalten.

Inzwischen war es Zeit geworden, sich nach der Kirche zu begeben. Wie vor acht Jahren fuhr man in vier Wagen durch das Dorf, weniger noch als damals ließen die Gutsinsassen sich blicken. Es war Sonntag; sie waren vollzählig zu ihrem Pfarrer in die Kirche gegangen. Die Pfarrerin hatte diesen mit Bitten und mit Thränen davon abzuhalten gestrebt, daß er eben an dem heutigen Tage ein Aergerniß gäbe, aber der Pastor ließ es sich nicht nehmen, grade heute mit feurigem Worte sein Herz vor der Gemeinde auszuschütten und sie zu warnen, daß sie sich nicht durch äußeren Glanz und äußeren Vortheil verführen lassen sollte.

Der Amtmann und Eva fehlten in der Kirche. Wie sehr sie ihren alten Pfarrer auch verehrten, sie hatten zu viel Freude an dem Ehrentage Herbert's; sie waren dem Baue durch alle seine Stufen mit zu großer Theilnahme gefolgt, als daß sie es [215] sich und Herbert hätten versagen mögen, das schöne Bauwerk in seinem ersten Schmucke zu sehen, die ersten Orgeltöne in diesem Gotteshause erklingen zu hören.

Die Wagen machten außerhalb des Kirchhofes Halt. Der Freiherr, seine Gattin am Arme, seinen Sohn an der Hand, durchmaß den mit Blumen bestreuten Weg. Da er und Angelika sich in der Vorhalle mit dem geweihten Wasser netzten, war es ihnen, als hätten sie dies nie zuvor gethan, und es durchschauerte sie feierlich.

Von der Herzogin begleitet, begaben sie sich in die herrschaftliche, der Kanzel gegenüber gelegene Loge. Die katholische Dienerschaft aus dem Schlosse hatte unten in den Bänken Platz genommen. Unter dem Portale empfing der Caplan, als Pfarrer der neuen Kirche, den Fürstbischof und sein Gefolge. In vollen, jubelnden Klängen ließ die schöne Orgel ihr Halleluja ertönen, die Chorknaben schwangen die silbernen Weihrauchgefäße, und das große, bischöfliche Kreuz voraufgetragen, schritt der Bischof mit seinem Gefolge dem Altare zu, die erste Messe in der Kirche zu lesen.

Dann bestieg der Pfarrer seine Kanzel, und Angelika wie der Freiherr glaubten ein Wunder vor sich zu sehen. Wie verjüngt strahlte sein Antlitz, mit fremdem, mächtig ergreifendem Tone schallte seine Stimme von der hohen Wölbung der Kuppel zurück. Er fühlte die Begeisterung, das Feuer und den Eifer seiner jungen Jahre in sich wiederkehren, die rückwirkende Kraft der Gemeinde erwies sich an ihm mächtig, und er kannte die Herzen derer, zu denen er zu sprechen hatte, genau genug, um die Worte zu finden, mit denen er sie bewegen konnte. Er wußte, was dem Hause derer von Arten fehlte, er war diesem Hause durch ein langes Leben so eng verbunden gewesen, der Freiherr und Angelika waren seinem Herzen jeder auf seine Weise so nahe verwandt, daß es keiner Kunst bedurfte, daß er nur der eigenen Eingebung zu folgen brauchte, um sie mit sich zu erheben.

[216] Mit stolzem Selbstgefühle verließ der Freiherr nach beendigtem Gottesdienste seinen Sitz. Er ließ Herbert herbeirufen, um ihn dem Fürstbischof vorzustellen. Angelika sah ihn in diesem Augenblicke zum ersten Male wieder. Als auch sie ihm dankte und ihm ihre Hand hinreichte, wagte er es, sie an seine Lippen zu ziehen, und sie sah Thränen in seinem Auge, die sie sich zu deuten wußte.

Ja, sprach sie, ich bin recht krank, aber heute mag ich nicht daran denken, heute ist es auf lauter Freude abgesehen, und ich hoffe Sie am Abende noch zu begrüßen.

Die Herrschaften und der Bischof nahmen die Kirche und die Kirchenwohnung in Augenschein; sie belobten Alle den Baumeister; Herbert hatte heute ein großes Wohlgefallen an der Anerkennung, denn Eva und ihr Bruder hörten sein Lob und waren stolz auf ihn; aber der Anblick der Baronin ließ in ihren guten Herzen keine wahre Freude aufgehen.

In demselben Zuge, in welchem man sich nach der Kirche begeben hatte, verließ man sie. Angelika schien keine Ermüdung zu empfinden. Sie machte bei dem Mittagbrode, das man dem Bischofe zu Ehren veranstaltet hatte, mit Freundlichkeit die Wirthin; sie empfing die zahlreichen Gäste aus der Nachbarschaft, welche man für den Abend eingeladen hatte, das Namensfest der Herzogin zu begehen.

Der schöne Tag machte dem mildesten Abende Platz. Man brachte die letzten Stunden des Nachmittags auf der Terrasse zu. Als die Sonne sank, fuhren die Wagen vor, um diejenigen, welche, wie Angelika, die Mühen des Weges zu scheuen hatten, nach der Birkenhöhe hinauf zu bringen. Der Justitiarius, der Amtmann und Eva hatten Einladungen zu dem Abendbrode erhalten, das man oben einzunehmen dachte. Herbert und der Gehülfe, wie das ganze Gefolge des Bischofs, befanden sich selbstverständlich unter der Gesellschaft. Bei einem im Freien veranstalteten [217] Feste brauchte man mit den Einladungen nicht so ängstlich zu sein.

Der Park war belebt wie in den glänzendsten Tagen des Hauses, der Freiherr recht eigentlich in seinem Elemente. Der Fürstbischof, die geistlichen Herren seines Gefolges, die Herzogin, die adeligen Familien der Nachbarschaft bildeten eine stattliche Versammlung.

Als man oben auf der Höhe anlangte, fand man den neuerbauten kleinen Tempel in allen seinen hervorragenden Linien mit Blumenguirlanden geschmückt. »Der Freundschaft!« war mit goldenen Buchstaben über der Eingangsthüre zu lesen. Man hatte die Marmortafel, welche diese Inschrift trug, erst während des Tages angebracht. Eine sanfte Musik ertönte aus dem Innern des Baues, die Thüren öffneten sich, das Bild der Herzogin, welches während ihres Aufenthaltes in der Stadt im Auftrage des Freiherrn von einem geschickten Maler ausgeführt worden war, hing reich bekränzt dem Eingange gegenüber. Man hatte davor eine Art von Altar aufgerichtet, auf welchem Blumen und Feldfrüchte, Garten- und Feldarbeits-Geräthschaften wie in einem Tempel der Ceres und der Flora aufgestellt waren. Von dem Sacristan wohl eingeübt, sang das Quartett der Knaben ein Loblied auf die Herzogin, das von dem Freiherrn selber dem Schiller'schen »Mädchen aus der Fremde« nachgedichtet worden war.

Bei der Strophe:


Sie theilte jedem eine Gabe,
Dem Früchte, jenem Blumen aus;
Der Jüngling und der Greis am Stabe,
Ein jeder ging beschenkt nach Haus –

führte der Freiherr die Gefeierte vor den Altar. Unter den dort aufgestellten Geräthschaften befanden sich verschiedene kleine Körbe, in denen auf und unter blühenden Blumen, mit den Namen der anwesenden Personen bezeichnet, die mannigfachsten [218] Geschenke vorbereitet lagen. Er händigte ihr das erste dieser Körbchen aus und bat sie, als Schützerin dieses Tempels, der fortan ihren Namen tragen sollte, den versammelten Freunden ein Andenken an sich zu hinterlassen.

Die Herzogin, solcher Darstellung im höchsten Grade mächtig, unterzog sich mit vollendeter Anmuth ihrer Aufgabe, und eine gewisse Rührung, eine ihr sonst fremde Weichheit verliehen den Geschenken, die sie auszutheilen hatte und die dem Range der Herzogin wie dem Ansehen der Empfänger angemessen waren, einen erhöhten Werth.

Schweigend und in sich selbst versunken wohnte Angelika dem Schauspiele bei. Sie schien es kaum zu bemerken. Ihr Auge sah durch die offenen Bogenfenster in das Thal hinaus. Auch Herbert hatte wenig Sinn für die gegenwärtige Feierlichkeit. Er ahnte, was in dem Herzen der Baronin vorging.

So, im sinkenden Tagesscheine, hatte er einst mit ihr auf dieser Höhe gestanden, hier auf dieser Stätte war sie ihm als das Urbild edler Schönheit erschienen, hier hatte ihre Trauer ihm das Unglück ihres Lebens enthüllt, hier hatte er sich ihr in selbstloser Freundschaft zu eigen geloben wollen – und schon damals hätte ihr Ausruf: »Hier oben dürfen wir keine Kirche bauen!« ihm verrathen können, was später ihm so verwirrend und so schmerzlich klar geworden war.

Ihr, der Reinen, der erhabenen Seele hätte er hier einen Tempel der Erinnerung errichten mögen, und man weihte diese Stätte dem Andenken jener fremden Frau, deren selbstsüchtige Arglist Angelika's Glück untergraben und zerstören geholfen. Er konnte die Augen nicht von der Baronin wenden, auch Eva dachte nur an sie.

Man schämt sich seines Glückes, wenn man auf sie blickt! sagte sie zu Herbert, der sich zwanglos an ihrer Seite hielt.

Der Freiherr wies den einzelnen Gästen mit leichter Handbewegung [219] die Reihenfolge an, in welcher sie sich der Herzogin zu nähern hatten. Die gute Stimmung wuchs von Minute zu Minute. Zwischen den einzelnen Strophen des Gedichtes waren kleinere, die Vertheilung begleitende und sich in raschem Rhythmus und in heiterer Melodie leicht bewegende Verse eingelegt. So ging es fort, bis die geladenen Gäste alle ihre Gaben empfangen hatten und auf ein Zeichen des Freiherrn der Architekt an den Altar beschieden wurde.

Als er sich demselben näherte, erhob sich Angelika von ihrem Platze, winkte Eva zu sich heran, und während sie selbst das überraschte Mädchen an Herbert's Seite geleitete, sangen die Knaben die Schlußverse des Gedichtes:


Doch nahte sich ein liebend Paar,
Dem reichte sie der Gaben beste,
Der Blumen allerschönste dar!

und Eva's und Herbert's Hände in einander legend, sagte Angelika leise, daß nur die beiden es vernehmen konnten: Seid glücklicher, als ich, und denket meiner, wenn ich nicht mehr bin!

Herbert und Eva sanken ihr zu Füßen, die Gesellschaft rief ihren Beifall und ihre Glückwünsche aus. Man merkte es nicht, daß Angelika noch blässer geworden war und leise ihre Thränen trocknete. Herbert und Eva waren ein so schönes Paar.

Die ganze Erfindung und Ueberraschung war vollkommen im Sinne der Gesellschaft, und man hatte auch mehr zu thun, denn draußen waren inzwischen die Lampen angezündet, der Tempel, die Höhe, der Garten, die Terrasse, das Schloß strahlten im Lichtglanze der Illumination, und während von den dem Tempel gegenüber gelegenen Ruinen des alten Schlosses die ersten Garben des Feuerwerks in die Höhe stiegen, brachte der Fürstbischof selber in dem schäumenden Champagner, den die Diener zu credenzen begannen, den ersten Toast auf das Bestehen, Wachsen und Gedeihen des von Arten'schen Geschlechtes aus.

[220]
19. Capitel
Neunzehntes Capitel

Die Gäste hatten das Schloß verlassen, der Tag war bewölkt, die Baronin hütete das Lager, weil sie sich mehr zugemuthet, als ihre Kräfte leisten konnten; auch der Freiherr und die Herzogin waren ermüdet und hielten sich in ihren Gemächern. Der Herr Pfarrer, wie die Kirchenbeamten und der Sacristan den Caplan jetzt nannten, beantwortete in des Freiherrn Namen die Vorstellungen, welche diesem von Seiten des Superintendenten auf die Beschwerden des Pastors gemacht worden waren. Der neue Pfarrer allein war zu einer großen Thätigkeit aufgelegt, während der Freiherr jene Erschlaffung und jene Leere fühlte, welche nach der Vollendung einer großen Arbeit, eines großen Unternehmens sich immer einzustellen pflegen.

Gegen den Abend machte die Herzogin ihm den Vorschlag, einen Spaziergang nach der Margarethen-Höhe, so nannte man den Hügel jetzt, zu unternehmen. In ruhigem Gespräche durchwanderten sie den Park, stiegen sie den Hügel hinauf. Oben angelangt, setzten sie sich auf einer der nach antikem Vorbilde gearbeiteten Steinbänke nieder, welche man dort aufgestellt hatte. Trotz des schönen Abends machten der Platz und der Tempel heute keinen guten Eindruck. Die Blumenguirlanden waren welk geworden, das Gras des Rasenplatzes hier und da zertreten. Die Lampen hingen trüb und fahl in den Drähten des Lattenwerkes, auch das Innere des Tempels war noch nicht [221] wieder hergestellt worden, und das Bild der Herzogin sah in dem matten Lichte wie verschleiert aus.

Wir hätten heute nicht hierher gehen sollen, bemerkte der Freiherr, denn jedes Fest wirft einen Schatten auf den ihm folgenden Tag!

Und doch wünschte ich gerade heute hierher zu kommen und mich an dem Orte, dem Sie so liebenswürdig meinen Namen verliehen, an welchem Sie, mein theurer Vetter, mich so hoch geehrt haben, mit Ihnen über eine Angelegenheit zu besprechen, die ich ohne Ihren Beirath zu ordnen genöthigt gewesen bin, denn Ihre Freundschaft würde mich, ich fühle das, verhindert haben, die Entscheidung zu treffen, zu welcher ich selbst mich schwer genug entschloß.

Sie hielt inne; der Freiherr bat sie, sich zu erklären.

Ich bin nicht wortbrüchig, mein Freund, sagte sie, und ich habe es nicht vergessen, wie Ihre Großmuth mir einst das Versprechen abgenommen hat, daß ich von Ihrer gastlichen Schwelle nicht scheiden würde, bis Sie selbst mich wieder in die Hallen meines schönen Vaudricourt zurückgeleiten könnten.

Und dieses Versprechen ist Ihnen leid geworden? fragte der Freiherr, von einer unangenehmen Ahnung erfaßt.

Sie schüttelte wehmüthig das Haupt. Nein, o nein, versetzte sie, und es wird, glauben Sie es mir, theurer Vetter, zu den erhebendsten Erinnerungen meines Lebens gehören, daß Sie es einst von mir gefordert haben, daß ich Sie auch heute noch geneigt weiß, mir fort und fort das Gastrecht zu gewähren, welches Sie mir mit jener Forderung verhießen. Aber jedes Versprechen, das wir leisten, wird in einem bestimmten Glauben, unter gewissen Voraussetzungen gethan ....

Sie wollen von uns scheiden? rief der Freiherr, tiefer getroffen, als er es selbst in diesem Augenblicke wußte. Sie wollen jetzt, eben jetzt von uns gehen, wo, wenn nicht ein [222] Wunder geschieht, auf das zu hoffen der Mensch kein Anrecht hat, meinem Hause ein schwerer Verlust und eine einsame, ernste Zeit bevorsteht?

Die Herzogin seufzte. Ich habe mir das selbst gesagt, habe Alles schmerzlich in mir erwogen, und doch bleibt mir keine Wahl. Jedes Versprechen, das wir leisten, wiederholte sie absichtlich, wird in einem bestimmten Glauben, unter gewissen Voraussetzungen gethan. Als ich Ihnen einst gelobte, nicht eher von Richten zu scheiden, bis Sie mich nach Vaudricourt geleiten könnten, glaubte ich an eine Wandlung, an eine nicht ferne Rückkehr zu Ordnung und Gesetz in meiner Heimath, hoffte ich den Thron seines rechtmäßigen Herrschers in Frankreich bald wieder aufgerichtet zu sehen. Diese Hoffnung habe ich für jetzt verloren!

Und was bewegt Sie also zu dem Entschlusse, mit dem Sie uns bedrohen? wandte der Freiherr mehr und mehr verwundert ein.

Die Herzogin wich der Antwort aus. Sie kennen die Huld und Gnade, sagte sie, mit welcher die Gemahlin des Grafen von Provence mich von je her beglückte. Durch die Verhältnisse unseres Vaterlandes an den Hof ihres königlichen Vaters zurückgeführt, wünscht sie mich in ihre Nähe zu ziehen. Die Oberhofmeisterin Ihrer Majestät der Königin ist gestorben, man bietet mir ihre Stelle an, und ....

Der Freiherr neigte mit vornehmer Bewegung zustimmend das Haupt: Und Sie finden es ehrenvoller und angenehmer, die Oberhofmeisterin einer Königin zu sein, als einem Landedelmanne in seinem Schlosse fürder die Freude und die Ehre Ihrer Gegenwart zu gönnen! Ich begreife das – und ich gebe Ihnen Recht, vollkommen Recht, fügte er schnell gefaßt hinzu.

Es entstand eine Pause. Die Herzogin wußte vollkommen, [223] welche Kränkung sie dem Freiherrn bereitete. Aber einer Beobachterin wie ihr waren die sich ändernden Glücksumstände des Freiherrn nicht verborgen geblieben, und sie hatte seit lange daran gedacht, das Schloß und den Freiherrn zu verlassen. Es widerstrebte ihrem Ehrgefühle, Opfer anzunehmen, sobald man anfangen konnte, sie als solche zu empfinden, es widerstrebte noch mehr ihrer Neigung, an dem Krankenlager einer Sterbenden langsam schleichende Tage hinzuleben und in dem freiherrlichen Schlosse die unvermeidliche Einsamkeit des Trauerjahres über sich zu nehmen. Das glänzende Turin, das Leben an dem üppigen Hofe von Savoyen, der Einfluß einer Stellung, wie sie ihr geboten ward, konnten sie nicht schwanken lassen über das, was ihr zu thun oblag, und den Freiherrn mit erkünstelter Unbefangenheit bei seinem Worte nehmend, sagte sie: Ich wußte, daß Sie mich billigen, daß Ihre selbstlose Freundschaft mir den Schritt, der mich so viel Ueberwindung kostet, nicht erschweren würde, und – sagte sie mit einem neuen Seufzer – vielleicht bin ich so glücklich, Sie, mein theurer Freund, in meiner neuen Heimath wiederzusehen, wenn der Schlag gefallen sein wird, der Sie bedroht, wenn es Ihnen zu schwer fallen sollte, hier in dem verwaisten Hause zu verweilen!

Der Freiherr antwortete ihr nicht. Sie erhob sich, trat in den Tempel und sagte, ihr Tuch an ihre Augen drückend: Wie mich es gestern erschütterte, als Sie ahnungslos mich Angedenken an die werthen Menschen vertheilen ließen, die ich Alle nun nicht wiedersehen werde, denn der Befehl der Königin bedrängt mich und bindet mich zugleich!

Sie haben zu befehlen, Herzogin! versicherte der Freiherr.

Sie lächelte. Morgen gehe ich noch nicht, auch übermorgen nicht!

Er sagte ihr, daß er jeden Tag ihrer Anwesenheit als einen [224] Gewinn betrachten würde, aber sein Ton war kalt, und schweigend traten sie den Heimweg an.

Die bevorstehende Abreise der Herzogin setzte in der ganzen Herrschaft Alles in Erstaunen. Der Freiherr versuchte nicht, sie zu halten, sie fühlte jetzt kein Verlangen mehr, zu bleiben.

Als Adam davon hörte, nickte er traurig mit dem Kopfe. Wenn ein Haus den Einsturz droht, sagte er, gehen die klugen Ratten hinaus!

Der Freiherr ließ es der Herzogin an keiner Bequemlichkeit fehlen. Er war sich das nach seinem Empfinden schuldig. Für den vierten Tag wurden die Pferde bereit gehalten und vorausgeschickt, und ehe die letzten Kränze des Freundschaftsfestes auf der Margarethen-Höhe abgenommen waren, hatte die Herzogin das Schloß und die Gegend verlassen.

Es trat damit eine große Lücke in des Freiherrn Leben ein. Er hatte ihr durch eine lange Reihe von Jahren seine Freundschaft, sein Vertrauen geschenkt, sie hatte ihn beschäftigt, ihn gefesselt und bestimmt; nun war er völlig auf sich selber angewiesen, und er hatte Niemanden, dem er bekennen durfte, was er fühlte, was ihn kränkte. Er wußte, daß der Caplan die Entfernung der Herzogin stets gewünscht, daß Angelika sie heiß ersehnt hatte, und Angelika konnte ihr Lager nicht mehr verlassen. Wie hätte er auch daran denken dürfen, ihr, die er mit so viel Härte von sich gewiesen, der die Herzogin so schweres Leid gebracht, es einzugestehen, daß und wie sehr er diese vermisse!

Schweigend, in sich zurückgezogen ließ er die Tage an sich vorübergehen, und sie brachten keinen erfreulichen Wechsel mit sich. Er hatte Verdrießlichkeiten mit den Behörden, auf den Gütern wuchsen die Widersetzlichkeiten. Die Einweihung der Kirche, ihre Dotirung, die Einführung und Einrichtung der Kirchenbeamten, das Fest auf der Margarethen-Höhe und die Abreise der Herzogin hatten viele Ausgaben verursacht. Sie waren nach der Weise des [225] Freiherrn alle unerläßlich gewesen, aber sie hatten doch seinen Baarvorrath weit überstiegen und er war aufs Neue genöthigt worden, Geld gegen Wechsel aufzunehmen.

Wie das Jahr zu sinken begann, sanken die Kräfte Angelika's mit ihm. In guten Stunden trug man sie auf die Terrasse hinaus; der Pfarrer, die treue Marianne, ihr Sohn durften sie wenig verlassen. Die Sorge für Renatus beschäftigte sie ganz und gar.

Erziehen Sie ihn zur strengen Zucht! beschwor sie den Pfarrer; machen Sie, daß er in seinem Herzen, in seinem Geiste die Richtschnur finde, die ihn hindert, von dem Pfade der Ehre und der Tugend abzuweichen; machen Sie, daß er unnachsichtig gegen seine Neigungen werde, daß sein Gewissen unbestechlich von seinen Leidenschaften sei! – Sie sprach es nicht aus, daß sie wünsche, er möge seinem Vater und ihrem Bruder nicht ähnlich werden, aber es war unschwer zu ersehen, wohin ihre Plane für die Erziehung ihres Sohnes gingen, und der Pfarrer verstand sie wohl.

Als die Ernte vollendet war, zog der Amtmann von der Herrschaft ab. Es war große Betrübniß unter den Leuten, und auch dem Freiherrn ging es heimlich nahe. Adam hingegen hatte das Scheiden mit Ungeduld erwartet. Sein Haus in Marienau stand wohlgefügt, die Hochzeit seiner Schwester sollte es einweihen, und er hatte jetzt bereits im Stillen sein Auge auf eines Gutsbesitzers hübsche Tochter fallen lassen, die ihm ein Ersatz für Eva zu werden versprach.

Im Herbste schaltete der neue Amtmann mit seiner großen Familie in dem Hause, das die Steinerts über ein Jahrhundert inne gehabt hatten. Da er nicht des Landes, sondern aus einem fernen Theile Deutschlands gekommen war, hatte er ohne Weiteres die Meinung wider sich. Er hielt es, wie der Freiherr, mit einem strengen Regiment, und ein solches mußte er auch [226] üben, wenn er die Verheißungen wahr zu ma chen dachte, mit denen er den Freiherrn für sich eingenommen.

Der Herbst war ungewöhnlich hell und mild, das Jahr schien lächelnd verscheiden zu wollen, und lächelnd fand man eines Morgens die Baronin auf ihrem Lager liegend. Sanft lächelnd, Amanda's Rosenkranz, der sie nie verlassen, in ihrer Hand, war sie wie unter dem Eindrucke eines milden Traumes eingeschlafen.

Es war auch ein heller, klarer Herbstmorgen, an welchem man die Leiche der Schloßherrin zu ihrer Ruhestätte in der neuen, von ihr gelobten Kirche führte. Von nah und fern war der benachbarte Adel herbeigekommen, ihr das letzte Geleite nach der prächtigen Familiengruft zu geben.

Der erste Reif lag auf dem Rasenplatze vor dem Schlosse und auf dem Kirchhofe, als der von sechs Pferden gezogene Leichenwagen sie überschritt. Wie weiße Rosen hingen die leicht geballten Flocken des Rauhreifs in den Tannenbäumen des Kirchhofes. Die Freifrau Angelika von Arten-Richten war die Erste des jetzt lebenden Geschlechtes, welche zu den Ahnen ihres Mannes in die Gruft herniederstieg, die Erste, welche dieses Weges ging. Der Traum, den sie am Morgen der Kirchweihe geträumt, fand seine Erfüllung. Sie war die Erste, über deren Asche der Pfarrer ihrer Kirche die Seelenmesse las.

Als die Beerdigung vorüber war und die Fremden das Haus verlassen hatten, befanden der Freiherr und der Pfarrer sich allein in dem Wohnzimmer der verstorbenen Baronin. Der Freiherr, in tiefer Trauerkleidung, ging langsam auf und nieder. Er trat an das eine, er trat an das andere Fenster. Die weithin sich erstreckenden gradlinigen Hecken von Buxbaum, die scharf zugespitzten Obelisken und Taxus-Pyramiden hatten auch in diesem Herbste durch die späte Jahreszeit noch nichts von ihrer Farbe und Form verloren. Am Ende des Gartens hoben [227] sich die Bäume des sogenannten Bosquets empor, majestätische Kiefern, deren braunrothe Stämme wie die Pinien breite, grüne Kronen trugen, und prächtige Eichen, noch voll von ihrem üppigen und jetzt goldgelb gefärbten Laube. Sie waren immer noch gewachsen. In dem Kamine brannte ein helles Feuer. Sein Schein streifte bald die Portraits der freiherrlichen Eltern, bald die schönen Bilder Amanda's und Angelika's, die an den Wänden hingen. Dann wieder beleuchtete er die antiken Statuen der Venus und des Amor, die in den Ecken des Zimmers standen.

Eine Erinnerung zuckte in dem Freiherrn auf. Ein schöner Herbsttag wie dieser war es, sprach er, indem er vor dem Pfarrer stehen blieb, der traurig an dem Kamine saß, ein Tag wie dieser war es, an dem wir einst diese beiden Statuen hier aufgestellt haben! Und wieder, wie damals, stehen wir hier allein!

Ich habe auch daran gedacht, entgegnete der Pfarrer, während der Freiherr abermals umherzugehen begann, bis er wieder vor dem Pfarrer stehen blieb.

Was ist seitdem geschehen! Welche Umwälzungen hat die Zeit gebracht, die Welt erfahren, und ich selber, was habe ich erlitten und erlebt! –

Er setzte sich nieder und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Aber er schien sich dessen wie einer Schwäche zu schämen, denn er erhob sich augenblicklich wieder, und dem Pfarrer die Hand reichend, sprach er: Und doch muß man sich sagen, was ich damals erstrebte, ist erreicht, und mehr als das! In Renatus wächst mir der Erbe meines Hauses, der Erhalter unseres Geschlechtes gesund empor. Ich habe meinem Hause und unserer Kirche hier in der Gegend eine schöne, eine erhabene Zukunft gesichert. Arbeiten Sie mit mir gemeinsam daran, mein Freund, daß mein Geschlecht in meinem Sohne einen [228] würdigen Vertreter und unsere Kirche hier zu Lande die Verbreitung finde, welche sie gewinnen muß, um dem aufrührerischen Geiste, um dem thörichten Verlangen nach Freiheit zu begegnen, die jetzt die Zeit beherrschen. Der Einzelne muß dem Leben seinen Tribut bezahlen, das Blut und der Sinn des wahren Adels erben sich fort! Und wenn auch ich einst die dunkle Straße gegangen sein werde, auf der wir heute unsere theure Todte zu geleiten hatten, wird der Name derer von Arten fortleben von Geschlecht zu Geschlecht.

Lassen Sie uns darauf hoffen, versetzte der Pfarrer; denn Sie haben Ihr Andenken mit unserer Kirche, mit der Verbreitung des allein selig machenden Glaubens in unserer Provinz verbunden, und wie die Zeit auch in ihrem Wechsel kreist, der Geist unserer Kirche ist unwandelbar und wenigstens ihr Bestehen ist dauernd!

Von der Kirche herüber ertönte bei der hereinbrechenden Dämmerung der Gruß, welcher, aus der fernen Vorzeit die Geschlechter der Menschen überlebend, allabendlich durch die katholische Christenheit erklingt. Die Glocken läuteten das Ave Maria.

Der Freiherr und der Pfarrer bekreuzten sich beide. Es war still in dem Gemache. Die Nacht sank nieder, ohne daß sie es gewahrten. Sie hofften in ihrem Herzen auf ein ewiges Bestehen dessen, was ihnen werth und heilig war, und vergaßen, daß es nichts Dauerndes giebt, daß Alles sich wandelt und vergeht.

[229][231]

Zweite Abtheilung. Der Emporkömmling

Erstes Buch
1. Capitel
Erstes Capitel

Eine Reihe von Jahren war entschwunden, seit man die Leiche der Baronin von Arten in dem Erbbegräbnisse der neuen katholischen Kirche in Rothenfeld zur Ruhe bestattet hatte, und schwere, blutige Zeiten waren seitdem über die Erde hingegangen. Aus dem schöpferischen Chaos der französischen Revolution hatte sich die finstere, gewaltige Gestalt Napoleon's des Ersten emporgehoben, dessen unersättlicher Ehrgeiz die Kriegsfackel über Europa schwang, während Zerstörung, Blut und Thränen den Weg bezeichneten, den sein Fuß von Sieg zu Sieg, von Eroberung zu Eroberung fortschreitend betrat.

Vom fernsten Westen Europa's bis hin an Deutschlands und Preußens östliche Grenzen waren die Wogen des Krieges, das Bestehende umgestaltend oder verschlingend, über die Länder gerollt. Staaten waren untergegangen, Könige und Fürsten entthront, neue Reiche gebildet und neue Herrscher und Könige ernannt worden. Im Schlosse wie in der Hütte hatte man die überall nachzitternde Kraft der ungeheuren Bewegung empfunden, und wie die Verhältnisse der Länder und ihrer Beherrscher sich geändert, so hatten sich mit diesen Wandlungen auch im Gesammtleben der Menschen wie in den einzelnen Ständen und in ihren Beziehungen zu einander große Veränderungen zugetragen.

Von jener Freiheit, welche die Franzosen zu erringen gewünscht, als sie den Thron der Bourbonen gestürzt, die Republik [233] erklärt, den König und die Königin hingerichtet und das Blut derjenigen vergossen hatten, welche sie als Feinde der Freiheit betrachteten, war ihnen unter der tyrannischen Herrschaft ihres ersten Kaisers nichts mehr übrig geblieben; aber die in der Revolution zur Geltung gekommene Erkenntniß der menschlichen und bürgerlichen Gleichheit hatte in den Geistern eine zu tiefe Wurzel geschlagen, um so schnell wie die politische Freiheit vernichtet werden zu können. Der Zauber, welcher die alten adeligen Geschlechter umgeben, war in jener Zeit für das scharfe Auge des Bürgerstandes in Frankreich erloschen, und weder die von Napoleon ernannten Fürsten und Herzoge, noch jener Theil des alten französischen Adels, der sich an den Thron des neuen Kaisers herandrängte, weil er im Dienen, gleichviel, wem er diente, seinen Vortheil und seine Ehre fand, waren dazu angethan, die frühere Geltung des Adels wieder zu erzeugen. Von einer abtrennenden Gliederung der Staatsangehörigen in drei Stände konnte ebenfalls nicht wohl die Rede sein, nachdem der sogenannte dritte Stand das Ruder des Staates jahrelang in seinen Händen gehabt hatte und seit der Sohn eines corsicanischen Advokaten der Welt Gesetze vorschrieb. Die Verehrung des angestammten historischen Adels war in eine Verehrung der Macht übergegangen, und wenn damit der sittliche Gehalt der Menschen und der Zeit auch nicht eigentlich gehoben wurde, so waren der Verehrung doch weitere Grenzen gesteckt, seit dem Verehrenden sich die Aussicht eröffnete, auf den mannigfachsten Wegen sich selbst zu einem Machthaber und damit zu einem Gegenstande der Verehrung zu erheben. Das militärische Genie, der Gelehrte, der Künstler, der Gewerbtreibende fanden dabei gleichmäßig ihre Rechnung, und was für Napoleon in den Herzen des Volkes, das er unterjochte, dessen Steuerkräfte er übermäßig in Anspruch nahm und dessen Söhne er unaufhörlich zur Schlachtbank führte, am allermeisten sprach, das war die [234] Erinnerung, wie er selber aus den Reihen des Bürgerstandes hervorgegangen, Kinder des Volkes zu Königen und Fürsten erhoben hatte, und wie er in seiner Person die Verkörperung dessen darstellte, was der Ehrgeiz des Genies zu erreichen wünschen mußte und jetzt zu erreichen hoffen konnte.

Eben so groß als der Wechsel der Zustände, der sich in Frankreich innerlich und äußerlich ereignet, war die Wandlung gewesen, welche sich in Deutsch land durch die Nachwirkung jener ungeheuren französischen Revolution im Bewußtsein und in der Empfindungsweise der Menschen vollzogen hatte. Seit mehr als anderthalb hundert Jahren blind der Bewunderung des französischen Geistes, knechtisch der Nachahmung französischer Sitte und Mode unterthan, war schon vor dem Beginne der französischen Revolution mit dem Auftreten Lessing's, Goethe's und Schiller's der Mahnruf an die Deutschen ergangen, sich ihrer eigenen Macht und Bedeutung, sich ihrer eigenen Abstammung und Größe zu erinnern; und was die Kraft, was die befreiende Erhabenheit dieser Heroen begonnen, das vollendete die napoleonische Tyrannei, deren eiserne Schwere sich stärker und stärker auf Deutschland herabsenkte. In Blut und Thränen, unter dem Drucke der Fremdherrschaft, in der willkürlich über ihm verhängten Zersplitterung, in der Knechtschaft und in den Banden Napoleon's war Deutschland frei geworden von jener französischen Sclaverei, zu welcher es sich so lange selbst verdammt hatte. Französische Sprache, französische Mode und französische Sitten waren dem vor der Revolution flüchtig gewordenen Adel entgegen gekommen, wo immer er sich in Deutschland hingewendet. Eine Begeisterung für die in Frankreich durchgesetzte Neugestaltung der Staatsverhältnisse hatte von vielen Seiten die ersten republikanischen Siege der Neu- Franzosen diesseit des Rheines begrüßt; aber auch diese Zeiten waren vorübergegangen. Der deutsche Geist war zum Selbstgefühl erwacht; an dem Hasse gegen den Uebermuth der fremden [235] Vergewaltiger hatte sich die lange niedergehaltene Liebe für die Muttersprache und für das gemeinsame Vaterland entzündet.

Ueberall, wo deutsche Herzen schlugen, wo deutsche Hände die Saat auf den Feldern des Landes ausstreuten und deutscher Fleiß sich in Gewerb und Handel bewegte, hatte man das Unheil der französischen Herrschaft zu tragen. Die Kriegszüge, welche sich vom fernen Westen und vom Süden Europa's bis an die östlichsten und nördlichsten Grenzen Deutschlands ausdehnten, sie hatten überall Noth und Elend im Gefolge gehabt, aber eben die gemeinsame Noth hatte die Menschen näher zusammengeführt. Die Vernichtung, die Entbehrung äußerer Güter hatte erkennen gelehrt, was Jeder in sich selbst besitze und welche Quellen der Erhebung und des tröstenden Genusses dem Menschen aus der Beschäftigung mit dem Gedanken erwachsen können; und wie es bei solch völliger Umgestaltung der Verhältnisse nicht anders zu erwarten war, hatte eine neue Vertheilung des allgemeinen Vermögens sich vorbereitet und war theilweise schon ausgeführt.

Das Geld war selten geworden und im Werthe gestiegen. Wer Geld besaß, konnte viel damit erwerben, wer Geld bedurfte, mußte es unverhältnißmäßig hoch bezahlen; während also das Vermögen des Kaufmannes in den Städten mitunter in überraschenden Verhältnissen emporstieg, ward der Wohlstand des Landmannes, des Gutsbesitzers eben so oft verringert oder gar vernichtet, wo die großen Heeresmassen des Eroberers sich über die Länder wälzten.

Preußen vor allen anderen Ländern hatte die Gewalt der Ereignisse fühlen müssen. Erst nach mehrjährigem Aufenthalte in den fernen Ostsee-Provinzen war der flüchtig gewordene König wieder mit seiner Familie in seine Hauptstadt zurückgekehrt; aber die ganz zerstückelte Monarchie stand nichts desto weniger thatsächlich noch völlig in Napoleon's Gewalt. Die [236] ungeheure Kriegsschuld, die von Napoleon verhängte Continentalsperre, wie die durch ganz Europa, so weit es ihm gehorchte, angeordneten großen Rüstungen brachten Noth und Drangsale aller Art hervor, indeß sie hinderten die Völker nicht, zur Selbsterkenntniß zu erwachen. Der König wie jener bessere Theil des Adels, der das Unglück der Jahre achtzehnhundert und sechs und achtzehnhundert und sieben nicht mit herbeigeführt und sich fern gehalten hatte von der Erniedrigung vor dem Eroberer, vor Allen aber der gebildete Bürgerstand hatten begreifen gelernt, was Jedem im Einzelnen fehle, was Allen gemeinsam Noth thue, und die Besten des Landes, Männer so wie Frauen, hatten sich vereinigt, um durch Selbsterziehung und Selbsterhebung jene allgemeine Auferbauung zu beginnen, deren Unerläßlichkeit Jedweder ahnte oder empfand.

Eben in jener Zeit, im Herbste des Jahres achtzehnhundert und elf, saßen in Berlin in dem Gartensaale eines großen Hauses zwei Frauenzimmer bei einander. Die Thüren des Gemaches standen offen, obschon ein großes Feuer in dem Kamine brannte, dessen Flamme mit ihrem flackernden Scheine bald die chinesischen Malereien an den noch von der Sonne beschienenen Wänden, bald die wunderlichen, langgeschwänzten Vogelbilder an der Decke beleuchtete, über die sich schon der Schatten des Abends auszubreiten anfing.

Es mußten reiche Leute sein, denen dieses Haus gehörte, denn es standen lauter silberne Theegeräthschaften auf dem Tische, und das Silber war jetzt schwer besteuert; auch der Thee selbst war durch die Continentalsperre zu einem sehr kostbaren Luxus-Artikel geworden. Das jüngere der beiden Frauenzimmer, ein eben erst der Kindheit entwachsenes Mädchen, mit dem Zubereiten des Thee's beschäftigt, setzte behutsam einen kleinen Schirm von chinesischem Lack zum Schutze gegen den Luftzug vor die Flamme, die unter dem Theekessel brannte, als die Aeltere einen [237] Strauß von Herbstblumen, den sie eben gebunden, aus der Hand legte und sich von ihrem Sitze erhob.

Komm', mein Kind, sagte sie, wir wollen die Blumen nach dem Denkmal tragen.

Sie schlug bei den Worten einen der unter dem Directorium in Mode gekommenen türkischen Shawls um ihre Schultern, reichte dem jungen Mädchen eine Pelerine zu gleichem Zwecke hin, und während dieses sich an den Arm der älteren Freundin hing, gingen sie über den Mittelweg des großen Gartens nach einer Gruppe von Bäumen, aus deren Schatten, von üppigem Gebüsch umwuchert, eine mäßig hohe Sandsteinsäule hervorsah. Die Vase, welche sie trug, hatte die Inschrift: »Den Hingegangenen,« und so lange die Jahreszeit ihrem Garten Grün und Blumen verlieh, unterließ es die Besitzerin desselben niemals, das kleine Monument mit frischem Strauße zu schmücken.

Fräulein Esther von Arten, denn es war der Garten des ehemaligen von Arten'schen Hauses in der Residenz, in welchem die Frauenzimmer sich ergingen, Fräulein Esther hatte das Denkmal einst in dem schönen Sinne einer gefühlvollen Zeit errichten lassen, um sich alltäglich ihrer Todten zu erinnern. Nun war sie gleichfalls schon lange hingegangen, auch die schöne Baronin Angelika von Arten, welche nach ihr dieses Haus besessen, deckte seit Jahren und Jahren das Grab; aber ihr Andenken lebte in aller ihrer Anmuth und Güte in dem Herzen ihrer Freundin Seba fort, und es war dieser eine Genugthuung, die Liebespflicht zu üben, welche Angelika einst über sich genommen, nachdem sich ihre Scheu vor dem Andenken an Fräulein Esther in liebende Erinnerung umgewandelt. Hatten doch auch Seba und ihr Vater den Hingang einer ihnen theuren Person zu beklagen, da durch eine plötzliche Krankheit ihnen die Mutter bald nach der Uebersiedelung in die Residenz und in dieses Haus entrissen worden war.

[238] Allabendlich, wenn die Sonne zu sinken begann, pflegte Seba den frischen Strauß auf das Denkmal zu legen, und ihre junge Gefährtin ließ es sich dann nicht nehmen, die Blumen des vorigen Tages in den Strom zu werfen, der langsam an dem unteren Theile des Gartens hinfloß und langsam den welken Strauß mit sich davon trug, bis das ihm folgende Auge ihn nicht mehr ersah.

Auch heute wendeten die Frauen sich wieder dem festen Kieswege zu, der das Ufer bildete und von dem man über den Fluß hinweg die schönen Bäume eines auf der anderen Seite des Wassers gelegenen Gartens vor sich hatte, die eben jetzt im Sonnenuntergange erglühten.

Wenn der Vater nicht bald hinauskommt, wird er es heute nicht sehen, wie die Bäume drüben ihr flammendes Lichtbad genießen, sagte Seba. Seit den zwölf Jahren, die wir hier in diesem Hause leben, bin ich dieses Schauspiels noch nicht satt geworden, und selbst auf Reisen entbehre ich den Anblick.

Auf Reisen? wiederholte das junge Mädchen kopfschüttelnd; nein, da habe ich niemals oder doch nur selten hierher gedacht. Da hat man ja Anderes, Neues zu betrachten.

Ja, wenn man jung ist, meinte die ältere Freundin, und das Neue uns noch reizt. Indeß, und es mag das vielleicht wie manches Andere in einer gewissen Abgeschlossenheit und Beschränkung meines Wesens begründet sein, fügte sie halb wie zu sich selber sprechend hinzu, mir offenbaren sich die Schönheiten der Natur, der Wechsel der Tageszeiten, der Jahreszeiten, des Lichtes und der Luft am deutlichsten und schönsten gerade an den Gegenständen, welche meine Neugier gar nicht reizen, sondern die mir in allen Einzelheiten recht vertraut sind. Ein Sonnenuntergang am Niagara würde mich sicherlich weniger erfreuen, als der Anblick, den ich hier genieße. Das Licht auf eben diesen Bäumen, denen ich die belebende Wärme gönne [239] und wünsche, weil ich sehe, wie sie sich mit jedem Jahre neu belauben, wie sie wachsend immer mächtiger werden, entzückt mich wie das freudige Lächeln auf einem bekannten und geliebten Antlitze. Was könnte mir auch die strahlendste Freude einer fremden Schönheit gelten gegen die Zufriedenheit in Deinen guten Augen?

Und doch möchte ich schön sein! rief das junge Mädchen lebhaft aus.

Seine Gefährtin blickte es freundlich an. Kennst Du nicht die Worte, Davide, die wir neulich in dem »Landprediger von Wakefield« gemeinsam lasen: Schön ist, wer schön handelt?

Da mußt Du also sehr schön gehandelt haben! entgegnete das junge Mädchen, ganz vergnügt über die Logik, welche sein liebevolles Herz ihm plötzlich eingab.

Thörichtes Kind! entgegnete Seba, dem Schmeichelworte des Mädchens wehrend, das Seba's Hand an seine Lippen drückte und von ihr mit einer Umarmung belohnt ward, ehe sie ihm den Auftrag gab, nach dem Hause zu gehen, um nachzuhören, wo der Vater gar so lange weile.

Als Davide sich entfernte, blickte Seba ihr mit lächelndem Behagen nach, denn Davide war ihre Cousine und ihr Pflegekind, und es war eine Lust, diese junge, schlanke Gestalt zu betrachten, wie sie sich mit unbewußter Anmuth so leicht und schnell bewegte.

Eben an jenem verhängnißvollen Tage, an welchem Seba einst im Beisein der alten Gräfin Berka und Angelika's mit dem Grafen Eberhard zusammengetroffen und in der furchtbarsten Aufregung in ihr Vaterhaus zurückgekehrt war, hatte ein Brief ihren Eltern die Kunde gebracht, daß eine verwittwete Schwester ihrer Mutter auf den Tod liege und nach derselben verlange, um dieser ihr einziges Kind zu übergeben. Noch an demselben Abende war Madame Flies in Seba's Begleitung [240] aufgebrochen, und vierundzwanzig Stunden später hatten sie an dem Bette der Sterbenden gestanden.

Nimm mich! hatte die kleine, kaum dreijährige Davide, wie alle Kinder, von der Schönheit angezogen, ausgerufen, als Seba an das Krankenlager herangetreten war; und wie einst Paul sie in der Stunde schwerer Seelenpein dem Leben und der Hoffnung durch seinen liebevoll besorgten Zuruf wiedergewonnen, so hatte das Zutrauen eines Kindes sie zum zweiten Male aus der Dumpfheit des Schmerzes wachgerufen, in welche die bittere Erfahrung sie versenkt hatte, daß es Selbstbefriedigungen und Siege giebt, an denen man zu Grunde gehen kann.

Laß mir das Kind! hatte Seba gebeten, als die Sterbende es der Schwester übergeben wollte. Laß es mein Kind sein, Tante – es soll gut, es soll besser und glücklicher werden, als ich! hatte sie leise hinzugefügt, und von dem Herzen der sterbenden Mutter hatte sie Davide an ihr Herz genommen.

Von dem Tage ab hatte Seba's Leben einen Halt gewonnen. Sie hatte sich, seit Paul verschwunden und trotz aller Nachforschungen nicht zu finden gewesen war, wenn ihre Thätigkeit nicht, wie in der Krankheit der Baronin, durch einen augenblicklichen Liebesdienst in Anspruch genommen ward, sehr überflüssig in der Welt gefühlt, und in der Entmuthigung eines verletzten und hoffnungslosen Herzens auch nicht daran gedacht, einst in ihrer eigenen Entwicklung und Selbstvollendung Trost zu suchen; denn liebevolle Seelen leisten ihr Höchstes nur im Hinblicke auf die Gegenstände ihrer Liebe. Nun war das plötzlich anders geworden. Sie hatte jetzt ein festes Ziel gehabt, sie hatte sich, da der Mensch, je hülfsbedürftiger und rathloser er sich fühlt, um so lieber an eine höhere Hülfe oder an geheimnißvolle Zeichen glaubt, die Vorstellung gebildet, daß das Schicksal sie ausersehen habe, die Mutter der Verwaisten zu sein, daß es ihr, wie einst Paul, so jetzt Davide zugewiesen habe, und mit [241] dem Augenblicke, in welchem sie die Sorge für dieses Kind über sich genommen, war auch die Hoffnung, daß der ihr so theure Knabe, wie Angelika es prophezeit, noch wiederkehren könne, wiederkehren werde, obschon alle Spur von ihm verloren blieb, auf's Neue in ihr rege geworden.

Die Uebersiedlung in die Residenz war dem Lebensplane zu Hülfe gekommen, den Seba sich vorgezeichnet hatte. Auf alle die Vorrechte und Ansprüche verzichtend, welche ihre noch immer jugendliche Schönheit der Fünfundzwanzigjährigen gaben, hatte sie angefangen, ihre Kenntnisse zu prüfen, und sie oberflächlich gefunden. Alles, was sie gelernt, war ihr ungründlich, ihr ganzes Denken und Thun unzusammenhängend erschienen. Sie hatte also von Grund auf neu zu lernen, sie hatte in ernsterer Weise zu denken begonnen, weil sie in sich das geistige Capital erwerben und ansammeln wollte, von dessen Zinsen ihr Pflegekind sein tägliches Leben haben sollte; und da sich demjenigen, der genau weiß, was er will, und sich dabei in seinem Wollen zu beschränken weiß, das ihm Nöthige fast wie von selber bietet, so hatte das ernste Bemühen des schönen, geistbegabten Mädchens ihm die Theilnahme bedeutender Männer und Frauen zugewandt, und bei dem Reichthume und der Gastfreiheit ihrer Eltern hatte Seba sich in der Lage befunden, diesen ihr werthen Bekannten an jedem Tage in ihrem Vaterhause einen Versammlungspunkt und einen herzlichen Empfang bereiten zu können.

Das war zu jener Zeit, in welcher der Krieg und die Fremdherrschaft die meisten Familien zu großen Einschränkungen und Entbehrungen nöthigten, nichts Gewöhnliches gewesen. Man hatte das sich Darbietende gern benutzt, und seit im Beginne des Jahrhunderts Madame Flies gestorben war, hatte Seba als Hausfrau in dem alten von Arten'schen Hause geschaltet, bis sie allmählich zu dem geistigen Mittelpunkte eines Kreises geworden war, der, wie es zu jener Zeit, in welcher die gemeinsame [242] Noth und gemeinsames Hoffen und Streben die Herzen und die Geister über die trennende Kluft der Standesunterschiede forttrug, gar oft geschah, die verschiedensten geselligen Elemente schön und förderlich in sich vereinigte.

Die Rückkehr Daviden's erwartend, ging Seba im Genusse des hellen Abends langsam am Wasser auf und nieder. Bald blickte sie nach dem Parke hinüber, als wolle sie das Abendroth nicht scheiden lassen, ehe der Vater sich nicht auch daran gefreut, bald sah sie nach dem Hause hin, und fast gedankenlos blieb ihr Auge an der Stelle haften, an welcher einst über der großen Thüre des Gartensaales wie über dem Portale des Hauses das von Arten'sche Wappen geprangt hatte. Die Steinschilde waren auf den Wunsch des Freiherrn abgenommen worden, als er das Haus verkaufte. Sie schmückten nun die Gruft der Rothenfelder Kirche, und nichts, als einige Stücke Möbel erinnerten jetzt in dem Flies'schen Hause an seine früheren Eigenthümer, denn der Freiherr hatte es seiner Zeit verweigert, das ganze Mobiliar des Hauses gleichfalls in den Besitz des Käufers übergehen zu lassen, und es vorgezogen, es in Versteigerungen weit unter seinem Werthe fortzugeben.

Er hatte auch, obschon er in der Residenz gewesen war, das verkaufte Haus nicht wieder betreten, aber seinen Sohn, der seit einigen Monaten von dem Regimente, bei welchem er bis dahin in der Provinz gestanden, nach der Hauptstadt versetzt war, hatte er an Herrn Flies gewiesen, mit dem er noch immer in Geschäftsverbindung war, und die freundliche Erinnerung, welche Renatus aus seiner Kindheit an das Flies'sche Haus bewahrte, wie der antheilvolle Empfang, den Seba ihm um seiner Mutter willen bereitete, hatten den jungen Edelmann bald zu einem der oft wiederkehrenden Gäste desselben gemacht, seit die Flies'sche Familie von der Reise heimgekehrt war, die sie sich in keinem Jahre zu versagen pflegte.

[243] Es war also kein ungewöhnliches Ereigniß, als Davide in des jungen Herrn von Arten Begleitung aus dem Hause wiederkehrte.

Der Onkel kann nicht kommen, sagte sie; er hat Geschäfte, er muß fortgehen! Wir sollen ihn nicht erwarten, sondern den Thee mit Herrn von Arten trinken, aber ....

Aber? wiederholte Seba, als Davide zögernd inne hielt.

Ich möchte auch gern fortgehen! sagte das junge Mädchen bittend.

Das ist nicht schmeichelhaft für mich, meinte Renatus.

Ich dachte nicht an Sie, und Sie sind ja auch nicht mein Gast! erwiederte sie, indem sie ihn mit ihren großen, braunen Augen ehrlich ansah.

Er wollte ihr offenbar eine verbindliche Entgegnung machen, aber Seba ließ es nicht dazu kommen. Sie ertheilte Daviden, als sie erfahren, daß es sich um eine eben erhaltene Aufforderung handle, die Erlaubniß, ihre Freundin zu besuchen, und nachdem das junge Mädchen die beiden Andern verlassen hatte, folgte Renatus seiner Wirthin in den Gartensaal, in welchem der Imbiß ihrer wartete.

[244]
2. Capitel
Zweites Capitel

Während Seba ihrem jungen Gaste den Thee hinreichte und sich selber bediente, fragte sie ihn, ob er Nachrichten von Hause erhalten habe und wie es den Seinigen ergehe.

Ich habe mit der letzten Post einen Brief von Vittoria empfangen, entgegnete er. Sie ist wohl, und auch meinem kleinen Bruder geht es gut; indeß wenn Vittoria so lange Briefe schreibt, ist es immer kein günstiges Zeichen. Wenn sie recht heiter und zufrieden ist, so schreibt sie nicht.

Da Sie gern Nachricht von Ihrer Stiefmutter erhalten, meinte Seba, müssen Sie auf diese Weise in einen beständigen Zwiespalt gerathen. Sie sehnen Sich nach den Briefen Ihrer Stiefmutter, weil Sie sie lieben, und dürfen Sich der Ankunft dieser Briefe, eben weil Sie sie lieben, doch nicht freuen.

Gewiß, so ist es auch, versetzte Renatus; aber es ist das nicht der einzige Zwiespalt, in dem ich lebe. Sie wissen es, ich hange an Vittoria sehr; nicht wie an einer Mutter, denn dazu ist sie viel zu jung, aber auch nicht wie an einer Schwester, oder gar wie an einem Freunde. Ich liebe sie eigentlich am meisten von allen Menschen, die ich kenne, und ich weiß Niemanden, den ich so gern glücklich sähe, als sie, oder in dessen Nähe ich mich so völlig zufrieden fühle, als in der ihrigen. Alles an ihr ist Schönheit, Heiterkeit und Frohsinn, und mein kleiner Bruder ist ganz und gar ihr Ebenbild.

Und doch sprachen Sie eben jetzt und auch sonst schon öfter [245] von den wechselnden Stimmungen Ihrer Stiefmutter, nahm Seba nach einigem Bedenken das Wort; Sie werden es also natürlich finden, wenn ich die Frage an Sie richte, worin dieselben ihre Ursache haben.

Renatus sah ernsthaft vor sich nieder. Wenn Sie Vittoria meine Stiefmutter oder gar die Baronin nennen, begann er nach einer kleinen Pause, so ist damit eigentlich Alles gesagt; denn Vittoria gehörte nicht in unseren Norden. Sie leidet von demselben, der Winter macht sie unglücklich. Sie ist so fremd bei uns – so fremd, wiederholte er schmerzlich, wie die Granatblüthen in unseren Treibhäusern, die mich nie recht freuen, weil ich ihnen anzusehen meine, wie viel schöner sie in ihrem Vaterlande sein müssen! Und doch klagt Vittoria niemals, doch hat außer mir und ihrer Dienerin wohl Niemand eine Ahnung davon, daß sie nicht immer heiter ist, daß sie auch traurig sein kann!

Niemand? wiederholte Seba. Sollte der Freiherr sich über die Gemüthsverfassung seiner Gattin, der er an Jahren und an Erfahrungen so überlegen ist, wohl täuschen können?

Es entstand eine Pause. Der junge Mann schien sich nur mit Mühe von einer Antwort, von weiteren Mittheilungen zurückzuhalten, und Seba, die schon öfter bemerkt hatte, wie sehr er Neigung fühlte, ihr sein Herz zu erschließen, trug doch Bedenken, ihn dazu zu ermuntern, weil sie es nur allzu wohl wußte, daß man im Leben nichts häufiger bereut, als unnöthig bewiesenes Vertrauen, auch wenn man es würdigen Personen gewährt hat, bei denen es wohl aufgehoben scheinen durfte; denn man giebt mit seinem Vertrauen immer einen Theil seiner künftigen freien Entschließungen hinweg. Andererseits wußte sie aber genugsam, welch ein Genuß und welche Erleichterung es zu Zeiten für den Menschen sein kann, von sich und von denjenigen Personen sprechen zu dürfen, mit denen er sich verbunden fühlt, und Renatus es völlig überlassend, was er thun wolle, bemerkte sie also nur, [246] daß sie Vittoria nicht gesehen habe, als der Freiherr mit ihr aus Italien heimgekehrt sei, daß Herr Flies sich damals aber sehr gewundert habe, sie so überaus jung und der verstorbenen Baronin Angelika so völlig ungleich zu finden.

Es ist mir gerade so gegangen, sagte Renatus, indeß meine Ueberraschung war eine sehr angenehme; denn Sie können sich gar nicht vorstellen, wie traurig meine Kindheit und meine Jugend gewesen sind, ehe Vittoria nach Richten kam, und wie bange man mich vor ihrer Ankunft gemacht hatte.

Er hielt abermals inne und hob dann, als sei er mit sich zu Rathe gegangen, ob er schweigen oder reden solle, und habe sich nun zu dem Letzteren entschlossen, in jenem ruhig ausholenden Tone zu sprechen an, mit welchem man sich zu einer längeren Erzählung anschickt.

Wie Sie wissen, war ich erst acht Jahre alt, als meine arme Mutter starb, aber ich hatte doch bereits Verstand genug, die Größe eines solchen Verlustes zu begreifen und zu empfinden, und auch von ihrem traurigen Loose, von der unglücklichen Ehe meiner Eltern, von dem übeln Einflusse, den die Herzogin von Duras in unserem Hause ausgeübt, hatte ich sehr früh eine Ahnung gehabt. Meine Mutter jemals recht heiter, meinen Vater herzlich mit ihr oder fröhlich mit mir gesehen zu haben, kann ich mich kaum erinnern. Die Schwermuth meiner Mutter warf ihren Schatten denn auch bald auf mich; ich war nicht gern bei ihr, nicht gern bei meinem Vater, und noch weniger mochte ich in der Nähe der Herzogin sein. Ich fürchtete mich vor jedem von diesen Dreien auf eine besondere Weise, und als dann meine Mutter starb, sehnte ich mich – daß ich es Ihnen ehrlich gestehe – recht nach Ihnen.

Nach mir? fragte Seba mit der Theilnahme, die sich in guten Herzen augenblicklich für denjenigen er zeugt, dem sie etwas leisten zu können glauben.

[247] Ja, nach Ihnen! wiederholte Renatus. Sie hatten meine Mutter sehr geliebt, waren immer freundlich mit mir, ich war in Ihrem Hause immer fröhlich gewesen, und bei uns in Richten war es in dem Herbste äußerst traurig. Mein Vater hielt es dort auch nicht lange aus. Er vermißte die Herzogin meine Mutter fehlte ihm wohl auch, der kurze Beileidsbesuch, den mein Großvater, der Graf Berka, ihm machte, entfernte die beiden Männer nur noch weiter von einander, und die Streitigkeiten, in die mein Vater sich durch unsern alten Neudorfer Pastor mit dem protestantischen Consistorium und mit der Regierung verwickelt fand, verleideten ihm das Leben auf unseren Gütern vollends. Dazu schrieb die Herzogin beständig, wie glücklich sie sich am sardinischen Hofe fühle, und da mein Vater der Ansicht war, daß er eine zweckmäßige ökonomische Maßregel treffe, wenn er, wie er sich ausdrückte, als schlichter Privatmann, nur von seinem Kammerdiener begleitet, für einige Zeit ins Ausland gehe, so rieth der Pfarrer – Sie wissen, ich meine damit unseren guten, trefflichen Caplan, der Pfarrer geworden war, sei er unsere Kirche in Rothenfeld verwaltete – meinem Vater selbst dazu, seiner neu erwachten Reiselust zu folgen. Man dachte dabei, so viel ich mich erinnere, von beiden Seiten nur an einen Winteraufenthalt im Süden, und an die Rückkunft, wein das Frühjahr der nordischen Gegend wieder seinen Schmuck verliehen haben würde; aber das ganze Trauerjahr und das ihm folgende gingen zu Ende, ohne daß auch nur von der Heimkelr meines Vaters die Rede gewesen wäre.

Und hielt Ihr Herr Vater sich während desser beständig am sardinischen Hofe auf? fragte Seba.

Nein, entgegnete Renatus; er blieb allerdings den ganzen ersten Winter dort, kehrte auch immer wieder an derselben zurück, indeß seine Beziehungen zu der Herzogin waren doch nicht mehr die alten. – Der junge Mann unterbrach sich selber, sah, wie [248] in eigenem Rückerinnern, vor sich nieder und meinte dann: Sie haben ja die Herzogin gekannt und seiner Zeit auch meinen Vater kennen lernen, als wir alle eigentlich in Ihres Vaters Hause lebten. Mein Vater hatte Freude an der Gesellschaft der Herzogin, aber ich glaube, noch mehr Freude an der ausschließlichen Achtsamkeit, welche die Herzogin ihm zu gewähren damals für gut befand, denn ihr war es, wie ich mir ihr Bild aus der Erinnerung ausgestaltet habe, nur um Herrschaft und Erreichung ihrer Absichten zu thun. In Italien hielt ihr Hofamt sie beschäftigt; sie hatte neue Plane für sich und für ihren Bruder, der ihr nach dem Süden gefolgt war, und wenn sie auch klug und tactvoll genug war, meinem Vater immer die gebührende Rücksicht zu beweisen, so sah sie es gewiß nicht ungern, als er, empfindlich darüber, nicht mehr der alleinige Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit zu sein, gegen das erste Frühjahr hin den sardinischen Hof verließ, um sich nach Florenz zu begeben.

Und in Florenz also hat Ihr Vater sich so lange aufgehalten? erkundigte sich Seba, die eben mit diesen kleinen Unterbrechungen dem jungen Manne ein Zeichen ihrer Theilnahme und eine Ermunterung gewähren wollte, in seinen Mittheilungen nach seines Herzens Bedürfen fortzufahren.

Er ließ sich wenigstens am toskanischen Hofe für einige Jahre nieder, antwortete Renatus. Schon sein Aufenthalt am sardinischen Hofe hatte ihn von dem Vorhaben abgebracht, mit dem er Richten verlassen. Es war auch für einen Mann unseres Standes und von seiner persönlichen Bedeutung nicht wohl möglich, als Privatmann aufzutreten. Er miethete also in Florenz ein Haus, möblirte es, legte sich Dienerschaft zu ....

Aber welche Ausgaben mußte ihm das verursachen! rief Seba – und Sie haben mir gesagt, daß der Freiherr auf und mit dieser Reise Ersparnisse zu machen wünschte!

Renatus zuckte die Schultern und sagte mit einem Ernste [249] und mit einer Gewichtigkeit, die ihn bei seiner Jugend fast komisch erscheinen ließen: Ersparnisse zu machen ist eben nicht in allen Lebenslagen möglich, liebste Flies! Unser Rang legt uns Pflichten gegen uns selbst und gegen die Gesellschaft auf, deren wir uns nicht entschlagen können! Allerdings hörte ich es meinen Erzieher und den neuen Amtmann, welcher Adam Steinert bei uns ersetzt hatte, beklagen, daß meines Vaters Aufenthalt in der Fremde so kostbar sei, aber das Reiseleben muß doch wohl etwas sehr Bestrickendes haben!

Gewiß, versetzte Seba, denn es täuscht uns mit dem Wechsel unserer Umgebung über jenen andern Wechsel, der sich an und in uns selber vollzieht. Wer immer an demselben Orte, immer in demselben Menschenkreise lebt, wird diesem zur Gewohnheit, und wie man diese Gewohnheit des Beisammenseins auch lieben und hochhalten mag, entzieht sie uns doch den Reiz, den das Fremde immer für die Menschen hat und den man als ein Fremder auf Fremde, als ein Kommender und Gehender auf diejenigen ausübt, denen wir werth sind und denen unsere Anwesenheit erfreulich ist. Wo wir erscheinen, werden wir als etwas Neues begrüßt; kein Altersgenosse, kein Jugendfreund erinnert uns in der Fremde durch sein Altern, durch seine wankenden Kräfte daran, daß auch an uns die Jahre nicht spurlos vorübergehen, und ich glaube, daß man in solchem Wanderleben seinen Lebensabend erreichen kann, ohne es, wenn man sonst leidlich bei Kräften ist, gewahr zu werden, daß man sich dem Niedergange nähert.

Ach, rief Renatus, wenn Sie meinen Vater heute sehen würden, so würden Sie ihn doch gealtert finden! Freilich hat er noch immer seine gebietende Gestalt, sein Auge hat auch noch immer etwas Mächtiges, seine kräftige Farbe bildet sogar einen anziehenden Gegensatz zu seinem grauen Haare, aber als er damals aus Italien wiederkehrte, war er doch noch ein Anderer! [250] Er schien mir völlig wie verjüngt. Die lästigen Geschäfte hatten ihn dort nicht gedrückt, die leichtere, freiere Lebensweise der Südländer, die man ja von allen Seiten rühmt, hatte ihm immer eben so sehr zugesagt, als das Licht und die Luft Italiens, und wenn mein Vater während seiner langen Abwesenheit auch, so oft der Frühling kam oder wenn der Herbst sich nahte, von seiner Heimkehr gesprochen hatte, so hatte die Scheu vor unserem rauhen Klima und vor unserem einsamen Schlosse ihn doch immer wieder in Italien festgehalten.

Aber hat er sich denn nicht nach Ihnen, nach seinem Sohne gesehnt? erkundigte sich Seba.

Renatus gab ihr keine Antwort. Indeß sie bemerkte, daß seine Stirn sich verdüsterte und daß sein Auge den schwermüthigen Ausdruck annahm, der, so lange sie seine Mutter gekannt, das Antlitz derselben fast niemals verlassen hatte. Er glich überhaupt vollständig der verstorbenen Baronin, und gerade das gewann ihm Seba's Gunst. Nichts in des jungen Mannes Gestalt und Wesen erinnerte an seinen Vater, und es rührte Seba, als er mit seinem melancholischen Blicke die Bemerkung hinwarf: der Freiherr sei wohl nicht im Stande, sein Herz an Kinder zu hängen, wie manche andere Männer es bisweilen thäten, und obendrein sei er leider seinem Vater nicht nach dessen Sinne.

Noch als meine Mutter lebte, äußerte mein Vater oftmals, ich sei nicht fröhlich genug, ich sei zu ernsthaft. Hätte mein Vater mehrere Söhne gehabt, ich glaube, er würde mich dem Dienste der Kirche gewidmet haben, sagte der junge Mann. Und es ist traurig, zu sagen, mein kleiner Bruder, der voller Leben und Schalkheit ist, trägt Scheu vor unserem Vater, so daß dieser ihn deshalb nicht gern um sich leidet und mir Valerio's Zärtlichkeit mißgönnt.

Renatus hielt abermals inne. Er kämpfte offenbar eine [251] peinliche Empfindung in sich nieder, und Seba bedauerte es, daß der Tod seiner Mutter ihn frühzeitig so ernst gemacht habe.

Daran trägt, wie ich Ihnen schon vorhin bemerkte, wohl vor Allem die Abgeschiedenheit Schuld, in der ich von meinem achten Jahre bis zur Wiederverheirathung meines Vaters erzogen worden bin. Denken Sie nur, daß der Caplan meine einzige Gesellschaft und – Renatus lächelte, was ihn sehr hübsch erscheinen ließ – und Mamsell Marianne mit ihren feierlichen Mienen und altväterischen Knixen das einzige weibliche Geschöpf gewesen ist, mit dem ich Jahr aus Jahr ein zu verkehren hatte. Weil mein Vater so lange in Italien blieb, entließ mein Erzieher, der zugleich sein Bevollmächtigter war, die ganze französische Dienerschaft und überhaupt alle entbehrlichen Leute, und da ich schwächlich war und der Arzt für mich ein einfaches und regelmäßiges Leben verordnet hatte, ging es bei uns wie in einem Kloster zu. Ich hatte viel Unterricht, war nie eine Stunde ohne Aufsicht, genoß, weil mir jede Gelegenheit, einen Fehler zu begehen oder ein Unrecht zu thun, entzogen war, die volle Zufriedenheit der beiden trefflichen alten Leute und kannte nur zwei Arten von Belohnungen, die darin bestanden, daß ich mit dem Jäger reiten oder schießen durfte und daß Mamsell Marianne mich in unserem Ahnensaale von den Thaten, den Eigenschaften und den Familien-Verbindungen meiner Ahnherren und Ahnfrauen unterhielt, da sie sich im Dienste meiner Großtante Esther zu einer wahren Familien-Chronik ausgebildet hatte.

Besuchten Sie denn Ihre mütterlichen Großeltern in der Abwesenheit Ihres Vaters nicht?

Nein, sie kamen nie nach Richten; ich wurde jedoch in jedem Jahre einmal auf wenige Tage in ihr Haus geführt. Indeß ich war so schüchtern, daß ich mich nicht wohl in der [252] Gesellschaft meiner jungen Vettern fühlte. Dazu scheute ich mich auch vor all den Fragen, die man über meinen Glauben – Sie wissen, meine Großeltern gehören nicht zu unserer Kirche – stets an mich zu richten pflegte, und heitere Tage habe ich in meiner Kindheit nur im Hause der guten Gräfin Rhoden und in der Gesellschaft ihrer beiden Töchter genossen und erlebt.

[253]
3. Capitel
Drittes Capitel

Die Dazwischenkunft eines eintretenden Besuches unterbrach den jungen Mann in den Mittheilungen aus seiner Kindheit.

Es war ein Maler, welcher von seiner Studienreise wiederkehrte. Er brachte der Freundin seine Mappen mit, damit sie sich mit ihm an der reichlichen Ausbeute seiner Arbeit erfreue, und Renatus zeigte den lebhaftesten Antheil daran, da er selber eine recht hübsche Anlage für das Zeichnen hatte und, ohne besonderen Unterricht erhalten zu haben, im Treffen der Aehnlichkeit wie in dem Wiedergeben landschaftlicher Natur recht glücklich war.

Man blieb eine geraume Zeit mit dem Betrachten der Skizzen und Studien beschäftigt, und als der Maler sich dann entfernte, meinte Renatus, daß er sich kaum ein schöneres Loos, als das des Künstlers, zu denken vermöge, ja, wie er, da ihm auch für Musik die Begabung nicht versagt sei, sich oftmals auf dem Gedanken ertappt habe, daß er als ausübender Künstler seine höchste Befriedigung gefunden haben würde.

So hätten Sie Künstler werden sollen! bedeutete ihn Seba.

Ich? fragte Renatus mit einem Tone, als werde ihm etwas ganz Unmögliches angemuthet. Wie hätte ich das anfangen sollen?

Wie jeder Andere, dem es darum Ernst ist! entgegnete ihm Seba.

[254] Aber der Jüngling war von dieser Antwort nicht befriedigt; sie schien ihn sogar zu kränken, denn leicht erröthend versetzte er: Sie vergessen, liebe Seba, daß ich ein Edelmann bin!

Seba lächelte. Soll das heißen, sagte sie mit leichtem Spotte, daß es unter Ihrer Würde ist, Sich mit dem Schönen zu beschäftigen?

Nein, es ist nicht unter unserer Würde, uns mit dem Schönen zu beschäftigen, entgegnete sehr ernsthaft der junge Edelmann, der sich sofort als ein Glied der großen Körperschaft empfand, der er angehörte; es ist nicht unter unserer Würde, uns mit dem Schönen als Genießende zu beschäftigen, nur Vortheil können wir aus unserer Beschäftigung mit demselben nicht wohl ziehen. Wäre ich in bürgerlichem Stande geboren, so wäre ich sicherlich ein Künstler geworden; jetzt würde mir das übel anstehen. Denken Sie doch, Beste, wenn ein Freiherr von Arten Bilder verkaufen oder für Geld Musik machen wollte! O, unmöglich, ganz unmöglich!

Er lachte bei der bloßen Vorstellung, und es half nicht, daß Seba ihn daran erinnerte, wie viele der französischen Flüchtlinge ihr Brod durch Uebung weit geringerer Fertigkeiten zu gewinnen genöthigt worden wären. Er erblickte darin eben nur die Bestätigung, daß allein die Noth den Edelmann bewegen dürfe, sich einem Gelderwerb durch Handel oder Industrie und Kunst zu überlassen, und seine Wirthin fand ihn, wie schon bei früheren ähnlichen Gelegenheiten, jeder vernünftigen Ueberzeugung unzugänglich, wo diese sich gegen eines der Vorurtheile richtete, deren er weit mehr als sein Vater, als der Freiherr hegte.

Indeß es lag darin nichts, was Seba, nach ihrer Kenntniß der Verhältnisse, überraschen konnte, und sie war einsichtsvoll genug, es sich zu deuten, wie der Caplan einen so verschiedenen Einfluß auf den Vater und auf den Sohn zu üben vermocht habe.

[255] Als Erzieher und Reisebegleiter des Freiherrn Franz hatte der Caplan sich es einst angelegen sein lassen, diesen für das Studium der schönen Wissenschaften zu gewinnen und ihm jene humanistische Bildung anzueignen, welche den Freiherrn seiner Zeit so liebenswürdig und so duldsam gemacht hatte. Aber die Folge mochte dem Caplan nach seiner Ansicht den Beweis geliefert haben, daß die Duldsamkeit gegen Andere auch sehr duldsam gegen die eigene Schwäche und Willkür werden lasse, und wie die Aufklärung, welche den Menschen auf sich selbst verweise, die Gefahr in sich schließe, daß er sich von der Zucht der Kirche frei, weder durch ihre Gebote noch durch ihre Strafen gebunden glaube. Mit bewußter Absicht hatte der Caplan also bei der Erziehung von Renatus den Weg verlassen, auf welchen er den Vater desselben einst geführt. Er hatte für ihn das unabweisliche Gesetz der Religion an die Stelle des eigenen Erwägens aufgestellt, der Freiheit seines grübelnden Verstandes Grenzen gezogen, seiner nach Schönheit suchenden Phantasie nur mäßig, ja, dürftig Nahrung geboten, und es war ihm auf diese Weise auch gelungen, den von Natur fügsamen Knaben zu einem unbedingten Gehorsam gegen seinen Erzieher und zu einem eben so unbedingten Glauben an die von ihm aufgestellten Lehren und Grundsätze zu gewöhnen. Wer aber in geistiger Gefangenschaft erwächst, in wem der Trieb nach freier, prüfender Forschung nicht lebendig ist, dem werden seine Vorurtheile gar bald eben so zu einer Schranke seines Denkens, wie zu einer Stütze für seine Unselbständigkeit, und die Zuversicht, der Eigensinn, die Heftigkeit, mit welcher der Befangene sich in der Regel an sie klammert oder sie aufrecht erhält, sind nur ein Zeichen seiner Haltlosigkeit und seiner inneren Schwäche.

Es war Renatus offenbar nicht angenehm gewesen, durch den Maler in seinem Zwiegespräche mit der Freundin seiner Mutter unterbrochen worden zu sein, und da er, durch zu ausschließliche [256] Beachtung in seiner Kindheit verwöhnt, sich trotz seiner Bescheiden heit eine große Bedeutung beilegte, hatte sich bei des Malers Ankunft eine übellaunige Verstimmung seiner bemeistert, die erst in dem Verkehr mit demselben und in der Kunstbetrachtung wieder allmählich gewichen war. Nach Seba's spottender Bemerkung schien diese Gereiztheit sich abermals kundgeben zu wollen, und Seba fühlte Lust, ihn um dieser Unart willen zur Rede zu stellen; aber der Jüngling stand ihr dazu noch zu fern, und halb aus Neugier, halb aus nachgiebiger Güte gegen den Sohn ihrer Angelika fragte sie, um ihm die Möglichkeit weiteren Vertrauens zu eröffnen, an ihre frühere Unterhaltung anknüpfend, welchen Eindruck denn auf ihn in seiner Kindheit die Kunde von der neuen Verheirathung seines Vaters hervorgebracht habe.

Einen weit geringeren und sicherlich einen anderen, als Sie erwarten mögen, entgegnete der Jüngling. Ich hatte durchaus keinen Kummer darüber und dachte nicht im entferntesten daran, daß und in welcher Weise meine Zukunft dadurch benachtheiligt werden könne. Auch erfuhren wir die Heirath meines Vaters erst, als sie schon vollzogen war. Und als falle ihm plötzlich etwas ein, zog Renatus seine Brieftasche aus der Uniform hervor, öffnete sie, suchte unter den verschiedenen Papieren, die sie enthielt, und sagte dann, seiner Zuhörerin ein zusammengefaltetes Schreiben vorhaltend: Sehen Sie, das ist der Brief, in welchem mein Vater dem Caplan von seinem Entschlusse Kenntniß gab. Ich habe ihn, als ich ihn vor ein paar Jahren nach vielem Bitten von dem Caplan erlangte, immer als eine Art von Andenken und als eine Erinnerung bei mir getragen, weil mit diesem Briefe in gar vieler Rücksicht ein neues Dasein für mich begonnen hat. – Er reichte Seba den Brief, der aus Venedig datirt war.

»Da Sie mich kennen, mein alter Freund,« hatte der [257] Freiherr an den Caplan geschrieben, »so werden Sie es natürlich finden, daß ich Sie erst, nachdem ich mit mir selbst völlig einig bin, von einem Schritte in Kenntniß setze, den ich bereits gethan haben werde, wenn Sie diesen Brief empfangen.

Der Himmel, der meinem Leben von Jugend auf seine besonderen Wege und seine eigenthümlichen Schicksale vorgezeichnet, hat mir ein großes Glück, eine wundersame Verjüngung an jener letzten Grenze des reifen Mannesalters vorbehalten, in welchem weniger bevorzugte Naturen für die höchsten Empfindungen und Freuden des Daseins oft nicht mehr empfänglich sind.

Was ich in frühen Jahren besessen, die volle, ganze, rückhaltlose Liebe eines jungen Herzens, das ist mir abermals zu Theil geworden, und wenn damals trennende Lebensverhältnisse mich verhinderten, meines Glückes mich offen zu erfreuen, so ist es mir jetzt eine Genugthuung und eine Ehrensache, meiner künftigen Gattin eine ihrer Geburt und ihren Vorzügen angemessene Stellung zu bereiten.

In wenig Tagen wird hier in Venedig meine Trauung mit Vittoria Giustiniani vollzogen werden, in wenig Wochen denke ich sie in ihre neue Heimath und in mein Haus zu führen. Ich wünsche die schöne Jahreszeit zu benutzen, damit die Theure unsere Gegend im besten Lichte und in ihrem schönsten Schmucke sehe. Ich bitte Sie also, mein Freund, Alles für meine Wiederkehr anordnen zu lassen, und ich rechne dabei, wie immer, auf Ihre Freundschaft für mich, die darauf bedacht sein wird, meiner theuren Vittoria einen wohlthuenden Eindruck vorzubereiten.

Sie werden in ihr eine ganz ursprüngliche Natur und eine vollendete Künstlerin finden, und da ich selbst mich jung fühle in der Liebe dieses holdseligen Wesens, so freut es mich auch, daß fortan in meinem Hause eine junge Frau walten wird, welche meinem Sohne in Jahren näher steht, als Sie und ich, und die hoffentlich dazu beitragen wird, ihn jugendlicher [258] und fröhlicher zu machen, als er mir nach seinen Briefen zu sein scheint, in denen sich die schwerlebige Berka'sche Gemüthsart, von der ich so viel gelitten habe, mehr als mir erwünscht ist, kundgibt. Theilen Sie ihm meine bevorstehende Verheirathung mit und sorgen Sie dafür, daß er seiner Stiefmutter ein vertrauendes Herz entgegenbringe.«

Seba las den Brief mit großem Antheile, aber er that ihr für das Andenken ihrer Angelika und für Renatus weh, denn des Freiherrn geringe Liebe für den Sohn und seine Abneigung gegen Angelika sprachen sich unverhohlen darin aus.

Als sie dem Jünglinge den Brief zurückgab, sagte er: Ich habe Ihnen dieses Blatt, das kein fremdes Auge je gesehen hat, unbedenklich anvertraut, denn Ihnen wird es keine Neuigkeiten und keine Geheimnisse verrathen haben. Und doch sehen Sie jetzt gerade so betrübt aus, als ich nach Ankunft jenes Briefes meine ganze Umgebung erblickte. Ich kam offenbar aller Welt beklagenswerth vor. Die Gräfin Rhoden umarmte mich unter Thränen, als wir sie zum ersten Male wieder besuchten, meine kleinen Freundinnen hofften, daß meine Stiefmutter mich nicht schlecht behandeln werde; der Caplan, welcher im Schlosse Alles erneuern ließ, was etwa der Erneuerung bedurfte, schien gleichfalls niedergeschlagen, Mamsell Marianne aber blieb in einer beständigen, still unterdrückten Wuth.

Die Bilder meiner Mutter und meiner verstorbenen Tante Amanda wurden aus dem Wohnzimmer in den Ahnensaal gebracht, und während die Uebrigen alle der Ankunft meines Vaters mit sehr ungünstigen Erwartungen entgegen sahen, unterhielten mich schon die bloßen Vorkehrungen für seine Rückkehr so angenehm, daß ich mich des Allerbesten von derselben versah. Der bloße Gedanke, daß noch andere Personen, als der Caplan und Mamsell Marianne, daß mein Vater und eine junge Frau im Schlosse leben würden, entzückte mich.

[259] Wenige Wochen nach meiner Confirmation, recht mitten in der Rosenzeit, traf dann mein Vater bei uns ein. Der Caplan hatte angeordnet, daß ich den Freiherrn im Schlosse erwarten sollte, da dieser sich den Empfang, wie er meiner Mutter an unserer Grenze zu Theil geworden und wie er sich für die Gutsherrschaft gebührte, verbeten hatte. Die Ungeduld litt mich aber nicht im Schlosse. Ich wußte damals noch nicht, sagte er – und wieder ging Angelika's schwermüthiges Lächeln über seine Züge –, was ich später wohl ahnte und was sich mir in diesem Briefe meines Vaters an den Caplan leider bestätigte, daß sein Verlangen nach mir nicht eben lebhaft war; und den ersten großen Ungehorsam gegen den Befehl meines Mentors begehend, ließ ich mir heimlich mein Pferd satteln, um den sehnlich Erwarteten so bald als möglich zu begrüßen.

Mein Vater erkannte mich im ersten Augenblicke nicht, als ich in den Bereich des Wagens kam. Er hatte mich als ein Kind verlassen, mich nur als Kind gedacht, und Vittoria hatte nach meines Vaters Aeußerungen auch nicht darauf gerechnet, einen fast er wachsenen jungen Menschen in mir zu finden. Sie rief mir in ihrer Muttersprache etwas zu, was ich nicht verstand; da sie dies merkte, grüßte sie mich mit einer jener Handbewegungen, welche keine Nordländerin nachzuahmen vermag, und ich war bei ihrem Anblicke wie geblendet von ihrer Erscheinung.

Sie können sich kaum vorstellen, rief er, sich unterbrechend, wie schön Vittoria damals war; aber noch auffallender, als ihre Schönheit, war auch mir ihre große Jugend. Als sie vor dem Schlosse ausstieg, als mein Vater mich ihr, wie sich's gebührte, feierlich als ihren Stiefsohn vorstellte und sie mich umarmte, war ich vollends verwundert, sie kleiner als mich, sie überhaupt so klein zu finden, denn meine Mutter war sehr groß gewesen, und ich mußte mich schon damals bücken, meinen Mund dem Munde Vittoria's nahe zu bringen, sagte er erröthend.

[260] Sprach Ihre Stiefmutter nur das Italienische? fragte Seba.

O nein, ich sagte es Ihnen ja bereits, sie war auch des Französischen mächtig, und mit dem fremdartigen venetianischen Accente, der mir sehr lieblich in ihrem Munde klang, französisch zu mir sprechend, sagte sie: »Da ich zu jung bin, Deine Mutter zu sein und eine große Verehrung von Dir zu fordern, so entschließe Dich, mein Freund, mich zu lieben. Ich will das Gleiche thun, sei deß ganz gewiß!«

Und hat die Baronin das gehalten, lieber Arten?

Ich habe keinen besseren Freund, als sie! betheuerte der Jüngling. Dann hielt er inne und ließ seiner Wirthin damit zu der Frage Zeit, ob Vittoria's Eltern noch am Leben wären und wo und wie sein Vater sie kennen gelernt habe.

Vittoria war eine Waise, berichtete Renatus. Sie selbst hat mir, als ich erwachsen war, ihre Jugendgeschichte erzählt. Das Geschlecht der Giustiniani, dem sie angehört, ist sehr alt und weit verzweigt; aber der Zweig, von dem sie stammt, war mittellos, und man hatte Vittoria, da ihre Eltern früh gestorben waren, zur Erziehung in ein Kloster gethan, in welchem man sie später den Schleier nehmen lassen wollte. Ich weiß nicht, ob ich sagen soll, zu ihrem Glücke, brachen die Blattern in dem Kloster aus, als sie auf dem Punkte stand, ihr Noviciat antreten zu müssen, und man sendete also zeitweilig alle Pensionäre zu deren Familien zurück. So kam Vittoria in das Haus der Marchesa Moncenigo, ihrer Tante, die damals, während des Sommers, eine Villa am Ufer der Brenta bewohnte; aber man zog sie nicht in die Gesellschaft, die sich dort zur Villeggiatur versammelt hatte und zu der auch mein Vater gehörte. Man brachte das junge, weltfremde Mädchen mit einer Dienerin in einem verlassenen Casino im entlegensten Theile der Besitzung unter, da man nicht geneigt war, die mittellose Waise die Reize der Gesellschaft kosten zu lassen, in die einzutreten sie nicht bestimmt [261] war. Ihre Rückkehr in die Mauern des Klosters stand ihr nahe bevor, als mein Vater bei einem einsamen Morgenspaziergange Vittoria an dem Fenster ihres Casino sah und sie, unbemerkt von ihr, eine jener alten Kirchen-Cantaten singen hörte, die Niemand, glaube ich, schöner als sie zu singen versteht. Mein Vater war von ihrer Schönheit wie von ihrer Stimme hingerissen. Er kehrte öfter wieder; die Dienerin, welche man Vittoria zugesellt, hatte es bald herausgebracht, wer der Fremde sei und daß er ihrer jungen Herrin eine glänzende Zukunft zu bieten habe. Vittoria war ein Kind, sie sehnte sich, aus dem Kloster fortzukommen, wünschte in das Leben einzutreten, und wie hätte auf sie, der noch kein Mann genaht war, eine so einnehmende Persönlichkeit wie die meines Vaters ihren Eindruck verfehlen können? Die Bewunderung, die sie ihm bezeigte, steigerte natürlich seine Leidenschaft für sie; ihre Verlassenheit rührte ihn, seine Großmuth sprach für sie in seinem Herzen, und als er dann von seinen Gastfreunden Vittoria's Hand begehrte, war man natürlich eben so überrascht über die unerwartete Aussicht, welche sich der armen verabsäumten Verwandten darbot, als bereit, sie eine solche Verbindung schließen zu lassen. Vittoria Giustiniani wurde also mit Freuden Baronin von Arten, wurde meines Vaters Frau, und doch, fügte er seufzend hinzu, kann ich wie der Prinz in Schiller's »Don Carlos« von mir sagen: »Ich habe kein Glück mit meinen Müttern!«

Er erhob sich bei den Worten, sah nach der Uhr und entschuldigte sich, daß er Seba's Zeit so lange und so selbstsüchtig für sich in Anspruch genommen habe. Als diese ihn aufforderte, bis zur Rückkehr ihres Vaters und ihrer Nichte bei ihr zu bleiben, um dann mit ihnen zusammen zu Nacht zu essen, lehnte er es ab, weil er in jeder Woche an dem gleichen Abende bei der Gräfin Rhoden sei, der er außerdem heute noch einen Auftrag der Signorina zu überbringen habe.

[262] Meinen Sie mit dieser Bezeichnung Ihre Stiefmutter? erkundigte sich Seba.

Renatus wurde verlegen und roth. Ja, sagte er; entschuldigen Sie die üble Angewohnheit, denn eine solche ist es in der That, und ich habe sie zu meiner Schande noch obendrein von Mamsell Marianne angenommen, die sich immer nicht entschließen kann, die junge Frau mit dem Titel meiner verstorbenen Mutter anzureden. Sie nannte sie deßhalb, wie die mitgebrachte Dienerin es that, beständig die Signora. – Mir aber klang das fremde Wort so schön! Und weil Vittoria in ihrer Weise für mich ein Unvergleichliches war, freute es mich, für sie auch eine Bezeichnung zu haben, die keiner anderen Frau gegeben ward. Meine Jugendgespielinnen, die Töchter der Gräfin Rhoden, die gleich mir schnell eine große Neigung für Vittoria faßten, nannten sie bald auch nur die Signorina. Sie haben das vielleicht selbst schon von ihnen gehört; und von den Bekannten unseres Hauses heißt jetzt kaum Jemand sie anders, wenn er von Vittoria spricht.

Der junge Offizier hatte während dieser letzten Worte seinen Säbel umgehakt und seinen Hut genommen. Seba fragte, ob er sonst Neuigkeiten aus der Heimath habe, ob er wisse, wie es den Marienfelder Steinert's ergehe. – Er hatte aber nichts Näheres von ihnen gehört, da Adam Steinert in gar keinem Zusammenhange mit seinem früheren Herrn stand, und nur gelegentlich hatte er erfahren, daß es Steinert's unermüdlicher Ausdauer gelungen sei, sich durch die Noth der Kriegsjahre verhältnißmäßig gut durchzubringen.

Das ist einer von den Ungebeugten, meinte Seba, denen die Kraft, zu hoffen und in dieser Hoffnung zu schaffen, in den trübsten Stunden aus dem Herzen quillt.

Hoffnung muß nur einen Anhalt haben, wendete Renatus ein; und woran kann sie sich knüpfen in einer Zeit, in welcher, wie eben jetzt, nach kaum überstandenem furchtbarem Kriege und [263] unheilvollem Frieden, rund umher neue Rüstungen befohlen werden, deren Zweck nicht zweifelhaft ist? Worauf soll der einzelne ohnmächtige Mensch seine Hoffnung richten, sein Bestreben lenken, da einem gewaltigen, dämonischen Willen nach Gottes unerforschlichem Rathschlusse wie einer Geißel des Gerichtes über die Erde Macht gegeben ist?

Seba hatte sich auch von ihrem Sitze erhoben und war mit ihrem jungen Gaste bis an die Thüre des Gartensaales gegangen. Als sie dieselbe öffnete, hatten sie in aller seiner strahlenden Herrlichkeit den prächtigen Kometen vor ihren Augen, der in diesem ganzen Sommer am Horizonte gestanden und die Herzen der ohnehin gewaltig aufgeregten Menschen mit banger Sorge und unheimlichen Befürchtungen erfüllt hatte.

Wie blendend er ist, rief Renatus aus, und wie gewaltig in seiner fast den ganzen Horizont durchmessenden Größe!

Da faßte Seba des Jünglings Hand und sagte leise und eindringlich: Aber auch er wird vorübergehen, und seine Zeit ist nahe! Sehen Sie hin, sein Licht ist im Erlöschen, er neigt sich dem Untergange zu! Noch eine kurze Frist, und an dem befreiten Himmel werden die alten, schönen Sternbilder in aller ihrer Klarheit leuchten, und man wird vergebens nach dem Phänomen suchen, dessen wilde Großheit jetzt die schwachen Seelen entmuthigt und geknechtet hat! Nur eine kurze Geduld, nur Muth und Hoffnung!

Der junge Mann sah sie betroffen an. Ihre Augen leuchteten in schöner Erhebung, es lag in ihren Worten etwas Geheimnißvolles, das ihn unwillkürlich ergriff; indeß er konnte sich nicht entschließen, sie um die Deutung zu bitten, und ohne eine weitere Erklärung ließ sie ihn mit dem Auftrage, die Gräfin Rhoden von ihr zu grüßen, von sich gehen.

Arme Angelika, seufzte sie, als er sich entfernt hatte, arme Angelika, warum mußtest du so früh von uns scheiden! Dein Sohn würde mich verstanden haben, hättest du ihn auferzogen!

[264]
4. Capitel
Viertes Capitel

Als Renatus die Linden hinabging, um sich nach dem entlegenen Theile der Wilhelmsstraße zu begeben, in welchem die Gräfin Rhoden sich, seit sie Berlin bewohnte, niedergelassen hatte, sah er aus dem Eckfenster eines an der Friedrichsstraße gelegenen Hauses ein helles Licht erglänzen, und da die Uhr an dem Akademie-Gebäude ihn belehrt hatte, daß es noch ein wenig zu früh sei, zu der Gräfin zu gehen, wendete er sich jenem Hause zu, stieg die Treppe bis zum ersten Stockwerke in die Höhe und fragte, als eine den höheren Ständen angehörige Frau ihm dort die Thüre öffnete, ob sein Onkel zu Hause und zu sprechen sei.

Zu Hause ist der Herr Graf, entgegnete die Frau, welche ihn eingelassen hatte, aber er hat einen Besuch, und der Kammerdiener ist fortgeschickt. Wenn Sie es wünschen, will ich Sie melden; indeß ich hörte immer schon mit den Stühlen rücken und umhergehen – wenn Sie vielleicht verziehen wollten ....

Er sagte, daß er nicht lange bleiben könne, daß er jedoch versuchen wolle, ob sein Onkel bis dahin für ihn frei sein werde, und nahm den Sessel an, den die Frau ihm an der Seite ihres Sopha's darbot. Renatus war schon oftmals durch dieses Zimmer gegangen, aber mit der Achtlosigkeit des im Reichthume geborenen und im eigenen Hause erwachsenen Mannes hatte er es nie eines Blickes gewürdigt, denn die verschwenderische Ausstattung desselben hatte für ihn keinen Reiz. Eben so wenig hatte er die Frau betrachtet, der er auch früher schon in diesem Gemache begegnet [265] war, oder sie gefragt, welche Stelle sie in dem Haushalte seines Onkels ausfüllen möge.

Heute, da er sich genöthigt fand, in ihrer Nähe zu verweilen, bemerkte er, daß sie offenbar den Fünfzigen nahe war, und sie mißfiel ihm, obwohl sie einmal eine hübsche Frau gewesen sein konnte. Sie trug jene großen goldenen Ringe in den Ohren, die ihrer Zeit durch die nachmalige Kaiserin Josephine in Aufnahme gebracht und nach ihr Creolen genannt worden waren. Ihre Taille war noch kürzer gegürtet, ihr Busen noch höher hinaufgeschnürt, als die Mode es mit sich brachte, und aus dem mädchenhaften Fanchontuche, das sie über den à la Titus frisirten Kopf geknüpft hatte, sahen die geschminkten Wangen und das runde Doppelkinn voll und coquet hervor. Dazu hatte sie die Finger reichlich mit Ringen besteckt, und sie mußte entweder auf diese Ringe oder auf ihre allerdings noch hübschen Hände großen Werth legen, denn sie war sehr bemüht, des Jünglings Aufmerksamkeit auf dieselben zu ziehen, indem sie die Hände leise gegen einander rieb und sich beklagte, daß es nach dem heißen Sommer und bei den warmen Tagen Abends doch schon so kalt sei und daß ihre Hände die rauhe Luft gar nicht vertragen könnten.

Renatus ließ diese Bemerkung schweigend an sich vorübergehen; damit war aber die Entschlossenheit der Redseligen, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, nicht zurückgeschlagen, und beide Arme auf den Tisch legend, während sie sich weithin über dieselben nach vorn bog, so daß sie sich dem jungen Manne dadurch beträchtlich näher brachte, sagte sie mit leisem Kopfschütteln: Ich sehe recht, wie die Zeit vergeht! Sie kennen mich gar nicht mehr, Herr Baron! Sie haben ganz vergessen, daß Sie mich früher schon gesehen haben!

Sie wurde mit dieser Zudringlichkeit dem Jünglinge, dessen reiner Sinn vor allem Niedrigen zurückschreckte, nur noch widerwärtiger, [266] und kurz abweisend sagte er, daß er sich wohl erinnere, wie sie auch sonst schon die Güte gehabt hätte, ihn einzulassen.

In dem Augenblicke ward die Thüre des Nebenzimmers geöffnet, Graf Gerhard Berka trat mit einem Fremden, einem Franzosen, in das Vorzimmer hinaus; sie schüttelten einander die Hände, nahmen eine Verabredung für den nächsten Tag, der Graf rief seinem Neffen, da er ihn gewahrte, einen freundlichen Guten Abend zu, machte scherzend die Bemerkung, daß man vom Wolfe nur zu sprechen brauche, damit er erscheine, was jedoch in diesem Falle ohne allen anzüglichen Vergleich gemeint sein solle, und stellte darauf dem Fremden, den er Baron und seinen lieben Castigni nannte, den jungen Freiherrn als den Neffen vor, dessen er so eben gegen ihn gedacht habe.

Nach einer sehr verbindlichen Begrüßung empfahl sich Herr von Castigni dem Grafen wie Renatus, und mit einem Zeichen, daß sie dem Scheidenden das Geleit zu geben habe, sagte der Graf: Leuchten Sie, liebe Kriegsräthin! Dann nahm er seinen Neffen unter den Arm und kehrte mit ihm in sein Zimmer zurück.

Bist Du abergläubisch oder wundergläubig, mein Freund? fragte er Renatus mit leichtem Tone, nachdem sie sich dort niedergelassen hatten.

Renatus entgegnete, daß es darauf ankomme, was man unter abergläubisch und wundergläubig verstehe; aber Jener ließ ihm zu keiner weiteren Erklärung Zeit, sondern sagte: Nun, Aberglaube oder Unglaube, was thut uns das? Es ist gut, daß Du überhaupt wieder in Berlin, und sehr gut, daß Du eben jetzt zu mir gekommen bist! Wir wollen das als eines der guten Zeichen ansehen, an die zu glauben immer Zuversicht und Muth gibt. Es war zwischen dem Baron und mir eben von Dir die Rede, als Du kamst.

Von mir? Und in wie fern, wenn ich dies fragen darf? sagte der Neffe.

[267] Wärst Du geneigt, den preußischen Dienst zu verlassen? erkundigte sich der Graf.

Der junge Offizier verneinte es einfach und bestimmt.

Aber es war, soviel ich davon weiß, nicht eben Dein Wille, der Dich bewog, die Uniform zu nehmen! bedeutete Jener.

Renatus wurde roth bis unter die Wurzel seines hellen Haares, und mit einem leichten Zusammenziehen seiner Augenbrauen, welches seine innere Selbstüberwindung kund gab, versetzte er: Ich würde allerdings das Leben eines unabhängigen Edelmannes, wie wir Arten's es von je geführt, überhaupt jedem Dienste vorgezogen haben; da die Umstände mir dies nicht verstatteten, da mein Vater mich in die Armee eintreten lassen, und der König mir das Patent gegeben hat, scheint es mir Ehrensache, auch im Dienste zu bleiben, bis ich dieses mein Patent mit der That verdient und meinen Eid im Kampfe besiegelt habe! –

Sehr gut, sehr schön gesagt, rief der Graf mit einem leichten Anfluge von Spott, während er sich weit in das Sopha zurücklehnte – nur nicht sehr einsichtsvoll, mein lieber Freund! Das soll mich jedoch durchaus nicht abhalten, es mit Dir besser zu meinen, als Du es verstehst! Laß uns in's Klare kommen! Von welchem Kampfe sprichst Du?

Renatus hob sein Auge zu seinem Oheim empor und wendete es eben so schnell wieder von ihm ab. Es lag etwas Unheimliches in dem beständigen Lächeln des Grafen und mehr noch in seinem scharfen und lauernden Blicke, der mit jenem Lächeln in grellem Widerspruche stand. Er war noch immer ein auffallend schöner Mann, aber der preußische Officier war in ihm nicht mehr zu erkennen. Sein glänzendes, blondes Haar war in einer großen Locke mitten auf der Stirn zusammengekräuselt, sein tief in die Wangen hineingehender Bart, seine hohe, weiße Halsbinde wie seine ganze Kleidung und Haltung waren nach französischem Vorbilde gemodelt, und wenn er nicht geradezu, wie er dies meistens [268] that, Französisch sprach, so brauchte er selbst im Deutschen so viele Fremdwörter und schob so viele französische Sätze in das Deutsche hinein, daß man dieses Gebahren als ein absichtliches erkennen mußte.

Er hatte, als nach dem Friedensschlusse von Tilsit sein Regiment aufgelöst worden war, wie Hunderte von anderen Officieren sich zu seinen Eltern auf das Land begeben, aber das Landleben war niemals nach seinem Geschmacke gewesen. Dazu war – man wußte in der Familie nicht, wodurch – des Grafen Verhältniß zu seiner Mutter seit Jahren schon getrübt. Von beiden Seiten gab sich eine fast krankhafte Empfindlichkeit gegen einander kund, und man hatte ihn also nicht davon abgehalten, als er nach kurzem Verweilen wieder nach der Hauptstadt zurückzukehren gewünscht hatte. Freilich hatte der alte Graf dem Sohne zu bedenken gegeben, daß er jetzt, bedrängt durch die allgemeine Noth und Drangsal, nicht mehr wie früher im Stande sei, dessen mannigfachen und großen Ansprüchen mit der alten Freigebigkeit zu begegnen; das hatte jedoch den Grafen Gerhard wenig angefochten. Die Summe, welche man ihm für das erste Halbjahr zuwies, war nicht unbedeutend, und über den Tag, über das Verlangen und Gelüsten oder Bedürfen des Augenblickes dachte er nicht leicht hinaus.

Aber das Berlin, in welches Graf Gerhard zurückkehrte, war nicht mehr die Stadt, die er vor dem unglücklichen Feldzuge des Jahres achtzehnhundert und sechs verlassen hatte. Seine Kameraden und Umgangsgenossen lebten fern und zerstreut. Die Einen warteten hoffenden Sinnes in Einsamkeit der Zeiten, welche sie wieder zu neuer Thätigkeit berufen würden; die Ungeduldigen hatten sich nach Oesterreich, nach Spanien und nach Rußland gewandt, wo der Tag eines neuen Kampfes früher anzubrechen versprach, als in dem ganz zerstückelten und zertretenen Vaterlande.

[269] Das Herz jedes Ehrenmannes blutete in heimlicher Empörung, während der Wille der französischen Machthaber eine glänzende Geselligkeit in Berlin erzwang, deren Ueppigkeit die Leichtgesinnten und Genußsüchtigen verlockend mit sich fortriß, welche über die geistreiche Lebhaftigkeit der Sieger und über die feinen Formen französischer Gesellschaft und Sitte die bittere Noth des Vaterlandes und die Knechtschaft vergaßen, unter denen man lebte. Allerdings war es für denjenigen, der nicht die Möglichkeit besaß, sich fern von den Städten auf irgend einem, zufällig von Einquartierung verschonten Hofe oder Gute dem Verkehre mit den Unterdrückern zu entziehen, äußerst schwer, den Umgang mit ihnen zu vermeiden; aber die Zahl derjenigen war leider nicht gering, die diesen Umgang in eigennütziger Absicht suchten, und die Fremdherrschaft fand ihren Vortheil darin, solche Ueberläufer bereitwillig in ihre Reihen aufzunehmen.

Ein Edelmann von dem alten und schönen Namen der Grafen Berka, ein früherer preußischer Officier mit den persönlichen Vorzügen des Grafen Gerhard, der sich geneigt finden ließ, sich der damals in Berlin den Ton angebenden französischen Gesellschaft anzuschließen, durfte sich von ihr des zuvorkommendsten Empfanges sicher fühlen, und des schwermüthigen Ernstes von Herzen müde, der in dem Kreise seiner Familie geherrscht, seit das Unglück über das Vaterland hereingebrochen war, hatte Graf Gerhard sich bei seiner Rückkehr von Berka mit vollen Athemzügen in das ihn anmuthende Leben der Hauptstadt, in die Gesellschaft der Franzosen gestürzt, die, reich an Kriegsbeute, schnell und verschwenderisch zu genießen suchten, was zu genießen ein eben so schneller Tod auf irgend einem der Schlachtfelder, zu welchen der Kaiser sie führte, ihnen bald unmöglich machen konnte.

Man hatte den Grafen überreden wollen, in französische Kriegsdienste zu treten, aber dessen hatte er sich geweigert; denn [270] es gibt herkömmliche Ehrbegriffe, von denen Männer wie der Graf sich nicht leicht freimachen, obschon jene Ehrbegriffe mit dem wahren Ehrgefühl, das in jedem Menschen nur die höchste Blüthe einer vollkommenen sittlichen Bildung ist, eben blos den äußeren Anschein gemeinsam haben.

Weil Graf Gerhard es nicht nach seiner Neigung, weil er es nicht unterhaltend fand, in der Zurückgezogenheit zu leben, nannte er es unverständig, sich der herrschenden Gewalt ohnmächtig zu widersetzen. Weil Nachgiebigkeit ihm in diesem Falle bequemer dünkte, als Zurückhaltung, nannte er es gebotene Rücksicht, sich der Gesellschaft der Fremden anzuschließen, und er bezeichnete es als eine Ehrensache, sich standesmäßig in ihr zu behaupten. Es dünkte ihm eben so eine Ehrensache, vor den Emporkömmlingen, aus denen sie sich zum großen Theil zusammensetzte, die vornehme Leichtlebigkeit des alten Edelmannes darzuthun, und er hatte keine Ahnung davon, wie die frische und gewaltige Kraft dieser neu und wild entstandenen Gesellschaft ihn bemeisterte, wie er, dem Anspruche des Augenblickes gehorchend, mit seinen Vorurtheilen und Ueberzeugungen auch sich selber hingab, und wie die, trotz ihrer genußsüchtigen Ueppigkeit, vom Leben geschulten, in Geschäften versuchten Fremden, mit denen er verkehrte, sich seiner bemächtigten, weil sie ihn brauchen zu können glaubten. Denn Fremdherrschaft muß tyrannisch sein, und die Tyrannei kann der heimlichen Verbündeten nicht entrathen. Sie muß wissen, was in dem unterworfenen Lande und Volke geschieht, sie muß Einfluß haben, auch wo sie selber nicht hinzudringen vermag. Sie muß sich Diener schaffen und Dienste empfangen, ohne daß diejenigen, welche sie bedienen, sich dessen bewußt sind, und Graf Gerhard war auf solche Weise schnell, noch ehe er es ahnte, zu einem Werkzeuge in den Händen seiner französischen Umgangsgenossen geworden. Freilich hatte man von ihm niemals eine Leistung, [271] gegen welche seine Ehrbegriffe sich sträuben konnten, gefordert, aber man hatte gelegentlich seine vermittelnde Sprachkenntniß bei Einführung in gewisse Kreise als Gefälligkeit in Anspruch genommen, manche Auskunft über Personen und Dinge beiläufig von ihm erfragt oder seine Begleitung bei irgend einer Reise als Freundschaftsdienst begehrt. Man hatte auch nicht daran gedacht, ihm diese Dienste oder diese Opfer an Zeit zu lohnen; sein Ehrbegriff würde ihn bewogen haben, sich dessen unbedingt zu weigern. Aber er hatte kein Bedenken getragen, als seine standesmäßigen Ausgaben sich mit seinen Einnahmen nicht mehr bestreiten ließen, die freiwillig und in schicklichster, bequemster Weise angebotenen Darlehen von seinen Freunden anzunehmen, und die Größe dieser Darlehen hatte ihn nicht beunruhigt, denn die glücklichen Sieger hatten reiche Mittel zu ihrer Verfügung und waren des ängstlichen Rechnens mit ihren Freunden nicht gewohnt.

Auch in der Unterredung, welche Graf Gerhard mit seinem Freunde eben, als Renatus bei ihm vorsprach, gehabt hatte, war nur ganz zufällig von der phantastischen und schwärmerischen Stimmung gesprochen worden, welche sich in der deutschen Jugend zu regen beginne, und Herr von Castigni, der, wie der Graf, einem alten Adelsgeschlechte angehörte, hatte dabei die Aeußerung hingeworfen, wie viel seiner Regierung daran gelegen sei, dieser unglücklichen Richtung entgegen zu arbeiten, wie sehr man den Anschluß des jungen Adels an das Gouvernement begünstige und welche Aussichten sich denjenigen jungen Männern eröffnen könnten, die sich geneigt zeigen würden, sich bei den verschiedenen kaiserlichen Gesandtschaften in Deutschland, wenn auch vorläufig nur als zeitweilige Attaché's, verwenden zu lassen.

Als Renatus daher seinem Oheim auf dessen Frage die Antwort zu geben zögerte, nahm jener selbst das Wort.

Du willst Deine Sporen verdienen, sagte er, und ich wiederhole [272] Dir, mein Lieber, das ist gut und schön! Aber wo willst Du den Kampfplatz suchen, wo den Tummelplatz für Deine Thaten finden? Die Zeiten, in denen unsere Vorfahren sich unter dem großen Könige ihre Lorbeern erfochten, sind für immerdar vorüber!

Onkel! rief Renatus mit abwehrendem Erstaunen.

Der Graf zuckte die Schultern. Ich verstehe Dich, sagte er, und ich weiß, was dieser Ausruf sagen will; aber ich sprach eben mit Herrn von Castigni davon. Es ist thöricht, sich gegen eine historische Thatsache auflehnen zu wollen, thöricht, seine Wünsche für Möglichkeiten anzusehen, und verbrecherisch, wenn reife Männer die Jugend in ihren müßigen ideologischen Träumen bestärken, statt sie zu kräftigem Mitwirken in den vorliegenden Lebensbedingungen anzuhalten.

Und welcher müßigen Träume halten Sie mich schuldig, zu welcher Arbeit wollen Sie mich berufen? fragte der junge Baron, durch die Aussprüche seines Oheims immer mehr betroffen.

Ihr jungen Leute seid übel daran! hob Jener, der bestimmten Antwort ausweichend, auf das Neue an. Man hat Eure Kindheit, Eure Jugend mit dem Gedanken der Vaterlandsliebe genährt und hat Euch als den würdigen Gegenstand einer solchen Liebe das Preußen des großen Friedrich, den von einem großen Könige gegen alle natürlichen Bedingungen zusammengebrachten und nur durch sein Genie, durch seine Herrscher- und Feldherrnkraft erhaltenen Staat, hingestellt. Aber die gewaltsame Schöpfung eines Genius ist jetzt durch den größeren Genius naturgemäß und eben so gewaltsam zerstört. Vor der Gewalt und Größe eines Napoleon konnte die junge Monarchie des alten Fritz, vor dem weltumfassenden Blicke, vor dem weltumgestaltenden Geiste und Willen dieses titanischen Kaisers kann die alte Weltordnung nicht bestehen, und wie unter den Stürmen des Frühlings die letzten Blätter an den alten Bäumen verstieben, [273] damit Raum werde für die neue Schöpfung eines neuen Jahres, so müssen die bisherigen Staatsverhältnisse zu Grunde gehen, damit der riesige, durch alle Zeiten wiedergekehrte und endlich sich seiner Verwirklichung nahende Gedanke eines Weltreiches, einer Universal-Monarchie, wie Alexander und Cäsar und Karl der Große sie vorahnend gedacht haben, zur Wahrheit werde! Sich mit Gefühlsüberspannung an das Untergehende anzuklammern, mag dem zukunftslosen Alter ziemen; die Jugend hat sich dem Neuen, dem Werdenden anzuschließen, und wer Leben, wer Thatkraft in sich fühlt, wer sich eine Zukunft zu eröffnen hat, muß sich dienend dem siegenden Prinzipe unterordnen!

Der Graf hatte sich in Feuer gesprochen, wie dies kaltherzigen und gesinnungslosen Menschen leicht geschieht, die, wenn sie Andere überreden wollen, vor Allem sich selber überreden müssen, und also beständig einen doppelten Zweck zu erfüllen, einen doppelten Kraftaufwand zu machen haben. Er war weder geistreich noch tiefsinnig, aber er hatte Phantasie und Bildung genug, sich fremde Meinungen, sobald es ihm gefiel, anzueignen, und es waren die Gedanken des Gastes, der ihn eben erst verlassen hatte, es war die Anschauungsweise der französischen Gesellschaft, in welcher Graf Gerhard sich bewegte, die er seinem Neffen zur Beherzigung empfahl.

Renatus bildete jedoch fast in allen Stücken den Gegensatz zu seinem Oheim, und ihn zu verwirren war nicht leicht. Seine Phantasie war nicht lebhaft, indeß innerhalb des nicht weiten Kreises, den er überschaute, sah er klar genug, und seine Schüchternheit im Verkehr mit Anderen machte ihn vorsichtig, wie sein Mißtrauen gegen seine eigene Einsicht ihn gewissenhaft gegen sich selber sein ließ.

Es war nicht das erste Mal, daß der junge Baron die Ansichten, welche der Graf an den Tag legte, von einem Preußen aussprechen hörte. Man konnte sie von allen denjenigen vernehmen, [274] die, auf den Pfaden des Grafen gehend, ihrer zur Selbstentschuldigung bedurften. Sie verfehlten an sich also, einen Eindruck auf den Jüngling zu machen, aber es ergriff ihn, daß sein Onkel sie theilte, und mit jener Schwermuth, die einen Hauptzug seines Charakters ausmachte, rief er: Lieber untergehen, als untreu werden! Was sollte mir eine Zukunft auf den Trümmern meines Vaterlandes? Wie könnte ich an ein Glück denken in der Fremde unter Fremden, während .... Er brach ab, schien seine warme Aufwallung zu bereuen und sagte: Gewiß, mein Onkel, Sie sprachen nicht im Ernste zu mir, Sie wollten mich prüfen; seien Sie unbesorgt! Kein Vortheil der Welt soll mich verlocken, von meinem Könige abzufallen oder meinen Eid zu brechen! Ich bin ein Preuße, ich bin ein Edelmann, unserem Könige unterthan und sein Soldat; so will ich leben und, muß es sein, auch sterben!

Der Graf nickte beifällig, als habe er den Vorwurf in seines Neffen Worten nicht gemerkt, und wiederholte seine frühere Aeußerung, daß dies Alles sehr gut, sehr schön sei, nur praktisch sei es nicht. Bedenke, sprach er, was Du Deinem Vater schuldig bist!

Er machte danach eine kleine Pause und setzte in ruhig erklärender Weise hinzu: Du siehst die ungeheuren Rüstungen, welche der Kaiser durch ganz Europa anstellen läßt. Niemand kann zweifelhaft darüber sein, gegen wen sie gerichtet sind. Wir stehen einem großen, einem gewaltigen Feldzuge näher, als Du glaubst, und Du bist der einzige Erbe Deines Vaters, der Letzte Deines Hauses!

Und mein Bruder? wendete Renatus ein.

Der Graf lächelte. Vittoria's Sohn wird, wenn er einst erwächst, voraussichtlich auf Dich und Deine Großmuth angewiesen sein, denn Dein Vater ist bejahrt und sein Besitz hat sich, wie Du weißt, um ein Bedeutendes verringert.

Wir haben allerdings unter dem Kriege schwer gelitten, [275] entschuldigte Renatus, den jede Miene und jedes Wort des Grafen kränkte.

Nicht mehr, als Andere, meinte dieser; aber Dein Vater und meine gute romantische Schwester hatten kostspielige Liebhabereien, bauten Kirchen, hielten Sängerchöre, ließen die Amtleute und Pächter gewähren. Das war ideologisch, war falscher Idealismus! Das ist unpraktisch!

Er sah nach der Uhr, erhob sich, ging an den Spiegel, zu dessen beiden Seiten Armleuchter an den Wänden brannten, besah sich in dem Glase, kämmte die große Locke auf der Stirn über die untergehaltene Hand zurecht und sagte, ohne den beleidigten Renatus, der hinter ihm sitzen geblieben war, anzusehen: Glaube mir, mein Lieber, früher oder später wirst Du genöthigt sein, Dein eigenes Schicksal zu spielen und das Loos und das Vermögen Deines Hauses neu zu begründen. Nur deshalb und nur dazu wollte ich Dir die Mittel und die Wege zeigen und eröffnen, die ich Dir heute vorschlug.

Er klingelte, sein Kammerdiener trat ein. – Warum erinnern Sie mich nicht, daß es Zeit ist, mich anzukleiden? fragte er. Der Diener entgegnete, daß Alles bereit liege, und ward mit dem Bemerken fortgeschickt, daß der Graf gleich kommen werde, und daß der Diener das Eisen heiß machen könne, ihm Haar und Bart auf's Neue zu kräuseln.

Wir haben heute eine Soirée bei dem französischen Gesandten. Das ist ein Haus, in das Du Dich einführen lassen solltest, und ich bin bereit, Dich vorzustellen, sagte er. Es ist die Rede davon, einige junge Deutsche von Familie als Cavaliere, als Kammerherren an den Hof des Königs von Westfalen zu ziehen, junge Männer, die des Französischen mächtig sind. Ich hatte dabei an Dich gedacht. König Jerome ist jung, ist geistreich, ist äußerst liebenswürdig und freigebig geneigt, für die Personen, die ihm wohlgefallen, viel zu thun. Indeß Du [276] willst es nicht! Nun, Du wirst wissen, was Dir frommt, ich hatte es gut mit Dir im Sinne!

Er sprach das Alles, während er aus einer reichverzierten Büchse seine goldene Dose mit frischem Taback füllte. Renatus hatte sich erhoben. Er sagte, daß er seinen Oheim nicht stören, nicht länger aufhalten wolle. Der Graf erkundigte sich, wo er seinen Abend zubringen werde, und als er hörte, daß Renatus die Gräfin Rhoden zu besuchen denke, meinte er, es sei schade, daß sie fromm geworden sei, und daß sie ihre Töchter in gleicher Ueberspannung auferzogen habe; sie sei früher eine angenehme Frau gewesen, die gewußt habe, was sie sich schuldig sei.

Man hatte sie bei uns, fuhr er fort, da sie eine Verwandte von uns ist, Deinem Vater eigentlich zur zweiten Frau bestimmt, und sie hat sich, eben weil sie kein Vermögen besaß, wohl selber doppelt mit dem Gedanken getragen. Ich bin sicher, sie zog nur deshalb in Eure Gegend, und ihre Freundschaft für Dich wird wohl aus derselben Quelle entsprungen sein. Aber der Bekehrungseifer Eures Caplans hatte sie uns entfremdet, noch ehe die Heirath Deines Vaters mit der Giustiniani im Werke war, und hätte sie diese Heirath vorhersehen können, so würde der Caplan vielleicht weniger Erfolg bei ihr gehabt haben. Jetzt indessen, glaube ich, ist sie ja selbst mit Bekehrungen beschäftigt. Sie hat es wahrscheinlich auf die Tochter des alten Flies abgesehen, denn das allein kann mir die Freundschaft der Gräfin für die Flies erklären.

Renatus, dem jede Aeußerung des Grafen empfindlich und zuwider war, erinnerte daran, daß Seba auch eine Freundin seiner Mutter gewesen sei, daß er selbst von seinem Vater an den alten Geschäftsfreund ihres Hauses empfohlen worden, und fragte, ob der Graf die Familie, und namentlich, ob er Seba kenne.

Er bejahte es. Ich war vor dem Feldzuge nach der Champagne bei ihnen im Quartier, sagte er gleichgültig. Seba war [277] damals eine Schönheit, aber sie war schon damals eine sentimentale Schwärmerin! Nimm Dich mit ihr in Acht! Die Gräfin Rhoden und Seba und all die schönen Geister und die Professoren und Gelehrten, mit denen sie zusammenhangen, sind thörichte Ideologen, Phantasten, die gegen den Lauf der Welt ankämpfen, vergangene Zeiten lebendig machen möchten! Man hat ein Auge auf dieses Treiben, obschon man es gewähren läßt. Vernünftige Aussichten werden sich Dir dort nicht öffnen, darauf verlaß Dich, und sich unnöthig verdächtig zu machen, sich einer unnöthigen Beaufsichtigung auszusetzen, ist nicht anständig für Unsereinen!

Er reichte ihm dabei freundlich die Hand zum Abschiede und sagte, als sein Neffe sich ihm empfahl: Ehe ich es vergesse, mein Lieber! Seit ich mir hier selbst eine Wohnung eingerichtet und die Kriegsräthin zu mir genommen habe, speise ich in der Regel zu Hause. Sie ist eine Köchin, um die man mich beneidet. Für eine oder zwei Personen ist immer das Couvert bereit. Willst Du es auf gut Glück mit mir versuchen, so weißt Du, daß Du willkommen bist, und wir tauschen dann unsere Meinungen und Neuigkeiten mit einander aus. Beiläufig, laß Dich von den Rhodens nicht einfangen! Das sind keine Partieen, die sich für Dich schicken!

Er gab ihm nochmals die Hand, rieth ihm, sich die Kasseler Angelegenheit ruhig und reiflich zu überlegen, und entließ ihn danach, um sich ankleiden zu gehen.

[278]
5. Capitel
Fünftes Capitel

Später, als er es sonst pflegte, langte Renatus an dem Abende bei der Gräfin Rhoden an, und fast bereute er es, daß er gekommen war, denn die friedliche Stille, in welcher er die Frauen antraf, ließ ihn seine Aufregung erst recht deutlich empfinden. Es war ihm zu Muthe, als habe er in der letzten Stunde eine Gegend und die Menschen in ihr durch ein verzerrendes Glas betrachtet. Alle Bilder, die er in der Seele trug, dünkten ihm verändert und entstellt, und doch kam ihm unwillkürlich immer wieder die Frage: Wie aber, wenn Du Dich wirklich bisher getäuscht hättest? Wie aber, wenn der Oheim Recht hätte mit den Urtheilen, die er über die Personen und Zustände, deren er erwähnte, gegen Dich ausgesprochen hat?

Er erinnerte sich genau, wie kurze Zeit nach dem Tode seiner Mutter die Rhoden's zu ihren Verwandten nach Lichtenforst gezogen und wie sie das erste Mal nach Richten zum Besuche gekommen waren. Die Gräfin war, wie sein Vater, in Trauerkleidern gewesen, obgleich sie ihren Gatten schon zwei Jahre vorher verloren, und der Freiherr hatte sie und ihre Töchter sehr willkommen geheißen. Als er dann nach Italien gegangen war, hatte er die Gräfin gebeten, sich seines Knaben anzunehmen, und sie hatte Renatus dar auf an sich gedrückt, hatte gesagt, der Himmel habe ihr leider einen Sohn versagt, sie wolle also Renatus lieben als wäre er ihr eigen Kind, und ihre Töchter Hildegard und Cäcilie sollten ihm, dem Schwesterlosen, Schwestern sein.

[279] Renatus hatte sich auch in ihrer und ihrer Töchter Nähe stets wie in einer Heimath, wie in seiner Familie gefühlt, obschon die Verwandtschaft zwischen den Berka's und den Rhoden's sehr entfernt war; er konnte es sich als sehr wahrscheinlich denken, daß seine Großeltern ihm die Gräfin einst zur Stiefmutter zu geben gewünscht hatten, ehe der Caplan die Bekehrung der Gräfin unternommen. Es war aber ein schöner Tag und ein erhebender Anblick gewesen, als die Gräfin mit den beiden kleinen Töchtern in der Kirche von Rothenfeld zum Katholicismus übergetreten war. Der heimliche Anschluß der Familie von Wedderau an die katholische Kirche war bald danach gefolgt, und die kleine Gemeinde hatte unter des Caplans Leitung sehr zusammengehalten. Alljährlich hatte man danach den Todestag der Baronin Angelika, in welcher man die eigentliche Urheberin des Kirchenbaues verehrte, mit einer besonderen Feier begangen, und wenn die Gräfin wirklich beabsichtigt hatte, einmal die Stelle der Verstorbenen einzunehmen, so war es schön von ihr gewesen, daß sie ihre getäuschte Erwartung weder Vittoria noch Renatus hatte entgelten lassen.

Sie zuerst hatte sich der fremden jungen Frau mütterlich freundlich genähert, als man des Verwunderns über die unerwartete und auffallende Heirath des Freiherrn kein Ende finden konnte. Sie war der Fremden stets mit Rath und Ermunterung zur Hand gewesen; Tage und Nächte hatte sie an dem Bette Vittoria's zugebracht, als diese vor drei Jahren im Nervenfieber mit dem Tode so schwer gerungen, daß man hatte fürchten müssen, mit ihr auch das Leben ihres zu erwartenden Kindes zu verlieren. Renatus konnte ihr das nie vergessen. Er liebte die Gräfin dafür wie eine Mutter und er hing auch mit so naturwüchsiger Neigung an ihren beiden Töchtern, als wenn sie nicht nur seine Spielgenossen, sondern als wenn sie wirklich seine Schwestern wären.

[280] Neben der ausgesuchten Behaglichkeit in Seba's Gartensaal, neben der auffallend modischen und glänzenden Einrichtung seines Oheims erschien dem jungen Manne die Wohnung der Gräfin heute zum ersten Male ärmlich. Er sah, was ihn bisher nicht angefochten hatte, daß ihre Zimmer nur schlicht getüncht, daß ihre Möbel alt und abgenutzt waren, daß nur zwei Kerzen den Raum erhellten. Sie leuchteten jedoch genugsam, das schöne, über dem Sopha hängende Bild der jung verstorbenen, allgeliebten Königin Louise zu erkennen, das diese selbst der Gräfin einst geschenkt hatte; sie reichten hin, die Büste des bei Saalfeld gebliebenen geistreichen Prinzen Louis Ferdinand betrachten zu lassen, der ein Freund des Grafen und Cäciliens Pathe gewesen war, und der ihr zur Erinnerung an die Schutzheilige der Musik, der Kunst, die er mit Meisterschaft beherrschte, eben den Namen Cäcilie gegeben hatte; und sie hatten Licht genug, das edle in weiße Schleier gehüllte Antlitz der Mutter und das schöne, blonde Haar der beiden Töchter mild zu umspielen.

Innerlich verwirrt war Renatus vor dem Hause angelangt; aber er wurde ruhiger in dem trauten Kreise, in dem gewohnten lieben Raume. Die halbe Dämmerung, die weißen Fenstervorhänge, durch die der Mond hinein schien, daß sein Schimmer den ganzen Fußboden streifenweise erhellte, der Duft des Reseda von den wohlgepflegten Stöcken am Fenster thaten ihm wohl.

Ach, bei Ihnen ist's gut! sagte er, unwillkürlich aus tiefer Brust aufathmend, als er der Gräfin die Hand geküßt und zwischen den beiden Schwestern seinen gewohnten Platz am Tische eingenommen hatte. Man lachte über diesen Ausruf; er sollte sagen, wie er darauf gekommen sei, ihn eben in dieser fast feierlichen Weise zu thun, und er ward dabei inne, daß ihm heute ganz anders als sonst in der Gegenwart dieser Frauen zu Muthe sei.

Es kam ihm vor, als sei er, wer weiß wie lange von[281] diesem Raume und von diesen lieben Menschen entfernt gewesen, als habe er sie nie so gut gekannt, als eben jetzt, und doch wieder, als habe er ihnen ein Unrecht abzubitten.

Die würdige Erscheinung der Gräfin, ihre keusche, matronenhafte Tracht – Renatus hatte sie, seit er sie kannte, nie anders als in weißer oder schwarzer Kleidung gesehen – dünkten ihm so schön, da er eben erst neben der geschminkten Haushälterin seines Oheims gesessen hatte. Die Bilder der königlichen Familie sprachen ihn wie Schutzgötter des Hauses an und es freute ihn, daß er sein Auge frei zu ihnen erheben durfte, daß keiner seiner Gedanken sich durch die verführerischen Auseinandersetzungen seines Oheims von ihnen und ihrem Dienste hatte abwendig machen lassen. Nur an der Gräfin und an diesen Mädchen hatte er sich versündigt. Sie hatte er so eben noch selbstsüchtiger Absichten, berechneter Plane fähig gehalten; denn die von seinem Oheim in ihm erweckte Vorstellung, daß die Mutter oder Hildegard selber darauf ausgegangen sein könnten, ihn unmerklich zu einer Heirath mit der Letzteren zu bewegen, hatte ihn widerwärtig berührt und ihm einen Schatten auf das reine, herzliche Verhältniß geworfen, in welchem er, seit er sich zurückerinnern konnte, zu diesen ihm so theuren Freunden gestanden hatte.

Jetzt schämte er sich seines Zweifels an ihnen, und daneben dachte er zum ersten Male daran, wie im Grunde gar nichts natürlicher sei, ja, wie es sich eigentlich von selbst verstehe, daß er die Gefährtin seiner Kindheit, daß er Hildegard einst zu seiner Gattin wähle. Sie hatten oft genug als Kinder Mann und Frau gespielt, sich immer auf das beste vertragen, sie waren nur um anderthalb Jahre, die Hildegard vor ihm voraus hatte, im Alter von einander getrennt. Ihr Name, ihre Familienverbindungen waren den seinigen ebenbürtig, sie war katholisch, wie er, Vittoria hatte die Rhoden's gern, ein künftiges Zusammenleben der beiden Familien bot also gar keine [282] Schwierigkeiten, und – darin hatte sein Onkel Recht – das einst so blühende Arten'sche Geschlecht war jetzt wirklich nur auf ihn und seinen kleinen Bruder gestellt. Es war nothwendig, es war unerläßlich, daß Renatus sich früh verheirathete.

Je mehr er darüber nachdachte, um so wahrscheinlicher dünkte es ihn, daß auch seinem Vater eine Verbindung zwischen ihm und Hildegard willkommen sein würde, denn sowohl der Freiherr als der Caplan hatten ihn beständig zu dem Umgange mit den Rhoden's angehalten; und nun er sich im Geiste die Sache überlegt, fand er, daß ihm selbst, wenn er sich seine Zukunft und seine einstige Ehe vorgestellt, immer mehr oder weniger deutlich Hildegardens Bild vor der Seele geschwebt hatte.

Die Mißstimmung, in welcher er bei den Freunden angelangt war, schwand vor diesen Gedanken völlig hin, eine außerordentlich sanfte Empfindung trat an ihre Stelle. Er fühlte kein leidenschaftliches Verlangen, er hegte keinen neuen, lebhaften Wunsch, er sehnte die Zukunft und eine Aenderung der jetzigen Verhältnisse nicht einmal herbei. Er war zufrieden wie Einer, der einen wohl begründeten, gesicherten Besitz in ruhigem Lichte vor sich ausgebreitet sieht, aber er rückte unwillkürlich seinen Stuhl näher an Hildegard heran, als er es sonst gethan hatte, und seinen Arm auf die Lehne ihres Sessels gelegt, beugte er sich zu ihr hinüber, ihren fleißigen Händen zuzusehen, wie sie mit sicherem Finger die Blumen in den weißen Musselin einstickte, welcher zum Gesellschaftskleide der Mutter dienen sollte. Er hatte ihr selbst das Muster dazu aufgezeichnet.

Hildegard, von seinem Athem warm berührt, wendete sich nach ihm hin, und wie sie die Augen zu ihm erhob, wie ihre Blicke sich so nahe begegneten und trafen, fuhr ihm ein elektrischer Strahl durch den ganzen Körper. Das Blut wallte, wie nie zuvor im Leben, heiß in ihm auf, stieg ihm in schnellem Fluge in die Wangen, und er wußte zuversichtlich, daß es [283] Hildegard gerade so empfinden müsse, daß sie, obschon sie ihr Haupt gleich wieder auf ihre Arbeit niedersenkte, erglühe und erbebe, wie er selbst. Er hatte Mühe, ihre röthlichen Locken, die ihr über den schlanken Rücken bis zum Gürtel niederflossen und die er, ohne daß sie es bemerkte, mit vorsichtiger Hand berühren konnte, nicht an seine Lippen zu drücken; er hielt sich jedoch zurück. Es war ihm so glücklich und so still ums Herz, wie in einem der Träume, in denen wir Wunder erleben, ohne uns über sie zu wundern, in denen wir unser märchenhaftes Glück ganz natürlich finden und in denen eine dunkle Ahnung uns doch von jedem selbstständigen Wollen und Thun zurückhält, weil wir durch jedes Regen oder Handeln den wohlthätigen Zauber, der uns umfängt, zu zerstören befürchten.

Er hörte es, wie die Gräfin der jüngeren Tochter die Weisung gab, ihr das Buch von ihrem Arbeitstische zu holen, er sah, wie das vierzehnjährige rosige Mädchen sich erhob, und er kannte das Buch in seinem Einbande von blaßblauem Moirée. Es waren Novalis' Gedichte, seine Hymnen an die Nacht. Des früh verstorbenen Dichters Mutter, eine nahe Anverwandte der Gräfin, hatte sie ihr verehrt, sie gehörten zu den Lieblingspoesien des Hauses.

Man war von jeher gewohnt gewesen, etwas zu lesen, wenn Renatus kam. Eine Reihe von erhabenen Dichtwerken, von schönen Gedanken war auf diese Weise ihm und Hildegard gemeinsam zu eigen geworden, und jetzt, da man das Bekannte abermals mit ein ander durchging, um es der jüngeren Schwester zugänglich zu machen, genoß man es auf's Neue mit steigender Erkenntniß.

Aber heute hatte Cäcilie schon eine geraume Zeit gelesen, ohne daß Renatus mehr als den sanften Schall ihrer Stimme vernommen hätte. Endlich trafen auch die Worte sein Ohr: »Du Nachtbegeistrung, Schlummer des Himmels kamst über mich!« so [284] las sie. »Die Gegend hob sich sacht empor, über der Gegend schwebte mein entbundener, neugeborener Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel, durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In ihren Augen ruhte die Ewigkeit; ich faßte ihre Hände, und die Thränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter. An ihrem Halse weint' ich dem neuen Leben entzückende Thränen. Es war der erste, einzige Traum, und erst seitdem fühl' ich ewigen unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte!«

Renatus konnte die Fülle seiner Empfindung nicht bemeistern. Er stand auf und trat an das Fenster. »Unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte!« wiederhallte es in seiner Seele.

Der Mond schwamm wie ein goldener Kahn durch das helle Gewölk, der Jüngling meinte noch keine solche Nacht erlebt zu haben. Auch Hildegard hatte sich erhoben und sich zu ihm gesellt. Sie fragte ihn, wonach er ausschaue. Aber statt der Antwort legte er seine Hand auf die ihrige, die auf dem Fensterkissen ruhte. So blieben sie stehen in stillem Glücke, bis Cäcilie ihnen zurief, ob sie denn nicht wiederkommen würden, und die Gräfin ihnen den Vorschlag machte, etwas zu singen, wenn sie nicht mehr lesen möchten.

Sie waren dazu bereit, denn ihre Stimmen paßten wohl zusammen und waren mit einander eingeübt. Hildegard öffnete das Clavier, Renatus suchte das Notenheft aus und wählte ein Matthisson'sches Lied. Die Gräfin übernahm die Begleitung des zweistimmigen Gesanges.

Hildegard hub an:


Auf ewig dein! Wenn Berg und Meere trennen,
Wenn Stürme dräu'n,
[285]
Wenn Weste säuseln oder Wüsten brennen:
Auf ewig dein!
fiel die schöne, kräftige Stimme des Jünglings ein. –
Beim Kerzenglanz im stolzen Marmorsaale,
Beim Silberschein
Des Abendmonds im stillen Hirtenthale:
Auf ewig dein!
Senkt einst mein Genius die Fackel nieder,
Mich zu befrei'n,
Dann hallt's noch im gebrochnen Herzen wieder:
Auf ewig dein!

Sie hatten das Lied schon oft gesungen, und doch erschien es beiden heute so neu, als hätte der Augenblick es eben erst in ihnen selbst erzeugt; auch die Gräfin rührte es mehr als sonst, und sie belobte die Beiden.

Inzwischen war es spät geworden, und Renatus sagte, daß er gehen müsse. Cäcilie wollte ihn zu bleiben bewegen, aber er ließ sich nicht zum längeren Verweilen bestimmen, und Hildegard nöthigte ihn auch nicht dazu. Ihre Herzen waren voll zum Ueberfließen.

Als sie ihm das Geleite gab, küßte er ihr die Hand. Er hatte sie sonst oftmals umarmt, und sie hatte es ihm nie verwehrt. Heute hätte er das nicht vermocht; denn heute hatte er es empfunden: er liebte Hildegard!

[286]
6. Capitel
Sechstes Capitel

Die Jahreszeit des Gartensaales war lange vorüber, und selbst der Besuch des Denkmals hatte seit Monaten aufgehört. Der Nordwind schüttelte die großen Tannen, die das Monument umstanden, daß der Schnee von ihren breiten Aesten in schweren, verstiebenden Flocken herniederfiel, und es war noch nicht lange nach vier Uhr, als Seba von dem Fenster ihres Wohnzimmers schon den Sonnenuntergang über ihren Lieblingsbäumen am Parke des andern Ufers betrachten konnte, deren kahle Kronen sich scharf und klar gegen das helle Gelbroth des kalten Winterhimmels abzeichneten. Aber sie hatte heute keine rechte Ruhe. Sie stand von Zeit zu Zeit von ihrem Sessel auf, sah zu, ob das Feuer in dem Ofen des Nebenzimmers brenne, dann wieder trat sie, von dem fernen Rollen eines Wagens gelockt, in der vorderen Stube an das Fenster, bis ihr Auge auf den Zeiger der Uhr fiel und sie belehrte, daß ihre ungeduldige Erwartung eine vorzeitige und ihr Wünschen nicht im Stande sei, den Lauf der Stunden zu beflügeln.

Davide saß schreibend an dem Tische, an welchem sich endlich auch Seba mit einem Buche niederließ; indeß sie merkte bald, daß ihre Gedanken sich nicht sammeln lassen wollten. Sie legte das Buch also wie der zur Seite und nahm eine Näharbeit zur Hand. Aber selbst diese Beschäftigung erwies sich heute zu ihrer Beruhigung nicht wirksam, und die klaren, klugen Augen auf sie gerichtet, blickte Davide die Tante, wie sie ihre Cousine bei [287] dem zwischen ihnen obwaltenden Altersunterschiede zu nennen gewohnt war, eine Weile mit sinnendem Lächeln an. Als Seba das gewahrte, fragte sie, was Davide denke.

Das junge Mädchen antwortete nicht gleich, sondern zeichnete spielend allerlei Figuren auf ein Blatt Papier, das vor ihr lag, und erst als Seba ihre Frage wiederholte, erwiederte sie zögernd und verlegen: Ich möchte nur wissen, liebe Tante, ob Du auch so ungeduldig sein würdest, wenn Du meine Ankunft zu erwarten hättest?

Zweifelst Du daran?

Davide legte die Feder nieder, stützte den hübschen Kopf mit beiden Händen und sagte darauf: Ja, das thue ich!

So muß ich Dir wiederholen, was ich Dir neulich schon bemerkte, daß Du Anlage zur Eifersucht hast und daß Eifersucht die Schwester des Neides und eine häßliche Gewohnheit ist!

Seba hatte das scherzend gesprochen, aber Davide nahm es nicht so auf. Sie wurde vielmehr ganz ernsthaft und versicherte mit einer unverkennbaren Selbstüberwindung, daß die Tante ihr Unrecht thue. Es ist nicht, meinte sie, daß ich Andern Deine Liebe nicht gönne, sondern nur, daß ich gleich wie eine Fremde, wie eine Ausgestoßene bin, wenn Ihr beisammen seid. Du hast ja sonst keine Geheimnisse mit andern Leuten! Du sprichst mit ihnen offen und unumwunden, auch wenn ich dabei bin, fragst sie nach ihren Eltern und Geschwistern, und nur mit ihm wird eine Ausnahme gemacht! Er ist wie ein Kind vom Hause, der Onkel und Du, Ihr liebt ihn, als gehörte er zu Euch; Ihr nennt ihn Du, er nennt Dich eben so, und er ist doch kein Verwandter von uns, sondern nur ein Fremder! Er geht mit mir, gleich seit er zum ersten Male zu uns kam, wie ein älterer Bruder um, er lobt mich und tadelt mich, als hätte er ein Recht dazu – Du findest das auch ganz in der Ordnung, und ich habe gewiß nichts dagegen, denn er ist ja so klug und so gut![288] Aber so oft ich, seit ich über dergleichen Dinge nachdenke, ihn oder Dich in den letzten Jahren gefragt habe, wo er denn eigentlich her ist, wer seine Eltern sind, wie wir mit einander zusammen hangen, seid Ihr mir beide ausgewichen!

Keineswegs! Ich habe Dir vielmehr sehr bestimmt gesagt, erinnerte Seba, daß Du ihn an seine Kindheit nicht erinnern mögest, weil sie nicht glücklich gewesen ist, und daß Du ihn aus demselben Grunde nicht um seine Familienverhältnisse befragen sollst. Er hat seine Mutter früh verloren.

So ist es ja auch mir ergangen! wendete Davide mit jener dreisten Beharrlichkeit ein, welche der Jugend niemals fehlt, wo sie durch Erforschung eines ihr verborgen Gehaltenen ihren Willen durchzusetzen und sich das Recht einer Mitwissenschaft zu erkaufen für nöthig hält. Ich habe meine arme Mutter auch früh verloren, aber ich habe es eben deshalb gern, wenn Du mir von ihr erzählst, oder wenn sonst Jemand, der sie gekannt hat, zu mir von ihr redet! Mit Baron Renatus ist es eben so; nur mit diesem Herrn Tremann soll es anders sein, nur mit ihm machst Du eine Ausnahme, und statt daß ich mich freuen sollte, wenn er kommt, denke ich also immer nur daran, daß Ihr mich noch wie ein kleines Kind behandelt und daß ich nicht einmal weiß, woher er stammt, den Du doch von allen Menschen, den Vater ausgenommen, am liebsten hast!

Der gereizte Ton in ihren Worten befremdete Seba. Es war das erste Mal, daß sie ihn an ihrer Pflegetochter zu beobachten hatte, und sie wußte sich die Quelle, aus welcher er entspringen konnte, nicht gleich zu erklären. Bloße Neugier konnte es nicht sein, die würde sich leichter und heiterer geäußert haben; an die Eifersucht, mit welcher sie Davide so eben geneckt hatte, glaubte Seba eben so wenig ernsthaft; aber wie man an einem reinen Spiegel keine Trübung dulden mag, lag es ihr daran, in des jungen Mädchens Seele keinen Zweifel und kein Mißtrauen [289] aufkommen zu lassen, und sanft, wie es ihre Weise war, sagte sie: Du bist nicht offen mit mir, Davide; Du sprichst dich in einen Zorn hinein, den Du vernünftiger Weise gar nicht fühlen kannst, und zeigst mir ein Mißtrauen, das noch weit thörichter ist, als jener Zorn. Du machst mir den Vorwurf, Dir etwas zu hinterhalten, was ich Dir möglicher Weise hinterhalten muß, weil ich nicht Herr darüber bin, während Du mir Deine wahre Meinung und die wahren Gründe der Aufregung verbirgst, in der Du Dich befindest. So sollte es zwischen mir und Dir nicht sein!

Da sprang Davide plötzlich von ihrem Sessel auf, fiel vor Seba auf die Kniee, und ihr Gesicht in ihrem Schooße verbergend, während sie den Leib der Tante mit beiden Armen umschlang, fing sie zu weinen an.

Was soll das, Kind, was soll das? rief Seba, während sie das junge Mädchen zu sich empor zu ziehen versuchte. Aber dieses blieb in seiner gebückten Stellung vor ihr liegen und sagte schluchzend: Vergib mir, vergib mir! Ich hätte Dir es ja lange sagen müssen, daß ich Alles, Alles weiß! Ach, Du ahnst es nicht, wie unglücklich ich darüber war! Ich ....

Sie konnte vor Schluchzen nicht sprechen, ihr Zustand wurde für Seba immer räthselhafter, und im Innersten beunruhigt, fragte sie lebhaft: Worüber bist Du unglücklich, was fehlt Dir? Was hast Du, Kind?

Ich konnte Dich eine Zeit lang gar nicht mehr lieben! Ich ... Sie warf sich der Tante mit beiden Armen um den Hals, und ihr Gesicht an Seba's Busen lehnend, sagte sie kaum hörbar: Ich verachtete Dich! –

Seba zuckte erschreckend zusammen, das Wort versagte sich ihr. Du verachtetest mich? fragte sie endlich langsam, als falle es ihr schwer, den ganzen Vorgang zu verstehen.

Weil Paul Dein Sohn ist! entgegnete Davide und sank, [290] sich von der Brust der Tante aufrichtend, auf einen der Sessel, nieder, die am Tische standen, ihr Antlitz in ihren Händen verbergend.

Seba blieb ruhig stehen. Ein schwerer Schmerz ging durch ihre in Leid wie in Geduld geprüfte Seele und fand seinen Ausdruck in dem stillen Seufzer, der über ihre Lippen glitt. Sie begriff nicht, was ihre Pflegetochter eben zu dieser Vermuthung gebracht, oder wer ihre Phantasie auf diesen Weg gewiesen haben konnte. Aber es war ihr zu Muthe, wie dem Wanderer, dem sich an einem völlig hellen Tage plötzlich die Sonne verhüllt. Aus ferner Zeit stieg die Erinnerung wie ein dunkles Gewölk unheimlich vor ihr auf und warf ihren düstern Schatten über die ruhige Sicherheit, in welcher sie sich seit Jahren bewegte. Es fröstelte sie, sie fühlte sich krank, sie hätte weinen mögen; indeß die Thränen sind wie falsche Freunde, sie versagen dem plötzlichen, dem überwältigenden Schmerze ihre Hülfe und ihren Trost, und wie immer gewann die Liebe für die Andern in Seba's Brust den Sieg. Nicht an sich durfte sie denken, nicht an ihr Empfinden. Sie hatte Davide zu beruhigen, sie hatte das Kind zu trösten, das in ihr seine Mutter liebte, das irre geworden war an ihr – und wie durfte eine, wenn auch noch so späte und unerwartete Folge ihres eigenen Thuns sie überraschen und ihr als eine unverdiente Härte erscheinen?

Sie trat leise an Davide heran, legte ihre Hand auf des jungen Mädchens Schulter und sagte: Beruhige Dich, mein Kind, denn Du irrtest! Paul ist nicht mein Sohn! Aber wer brachte Dich auf die Vermuthung?

Davide blickte die Tante mit einem Ausdrucke an, der die ganze Verwirrung ihrer Empfindungen verrieth, und diese mußte ihre Frage wiederholen, ehe sie abgebrochen und leise die Worte hervorstieß: Als ich noch ganz klein war, hat meine Wärterin es einmal zu Deiner damaligen Jungfer gesagt!

[291] Was hat sie gesagt? Besinne Dich! forschte Seba ernsthaft, um nur die Gedanken der Aufgeregten zu sammeln.

Deine Jungfer wunderte sich, daß Du Dich nicht verheirathet hättest, und ....

Und? wiederholte Seba, da Jene wieder in das Stocken gerieth.

Und die Wärterin sagte, Du hättest schlimme Erfahrungen gemacht, Du hättest einen vornehmen Herrn geliebt ....

Sie hielt auf's Neue inne und fing wieder zu weinen an. Da nahm Seba ihre Hand und sprach mit der ganzen Bestimmtheit, deren ihre ernste Seele fähig war: Wenn Du den Muth hattest, mir in Deinem Herzen auf das unbestimmte Wort einer Dienerin hin zu mißtrauen und mich, wie Du sagtest, zu verachten, so wirst Du Dich auch überwinden müssen, vor mir auszusprechen, was ich wissen will und muß! Nimm Dich zusammen und antworte – was hast Du gehört? Was glaubst Du von mir?

Davide wurde bleich. Sie kannte diesen Ton in der Stimme ihrer Tante und war gewöhnt worden, ihm unbedingt zu gehorchen, denn Seba war der Ansicht, daß strenge Unterordnung unter einen fremden Willen das Kind am leichtesten zur einstigen Selbstbeherrschung vorbereitet; daß derjenige, welcher von je her gewöhnt wird, unbedingt zu gehorchen, sich auf einen augenblicklichen, bestimmten Befehl schnell zu überwinden, später auch dahin gelangt, sich selber zu bemeistern, wenn es Noth thut – und sie konnte an ihrer Pflegetochter eben in dieser Stunde die Richtigkeit ihrer Meinung erproben.

Bewegt, aber dem befehlenden Anrufe nachgebend, sprach sie: Sie sagten, ein vornehmer Herr hätte Dich verführt und Dich verlassen, und als dann Paul mit Einem Male hieher kam, als ich sah, wie Du ihn liebtest, da ....

Nun? fragte Seba.

[292] Da dachte ich mir, er sei Dein Sohn!

Es entstand eine kurze Pause, Seba verzog keine Miene. Davide hörte ihr eigenes Herz klopfen. Es wäre ihr eine Wohlthat gewesen, hätte sie jetzt das Rollen eines Wagens vernommen, wäre Paul jetzt eingetreten. Es blieb aber Alles still auf der Straße, in dem Hause, in der Stube, und wie schwere Schläge fielen die Worte Seba's: Und nun hieltest Du Dich berechtigt, mich zu verachten? in des jungen Mädchens Seele.

Sie wollte sich abermals vor der Tante niederwerfen, diese hinderte sie jedoch daran, und sich leise mit der Hand nach dem Herzen fahrend, sprach sie: Man hat Dir die Wahrheit gesagt – ich habe einen vornehmen Mann geliebt und bin von ihm verrathen worden!

Ich bitte, ich beschwöre Dich, sprich nicht weiter! rief Davide mit flehender Geberde – vergib mir, o, vergib mir, daß ich Dich daran mahnte, und schweige!

Seba beachtete ihre Bitte nicht. Da Du Dich zu meinem Ankläger und Richter aufgeworfen hast, sagte sie mit einer schmerzlichen Kälte, so wirst Du mich auch wohl hören müssen! Ich weiß nicht, wie Deine Wärterin zur Kenntniß jenes unglücklichen Ereignisses gekommen sein kann; darauf kommt es auch nicht an. Das Leben ist wie ein Strom, unsere Vergangenheit, unsere Thaten sinken in ihm unter, daß wir sie selbst dem eigenen Blicke für immerdar entschwunden meinen, und plötzlich bringt ein unvorhergesehenes Ereigniß sie aus der Tiefe wieder vor unserem Auge als ernste Mahnung an das Licht. – Sie hielt inne, seufzte und sprach danach: Laß es Dir eine solche Mahnung sein, eine Mahnung, den größten und reinsten Empfindungen Deines Herzens zu mißtrauen, wo sie mit dem Gesetze und der Sitte in Widerstreit gerathen; denn wie rein unser Selbstgefühl auch sein mag, es schützt uns nicht gegen die Schmerzen, die fremder Tadel uns zufügt, und es bewahrt uns [293] nicht davor – Du hast es eben selbst erlebt –, von denen gelegentlich mißkannt, ja, selbst verachtet zu werden, denen wir durch ein ganzes Leben unsere Liebe zugewendet und deren achtendes Vertrauen wir gewonnen und verdient zu haben glauben. Das ist für mich eine bittere, für Dich eine heilsame Erfahrung!

Die Stimme bebte ihr, sie stand auf und ging nach dem Nebenzimmer. Davide wollte ihr folgen, indeß sie gab ihr ein Zeichen, zurück zu bleiben, und noch einmal lagerte sich die frühere bange Stille über diese Räume. Daviden's Thränen waren versiegt. Es ging etwas in ihr vor, das sie sich nicht zu erklären wußte, und doch fühlte sie die Veränderung. Es dünkte sie, als sei sie älter geworden, als sei ihr ein Amt zuertheilt, als habe sie eine Pflicht übernommen. Sie dachte mit einer ganz neuen Empfindung, mit einer ihr bis dahin völlig fremden Art von Liebe an die Tante. Sie sorgte sich um dieselbe, sie hätte sie auf ihren Händen tragen mögen wie ein Kind, und doch zog es sie, ihr Abbitte zu leisten und ihre Vergebung zu erhalten. Aber auch dabei blieben ihre Gedanken nicht haften, sie nahmen eine Richtung, in welcher sie sich nie vorher bewegt hatten. Was ist die Tugend, fragte sie sich, wenn die Tante, dieses reinste, dieses edelste der Herzen, eine That begehen konnte, welche die Religion, das Gesetz und die Sitte verdammen? Wie war es möglich, daß ich jemals an ihr irre werden konnte, deren selbstverläugnende Güte mir beständig als ein unerreichbares Vorbild vor Augen schwebte, und wo fand ich den Muth, die Härte, die Undankbarkeit und die Grausamkeit, vor ihr auszusprechen, was, wie ich sicher wußte, sie nothwendig verwunden, doppelt verwunden mußte, da ich es war, die sich gegen sie erhob?

Davide hatte sich bisher in unbefangenem Selbstvertrauen für gut gehalten, sich ohne Bedenken die besten Eigenschaften zuerkannt, weil die übeln Leidenschaften der menschlichen Natur in ihr noch nicht zur Anregung gekommen waren, und erschreckt und[294] gedemüthigt stand sie in dem Augenblicke, in welchem sie sich zum Ankläger ihrer Pflegemutter, ihrer Seba machte, vor sich selber da. Es war der erste Schritt, den sie auf dem schweren Pfade der Selbsterkenntniß machte, der erste Einblick in die Selbstsucht des menschlichen Herzens überhaupt, das erste Mal, daß in ihr die Ahnung auftauchte, wie leicht es sei, nach überkommenen Gesetzen blindlings abzuurtheilen, wie schwer, die Umstände erwägend, das Wesen eines Menschen und seinen Lebensgang zu verstehen und selbst in seinen Irrthümern zu begreifen.

Sie verlangte nach der Wiederkehr der Tante und scheute sich doch, ihr unter die Augen zu treten. So verging eine geraume Zeit, und sie ward der Einsamen lang genug.

Als Seba endlich wieder in das Zimmer trat, war jede Spur von Bewegung aus ihren Mienen verschwunden. Sie gab Davide die Hand, schloß sie, da sie sich an sie lehnte, um ihr Gesicht in den Armen der Tante zu verbergen, sanft an ihre Brust und sagte: Sei weiser und werde glücklicher, als ich; das soll mein Trost, das soll mein Lohn sein, Kind! – Und als die Erschütterte ihr mit neuen Thränen darauf Antwort geben wollte, hinderte Seba sie daran.

Wir müssen gefaßt sein um des lieben Gastes willen, den wir erwarten. Nur so viel für diesen Augenblick, da dein Sinn nach Aufklärung verlangt: Paul ist eines Edelmannes unrechtmäßiger Sohn, und seine Mutter gab sich in der Verzweiflung ihres Herzens selbst den Tod. Ein Zusammentreffen von Umständen brachte ihn früh in meine Nähe, ein anderes Zusammenwirken von Ereignissen bewog ihn, da er dem Knabenalter kaum entwachsen war, aus dem Hause zu entfliehen, in welchem er erzogen wurde. Du hast bereits davon gehört, Du sollst mehr davon erfahren, für heute laß Dir dies genügen.

[295]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Der lang ersehnte Ton des Posthorns ließ sich in dem Augenblicke vernehmen; er klang näher und näher, das Rollen des Wagens, der Hufschlag der Pferde schallten herauf. Seba richtete sich freudig empor.

Komm', rief sie, Davide bei der Hand ergreifend, komm', wir wollen ihm entgegen gehen!

Das junge Mädchen blieb zögernd stehen. Ich kann nicht! sagte es beklommen, und als Seba es mit sanft ermuthigendem Zuspruch mit sich fortzuziehen strebte, machte Davide ihre Hand mit dem klagenden Ausrufe: Ach, ich verdiene es nicht! von Seba los und wollte sich eben durch das Seitenzimmer entfernen, als die Thüre des Wohnzimmers schnell geöffnet ward und, die Wildschur und die pelzverbrämte Mütze von sich werfend, ein großer, schöner Mann in das Zimmer eintrat.

Da bin ich wieder einmal, meine liebe Seba! rief er, indem er sie umfaßte und sie, während er sie küßte, mit den kräftigen Armen ein wenig in die Höhe hob, daß sie sich plötzlich befreiten Herzens in lachender Abwehr dagegen sträubte. Da bin ich wieder einmal und herzlich froh, bei Euch zu sein, denn ich versichere Euch, daß in dieser Kälte der Reisewagen und die russischen Schneefelder lange nicht so behaglich sind, als dieses Zimmer hier. Aber ich sehe den Vater nicht, er ist doch nicht krank? – Und sich umschauend, fügte er hinzu, indem er Daviden die Hand reichte und auch sie flüchtig umarmte: Wie Du in den [296] drei Monaten wieder gewachsen bist, Davide! Du kannst Dir etwas darauf einbilden, Du wirst unserer Seba immer ähnlicher.

Der Ton seiner Stimme hatte jenen frischen Klang, den man nur aus der Brust eines völlig gesunden Mannes ertönen hört und der an und für sich erfreulich und belebend wirkt; aber auch die ganze übrige Erscheinung war ein strahlendes Bild jugendlicher Männlichkeit, und es dünkte dem liebevollen Herzen Seba's, als sei mit seinem bloßen Eintreten Licht und Wärme, als sei Frühling und Sonnenschein in dem Zimmer angebrochen und über sie gekommen. Er war, wie seine früheste Kindheit es hatte voraussehen lassen, das vollständige Ebenbild seines Vaters geworden. Es war dieselbe große, gebieterische Gestalt, es war die breite Brust des Freiherrn. Wie dieser trug er den kräftigen Nacken hoch und stolz, und jeden Zug seines Antlitzes, ja, sogar jene anscheinend zufälligen Mienen, jene kleinen, plötzlichen Geberden, die man gemeinhin als durch die Nachahmung im täglichen Beisammensein sich vom Vater auf den Sohn forterbende Eigenthümlichkeiten zu bezeichnen liebt, hatte Paul mit dem Freiherrn wie eine Stammeseigenschaft gemein, nur daß alle seine Bewegungen freier, schneller, leichter waren, als der Freiherr sie bei seinem frühen Bestreben nach würdevoller Gemessenheit in sich auszubilden im Stande gewesen war.

Seba selber geleitete den lieben Gast in das für ihn bereitete Zimmer; sie ließ es sich nicht nehmen, ihm selbst das Licht vorzutragen, während der Diener sich seines Pelzes und seines übrigen Gepäckes bemächtigte, und abermals schlang Paul voll Zärtlichkeit, während sie neben einander hergingen, seinen Arm um sie und bedeckte ihre Hand mit seinen Küssen. Man konnte es ihnen ansehen, wie sehr sie an einander hingen.

Eine Stunde später saß Paul in dem Cabinette, welches an das Comptoir des Hauses anstieß, mit Herrn Flies und Seba in ernstem Gespräche beisammen. Es war Posttag und in dem [297] Comptoir arbeiteten die Gehülfen noch still und schweigend an ihren Pulten, obschon es später als gewöhnlich war. Die Reitpost, welche zweimal in der Woche den Briefverkehr nach Osten besorgte, ging früh am anderen Morgen ab, und den großen Handlungshäusern, die in dem Postbureau ihre laufenden Rechnungen hatten, war es vergönnt, ihre Briefe noch über die allgemeine Schlußstunde der Briefannahme zur Beförderung auf die Post zu senden.

Paul hatte ein Notizbuch in der Hand, ein Copieheft und eine Anzahl Briefe lagen neben ihm. Er wünschte Herrn Flies Auskunft über die Erfolge einer gemachten Geschäftsreise zu geben, sofern dieselben nicht aus seinen früheren Briefen ersichtlich waren, und Seba hörte schweigend zu, obschon sie einsichtig und unterrichtet genug war, um an dieser Unterhaltung einen lebhaften Antheil zu nehmen, auch wenn es nicht ihr Vater und Paul gewesen wären, welche sie führten. Es freute sie eben so die scharfe Klarheit, mit der ihr Vater alle seine Fragen stellte, als die sichere Bestimmtheit, mit welcher Paul sie beantwortete; denn Sachkundige sich auf einem Gebiete bewegen zu sehen, das sie voll und ganz beherrschen, gewährt an und für sich immer eine Genugthuung, weil es uns, gleichviel von welcher Seite, einen Einblick in das große, aus den verschiedensten Bestandtheilen sich zusammensetzende Getriebe des jedesmaligen Culturzustandes vergönnt, während es uns zugleich – und dieses Letztere genoß Seba in dem Falle mit besonderer Befriedigung – Achtung vor dem menschlichen Wollen und Vollbringen einflößt.

Herr Flies schien wohl zufrieden zu sein mit allem, was der junge Mann berichtete. Paul mußte danach Auskunft über seine Erlebnisse während dieser Abwesenheit geben, und als man endlich von dem Besonderen und Persönlichen zu dem Allgemeinen überging, als man des furchtbaren Druckes gedachte, den die Napoleonische Herrschaft auf ganz Europa ausübte, fragte [298] Seba, wie Paul die Stimmung gegen Napoleon in Rußland gefunden habe.

Paul sah sich vorsichtig um, machte die Thüre, welche nach dem Nebenzimmer führte, noch besonders zu und sagte darauf: Wie wir es nur wünschen können! Der Haß gegen ihn ist dort vollkommen so stark und so feurig, als hier bei uns, und es sind dort Männer, welche die Gluth zu erhalten und zu schüren wissen. Ich habe Briefe des Freiherrn vom Stein an den Staatskanzler mitgebracht.

Du? Und wie kamst Du zu solchen Briefen? fragte Herr Flies.

Paul nannte den Namen eines großen englischen Banquiers, in dessen Hause er den Freiherrn gesehen hatte und ihm vorgestellt worden war. Der Freiherr, sagte er, hat von mir, da ich gerades Weges von Deutschland kam, Auskunft mancher Art verlangt, die ich ihm geben konnte; und als er hörte, daß ich mich von Petersburg eben so geraden Weges hierher begeben würde, hat er mich gefragt, ob ich mich entschließen könne, Briefe von ihm nach Deutschland mitzunehmen.

Und Du? fragte Seba ängstlich, da ein solcher Dienst für jenen Geächteten gefährlich genug war.

Nun, ich habe mich natürlich nicht besonnen, entgegnete Paul; ich war glücklich genug, den Mann zu sehen, stolz darauf, etwas für ihn leisten zu können, und noch heute will ich die Papiere in die Hände des Staatskanzlers überliefern.

Er nahm, während er das sagte, die Pelzmütze, die er auf der Reise getragen, von dem Seitentische, auf dem er sie liegen hatte, zog ein kleines Messer hervor und fing an, den breiten Zobelbesatz, der sie umgab, mit schneller Hand herunter zu trennen und die Briefe, welche unter demselben verborgen gewesen waren, sorgfältig zu glätten.

Welch ein Zustand, rief Seba, in dem die Bewohner eines [299] ganzen Welttheiles unter der Tyrannei eines Einzigen ihres Lebens nicht mehr sicher sind; in dem jede persönliche Freiheit wie die allgemeine Freiheit gleichmäßig bedroht, in dem jede selbstbestimmte That gefährlich wird! –

Bis, fiel Paul ihr in das Wort, und seine großen Augen funkelten in schönem Feuer, bis alle die Einzelnen sich zu einer großen, selbstbestimmten That vereinen, und dieser ersehnte Augenblick wird nicht lange auf sich warten lassen! – Er hatte das mit mehr Lebhaftigkeit gesprochen, als er bisher gezeigt, aber seine Stimme zu leiser, vertraulicher Mittheilung senkend, fuhr er fort: Man erwartet in Rußland den von Napoleon beabsichtigten Angriff mit eiserner, gewaltiger Entschlossenheit, und würde selbst der Kaiser Alexander schwankend, so ist er von Männern umgeben, die ihn um jeden Preis festzuhalten wissen werden. Aber mehr noch als der theoretische Haß gegen die Tyrannei wird die Nothwendigkeit die Völker zwingen, sich gegen dieselbe zu erheben. Wenn man einem Menschen die Lebensadern unterbindet, muß er die Bande sprengen, sofern er nicht ersticken will. Für unsere ideale Ueberzeugung ist unser Vortheil der stärkste Bundesgenosse: der Handel kann die Continentalsperre nicht länger ertragen, das Gewerbe liegt überall darnieder, das Land, durch welches ich gekommen bin, ist, soweit der Krieg es getroffen, furchtbar mitgenommen, und Niemand kann wagen, neue Capitalien, neue Arbeit an seine Herstellung zu wenden, da neuer Krieg am Horizonte dieses Jahres steht. Und eben deßhalb, lieber Vater, habe ich ein Ansuchen an Sie!

Es lag in dem Tone, mit welchem er diese letzten Worte sprach, eine gewisse Bewegung, welche Seba sich nicht gleich zu deuten wußte, aber Paul ließ ihr nicht Zeit, darüber lange nachzusinnen.

Als ich vor drei Jahren nach Europa zurückkam, boten Sie, lieber Vater, mir großmüthig an, mich als Theilnehmer in Ihr Haus aufzunehmen.

[300] Und Du lehntest es ab! bemerkte Herr Flies, ihm in die Rede fallend.

Ich lehnte es ab, entgegnete Paul, weil Sie meiner in keiner Weise nöthig hatten und weil ich zu erproben wünschte, was ich selber für mich thun könnte. – Er hielt ein wenig inne und sagte dann mit einer Bescheidenheit, die seiner stolzen Gestalt sehr wohl anstand: Die Umstände, Sie wissen es, sind mir günstig gewesen. Ich habe mir mit den Mitteln, die ich herüber gebracht, in Hamburg ein eigenes Geschäft, ein eigenes Haus und ein gewisses Vermögen geschaffen. Wollen Sie mir jetzt noch die Möglichkeit gewähren, mich mit diesem Capitale in Ihrem Hause arbeiten zu lassen, so würden Sie mir eine große Gunst erzeigen.

Herr Flies zögerte, zu antworten, aber sein Blick ruhte mit wohlwollendem Nachdenken auf dem jungen Manne.

Du wolltest nicht mit leeren Händen kommen, sagte er.

Mißbilligen Sie das? entgegnete der junge Mann.

Nein, mein Sohn, ich lobe es vielmehr. Jedermann soll und muß erproben, was er sich selber werth ist; aber Du hattest dies bereits gethan, als Du nach Europa wiederkehrtest, und ich kann nicht absehen, was Dich in diesem Augenblicke dazu bestimmt, Deine Geschäfte, die sich sehr gut angelassen haben, aufzulösen, um mit mir zu arbeiten, denn was das Brauchen und Nöthighaben anbetrifft, walten heute genau dieselben Verhältnisse wie vor drei Jahren ob. Ich bin, dem Himmel sei Dank dafür, noch rüstig, und Du kannst immerhin, da Du einmal auf eigenen Füßen zu stehen gewohnt bist, noch eine Weile für Dich allein fortarbeiten. Ich werde Dich rufen, wenn ich Deiner zu bedürfen glaube.

Sie halten mich für selbstloser als ich bin, meinte Paul. Ich bitte um meiner eigenen Sicherheit, um meines Vortheiles willen, jetzt als schweigender Partner bei Ihnen eintreten zu [301] dürfen. Meine Vorräthe sind, Dank der unheilvollen Handelspolitik Napoleon's, über all' mein Erwarten vortheilhaft verwerthet. Die Reise, welche ich eben beendet, hat mir vollauf bewiesen, daß auf dem Landwege kein Ersatz für die gehemmte Einfuhr zur See zu hoffen ist, von dem man sich wesentliche Erfolge versprechen darf, und die Truppenmärsche, die seit Monaten aus dem fernsten Süden und Westen sich langsam gegen Osten bewegen, schneiden vorläufig die letzte Aussicht auf andere als auf solche Unternehmungen ab, welche die Versorgung der Armeen oder den Handel mit der Waare, die jetzt die begehrteste ist, den Handel mit dem Gelde selbst, zur Grundlage haben.

Lieferungen für die Franzosen kannst Du nicht unternehmen! fiel Seba ihm in die Rede.

Gewiß nicht! betheuerte Paul; aber gerade darum möchte ich meine Capitalien frei zur Hand haben, denn die Rüstungen von dieser Seite werden Rüstungen von der anderen hervorrufen, und mehr als das! Es kommt doch hoffentlich der Tag, an welchem wir selber einzustehen haben werden für unser Recht. Ist dann mein Vermögen in Ihren Händen, theuerster Vater, so wird es sicher auf die beste Weise benutzt und angewendet – und ich bin frei!

Seba reichte ihm ihre Hand, er ergriff sie und küßte sie herzlich. Herr Flies war aufgestanden und ging im Zimmer auf und nieder. Er war gewohnt, sich die Dinge von allen Seiten zu betrachten, ehe er seine Meinung aussprach. Während dessen brachte einer der Handlungsgehülfen ihm die Briefe, welche an dem Abende noch abgehen sollten, zur Unterschrift. Er sah sie mit schnellem Blicke durch, unterzeichnete sie, und sich an Paul wendend, nachdem der Gehülfe das Cabinet verlassen hatte, sprach er, an das Unterzeichnen der Briefe denkend: Das wirst Du mir also einmal in Zukunft abnehmen und ich werde auch an den Posttagen mein Whist haben können. Die politischen [302] Ereignisse, für welche Du Deine Freiheit sicher zu stellen wünschest, scheinen mir unwahrscheinlich oder mindestens so sehr in weitem Felde, daß man darauf hin noch keine Plane zu machen braucht; denn wer seine Herrschaft auf so ungeheuren Grundlagen baute, wie Napoleon Bonaparte, den entwurzelt man nicht wieder! fügte er mit jener Bewunderung des Erfolges hinzu, die man bei Kaufleuten häufig antrifft, weil sie leicht dazu verführt werden, ihre eigene persönliche Bedeutung an ihren Erfolgen abzumessen.

Er machte darauf eine kleine Pause und sagte danach: Im Uebrigen aber, abgesehen von allen Deinen politischen Erwartungen und patriotischen Hoffnungen, gefällt mir Dein Vorschlag. Thue immer die nöthigen Schritte zu seiner Ausführung. Wir sprechen mehr davon. Jetzt sieh' zu, daß Du Dich Deiner mitgebrachten Briefe bald entledigst. Es ist spät, der Weg bis zum Palais des Staatskanzlers ist weit, und ich möchte Dich bei Tische haben.

Paul sah nach der Uhr und entfernte sich mit der Zusage, so bald als möglich wieder zurück zu sein. Herr Flies blickte ihm durch die Glasthüre nach, wie er leichten Schrittes durch das Comptoir hinging.

Wie schön er geworden ist! sagte Seba mit einer wahrhaft mütterlichen Zärtlichkeit.

Ja, er ist ein ordentlicher Mensch! bekräftigte der Vater.

[303]
8. Capitel
Achtes Capitel

Es war nahezu Mitternacht, Herr Flies hatte sich zurückgezogen, auch Davide, die sonst gern mit Seba wach blieb, war zur Ruhe gegangen, und diese saß nur noch mit Paul in einsamem Gespräche beisammen.

Sie wollte wissen, wie er den Vater aussehend fände, denn Herr Flies war allgemach in die Jahre gekommen, in denen die sorgsame Liebe ängstlich auf jedes Zeichen von Schwäche oder von der nothwendig beginnenden Abnahme der Kräfte achtet, weil man auf deren Neubelebung nicht mehr zu rechnen hat; aber Paul versicherte ihr, daß er keinen Wechsel weder in ihres Vaters körperlicher Rüstigkeit noch in seiner geistigen Frische und Festigkeit bemerke, und er erinnerte sie daran, daß Herr Flies während des Abendessens von weitgreifenden kaufmännischen Planen gesprochen habe, was man im Greisenalter immer als das beste Zeichen einer gesunden Kraft betrachten müsse, weil ein hinfälliger Mann, im Gefühle seiner Ohnmacht, sich nicht leicht zu solchen Gedanken verleitet fühle. Dagegen meinte er, daß mit Davide eine große Wandlung vorgegangen sei.

Als ich vor vier Monaten hier war, sagte er, dünkte sie mir noch völlig ein Kind zu sein. Ihre unruhige Neugier, ihre oft unbegreifliche Verlegenheit und daneben das oft eben so unbegreifliche Zutrauen, mit dem sie Fragen thun und Erörterungen veranlassen konnte, die sonst Niemand herbeigeführt haben würde, hatten noch etwas völlig Kindisches. Sie hatte für mich nur [304] Bedeutung, weil Du sie liebst, weil sie zu Deinem Lebensglücke gehört; ich für mein Theil hätte sie Tage lang um mich haben können, ohne daß es mich gefreut oder gestört hätte. Heute finde ich plötzlich, daß sie anziehend geworden ist. Ihr Blick ist stätiger, ihre Stimme weicher, und das knabenhaft Herbe, das mir an ihr mißfiel, scheint sich auch verloren zu haben. Sie hat etwas Demüthiges bekommen, etwas Mädchenhaftes, das ihr sehr wohl ansteht.

Seba nickte zustimmend. Du irrst Dich nicht, entgegnete sie, aber diese Wandlung ist der neuesten eine. Sie hat sich heute, eben in diesen Stunden erst vollzogen, und Du hast mehr Antheil daran, als Du es weißt. Was Du für mädchenhafte Demuth hältst, ist ein Schuldbewußtsein, eine Art von Reue, und diese wird vielleicht dazu dienen, die herbe Sprödigkeit in Davidens Wesen, die an und für sich mir immer als ein Zeichen innerer Gesundheit an ihr erschienen ist, zu brechen.

Wie soll ich das verstehen? fragte Paul.

Seba setzte ihm danach auseinander, was vorgegangen war; er hörte ihr achtsam zu und meinte, das junge Mädchen sei in seinem Rechte gewesen, als es Aufklärung über die Verhältnisse gefordert, die ihm auffallend und unverständlich gewesen wären. Es könne sich kein denkendes Wesen zwischen Räthseln wohl befinden, und es gefalle ihm von Daviden, daß sie den Muth gefunden habe, Aufklärung zu fordern.

Seba fragte ihn, was sie ihr über seine Jugend und Vergangenheit sagen solle. Er besann sich eine kleine Weile und meinte sodann, daß es nicht nöthig sei, ihr den Namen seines Vaters zu nennen.

Seba bemerkte, sie sei dazu ohnehin nicht geneigt gewesen, da Renatus jetzt, wie er wisse, öfter in ihrem Hause sei, und sie knüpfte daran das Bedenken, ob es Paul nicht unerwünscht sein würde, den jungen Freiherrn gelegentlich bei ihr zu treffen.

[305] Mir? fragte der Erstere, indem er sie mit einer gewissen Befremdung ansah. Ich wüßte nicht, daß ich die Begegnung mit irgend Jemandem, am wenigsten eine solche mit diesem jungen Manne zu scheuen hätte; und auch ihm, obschon ich nicht die mindeste Ursache habe, auf seine Empfindungen Rücksicht zu nehmen, wird es, wie ich mir denke, sehr gleichgültig sein, mit mir zusammen zu kommen. Ich und er haben nichts mit einander gemein, am wenigsten aber wahrscheinlich in unseren Anschauungen, und wer weiß es, ob er mich überhaupt erkennt oder in wie weit seine Erinnerungen an seine Kindheit und an den Tag, an welchem wir uns gesehen haben, in ihm lebendig geblieben sind?

Es war darüber spät geworden, und die Ermüdung fing an, sich dem jungen Manne fühlbar zu machen, da er seit mehreren Nächten in kein Bett gekommen war. Er küßte Seba's Hand, als er ihr eine Gute Nacht wünschte; sie umarmte ihn wie einen Sohn. Die Aussicht, daß sie künftig an demselben Orte, in demselben Hause leben würden, hatte für Beide einen großen Reiz, und Paul gefiel sich darin, es der älteren Freundin auszumalen, wie er sie hegen und pflegen wolle und wie gut er es neben ihr haben würde. Sie hörte ihm mit stillem, glücklichem Lächeln zu, aber ihr Haupt sorgenvoll wiegend, meinte sie: Was aber liegt noch alles zwischen dieser Stunde und der freudevollen Ruhe, die Du mir versprichst? Es müssen noch Wunder geschehen, ehe wir sie genießen können!

Wunder? Was sind Wunder? rief Paul mit Heiterkeit. Alles ist ein Wunder und nichts ist ein Wunder! Ist's denn nicht auch ein Wunder, daß ich jetzt hier in Deiner Nähe bin – daß ich armer Junge mich auf dem besten Wege befinde, ein reicher Mann zu werden – daß der Stein, den die Bauleute verworfen haben, vielleicht noch einmal zum Eckstein wird?

[306] Die alte Wunde in Dir ist nicht vernarbt! bemerkte Seba warnend.

Vernarbt bis auf die letzte Spur, versicherte der junge Mann, und sie schmerzt bei keinem Wetterwechsel! Bringt mich der Zufall einmal dazu, die Stelle zu betrachten, an der sie sitzt, so sehe ich die Narbe nur, um mich darüber zu freuen, daß ich stark und gesund genug zu solcher Heilung war, daß ich Niemandem dafür zu danken habe, und daß die Einzigen, gegen die ich ein Unrecht begangen, eben Du und Dein Vater sind, die es mir so schön verziehen haben! Gute Nacht, Du Liebe! rief er ihr noch einmal zu, und da sie ein Gefallen daran hatte, sich seinem Rathe unterzuordnen, fragte sie ihn noch einmal, was sie mit Davide machen solle.

Gieb ihr die rothe Brieftasche, meinte er, im Grunde hat es auch Nichts auf sich, wenn sie die ganze Wahrheit weiß, wenn sie den Namen meines Vaters ahnt. Mich dünkt, sie kann den ganzen Inhalt lesen, und geringfügig, wie er ist, wird er ausreichen, sie zwischen uns wieder festzusetzen. Denn fest sitzen und fest stehen, wo man sich befindet, das ist die Hauptsache, wenn man in sich zu etwas kommen soll!

[307]
9. Capitel
Neuntes Capitel

Am andern Morgen arbeiteten Herr Flies und Paul schon zeitig mit einander. Seba fuhr früher aus, als sie pflegte, ohne zu sagen, wohin sie sich begebe, und Davide saß einsam in dem kleinen Stübchen, das man ihr seit ihrem letzten Geburtstage zu alleiniger Benutzung eingeräumt hatte. Sie hielt eine alte, große Brieftasche, deren fahl gewordenes rothes Leder, deren plumpe Form es deutlich zeigten, daß sie geringen Leuten angehört haben mußte und von diesen viel gebraucht worden war, in ihren Händen. Indeß das junge Mädchen blickte darauf wie auf ein Heiligthum hin, und scheu und ehrfurchtsvoll, wie man an ein solches herangeht, öffnete sie dieses alte, ihr anvertraute Familienstück.

Es lagen nur vergilbte Briefe und Documente in der Brieftasche. Der Taufschein eines Hans Christian Mannert, der vor sechsundsiebenzig Jahren geboren worden, der Taufschein einer Louise Maria Wendinn, die um acht Jahre jünger war, und der Trauschein dieser beiden. Dann fand sich ein Taufschein der Pauline Louise Mannert, des Jägers Mannert Tochter, unter deren Taufzeugen sich die gnädige und hochgeborene Frau Baronin Pauline Amanda von Arten-Richten aufgeführt fand, und endlich das Taufzeugniß eines Paul Franz Mannert, der Pauline Mannert unehelich geborenen Sohnes, die alle sammt und sonders in der Kirche zu Neudorf die Taufe empfangen hatten. Daran reihte sich ein Attest, welches die Aufnahme des[308] neunjährigen Paul Mannert in das Gymnasium bescheinigte, eine Anzahl von Schulzeugnissen schloß sich diesem an. Das letzte von diesen war in dem vierzehnten Jahre des Schülers ausgestellt und ein Zeitraum von mehr als fünf Jahren trennte es von dem ersten der in der Mappe vorhandenen Briefe, der nur aus wenig Linien bestand.

Er war mit einer festen kaufmännischen Hand geschrieben, an Mademoiselle Seba Flies nach deren Vaterstadt adressirt und enthielt nichts, als die folgende Anfrage: »Dein früherer Schützling, liebe Seba, den das Andenken an Deine Güte für ihn nie verlassen hat, möchte Dir Kunde von sich geben, wenn Du ihm seine Flucht verzeihen und von ihm hören willst. Es geht ihm sehr wohl, und er hat nichts zu bereuen und zu bedauern, als daß seine Entfernung aus dem Vaterlande, das ihm keine Heimath ist, ihn auch aus Deiner Nähe entfernte. Denkst Du seiner noch, willst Du von ihm hören und ihn sehr erfreuen, so schreibe ihm und sage ihm, wie es Dir, wie es Deinem guten Vater, Deiner Mutter und dem Herrn Kriegsrath geht. Unter dem Namen Paul Tremann treffen ihn alle Briefe, die an das Handlungshaus von Samuell Willway Gebrüder, New-York, gerichtet werden.«

Ein zweiter, offenbar als Entgegnung auf Seba's Antwort geschriebener Brief schilderte Paul's Erlebnisse seit seiner Flucht.

»Ich weiß es Dir nicht auszusprechen,« hieß es in demselben, »meine theure, geliebte Seba, wie mir zu Muthe war, als ich vor zwei Tagen Deinen Brief in meinen Händen hielt! Ein ganz neues Gefühl ist über mich gekommen, ich habe Heimweh empfunden, Heimweh nach Dir, die Du das Einzige bist, was mich an Europa und an meine sogenannte Heimath fesselt! Der Gedanke, daß Du gestorben sein könntest, daß ich Dich nicht wiedersehen würde, hat mich oft gequält, und ich kann daran ermessen, wie schwer der Tod Deiner Mutter auf Dich und auf Deinen Vater eingewirkt haben muß! Ich möchte da [309] gewesen sein, Dich zu trösten, ich möchte überhaupt bei Dir sein können, um Dir Freude zu machen, Dir eine Stütze zu werden, wenn einmal auch Dein Vater hingehen wird – und während ich das schreibe, sage ich mir, es werde Dich dies anmaßlich und befremdlich dünken, da ich in Deiner Erinnerung nur als ein Knabe lebe, der sich selber nicht zu helfen wußte, bis eine gewaltsame Empfindung ihn zu einem gewaltsamen Entschlusse brachte.

Da Du mich nicht vergessen hast, wirst Du Dich auch erinnern, wie der Gedanke, meinen Vater in mei ner Nähe zu wissen, mich bewegte. Ich hatte im Herzen ein Bild von ihm bewahrt, ich dachte an ihn wie an den schönsten Mann, ich wußte, daß er mich geliebt, daß ich auf seinen Knieen gesessen, daß er mich geküßt hatte, daß er mir freundlich gewesen war.

Im täglichen Leben fiel mir das nur selten ein, aber seit ich älter geworden war, träumte ich bisweilen davon, und ich hegte damals noch die Zuversicht, daß meine Träume sich doch einmal verwirklichen müßten. Es war meine Märchenwelt, und mein Vater war es, der sie beherrschte.

Als ich dann plötzlich erfuhr, daß mein Vater in der Stadt sei, ließ es mir keine Ruhe. Ich hatte ein Verlangen, zu ihm zu gehen, bei ihm zu sein, aber die Furcht, nicht wohl empfangen oder gar abgewiesen zu werden, hielt mich von der Ausführung meiner Wünsche zurück, und in mein Planen und einsames Sinnen fiel, wie ein vernichtender Wetterstrahl, die eilige und harte Erklärung der Kriegsräthin, daß mein Vater sich meines Daseins schäme, daß meine Geburt mich mit unauslöschlicher Schande brandmarke, daß ich es als ein Glück und eine Gnade anzusehen hätte, wenn eine andere Familie, wenn sie und der Kriegsrath sich entschlössen, mit ihrem Namen die Schande meiner Abkunft großmüthig zu verdecken.

Ich müßte viel Zeit darauf verwenden, wollte ich Dir [310] deutlich machen, was in der Einen Nacht in mei nem Innern vorging und was ich in mir erlebte, als am nächsten Tage mein Vater, den ich mit klopfendem Herzen wiedersah und der mich auch erkannte, sein Auge von mir wendete, da ich ihm im Laden gegenüber stand.

Ich konnte nicht bleiben! Wie sollte ich, so rief es immerfort in mir, einem andern Menschen frei unter das Auge treten, da meines Vaters Auge sich von mir abgewendet hatte? Ich fürchtete, ich scheute mich vor Jedem, der mich kannte, die Scham trieb mich von dannen.

Ich lief nach dem Hafen hinaus. Ich war stets gern im Hafen gewesen, das Kommen und Gehen der Schiffe, die Namen der Orte, von denen sie kamen, hatten mich oft beschäftigt, meine Gedanken oft in die weite Ferne gelockt; aber als ich an dem Bollwerke des Ufers auf und nieder ging, ohne zu wissen, wohin ich mich wenden sollte, gewann das Wasser selbst eine Gewalt über mich. Es zog mich an. Ich dachte, so müsse es meiner Mutter auch gewesen sein und ich müsse es machen wie sie, als auch ihr das Leben und die Schande zu viel und zu schwer geworden waren. Ich stellte mir mit Vergnügen vor, wie die Kriegsräthin, die mir so weh gethan hatte, erschrecken würde, wenn man ihr meine Leiche brächte; ich hoffte, auch meinem Vater werde es Kummer machen und Reue einflößen, und so voll Bitterkeit und Haß war meine Seele, daß ich Deiner kaum dabei gedachte. Ich wollte mir das Leben nehmen, um der Schande los zu werden und mich an denen zu rächen, die mir alle diese Qual bereitet hatten.

So ging ich immer weiter, bis ich zur Stadt hinaus und an den letzten Ladeplatz des Außenhafens gelangt war, an welchem die Schiffe den Ballast einzunehmen pflegen. Ich hatte dort oft gespielt. Den Tag über trieb ich mich in den Dünenhügeln umher. Ich wollte für meine That den Abend abwarten, [311] wenn es einsam und still am Strande geworden sein würde und Niemand mir zu Hülfe kommen könnte; aber als der Abend kam, als das helle Blau des Wassers dunkel zu werden begann, als die Nacht sich darüber ausbreitete, graute mir vor dem Wasser und vor dem Tode. Ich war sehr müde, das machte mich zu meinem Glücke verzagt; indeß nicht umzukehren blieb ich doch entschlossen, und ich war jetzt auch auf einen andern Ausweg verfallen.

An der Landungsbrücke lag eine amerikanische Brigg. Ich hatte gesehen, daß sie zum Auslaufen bereit war, hatte die Arbeiter sagen hören, daß sie am nächsten Morgen absegeln würde. Darauf gründete ich meinen Plan und meine Hoffnung. Beim Tagesgrauen brachte ein Bursche noch einen Korb voll frischen Brodes nach dem Schiffe. Er hatte offenbar noch andere Schiffe zu versorgen, denn er war sehr beladen, ließ mir einige Brödchen ab und war es gern zufrieden, daß ich ihm bei dem Tragen half. So kam ich auf das Deck, als man schon die Anker lichtete, und in der Eile und der Hast der Arbeit ward man es nicht gewahr, daß ich nicht, wie jener Bursche, das Schiff verließ, sondern mich die Treppe hinabstahl und in einem der untersten Räume eine Zuflucht suchte.

Nie wieder habe ich ein solches Gefühl von Zufriedenheit, von Glück und von Freiheit gehabt, als in dem Augenblicke, da die Anker völlig aufgewunden, das Boot, das uns hinaus bugsiren sollte, niedergelassen worden war, und als dann endlich der frische Wind, der in unsere Segel blies, uns vorwärts trieb. Ich hatte Mühe, unten in der Finsterniß des Raumes auszuhalten. Ich wünschte es zu sehen, wie wir die Stadt verließen, mich zu überzeugen, daß wir sie nicht mehr sehen konnten; aber die Besorgniß, daß man mich zurückschicken könne, wenn wir einem einlaufenden Schiffe begegneten, hielt mich in meinem Versteck gefangen, bis spät am Tage der immer lebhafter werdende [312] Durst und das neugierige Verlangen nach der Entscheidung meines Schicksals mir den Muth gaben, mich hinauf zu wagen.

Während ich mich in diesem Augenblicke zum ersten Male im Zusammenhange jenes Tages und meiner Erlebnisse erinnere, fällt mir die Zeit ein, in welcher ich mit Dir den Robinson, und jene spätere Zeit, kurz vor meiner Flucht, in welcher wir den Don Quixote gelesen haben. Es hat eben Jeder von uns einen Zug zum Abenteuerlichen in seiner Seele, und darauf gründet sich wohl auch die ewige Wirksamkeit jener Bücher, die uns zum Vorbilde und zum Spiegel werden, wie die Ritterbücher dem guten Helden von der Mancha.

Ich hatte mir es in meinem Verstecke reiflich ausgemalt, wie der Capitän mich empfangen, was ich ihm sagen würde. Einen ganzen kleinen Roman hatte ich mir ausgedacht; nur Eines hatte ich übersehen, daß ich des Englischen nicht mächtig war, und als ich dann auf das Verdeck kam, als man mich mit Erstaunen gewahrte, als der Capitän und die Matrosen mit Fragen auf mich einstürmten, die ich nicht verstand, bis der zweite Steuermann, ein Deutsch-Amerikaner, herbeigerufen ward, mich zu vernehmen, da sagte ich von allem, was ich mir zu sagen vorgenommen, nicht ein einziges Wort, sondern die nackte Wahrheit, und mit dieser fand ich Glauben, weil sie über die gewöhnlichen Erfindungen eines Knaben weit hinaus lag. Nur meinen Namen suchte ich zu verbergen. Ich nannte mich, seine Buchstaben umstellend, wie wir es spielend oft gethan: Tremann.

Ich weiß nicht, was geschehen wäre, hätte sich an dem Tage dem Capitän die Möglichkeit gezeigt, mich zu entfernen. Aber der starke Ostwind, der uns begünstigte, hielt die nach unserer Heimath bestimmten Schiffe von unserem Curse völlig fern, und einmal im großen Ocean, hatte Niemand mehr ein Interesse daran, an die Rücksendung eines Jungen zu denken, an [313] dessen Gegenwart Alle sich schnell gewöhnten, und der, wenn man ihn nur bleiben ließ, sich Jedem zu jedem Dienste willig zeigte.

Als wir an dem Orte unserer Bestimmung landeten, war es bei meinem Beschützer, als welcher der Unter-Steuermann sich von Anfang an gezeigt, beschlossene Sache, daß ich bei ihm bleiben solle. Seine Frau betrieb einen kleinen Handel in New-York mit allerlei Waaren, die er von seinen Reisen importirte, und wie unvollkommen meine Kenntnisse nach allen Seiten damals auch noch waren, hatte ich vor meinem Steuermanne und seiner Frau doch in dieser Beziehung einen großen Vorsprung. Ich wußte, wie sie es nannten, mit der Feder gut Bescheid, ich konnte, Dank Deiner Nachhülfe, leidlich Französisch sprechen, und ich war also vollkommen geeignet, in dem kleinen Laden im Hafen mit meinen Kenntnissen mich nützlich zu machen, da ich während der Reise das Englische einigermaßen zu verstehen und zu sprechen begonnen hatte.

Einmal an Ort und Stelle, erging es mir wie Jedem, der schwimmen muß, wenn er nicht ertrinken will. Nothwendigkeit und Lebenslust hielten mich über Wasser. Anfangs beunruhigte mich bisweilen noch die thörichte Besorgniß, daß man Nachfrage nach mir anstellen, mich entdecken, mich zurückführen könne; indeß ich blieb unangefochten, und das war alles, dessen ich bedurfte, obgleich der Weg vom Ladendiener eines kleinen Krames im Hafen bis zum Geschäftsführer von Samuell Willway Gebrüder nicht eben leicht, nicht eben glatt gewesen ist.

Ich habe manche Stunde gehabt, in welcher ich an Dich und an Dein Zimmer, an Deine Eltern und an die guten Tage bei Euch zurückgedacht habe, denn es ist mancherlei Elend und Noth an mich herangekommen; aber es hat keine Stunde gegeben, in der ich es bereut hätte, mich auf die eigenen Füße gestellt, mich auf die eigene Kraft verlassen und danach gestrebt zu haben, mir einen eigenen Namen zu machen, da meine Geburt und mein [314] Vater mir den Namen versagt haben, auf den ich angewiesen war. Es klingt für Unsereinen, den die Bande der Familienliebe nicht umfangen und befangen, wunderlich genug, daß man die nicht in der kirchlich und staatlich anerkannten Ehe erzeugten Kinder natürliche Kinder nennt, und grade ihnen den natürlichen Anspruch auf den Namen ihres Vaters aberkennt. Aber ich beschwere mich darüber nicht, denn es ist ein Sporn für mich gewesen.

Noch bedeutet der Name Tremann nichts, doch brauche ich mich seiner nicht zu schämen. Ich bin dem Hause, dem ich diene, etwas werth, man hat Zutrauen zu mir, meine Collegen schätzen mich, und ich suche in meiner Bildung nachzuholen, was ich durch meine Flucht eingebüßt habe. Wird mir, wie ich hoffe, der Auftrag zu Theil, mit welchem unser Haus einen seiner Leute nach Europa zu senden beabsichtigt, so komme ich wieder in Deine Nähe und will danach trachten, daß ich Dir nicht Schande mache; denn Du und Dein Vater, Ihr seid die Einzigen, denen ich mich für die Liebe verantwortlich fühle, welche Ihr dem fremden Knaben in Eurer Großmuth zugewendet habt. Dir danke ich die Neigung, mich zu unterrichten, Deinem Vater die Vorliebe für den Beruf, den ich erwählt habe, und der Tag soll sicherlich nicht ausbleiben, an welchem der Name Tremann an den Börsen einen so guten Klang wie der seine und mein Wort eine Geltung haben soll.«

Er erkundigte sich weiterhin nach dem Ergehen der wenigen Personen, deren Andenken ihm aus seiner Kindheit lebendig geblieben war, meldete, daß er seit einem Jahr seine ersten Ersparnisse habe machen können, und gab Seba Auskunft über dasjenige, was er für seine Bildung gethan habe, wie über das, was ihm fehle, und was er noch zu erreichen wünsche. Der Ton der schlichten Wahrhaftigkeit wie die Liebe und Dankbarkeit für Seba bildeten eine schöne Grundlage für das starke Selbstgefühl des Schreibers, und diese Empfindungsweise blieb sich in der [315] ganzen Reihe von Briefen gleich, welche von da ab einander in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen folgten. Er zeigte in denselben seinen Freunden seine nun wirklich bevorstehende Reise nach Europa an, berichtete über die Vortheile, welche ihm aus derselben erwachsen würden, und von Stufe zu Stufe sich erhebend, gaben diese Briefe das Bild eines Mannes, der, muthig und von Hindernissen nicht erschreckt, mit hellem Blicke ein festes Ziel im Auge, seinen Weg zu suchen und zu finden weiß.

Die Verbindungen des großen amerikanischen Hauses, dem er gedient hatte, die Empfehlungen und der Credit des Flies'schen Hauses, selbst Seba's gesellige Bekanntschaft und ihre Freundschaft mit den bedeutendsten Personen der Residenz waren dem jungen Manne in hohem Grade zu Statten gekommen. Um aber von solchen fremden Errungenschaften Vortheile ziehen zu können, muß man die Fähigkeit und die Kraft haben, sie sich anzueignen und in sich zu verarbeiten; denn wer ererbten oder ihm zufällig durch Schicksalsgunst zugewendeten Besitz nicht zu einem Fußgestell für sich zu machen und sich darauf emporzuschwingen weiß, dem wird er zu einer Last, die er auf seinen Schultern tragen muß und die ihn niederdrückt. –

Davide las den ganzen Morgen hindurch. Wenn sie die Briefe beendet zu haben glaubte, stieß ihr immer wieder ein neuer Zweifel auf. Es blieb so Vieles ungesagt, was sie zu hören wünschte. Sie bewunderte Paul, daß er so wenig von seinen einzelnen Erlebnissen berichtete, und sie war ihm doch böse darum denn sie hätte Alles wissen, über jeden Tag und jede Stunde, über jeden Kummer, den er getragen hatte, und über jede Freude, die ihm zu Theil geworden war, genaue Kunde haben mögen. Sie forschte in den Briefen nach, ob denn von ihr gar nicht darin die Rede sei; aber heute verargte sie es der Tante zum ersten Male nicht, daß sie Paul, daß sie den tapfern Paul so vorzugsweise liebte.

[316]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Die Auflösung von Paul's kaufmännischem Geschäfte, die Uebertragung seines Vermögens in das Flies'sche Haus wurden augenblicklich in Angriff genommen, nachdem man über die Art und Weise, in welcher jene Auflösung erfolgen, wie über die Bedingungen einig geworden war, unter denen Paul in das Flies'sche Haus eintreten konnte, ohne die Verhältnisse zu seinen früheren Chefs, mit denen er noch für verschiedene gemeinsame Unternehmungen verbunden war, unzweckmäßig lösen zu müssen.

Er war dadurch zu mannigfachen Reisen genöthigt, und sein Kommen und Gehen bildeten für Seba die Abschnitte, an welchen sie in dem ohnehin durch die äußeren Ereignisse viel bewegten Winter die Zeit abmaß. Sie hatte ihm in den Räumen, welche zwischen dem Comptoir und dem Gartensaale gelegen waren, eine Wohnung eingerichtet, weil alle freien Zimmer des oberen Geschosses bereits wieder von einer französischen Einquartierung eingenommen waren, und da man diese Letztere nicht wohl von der Geselligkeit des Hauses fern halten konnte, hatte man sich gewöhnt, mit denjenigen Personen, mit denen man vertraulich zu verkehren wünschte, vor der Gesellschaftsstunde in Seba's kleinem Cabinette zusammen zu kommen, zu welchem sie sonst Anderen den Zutritt nicht gern gestattet hatte.

Draußen heulte der Wind und trieb den Schnee in wildem Wirbel durch die mit Glatteis bedeckten Straßen. Das Frühjahr begann mit argen Stürmen. Herr Flies war mit Davide [317] in das Opernhaus gefahren, in welchem man, dem Geschmacke der Franzosen nachgebend, eine neue Cherubini'sche Oper aufführte, und er hatte sich, gern oder ungern, die Begleitung des Herrn von Castigni gefallen lassen müssen, der sich seit einigen Tagen unter dem Vorwande, dem dort wohnenden General beigegeben zu sein, in das Flies'sche Haus einquartieren zu lassen gewußt hatte.

Am Morgen war Paul wieder einmal angekommen. Nun brannte in seinem Zimmer Licht, und trotz des Wetters Ungunst hatte er die Laden desselben nicht geschlossen. Der helle Lichtschein fiel auf die einsamen Wege des Gartens hinaus, welche der alte Gärtner, der schon zu Fräulein Esther's Zeiten im Dienste gestanden hatte, in diesem Winter täglich säuberte und fegte, weil, wie er sagte, Mamsell Seba ihren freien Gang nach dem Monumente doch auch im Winter haben sollte. Aber es war nicht Seba, es war überhaupt kein Frauenzimmer, das in der vorgerückten Abendstunde unten am Wasser durch die Seitenthüre in den Garten eintrat und sich unter dem Schatten der Gartenmauer mit raschem Schritte dem Hause näherte.

Der Gärtner, der ihn eingelassen, hatte sich gleich darauf entfernt. Der Kommende mußte jedoch von Paul erwartet worden sein, denn die Thüre des Gartensaales ward von innen geöffnet, als Jener sich demselben nahte, und gleich darauf wurden die Laden in Pauls Stube zugemacht.

Der Fremde war ein Mann in gewählter bürgerlicher Kleidung. Er warf den weiten Mantel, der seine ganze Gestalt verhüllte, von seinen Schultern, schüttelte Paul die Hand und sagte, während er ein Packet Briefe aus seiner Brusttasche hervorzog: Nehmen Sie das vor allen Dingen! Es ist vermuthlich das letzte Mal, daß wir Sie bemühen!

Wie das? fragte Paul überrascht.

Man ist auf Sie aufmerksam geworden, glaubt Sie um [318] Ihrer amerikanischen Verbindungen und Ihrer wiederholten Reisen nach Rußland willen auch mit England in Geschäftsverbindung, hegt die Vermuthung, daß Sie dem über Rußland gehenden englischen Schleichhandel nicht fremd sind, und die geflissentlich vermittelte Einquartierung des Barons von Castigni in das Flies'sche Haus gilt wesentlich Ihnen. Es dürfte also nicht mehr gerathen sein, Ihrer Gefälligkeit die Briefe anzuvertrauen, die man gegenwärtig unter kaufmännischen Adressen freilich am sichersten befördert. Indeß wenn Sie sich der Besorgung dieses Mal noch unterziehen wollten, so würden Sie uns sehr verbinden!

Paul hatte dem Redenden achtsam zugehört; dann sagte er: Ich danke Ihnen für die Warnung, die ich durch Sie erhalte. Sie kommt mir nicht unerwartet, denn Mademoiselle Flies hatte mir schon Aehnliches mitgetheilt. Daß ich mit dem Schleichhandel nichts zu thun habe, brauche ich Ihnen nicht zu versichern, obschon gegen die rohe Gewalt mir jedes Mittel erlaubt dünkt. Hätte ich die Möglichkeit gesehen, eine große, regelmäßige Einfuhr überseeischer Produkte über Rußland zu bewerkstelligen, so würde ich sie benutzt haben; der Schleichhandel aber leistet dem Lande keinen wesentlichen Dienst und seine Gefahr steht für den Unternehmer außer allem Vergleiche mit seinem wahrscheinlichen Gewinne, während er das Leben elender, armer Leute auf das Spiel setzt, die er obenein entsittlicht und verwildert. Von der Seite also habe ich nichts zu fürchten. Es sind reine Geldgeschäfte, die ich in Rußland habe, und die mich auch in den nächsten Tagen wieder dorthin führen werden.

Wissen Sie, daß Napoleon jetzt die Zustimmung zu einer Versammlung in Dresden erhalten hat, in welcher alle unsere Monarchen wie zu seiner persönlichen Huldigung erscheinen werden?

Nein, entgegnete Paul, ich wußte das nicht. Ich habe in den französischen Zeitungen nur von dem schönen Familienleben [319] des Kaisers und von dem Frieden gelesen, den er ersehnt, um die Welt nach seinen großen Planen zu beglücken! fügte er spöttisch dazu.

Und ganz Europa steht auf seinen Befehl jetzt unter Waffen, sagte der Andere. Zweimalhunderttausend Deutsche, die ausziehen, um sich als Nation selber vernichten zu helfen! Unsere Lage ist furchtbar! Wir gestatten dem ganzen französischen Heere den Durchzug; vor den Thoren der Residenz ist unsere Festung den Franzosen übergeben. Die Residenz des Königs steht unter französischem Commando, zwanzigtausend Mann ziehen mit ihnen gegen Rußland – es ist einer völligen Unterwerfung unter die Tyrannei dieses Corsen gleich! Es ist schlimmer, weit schlimmer, als alles, was wir achtzehnhundertsechs und sieben erlitten, denn wir thun anscheinend freiwillig, was wir damals unter dem Zwange der Nothwendigkeit ertrugen. Damals verließ der König seine Hauptstadt, jetzt ist sie auch in Feindes Hand, und der König selber wird gehen, unsern Unterdrücker in Dresden zu begrüßen! – Er ging ein paar Mal in dem Zimmer auf und nieder; dabei verriethen seine Haltung und sein Gang den Soldaten. Paul betrachtete die Briefe, welche jener ihm ausgehändigt hatte. Plötzlich blieb der Fremde vor ihm stehen.

Wann denken Sie abzureisen? fragte er.

In zwei, drei Tagen spätestens.

Pflegten Sie allein zu reisen?

Ich habe das letzte Mal einen Diener mit mir gehabt.

Und jetzt?

Ich beabsichtige, ihn wieder mit mir zu nehmen.

Würden Sie Sich meine Bedienung statt der seinen gefallen lassen? forschte der Fremde, während ein Lächeln um seine Lippen spielte.

Sie wollen in russische Dienste treten?

Ich halte es hier nicht aus! rief der Andere. Seit unser [320] Regiment aufgelöst ward, seit die Schmach dieser Zeit auf uns lastet, habe ich keinen freien Athemzug mehr gethan. Was hilft es mir, daß ich in dem Bureau des Staatskanzlers beschäftigt werde, daß er selbst mich gütig damit vertröstet, ich könne auch als Beamter meinem Vaterlande nützlich werden? Wozu haben alle diese Schreibereien und Verhandlungen geführt, als uns noch tiefer hinabzudrücken? Nur Eines hilft uns, nur Eines rettet uns – der freie, offene Kampf!

Er unterbrach sich und fragte: Warum schweigen Sie, Tremann?

Weil Sie ohnehin wissen, lieber Werben, daß ich Ihre Ansicht theile; mich dünkt, wir haben uns darüber ausgesprochen, als ich zum ersten Male Sr. Excellenz die Briefe überbrachte, die man mir für ihn in Petersburg gegeben hatte.

An dreihundert unserer Officiere, nahm jener wieder das Wort, sind allmählich nach Oesterreich und Rußland gegangen. Mein Vater kann mir, das fühle ich, in seiner Stellung die Erlaubniß dazu nicht geben, so wenig er mich aufrichtig tadeln kann, wenn ich ohne dieselbe meiner Ueberzeugung folge. Willigen Sie in meinen Plan, so sende ich morgen Ihren Diener mit einer Botschaft zu meiner Mutter, die ihn auf dem Gute behalten soll, bis Sie ihn zurückverlangen, und Sie bringen mich an seiner Statt über die Grenze nach Rußland hinüber.

Das kann geschehen, sagte Paul nach kurzer Ueberlegung.

Und Sie selbst, Tremann, Sie, der Sie doch jenseit des Oceans freie Luft geathmet haben, der Sie frei und durch nichts gebunden sind, denken Sie wieder in diese Kerkerluft zurückzukehren, freiwillig noch länger in der Knechtschaft zu verharren, in welcher fast ganz Europa schmachtet?

Ich bin nicht frei; ich habe mit meiner Person für fremdes, mir anvertrautes Gut zu stehen und mein Vermögen zu bewahren, [321] auf dem meine persönliche Unabhängigkeit beruht, entgegnete Paul. Aber alle Schritte sind gethan, mich von den Verpflichtungen zu lösen, mit denen ich Anderen verhaftet bin, und ich hoffe, zu rechter Zeit über mich verfügen zu können.

Er stand mit den Worten auf, ging an seinen Schreibtisch, schrieb in mehrere einzelne Blätter immer nur wenige Worte und benutzte diese Blätter zu Umschlägen über die Briefe, welche Herr von Werben ihm ausgehändigt hatte. Dann adressirte er sie nach verschiedenen Orten und wollte dem Comptoirdiener schellen, der sie fortbringen sollte; aber er besann sich eines Anderen.

Kommen Sie zu Seba hinauf? fragte er.

Nein; ich glaube, es ist gerathener, wenn ich's unterlasse, da Sie nun den Freunden mittheilen können, was Sie von mir gehört haben. Nur daß ich mit Ihnen gehe, lassen Sie nicht verlauten. Nichtwissen macht unverantwortlich.

So will ich Sie gleich nach dem Gartensaale führen, antwortete Paul, und die Briefe danach selbst zur Post besorgen. Es weiß dann außer dem Gärtner, auf den man sich unbedingt verlassen kann, Niemand, daß ich einen Besuch gehabt habe – und unter Aufsicht halten die Schildwachen und die Dienerschaft des Generals uns jetzt, wie ich glaube, in der That.

Der Hauptmann wickelte sich wieder in seinen Mantel ein, Paul geleitete ihn durch das Nebenzimmer bis an die Thüre des Gartensaales. Sie schüttelten einander herzlich die Hand, und Jener verließ das Haus und den Garten auf dem Wege, den er gekommen war.

Als Paul dann nach seinem Gange in die Stadt in Seba's Cabinet trat, fand er einen kleinen Kreis von Männern und Frauen, unter ihnen die Gräfin Rhoden, bei ihr versammelt. Man hatte sich, seit die patriotischen Vorlesungen vor Männern und Frauen gehalten worden, in denen Seba auch mit der Gräfin Rhoden bekannt geworden war, an bestimmten Abenden [322] im Flies'schen Hause vereinigt, um sich im gemeinsamen Lesen und in Besprechung des Gehörten aufzuerbauen; aber die Versuche der Franzosen und anderer nicht vertrauten Personen, sich in diesen Kreis Eingang zu verschaffen, nöthigten die Theilnehmer, sich gegenwärtig der regelmäßigen Zusammenkünfte zu enthalten und sich mit gelegentlichen Verabredungen zu behelfen.

Paul war den Freunden bereits bei einer seiner früheren Anwesenheiten in der Residenz zugeführt worden, und seit er nach jener ersten russischen Reise mit Briefen des Freiherrn von Stein an den Staatskanzler betraut worden war, hatte das Zutrauen des Kreises zu ihm und seiner Tüchtigkeit sich gesteigert, so daß er einer über seine Jahre großen Geltung in demselben genoß. Die anwesenden Männer empfingen ihn mit freundlichem Handschlage, die Frauen hießen ihn willkommen, nur die Gräfin Rhoden, die er früher noch nicht gesehen, weil Krankheit sie längere Zeit zurückgehalten hatte, schien von seinem Anblicke befremdet zu werden, und unwillkürlich blieben ihre Blicke auf ihn geheftet, als er sich nach geschehener Vorstellung von ihr zu den ihm bekannten Personen wendete.

Ein Beamter aus dem Kriegs-Ministerium, welcher schon früher angekommen war, hatte die Nachricht von dem Dresdener Congresse, die Paul als Neuigkeit mitbrachte, bereits vor ihm verkündet, und die Trauer über diese Kunde war unverkennbar. Man beklagte den König, man fand einen Trost darin, daß der Kaiser von Oesterreich sich zu dergleichen Anerkennung und Huldigung habe herbeilassen müssen, und bedauerte das Loos derjenigen preußischen Truppen, welche bestimmt waren, den feindlichen Eroberer auf seinem Zuge nach Rußland zu begleiten. Fast jeder der Anwesenden hatte einen oder den anderen Bekannten in diesen Regimentern, und die Gräfin erwähnte, wie bitter ihr junger Vetter, der Lieutenant von Arten, dies Schicksal finde.

So soll er sich vor demselben wahren! meinte Paul.

[323] »Wenn er Das könnte!« seufzte die Gräfin.

Er brauchte ja nur seinen Abschied zu nehmen, als man das neue Bündniß zur Reife kommen sah, das Preußen zu seiner Selbstvernichtung eingegangen ist.

Während er diese Worte aussprach, klopfte es an die Thüre, und ohne von dem Diener gemeldet zu werden, der es wußte, welchen Personen er den Zutritt gestatten durfte, trat der junge Freiherr in das Cabinet.

Sie kommen eben recht, lieber Renatus, rief ihm die Gräfin freundlich entgegen, sich wider einen Angriff zu vertheidigen!

Einen Angriff? wiederholte der Lieutenant, indem er mit einem Blicke umhersah, der es aussprach, daß er dergleichen nicht gewohnt sei. Und darf ich fragen, wer mich in meiner Abwesenheit anzugreifen für nothwendig hielt?

Seba hatte eine leise Bewegung bei dem lange und von ihr mit peinlicher Besorgniß erwarteten Zusammentreffen der beiden jungen Männer nicht verbergen können, und die Art und Weise, in welcher es sich jetzt gestaltete, war nicht geeignet, sie zu beruhigen; denn Paul erhob sich und sagte mit der ihm eigenthümlichen, festen Bestimmtheit: Ich, Herr von Arten, habe Sie nach der Meinung der Frau Gräfin angegriffen, obschon meine geäußerte Ansicht sich nicht auf Sie allein, sondern auf alle diejenigen Herren Officiere bezog, welche widerwillig den Fahnen des corsicanischen Tyrannen folgen.

Es war nothwendig, die beiden jungen Männer, die, noch ehe sie sich kannten, feindlich zusammenstießen, einander vorzustellen. Und als Paul sich zu der geforderten Begrüßung abermals von seinem Platze erhob und sie nun aufrecht vor einander standen, fiel die große Verschiedenheit in ihrem Aeußeren den sämmtlichen Anwesenden auf. Paul überragte den feingebauten, schlanken Renatus um eines Kopfes Höhe, und seine breitbrustige Gestalt wie die Kraft der Jahre, welche er vor [324] Renatus voraus hatte, ließen diesen in seiner knappen Uniform neben dem nach englischer Mode bequem und los gekleideten Bürger fast schwächlich erscheinen. Dazu erging es dem Freiherrn wie es der Gräfin ergangen war, Paul's Aehnlichkeit mit seinem Vater, die namentlich im Klange der Stimme eine vollständige war, verwirrte ihn, und von der plötzlich in ihm aufsteigenden Erinnerung an sein einstiges, in der Knabenzeit erfolgtes Zusammentreffen mit diesem Manne unwillkürlich ergriffen, sagte er kurz und trocken: So habe ich als ein Mitglied des Officiercorps wohl ein Recht, Sie um die Wiederholung jener Meinung oder Ansicht zu ersuchen.

Ich stehe mit Vergnügen zu Diensten, entgegnete Paul. Ich war der Meinung, daß es die Pflicht jedes preußischen Officiers gewesen sein würde, zur Zeit des neuen französischen Bündnisses seinen Abschied zu nehmen, wenn er die tyrannische Fremdherrschaft verachtet.

Den Abschied im Beginne eines Krieges zu begehren, gestattet die militärische Ehre nicht, und uns dem Befehle unseres Königs zu widersetzen, verbietet uns sowohl der Eid, den wir geschworen haben, als unsere angeborene Unterthanenpflicht! antwortete Renatus mit jener hochfahrenden Sicherheit, die immer hervor trat, wo er die Vorrechte seiner Kaste und seines Standes angegriffen glaubte.

Paul verneigte sich, als lasse er diese Gründe gelten, und die kräftigen Lippen stolz aufwerfend, sprach er: So hat die Frau Gräfin unbedenklich Recht, wenn sie das Loos der preußischen Officiere bedauert, und ich habe mich glücklich zu preisen, daß ich, als ein Bürger des freien Amerika, keinem Herrn einen Eid geschworen habe und keinen anderen Ehrengesetzen als denen meiner Ueberzeugung nachzuleben brauche.

Seba und die Gräfin versuchten, sich in das Mittel zu legen; die gute und schöne Stimmung, welche in diesem auf [325] das erhabene Ziel der Selbsterziehung und der Veredlung gestellten Kreise herrschte, kam ihnen dabei zu Hülfe. Die älteren Männer traten ausgleichend zwischen die Streitenden, und Paul war auch bald bereit, sein Verhalten gegen den jungen Officier als ein Unrecht anzuerkennen. Er gestand ein, daß man die obwaltenden Verhältnisse nicht aus den Augen setzen dürfe, daß nicht Jeder sich in der unabhängigen Lage wie er befände, und als er sah, wie schwer es Renatus fiel, seine Gereiztheit zu besiegen und zu einem Gleichmaße zu gelangen, bemächtigte sich seiner jene Reue des Mitleids, die sich einen Vorwurf daraus macht, seine überlegene Kraft gegen einen schwächeren Gegner angewendet zu haben. Aber die Unterhaltung kam nicht wieder in den gewohnten Fluß; man nahm also zu gemeinsamem Lesen seine Zuflucht, und auch hierbei traten die beiden jungen Männer einander bald wieder feindlich entgegen, als in dem vorgelesenen Werke die Liebe zum Vaterlande als die stärkste Triebfeder für die Handlungen des Mannes angegeben wurde.

Paul wollte das nicht gelten lassen; er nannte die Vaterlandsliebe ein beschränktes Gefühl, eine Art von bewußtlosem Instinct.

Renatus, der wie alle reizbaren Menschen eine von der seinen abweichende Meinung leicht als einen persönlichen Angriff auffaßte, fuhr mit der Frage dazwischen: Aber was kümmert Sie denn Europa, was kümmert Sie Preußen, wenn Sie es nicht als Ihr Vaterland lieben? Weßhalb hassen Sie Napoleon, dessen Größe Sie nicht läugnen werden, wenn Sie in ihm nicht den Unterdrücker Ihres Vaterlandes hassen?

Ich hasse in ihm den Tyrannen, den Wortbrüchigen, den Unterdrücker der Freiheit überhaupt, entgegnete Paul, ich läugne auch seine Größe, denn sie ist nicht so groß als sein Glück, als die Gunst der Umstände, die ihn auf den Schultern und über die Köpfe einer entsittlichten Gesellschaft, einer verrotteten Monarchie [326] emporgetragen hat; und, fügte er, da Seba's Augen ihn mit bittendem Blicke zur Vorsicht mahnten, in leichterem Tone hinzu, vielleicht sind es auch meine kaufmännischen Angelegenheiten, die mich die gegenwärtigen Zustände als unerträgliche und darum unhaltbare ansehen machen. Unter dieser Gewaltherrschaft können Handel und Wandel nicht bestehen, kann das Capital sich nicht frei bewegen, leidet Jeder auf seine Weise.

Die Gräfin, welche befürchtete, Renatus möchte diese Entgegnung als neuen Spott empfinden, behauptete, sie könne jene letzten Gründe unmöglich als die für Paul bestimmenden betrachten; aber er blieb bei seinem Worte, und während sein schönes Gesicht sich wieder ganz und gar erhellte, rief er: Rechnen Sie denn die Habsucht und die Selbstsucht nicht überall zu den großen, die Welt bewegenden und erneuenden Kräften? Sollen sie nur in Bonaparte ihre Geltung haben? Es ist ganz einfach, wie ich's sagte. Ich hasse Bonaparte, weil er mich in meinem Erwerbe stört. Thut das ein Jeder an seinem Platze, so kommt Haß genug zusammen, ihn von seiner angemaßten Höhe hinab zu stürzen; und wenn es auch nicht groß, nicht idealistisch klingt, seinen Erwerb in die erste Reihe zu stellen, so ist doch Idealismus genug darin verborgen; denn auf meinem Erwerbe ruht mein Hab und Gut, ruht mein Vermögen, das heißt die Unabhängigkeit und Freiheit meines ganzen Thuns und Lassens.

Solche Ansichten lagen eigentlich außerhalb der Meinungen und Gesinnungen dieses Kreises. Seba hatte jene Gleichgültigkeit gegen den Besitz, welche man häufig bei bevorzugten Naturen findet, wenn sie, im Reichthume erwachsen, niemals eine Entbehrung kennen gelernt und sich gewöhnt haben, ihren Zustand der Wohlhabenheit wie eine Naturnothwendigkeit anzusehen. Die Gräfin hingegen und die anderen Genossen hatten mehr oder weniger unter der Noth der letzten Jahre gelitten. Sie hatten sich beschränken, sich viel versagen, auf manches von ihnen [327] bis dahin für unentbehrlich Gehaltene verzichten müssen, ohne daß sie sich in ihrem inneren Werthe und in dem Aufschwunge ihres Geistes dadurch beeinträchtigt fühlten; und die Freunde waren deßhalb in diesem Augenblicke eher dazu geneigt, die Bedeutung und den Werth der äußeren Glücksgüter zu unterschätzen, da sie sich mit ihren Gedanken und Hoffnungen aus der beengenden Gegenwart in den Bereich einer schönen und befreiten Zukunft erhoben. Trotzdem ließ man die Aeußerungen des in den amerikanischen Freistaaten erwachsenen und durch die dort waltenden Anschauungen gebildeten Mannes endlich gelten, weil man sich zu seinem frischen, selbstgewissen und freien Wesen des Besten versehen zu können glaubte; und während Renatus sich mit Geflissenheit von dem weiteren Gespräche fern hielt, fühlte die Gräfin sich von ihrer antheilvollen Neugierde getrieben, sich fast ausschließlich mit Paul zu beschäftigen, bis man den Wagen des Hausherrn vor der Thüre halten hörte und die ganze kleine Gesellschaft sich in das Wohnzimmer begab, den Vater und die Hausfreunde und Gäste zu erwarten, welche sich häufig noch nach dem Theater einzufinden pflegten.

[328]
11. Capitel
Eilftes Capitel

Renatus langte an dem Abende in lebhafter Aufregung in seiner Wohnung an. Er hatte, seit er die Familie Flies besuchte, öfters von dem jungen Freunde Seba's, von dem Kaufmann Paul Tremann und von dessen bevorstehendem Eintritte in das Flies'sche Geschäft reden hören; da er jedoch sehr auf sich und seine Angelegenheiten gestellt war, hatte er wenig Achtsamkeit auf dasjenige, was ihn nicht persönlich anging, und der schlichte Name eines bürgerlichen Kaufmanns zog ihn nicht besonders an. Der Name irgend eines Edelmanns, irgend ein bedeutender Titel würden ihm weniger leicht entgangen sein.

Nun hatte das Zusammentreffen mit Paul ihn erschüttert und erschreckt zugleich. Nur eines Augenblickes hatte Renatus bedurft, um alle seine Erinnerungen wachzurufen und sie mit dem gegenwärtigen Eindrucke in Verbindung zu bringen. Er konnte nicht daran zweifeln: der Fremde, der mit so stolzer, selbstgewisser Haltung vor ihm gestanden hatte, war jener Knabe, den er einst in dem Flies'schen Laden gesehen, war derselbe, dessen völlige Aehnlichkeit mit seinem Vater ihm schon damals aufgefallen war, dessen Anblick seine Mutter auf das Krankenlager geworfen hatte, von dem sie nur für kurze Zeit erstanden war. Dieser junge Kaufmann war seines Vaters Sohn, der Sohn jenes Frauenzimmers, das sich in eifersüchtiger Verzweiflung das Leben genommen und an dessen eingesunkenem Grabe in der Ecke des Neudorfer Friedhofes Renatus einmal in seiner Knabenzeit von[329] dem Jäger, der einst selbst ein Auge auf Pauline gehabt hatte, den ganzen Vorgang und Zusammenhang erfahren. Der Jäger hatte den Sohn Paulinen's wohl gekannt und hatte es bedauert, daß der arme Schelm wie seine Mutter um's Leben gekommen sei; und nun stand jener Todtgeglaubte plötzlich vor dem jungen Freiherrn, ganz unverkennbar seines Vaters Sohn.

Renatus konnte sich nicht erklären, was ihm das bloße Dasein dieses Mannes so widerwärtig machte. Es drohte seinen Rechten, seinem Besitze, seiner Stellung durch den Bastard seines Vaters nicht die mindeste Gefahr. Er hatte es durchaus in seiner Macht, die Begegnung mit Tremann zu vermeiden oder ihn nicht zu beachten, wenn der Zufall sie zusammenführte; aber trotz seiner Abneigung gegen Paul verlangte ihn danach, auf's Neue mit ihm zusammenzutreffen, weil ein unabweisliches Gefühl ihm sagte, daß er neben jenem nicht zu seinem Vortheil erschienen sei. Er wünschte, durch die Ueberraschung nicht mehr befangen, und Herr über sich und seine Mittel, sich abermals mit Paul messen zu können, um ihm seine Ueberlegenheit fühlbar zu machen.

Wie das geschehen sollte, davon hatte er freilich keine rechte Vorstellung; aber das eben peinigte ihn und regte ihn auf. Es war ihm zuwider, daß Paul ihn an Stattlichkeit des Aeußern so weit übertraf, daß er seinem Vater so ähnlich sah. Der vorzügliche Geschmack, mit welchem Paul sich kleidete, die sorglose Leichtigkeit, in der er sich bewegte, die Freiheit und Bestimmtheit, mit denen er sich äußerte, die Geltung, deren er genoß, und vor Allem die spielende, freundliche Heiterkeit, mit welcher der junge Kaufmann seinem beginnenden Streite mit dem Freiherrn vorzubeugen getrachtet hatte, verdrossen den Letzteren, wie ihn selten etwas verdrossen hatte. Er wollte nicht geschont sein, von diesem Manne am wenigsten geschont sein! Und wie er sich auch in einzelnen Augenblicken das Thörichte dieser Abneigung [330] klar zu machen suchte, er konnte nicht Herr über seine Mißstimmung und über seine Aufregung werden.

Es war schon spät gewesen, als er nach Hause gekommen war, denn die Gesellschaft war bei Seba lange zusammengeblieben, und es dünkte Renatus, als habe er Davide nie so reizend als eben an diesem Abende gesehen. Er hatte sie immer schön gefunden, aber die Freundschaft, welche er für seine Jugendgenossen, für die Gräfinnen Hildegard und Cäcilie hegte, hatte ihn im Ganzen wenig empfänglich für die Reize anderer Schönheiten gemacht, und seit er sich in seinem Herzen eingestanden, daß er Hildegard liebe, seit er in sich beschlossen, daß sie einst seine Gattin werden solle, hatte er andere Mädchen kaum noch beachtet.

Er würde wahrscheinlich auch an diesem Tage sich, wie immer, mehr zu Seba und zu den älteren Frauen gehalten haben, wäre ihm nicht die schüchterne Freundlichkeit aufgefallen, mit welcher Davide Paul begegnete. Er hatte es sonst nicht ohne Erstaunen gesehen, wie dieses junge Mädchen sich seiner Schönheit bewußt war, wie es den Eindruck kannte, den es auf die Männer machte, wie es Alt und Jung in der ihm angemessen dünkenden Entfernung zu halten und sich mit großer Sicherheit seine Freiheit vor jedem ihm nicht erwünschten Anspruche zu bewahren verstand. Niemand hatte sich rühmen können, von Davide eine besondere Beachtung zu erhalten, und war es Renatus je einmal vorgekommen, als beweise sie sich gegen einen Andern freundlicher denn gegen ihn, so hatte er dabei kein Arg und keine unangenehme Empfindung gehabt, denn man entbehrt nicht, was man niemals begehrte. An diesem Abende jedoch war es ein Anderes gewesen.

Gleich als man aus Seba's Cabinet in die große Stube gekommen, war Davide, ohne sich um die Uebrigen zu kümmern, auf Paul zugegangen, hatte ihm die Hand gereicht, ihm von dem Theater, von ihrer Freude an der Musik und von ihrem [331] Vergnügen, ihn zu Hause zu finden, gesprochen, und dieser hatte das hingenommen, als komme ihm das zu, als sei Davide eben noch das Kind, als welches sie sich gegen ihn bezeigte, und als thue er ihr einen Gefallen, wenn er ihrem freundlichen Geplauder sein Ohr nicht versage.

Renatus hatte sich darüber geärgert, das schöne Mädchen hatte ihm leid gethan. Er hatte es durch seine Höflichkeit und Achtsamkeit für Paul's Vernachlässigung entschädigen wollen. Aber Davide mußte ein solches Verhalten von dem Amerikaner wohl gewohnt sein und in der Ordnung finden, denn sie nahm die geflissentliche Annäherung des jungen Freiherrn gleichgültig auf und verließ ihn mitten in der Unterhaltung, um für Paul unaufgefordert die Zeitung zu suchen, nach der er im Gespräche mit andern Männern den Diener gefragt hatte, der den Thee herumgab. –

Die Uhr schlug Stunde auf Stunde, der junge Freiherr konnte keine Ruhe finden, kein Schlaf wollte ihm kommen. Er wurde die Vorstellung nicht los, daß er von Paul beleidigt worden sei, daß er von Davide eine Kränkung erfahren habe, und je länger er an diese dachte, um so anziehender dünkte sie ihn, um so mehr wünschte er, sich von ihr ausgezeichnet und dadurch zugleich an Paul gerächt zu sehen. Er ging im Geiste alle die einzelnen Aeußerungen durch, die er an dem Abende von Davide gehört hatte, und sein Mißmuth wich davor. Er mußte bei sich selber über die kecken Abfertigungen lachen, mit denen sie Herrn von Castigni's gedrechselte Complimente aus dem Felde geschlagen hatte; er konnte sie sich deutlich vorstellen, alle ihre artigen Kopfbewegungen und das anmuthige Spiel ihrer schönen Hände, die sie, nach Art der Jüdinnen, bei dem Sprechen mehr als die deutschen Frauen brauchte und bewegte. Als der Tag herankam und er endlich müde zu werden begann, ertappte er sich darauf, daß er ihr eine dieser Handbewegungen nachzumachen [332] versuchte, und als er dann, weil dieser Versuch ihn thöricht dünkte, seine Gedanken, wie er das zu thun gewohnt war, vor dem Einschlafen auf die Geliebte richten wollte, von der zu träumen ihn sonst so glücklich machte, konnte er Hildegard's Bild aus seinem Innern nicht erzeugen. Alle Anstrengungen halfen ihm nichts; es waren immer nur Davide oder Paul, die er vor Augen hatte, und selbst im Schlafe gaben diese beiden ihn nicht frei.

Unerquickt erwachte er am Morgen erst, als es Zeit für ihn war, sich zur Parade ankleiden zu lassen. Während dessen brachte ihm der Diener des Grafen Gerhard eine Einladung, mit demselben zu Mittag zu speisen. Sie kam dem Freiherrn sehr gelegen, obschon er sonst nicht viel Verkehr mit seinem Onkel hielt, ja, ihn eigentlich, so viel er konnte, zu vermeiden suchte. Aber er fühlte eine Neigung, sich gegen Jemanden über sein unerwartetes Zusammentreffen mit Paul auszusprechen, und in seiner Schlaflosigkeit hatte er dabei wiederholt an seinen Onkel gedacht, der, wie er mit Sicherheit annehmen zu können meinte, um alle jene Ereignisse und Verhältnisse wissen mußte, so daß Renatus sich keinen Mangel an Verschwiegenheit vorzuwerfen brauchte, wenn er dem Grafen von dem gehabten Erlebnisse Kunde gab.

Er war froh, als die Stunde der Parade vorüber war und er sich nach derselben, wie er seit dem Herbste pflegte, zu der Gräfin begeben konnte; da diese aber mit der jüngsten Tochter ausgegangen, und er Hildegard ihn erwartend und allein fand, war es ihm nicht recht. Er fragte, weßhalb sie die Mutter nicht begleitet habe; sie antwortete ihm, wie sie es vorgezogen, unter einem leichten Vorwande zurückzubleiben, um ihn zu erwarten, und das war ihm noch weniger genehm. Er meinte, so zuversichtlich erwartet zu werden, habe für ihn etwas Beängstigendes und lege ihm einen peinlichen Zwang auf. Sie entgegnete, [333] daß sie ja nicht böse sei, wenn er einmal nicht kommen könne, und daß es ihr doch in jedem Falle Vergnügen mache, sich den ganzen Morgen mit einer angenehmen Hoffnung zu tragen.

Sie blickte ihn dabei freundlich an und mochte dafür ein begütigendes, ein zärtliches Wort von ihm erwarten; er blieb aber eine Weile still sitzen und äußerte danach, es sei für ihn übel genug, daß er, ohne Neigung zum Soldatenstande, durch seines Vaters Willen an des Dienstes immer gleich gestellte Uhr gebannt sei, wie es im Dichter heiße, und weil er nach der einen Seite also völlig gebunden sei, müsse er nach der andern Seite, müsse er in seinem übrigen Leben durchaus seine Freiheit bewahren, denn ohne Freiheit erlahme der Mann. Er habe ohnehin immer zu wenig Freiheit gehabt, er sei zu Hause unter der Aufsicht des Caplans wie ein Gefangener gehalten worden; sein Vater habe in dem Alter, in welchem er sich jetzt befinde, halb Europa durchreist und Welt und Menschen gekannt: er hingegen habe noch nichts gesehen, nichts erlebt, und wie unerwünscht es ihm auch sei, mit dem französischen Heere gegen Rußland zu kämpfen, so freue er sich eigentlich doch auf diesen Feldzug, weil er ihn aus dem Gleichmaße der Tage herauszureißen und in das offene, bewegte Meer des Lebens zu bringen verspreche.

Hildegard hörte ihm mit stummer Verwunderung zu. Sie konnte nicht begreifen, was mit ihm geschehen war. Nie zuvor in seinem Leben hatte er ein solches Verlangen nach Freiheit ausgesprochen, er war auch mit seinem Loose nie unzufrieden gewesen, und daß er jetzt den Krieg ersehnte, nur weil er ihn in die Welt und von ihr fortführen sollte, das kam ihr so unerwartet, that ihrem zärtlichen Herzen so weh, daß sie sich still auf ihre Arbeit niederbeugte, damit er es nicht sehen sollte, wie sich ihr die Thränen in die Augen drängten. Trotzdem gewahrte er es; indeß statt ihn zu rühren, war ihr Weinen ihm verdrießlich. [334] Er hatte mit sich selbst genug zu thun und fühlte nicht Lust, sich als den Tröster der Geliebten zu bethätigen. Aber während er dieses dachte, fiel es ihm ein, daß er ja überhaupt noch keine bestimmte Verpflichtung gegen dieses Mädchen habe. Er hatte sich niemals entschieden gegen Hildegard erklärt, niemals von seiner Liebe zu ihr gesprochen, und daß die unschuldigen Zärtlichkeiten, an die sie sich von Kindheit auf gewöhnt hatten, in der letzten Zeit einen wärmeren Charakter angenommen, das hatte Hildegard eben so wohl zu verantworten, als er. Er konnte es sich in dem Augenblicke nicht einmal recht deutlich machen, wie er mit seiner Jugendfreundin eigentlich auf den gefühlvollen Ton gekommen sei; um so bestimmter erinnerte er sich daran, daß Graf Gerhard ihm gerathen, sich vor einer Verbindung mit den Rhodens in Acht zu nehmen, und daß eine solche für ihn nicht vortheilhaft sei, das mußte er sich in seiner jetzigen Stimmung selber sagen.

Gestern, als der Amerikaner, wie Renatus in seinem Innern Paul beständig nannte, seinen Erwerb und seinen Vortheil mit so dreister Sicherheit als Beweggrund für sein ganzes Thun aufgestellt hatte, war Renatus dadurch im höchsten Grade abgestoßen worden. Indeß schon während seiner nächtlichen Ueberlegungen war ihm die Sache in einem milderen Lichte erschienen. Paul mißfiel ihm deßhalb um nichts weniger, er konnte sich jedoch der Einsicht nicht verschließen, daß unabhängiger Besitz Freiheit verleihe. Er dachte jetzt daran, wie königlich frei sein Vater durch den früheren Reichthum seines Hauses gewesen sei, um es zum ersten Male mit einer Art von Bitterkeit zu beklagen, daß ihm bei Weitem nicht mehr das gleiche Vermögen und damit auch nicht mehr die schöne Selbstherrlichkeit wie seinem Vater zu Gebote stehe.

Hildegard sann während dessen schweigend darüber nach, was sie denn gethan oder gesagt habe, den Geliebten zu verstimmen. [335] Sie konnte jedoch nichts auffinden, was irgend einen vernünftigen Anhalt oder einen Grund für die üble Laune desselben darbot, und sie fing an, zu glauben, daß ihm durch Dritte oder durch ein ihr unbekanntes Erlebniß Verdruß bereitet worden sei. Mit geduldiger Freundlichkeit fragte sie ihn also, was er heute gethan, wie er sich am gestrigen Abende im Flies'schen Hause unterhalten habe, und da sie immer nur einsilbige, ablehnende Antworten erhielt, erzählte sie, um sich über einige Minuten fortzuhelfen, daß die Mutter den jungen Freund von Seba Flies sehr schön und sehr anziehend genannt und daß sie gemeint habe, die Flies hätten ihn gewiß für Davide zum Manne bestimmt, weil der alte Herr Flies ihn in sein Geschäft aufnehme.

Unmöglich, ganz unmöglich! rief Renatus mit einer Heftigkeit, die Hildegard noch unbegreiflicher als sein ganzes bisheriges Betragen erschien.

Weßhalb denn unmöglich? Die Mutter hielt es für das Natürlichste!

Mich dünkt, ein Mädchen von Davidens Schönheit, das einst neben ihrem Vermögen voraussichtlich auch noch das ganze Flies'sche Vermögen erbt, hat andere Ansprüche zu machen und kann einen besseren Mann bekommen, als einen Menschen ohne Familie, einen Abenteurer. –

Renatus! rief Hildegard, ihr Erschrecken unter einem erzwungenen Lachen verbergend – Du thust ja wirklich, als ob Davide unter einer Schaar von Edelleuten und Grafen nur zu wählen hätte! Du vergissest wohl, daß sie eine Jüdin ist!

Durchaus nicht! Sie würde nicht die erste Jüdin sein, die einen Edelmann geheirathet hat! entgegnete er ihr.

Nun, vielleicht entschließest Du Dich selbst dazu! sagte Hildegard mit bitterem Spotte, da sie ihre Bewegung nicht mehr bemeistern konnte und zuversichtlich glaubte, es bedürfe eben nur eines solchen Wortes, um Renatus, dem der Gedanke an eine [336] nicht standesmäßige Heirath gar nicht kommen konnte, zur Besinnung zu bringen. Aber sie verfehlte ihren Zweck, denn Renatus, der seit gestern Abend nur darauf gewartet hatte, einen Ableiter für seinen Unmuth zu finden, und der, wie alle in der Kindheit verwöhnten Menschen, selbstsüchtig genug war, auch Andere leiden sehen zu wollen, wenn er selber litt, sagte gleichmüthig: Es wäre vielleicht das Gescheiteste, was ich thun könnte, und Davide ist schön genug dazu.

Kaum war das Wort aber von seinen Lippen entflohen, so bereute er es, denn Hildegard brach in Thränen aus und wendete sich von ihm ab. Das konnte er nicht gut ertragen. Sie hatten als Kinder und auch später wohl bisweilen einen Streit mit einander gehabt, indeß Hildegard hatte dann immer mit der Bemerkung, daß sie die Aeltere und Verständigere sei, eingelenkt und nachgegeben. Er dachte, sie solle das auch heute thun, und er war bereit, sie dann um Verzeihung zu bitten und zu versöhnen. Er vergaß nur, daß sie jetzt in einem andern Verhältnisse zu einander standen, daß die einstige Jugendfreundin sich jetzt als seine Erwählte betrachtete und daß die Liebe oft weniger nachsichtig als die Freundschaft ist.

Er wartete eine Weile, er rief Hildegard bittend bei ihrem Namen, sie achtete aber nicht darauf. Sie wollte ihn gründlich fühlen lassen, was er ihr gethan hatte, sie wollte sich auch satt weinen, denn sie mußte sich eingestehen, daß er sie absichtlich quäle und verwunde.

Renatus seinerseits stand am Fenster, trommelte mit den Fingern leise auf dem Fensterbrette und überlegte, wie lange er warten solle. Das dauerte eine kleine Zeit, sie dünkte ihn jedoch lange, und als er sich eben anschicken wollte, fort zu gehen, weil er Hildegard nicht daran gewöhnen mochte, mit ihm die Unversöhnliche zu spielen und zu schmollen, trat sie an ihn heran und legte ihre Hand auf seine Schulter. Er wendete sich um [337] und blieb betroffen stehen – Hildegard sah häßlich aus, wenn sie weinte.

Sie war überhaupt nicht regelmäßig schön, sie hatte nur schöne Farben und den Jugendreiz, der blonden Mädchen eigen ist. Aber wie bei allen Blondinen vertrugen ihre Züge das Weinen nicht. Ihre feine Haut erschien fleckig, ihre Augenlider geröthet und ihre Gesichtszüge zeigten sich durch die Betrübniß so erschlafft, daß Renatus sich nicht darein finden konnte. Es that ihm leid, daß sie sich entstellte, er sagte ihr, daß sie Unrecht habe, so empfindlich zu sein und einen Scherz so übel aufzunehmen, aber er konnte sich nicht entschließen, sie mit einem Kusse, wie er wohl sonst gethan hatte, zu versöhnen. Sie kam ihm alt vor, und sie war ja auch älter, als er.

Weil sie ihn sonst stets nachgiebig und weich gesehen hatte, hielt sie sich jetzt zurück; sie glaubte sich dies schuldig zu sein. Renatus aber fand sich durch diese geflissentliche Zurückhaltung in seiner Unzufriedenheit mit der Geliebten nur bestärkt. Er blickte sie noch einmal an – ihr schmollender Mund mißfiel ihm mehr und mehr; er begriff nicht, wie er sie jemals hübsch gefunden haben könne, nicht, was er bisher neben ihr gefühlt hatte. Er war sich räthselhaft. Das peinigte ihn. Er wendete sich ab, nahm Hut und Säbel und sagte, daß er gehen müsse. Sie hielt ihn nicht zurück. Er reichte ihr kühl die Hand, sagte ihr kühl ein Lebewohl und war verschwunden, ehe sie noch recht wußte, was geschehen sei.

Sie wollte ihm nacheilen, als er das Zimmer verlassen hatte; er erwartete das auch, sah sich nach ihr um und war doch froh, als er sie nicht erblickte. Sie ging an's Fenster; aber heute wählte er nicht die entgegengesetzte Seite der Straße, wie er sonst zu thun pflegte, um von ihr noch einen Gruß, noch einen Blick zu erhalten. Sie sah hinaus, es kam ihr alles so leer vor und es lag ihr alles, was geschehen war, so fern, so weit ab von [338] gestern, so weit ab von diesem Augenblicke! Auch ihr war es, als sei sie viel älter geworden, als habe sie viel erlebt, viel erfahren, als sei Renatus schon sehr lange fort! Sie seufzte, faltete die Hände und erschrak, als der Ausruf: Er ist ein Mann, und Dulden ist des Weibes Loos! über ihre Lippen glitt. Wie kam sie zu diesem Ausrufe, zu diesem Gedanken? – Sie weinte bitterlich.

Renatus hingegen war froh, als er sich auf der Straße fand. Hildegard's Gefühlsweichheit und ihre Thränen hatten ihm Angst gemacht. Er wünschte nicht, dergleichen öfter zu erleben, er freute sich, daß er sich so fest gezeigt hatte. Es ward ihm ganz leicht um's Herz, als der frische Wind ihm durch die Locken wehte. Die Luft in den Zimmern der Gräfin war ihm heute durch die Resedatöpfe und den Potpourri so beklemmend gewesen! –

Sporenklirrenden Trittes einherschreitend, ließ er den Schleppsäbel geflissentlich auf dem Pflaster anschlagen, er zog im Gehen den Säbel spielend halb aus der Scheide und stieß ihn wieder hinein. Jede Bewegung dünkte ihn eine Lust, und mit einer wahrhaften Genugthuung sagte er sich, daß ihn nichts auf der Welt verpflichte, sich um Hildegard's Empfindlichkeit und Empfindsamkeit zu kümmern, da er ja noch völlig frei, noch völlig ungebunden sei.

Freiheit und Ungebundenheit hatten seit gestern, er wußte selbst nicht wodurch, einen hohen Reiz und Werth für ihn gewonnen, und er konnte sich es nicht verhehlen, sein Oheim hatte Recht gehabt: es lag etwas Bedenkliches in seiner Freundschaft mit den Rhodens, etwas, wovor er sich zu hüten hatte. Er war im Allgemeinen weit entfernt, die Ansichten des Grafen Gerhard zu theilen, nur das Eine mußte er ihm zugestehen – ein Menschenkenner war der Graf, und Welterfahrung hatte er.

[339]
12. Capitel
Zwölftes Capitel

Fast um dieselbe Zeit, in welcher Renatus die Wohnung der Gräfin verließ, stand Paul vor der niedrigen Thüre eines Zimmers, das in einem Hinterhause derselben Straße im dritten Stockwerke gelegen war. Auf sein Klopfen rief man: Herein! und ein mittelgroßer, sehr schmächtiger Mann erhob sich von dem Tische, an welchem er schreibend gesessen hatte.

Er trug einen hechtgrauen, altmodischen Ueberrock, eine Kniehose und Weste von schwarzem Tuche, und selbst den Puder und den kleinen, steifen Zopf, der ihm fest und gerade am Hinterkopfe saß, hatte er gegen die veränderte Sitte beibehalten. Alles an ihm und in seinem Stübchen trug das Gepräge peinlicher Genauigkeit und Ordnungsliebe. Lineal und Papierscheere, Federn und Bleistift lagen wie nach dem Zirkel abgemessen auf dem Tische, das Wasserglas war mit einem rundgeschnittenen Papier bedeckt. Um den Käfig des Hänflings, der reich mit frischem Vogelkraut behängt war, fanden sich Papierstreifen durch das Gitter gezogen, damit der Vogel das Futter nicht verstreuen könne; selbst unter die kleine, irdene Vase, in der einige Weidenzweige mit ihren grauen Blüthenkätzchen sich im Sonnenscheine entfalteten, war ein zierlich zurecht geschnittenes Papierblatt gebreitet, und Paul bemerkte mit Vergnügen, daß das Gesicht des schon bejahrten Mannes, der ihn empfing, eben so ruhig und friedlich aussah, wie das Stübchen, welches er bewohnte.

[340] Auf seine Frage, wie es ihm ergehe, antwortete der Greis: Gut, gut, lieber Herr Tremann. Wie sollte es mir anders ergehen, da Sie so gütig für mich sorgen? Ich habe ja alles, was ich brauche, und das müssen Sie sagen, ein so hübsches, sonniges Zimmer habe ich nicht gehabt, selbst nicht, als wir das Stockwerk im Flies'schen Hause noch ganz allein bewohnten.

Er schob bei den Worten für Paul einen Stuhl an das Fenster, machte ihn aufmerksam, wie der Schnee in der letzten Nacht geschmolzen sei, wie in den Gärten, auf die er aus seiner Wohnung hinunter sah, sich an einzelnen Stellen schon der Rasen über dem befreiten, braunen Boden neu zu färben beginne, und sagte dann: Wenn ich so hinunter blicke und dann wieder hinauf nach dem Himmel, und habe solch einen schönen, weiten Horizont vor Augen, so denke ich immer nur mit Schrecken an die Arbeitsstube, in der ich in meinen sogenannten guten Zeiten meine Tage hingebracht habe, und ich frage mich, wie ich sündiger Mensch jetzt nur ein so ruhiges Leben und es in meinen alten Tagen noch so gar gut auf Erden haben kann.

Denken Sie, daß Sie es durch Ihre Güte für mich verdient haben, meinte Paul.

Ja, freilich, das muß ich mir denken, wenn mich nicht drücken soll, was Sie für mich thun. – Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätte Gott Sie nicht zur rechten Zeit mir als einen Helfer in der Noth gesendet. Nicht wissen, wo man sein Haupt zur Ruhe legen soll, und nicht wagen, sich mit seinem grauen Kopfe vor den Menschen, die man gekannt hat, sehen zu lassen, weil man es mit Schimpf und Schande beladen, weil man im Zuchthause gesessen hat – das ist gar zu schrecklich, gar zu schrecklich, lieber Paul!

Er senkte dabei sein Gesicht in seine Hände; aber als der Andere ihn ermahnte, diese trüben Gedanken von sich fern [341] zu halten, meinte der Alte, es thue ihm gut, sich einmal aussprechen zu dürfen.

Sehen Sie, rief er, indem er sich erhob und aus der Schublade seines Tisches ein in schwarzes Leder gebundenes Büchelchen hervornahm, ich denke immer an Sie, und weil ich sonst gar nichts für Sie thun kann und immer nur von Ihnen anzunehmen habe, so schreibe ich hier in das Buch, das ich mir eigens dazu habe binden lassen, alle die guten Lehren ein, die ich mir aus meiner verkehrten Handlungsweise abgenommen habe, und das soll einmal Ihr Erbe sein, obschon Sie meiner guten Lehren wahrlich nicht bedürfen. Es will doch aber Jeder gern etwas zu geben und zu hinterlassen haben.

Er hielt Paul das Buch hin; es hatte einen vergoldeten Schnitt, der Titel war wie eine Festgabe in schönster Frakturschrift geschrieben und trug unter der reichverzierten Ueberschrift: »Erfahrungssätze und Sinnsprüche«, auf der ersten Seite als erste Lehre die Worte: »Gib nie einem Weibe Gewalt über Dich, denn des Weibes Herz ist verkehrt und sein Thun und Treiben eitel!«

Herr Weißenbach schien großes Gewicht auf diesen Ausspruch zu legen. Wenn Sie wüßten, sagte er, wie oft ich mir das in meinem Unglücke vor die Seele gehalten habe! Und ich war nicht am unglücklichsten, als das Geheimniß meiner Verschuldigung entdeckt, als die Untersuchung gegen mich eingeleitet und mein Urtheil erst gesprochen war, als ich die Untreue, mit welcher ich die mir anvertraute Kasse angegriffen hatte, im Gefängnisse büßte. – Er blätterte in seinem Buche, zeigte dann mit dem Finger auf die betreffende Stelle und rief: Sehen Sie, da steht es: »Ehre annehmen mit dem Bewußtsein, sie nicht zu verdienen, thut einem Rechtschaffenen sehr wehe!« – Und ich kann mir das sagen und Sie werden mir das bezeugen, lieber Tremann, ich war ein rechtschaffener Mann. Ich bedurfte nicht [342] viel, ich war zufrieden, wenn ich ruhig bei meinen Acten saß, wenn ich meine Pflicht that; aber ich hatte einem Weibe Gewalt über mich gegeben, einem jungen, einem schönen Weibe, als ich kein Jüngling mehr war, und ich traute einer Delila! Ich traute, ich folgte ihr und ihren verführerischen Rathschlägen, weil ich ihrem klugen Kopfe und ihren beredten Worten mehr, als meiner Einsicht und meinem warnenden Gewissen glaubte! Das soll man nicht thun, soll man nicht thun!

Paul hatte viel Nachsicht mit dem alten Manne; aber er fand es endlich doch nöthig, seinen Erzählungen und Herzensergießungen ein Ende zu machen, indem er ihn bat, sich der Gedanken an seine Schuld, an seine Cassation und an seine Frau zu entschlagen.

Der Alte versicherte, daß er dies auch thue. Nur wenn sie hier war, setzte er hinzu, wenn sie einmal wieder hier war, dann wurmt und brennt's mich wieder, dann wacht Alles wieder auf – und heute ist sie dagewesen!

Was wollte sie? fragte Paul.

Nichts, nichts, lieber Herr Tremann. Seit sie bei dem Grafen ist, hat sie nichts von mir verlangt, sie hat's ja nun bei dem vollauf.

Aber weßhalb kam sie denn, sie pflegte doch nichts ohne Absicht, nichts umsonst zu thun? meinte Paul, der seine Abneigung gegen die Kriegsräthin nicht verhehlte.

Der Alte sah sich schüchtern um und sagte: Daß ich die Wahrheit sage, sie kam Ihretwegen!

Meinetwegen – und wie das? Was will sie von mir?

Gewiß, lieber Paul, ich wollte sagen: lieber Herr Tremann, versicherte der Kriegsrath, dieses Mal hatte sie keine Absichten, dieses Mal meinte sie es gut. Sie fragte, ob ich noch immer Arbeit hätte, ob Sie mir noch das Monatsgeld gäben, woher ich die Arbeit hätte, was ich für Sie schriebe? Ich zeigte ihr [343] die Auszüge, die ich für Sie aus den Zeitungen machen muß; sie besah sich das alles, denn sie versteht sich auf dergleichen, und als sie schon im Fortgehen war, drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Der Paul hat uns zwar schmählich verlassen und ist eigentlich an Allem schuld, denn wenn er bei uns geblieben wäre, würde Alles anders geworden und wir nie in die Verlegenheit gerathen sein. Da er Dich aber in Deiner Noth und in Deinem Alter wenigstens nicht verläßt – denn ich brauche ihn nicht, ich weiß mir selbst zu helfen – und da ich Dir seinen Beistand auch nicht entzogen sehen mag, so sage ihm, er solle machen, daß er von hier fortkomme, und zwar je eher, desto lieber! Sag ihm das, und ich verlangte keinen Dank für meinen guten Rath!«

Und damit ließen Sie sich genügen? Sie erkundigten sich nicht, was diese Weisung, diese Warnung zu bedeuten habe, worauf sie sich beziehe?

Der Alte sah ihn verlegen an. Sie wissen, was meine Laura nicht sagen will ....

Er brach ab; Paul drang nicht weiter in den alten Kriegsrath. Er stand vielmehr auf, händigte dem Greise die Pension, die er ihm seit dessen Freilassung zahlte, für den nächsten Monat aus, sagte, daß er sich dieselbe aus dem Flies'schen Comptoir für die nächsten Monate holen möge, und wie er in dem Bureau des Staatskanzlers von einem der Sekretäre die Zusage erhalten habe, daß man Herrn Weißenbach auch ferner mit Copisten-Arbeit beschäftigen werde. Dann nahm er seinen Hut und wollte sich entfernen, aber der Kriegsrath hielt ihn zurück. Er hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen, das er sich zu sagen scheute, und Paul ermunterte ihn dazu mit der Frage, ob er noch irgend etwas wünsche.

Der Alte sah ihn scheu und bittend an. Sie haben so viel für mich gethan, lieber Herr Tremann, sprach er endlich [344] und ich danke Ihnen, daß Sie sich so für mich verwenden! ich thue mein Möglichstes, Ihrer Fürsprache Ehre zu machen, aber ...

Nun was denn?

Aber könnten Sie mir nicht etwas zu rechnen schaffen? rief der Alte, und er sah so hell dabei aus wie ein Liebender, der endlich sein lange beabsichtigtes Geständniß anzubringen vermochte.

Etwas zu rechnen? Aber was soll das sein? Weßhalb eben etwas zu rechnen? Sie haben ja Arbeit genug!

Ja, Arbeit, aber kein Vergnügen, keine Freude! rief der Alte. Solch ein Blatt, das ich abschreibe, steht vor mir und rückt und rührt sich nicht; es ist mein Herr, ich bin sein Sclave, ich darf nichts zu-, nichts abthun, jeder Buchstabe ist mein Meister. Aber Zahlen, die commandire ich, die füge ich zusammen, die vermehre und vermindere, die verbinde und theile ich, die sind meine Geschöpfe. Und wie schön sieht es aus, solch ein Cassabuch, wie stattlich, wie majestätisch, wenn die Stellen unten sich auf jeder Seite mehren, wenn es in die Tausende, in die Hunderttausende geht! – Er hielt ein wenig inne, als schäme er sich dieser Aufwallung, und sagte dann ganz leise und bewegt: Ich war sehr glücklich damals, als in meinem Hauptbuche das Soll und das Haben sich noch wohl vertrugen, als ich noch mit ruhigem Stolze auf die langen, schlanken Zahlenreihen blicken konnte; und – ich würde hier in dieser schönen, stillen Stube recht glücklich sein, wenn ich wieder etwas zu rechnen, wenn ich wieder die schönen Zahlenreihen zur Gesellschaft und vor Augen hätte! Es ist das Einzige, was mir zu meinem Glücke und zu meiner Zufriedenheit fehlt!

Paul konnte nur mühsam sein mitleidiges Lächeln verbergen; er versprach dem Alten, an seinen Wunsch zu denken, und als dieser ihm die Thür öffnete, um ihn hinaus zu lassen, fragte er: Wer geht denn bei dem Grafen Berka ein und aus? Wissen Sie das zufällig?

[345] Meistentheils Franzosen, entgegnete der Kriegsrath. Ein Baron von Castigni kommt alle Tage. Meine Laura sagt, es sei ein verbindlicher und feiner Mann. Aber auch von den Würtembergern und Westfalen besuchen ihn viele Officiere, und in den letzten Monaten ist auch der junge Freiherr von Arten öfter bei dem Herrn Grafen zu Tische gewesen. Heute ißt er, glaube ich, allein mit ihm.

Paul hörte das ohne Entgegnung an und schied von dem Alten mit dem wiederholten Versprechen, an die Erfüllung seiner Wünsche denken zu wollen; aber die Frage, was die Warnung der Kriegsräthin zu bedeuten habe, beschäftigte ihn doch mehr, als er es dem Greise zu zeigen für angemessen fand, denn sie traf mit den Bemerkungen zusammen, welche auch Herr von Werben ihm in dieser Beziehung gemacht hatte. Da er nicht dazu neigte, seine Person und seine Thätigkeit höher, als es recht war, anzuschlagen, fiel es ihm auf, daß man überhaupt von französischer Seite auf ihn aufmerksam geworden war. Seine Geschäfte waren nicht größer, nicht bedeutender gewesen, als die mancher anderer Kaufleute, seine Reisen hatten an und für sich auch nichts Auffallendes, und der Verkehr, welchen er zwischen den heimischen und den im Auslande lebenden Vaterlandsfreunden vermittelt hatte, war mit solcher Vorsicht behandelt worden, daß er nicht wohl verrathen sein konnte. Den Grafen Gerhard, über dessen Verhältniß zu Seba er nicht im Zweifel war, hatte er seit seiner Kindheit nicht wieder gesehen. Er trug auch kein Verlangen danach, dem von ihm in jeder Beziehung verachteten Manne aufs Neue zu begegnen, und mit dem Herrn von Castigni, mit dem er jetzt im Flies'schen Hause freilich beständig zusammentraf, hatte er keine Unannehmlichkeit gehabt. Die einzige peinliche Berührung hatte gestern zwischen ihm und Renatus Statt gefunden; damit konnte aber die Warnung der Kriegsräthin, die ohnehin von älterem Datum war, nichts gemein [346] haben, und es blieb ihm auf diese Weise also kein Anhalt für seine Vermuthungen. Da man sich jedoch unter der obwaltenden französischen Gewaltherrschaft auf jede Art von Spionage und Angeberei gefaßt halten mußte, so war es ihm erwünscht, mit seinen Angelegenheiten so weit vorgeschritten zu sein, daß seiner Abreise nicht mehr viel im Wege stand.

[347]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel

Während dessen war Renatus bei seinem Onkel angelangt, und da der Graf es liebte, sich noch zu den jungen Leuten zu zählen, von ihm mit einer fast kameradschaftlichen Heiterkeit empfangen worden. Er wußte bereits von Castigni, der in der Frühe bei ihm gewesen war, daß sein Neffe den letzten Abend im Flies'schen Hause zugebracht hatte, und warf lächelnd die Frage hin, wie ihm denn der Günstling dieses Hauses, der sogenannte Tremann, gefallen habe.

Sie kennen ihn also auch? fuhr Renatus auf, während das Blut ihm zu Kopfe stieg.

Der Graf bejahte dies in einer Weise, die darauf berechnet war, sich dasjenige, was er wußte, abfragen zu lassen, und er erreichte auch seine Absicht, denn Renatus fiel ihm mit dem Ausrufe in die Rede: So sagen Sie mir, Onkel, wo war der Mensch bis jetzt und wie kommt er in das Haus?

Der Graf zuckte die Schultern. Hast Du noch nicht bemerkt, mein Lieber, wie zufällig die Gesellschaft sich bei solchen Leuten, die um jeden Preis ein Haus zu machen wünschen, zusammensetzt? Ich könnte Dich mit gleichem Rechte fragen: Wie kommst Du dorthin? wüßte ich nicht, daß Flies von Alters her der Geschäftsmann Deines Vaters war, und Dein Vater hat seine eigenthümlichen Wege, die zu kreuzen nicht meines Amtes ist.

Er that, als wolle er von dem Gegenstande abbrechen; [348] indeß Renatus war damit nicht gedient, und da er geneigt war, sich der Einsicht seines Onkels heute mehr als sonst zu fügen, weil er heute einen Beweis von der Menschenkenntniß desselben gewonnen zu haben meinte, sagte er: Sie selber haben ja früher die Flies gekannt, und es dünkt mich, fügte er in einer ihm fremden, leichtfertigen Weise hinzu, mit der er sich dem gewöhnlichen Tone des Grafen anzupassen suchte, und es dünkt mich, Sie müssen in dem Flies'schen Hause mehr als nur eine Einquartierung gewesen sein, denn Seba weicht stets aus, wenn ich von Ihnen spreche! In welchem Verhältnisse standen Sie zu ihr?

Der Graf lachte hell auf, Renatus machte ihm in seiner steifen Leichtfertigkeit einen komischen Eindruck, aber er ließ ihn nicht merken, daß dieses Lachen nicht der Frage, sondern dem Frager galt, und entgegnete: In dem einzigen Verhältnisse, in welchem Unsereiner zu einem Judenmädchen stehen kann! Um ihre Bekehrung zum Christenthume, das sagst Du Dir wohl selber, war mir's nicht wesentlich zu thun!

Renatus hatte bei der Art seiner Frage auf eine solche Antwort gefaßt sein müssen, doch war sie ihm widerwärtig. Er fand nicht gleich die Entgegnung, die er zu geben für nöthig hielt; der Graf ließ ihm auch nicht die Zeit, sie erst lange zu suchen.

Ein eigener Gedanke, Dich in das Haus zu schicken! Eine wunderliche Weise, in welcher man Dich überhaupt für den Feldzug für das Leben vorbereitet hat, für diesen Krieg Aller wider Alle! sagte er plötzlich. Aber das vergessen sie in ihrer Weisheit! Sie lassen Euch in die Welt gehen, ohne Euch die Gefahren zu zeigen, die Euch drohen, ohne Euch vorsichtig zu machen, mit nichts ausgestattet als mit Eurer Unschuld und Begehrlichkeit, und dann wundern sie sich, wenn Ihr wie die Drosseln in der ersten Schlinge und an der ersten rothen, reifen Beere hängen bleibt, die Euch in den Weg kommt! Arme Gräfinnen [349] und reiche Juden, das ist alles Eins: feine Vogelsteller, die ihre Vögel kennen und ihr Garn zu legen wissen, jeder auf seine Art – und Ihr fallt dann auch hinein – Jeder auf seine Art!

Ja, leider! rief Renatus unwillkürlich.

Leider? Was weißt Du davon? fragte der Graf, der bis dahin im Zimmer umhergegangen war, vor seinem Neffen Fuß fassend.

Renatus zögerte zu antworten. Er wußte, daß der Graf nicht der Mann war, die Neigung zu würdigen, welche ihn mit seiner Jugendgespielin verbunden und der er sich in der letzten Zeit mit so viel Hingebung und Wärme überlassen hatte. Er wußte eben so gut, daß er heute absichtlich ein Unrecht gegen Hildegard begangen habe und daß er dieses steigere, indem er den Grafen in das Vertrauen ziehe; aber er konnte mit Zuversicht darauf rechnen, von demselben wegen dieses Unrechtes nicht getadelt zu werden, er durfte vielmehr hoffen, Aufmunterung zu erhalten, wo er selber sich Vorwürfe machte, und weil er in jedem Betrachte unzufrieden mit sich war, verlangte sein abhängiges Wesen nach Lob, gleichviel, von wem ihm dieses komme oder worauf es sich beziehe. Trotzdem fand er es schwerer, als er sich's gedacht hatte, von seinen guten Gewohnheiten, von den Ehr- und Anstandsbegriffen zu lassen, in denen er erzogen und aufgewachsen war, und dem scharfen Auge seines Onkels ausweichend, entgegnete er, um Zeit zu gewinnen: O, von mir ist nicht die Rede, und Sie, Onkel, Sie können derartige Erfahrungen doch nicht gemacht haben? Ihr Glück bei den Frauen ist ja noch sprüchwörtlich im Regimente!

Der Graf nahm eine ernste Miene an. Ich habe mich, sagte er, über die Frauen nicht zu beklagen gehabt, weil ich frei zu bleiben und zu schweigen verstand und weil ich dasjenige zu vergessen weiß, woran ich nicht erinnert zu sein wünsche. Gehe [350] hin und thue ein Gleiches, fügte er lächelnd hinzu, und sie werden, wenn sie nicht Deines Lobes voll sind, doch ausweichen, wenn man von Dir spricht!

Wie Seba! fiel Renatus, der sich erinnerte, wie er sich vorher eben dieses Ausdruckes bedient hatte, dem Oheim, als habe er eine Erleuchtung erhalten, lebhaft in die Rede. Wie Seba thut, wenn man von Ihnen spricht!

Der Graf ließ den Ausruf unbeantwortet. Erst nach einer geraumen Pause sagte er: Wenn die Frauen ihre Vergangenheit so ganz und gar vergessen, geben sie uns das Recht wieder, derselben zu gedenken. Es ist belustigend, zu hören, wie geläufig die großen Worte: Deutschthum, Jungfräulichkeit und Tugend dieser Gesellschaft und allen diesen Frauen geworden sind, wie sie einander stützen und tragen, weil die meisten von ihnen auf schwachen Füßen stehen, und wie alle doch nur den Einen Zweck der Selbstsucht verfolgen: einen Mann zu bekommen oder die Ihrigen an den Mann zu bringen. Nur schade, daß man's merkt! – Ich sagte Dir neulich: Nimm Dich mit den Rhoden's in Acht! Die Warnung war vielleicht vom Ueberfluß, denn auf die blonde, schmachtende Unschuld hast Du's wohl nicht abgesehen! Ich sage Dir heute, vielleicht mit größerem Rechte: Sieh' Dich mit den Flies, mit Seba vor! Sie könnte für Davide zu erlangen wünschen, was ich ihr zu gewähren trotz ihrer Zuvorkommenheit nicht für angemessen fand, und sie gehört zu denen, die vielleicht großes Spiel für Andere zu spielen lieben, nachdem sie die Partie für sich verloren haben!

Er ging an seinen Schreibschrank, setzte sich vor demselben nieder und suchte anscheinend etwas unter seinen papieren. Renatus war es äußerst unbehaglich zu Muthe. Er wußte seinem Oheim für diese Mittheilungen keinen Dank, obschon er selber sie hervorgerufen hatte, dennoch reizten ihn die Andeutungen, die halben Aufschlüsse, welche derselbe ihm machte. Weil er sich [351] selber tadelte, gefiel es ihm, die Andern auch nicht verehrenswerth zu finden, und doch stieß ihn der Gedanke zurück, daß er sich bisher mit Wohlgefallen in einem Kreise bewegt haben sollte, der dieses Wohlgefallen, der die Achtung nicht verdiente, mit welcher Renatus den einzelnen Personen desselben sich angeschlossen hatte.

Er hätte mehr erfahren, mehr wissen mögen, und scheute sich doch davor. Er ärgerte sich darüber, daß er sich der innerlichen Betrachtungen nicht entschlagen konnte, er fand es lächerlich, daß er sich Sorgen und Vorwürfe über sein Verhalten gegen Hildegard machte, daß es ihm weh that, von Seba, von Davide geringschätzig zu denken. Er wünschte sich den leichten Sinn, ja, den Leichtsinn seines Onkels. Was nutzten ihm seine strengen Grundsätze in einer Welt und in einer Gesellschaft, welche nicht auf solche Grundsätze erbaut war? Er hatte sich, wie er meinte, in der That über die klösterliche Erziehung, die man ihm gegeben, zu beschweren, er paßte durch sie nicht einmal mit seinen Kameraden zusammen, gegen deren fröhliche, auf den Genuß gestellte Sorglosigkeit er sich bisher so verständig erschienen war. Was sollten ihm eine Tugend, eine Sittlichkeit, die ihn nur schwerfällig, die ihn pedantisch erscheinen ließen und die es ihm doch nicht ersparten, mit sich selbst in Zwiespalt zu gerathen und Andern wehe zu thun? Er hätte nicht anders sein mögen, als seine Kameraden, er hätte ein glücklicher Verführer, wie sein Onkel sein, und sich in der Wärme seiner Erinnerungen sonnen mögen! Aber man wird nicht mit Einem Male lasterhaft, wie man nicht mit Einem Male tugendhaft wird. Jedes Ding will gelernt und geübt sein, und mitten in dem Verlangen, einen Liebeshandel mit Davide anzuknüpfen und den Amerikaner aus dem Felde zu schlagen, überkam Renatus der Gedanke, was die arme Hildegard dazu sagen, davon denken würde? Er seufzte um Hildegard und trachtete zugleich nach der Eroberung der [352] schönen Jüdin und nach Triumphen auf dem Felde der Liebe. Daneben ärgerte er sich wieder über dieses haltlose Schwanken, über dieses Wollen und Nichtwollen, und unwillkürlich diesem Aerger Worte leihend, rief er halb für sich aus: Herkules am Scheidewege ist doch eine alberne Figur!

Der Graf wendete sich nach ihm um, und als habe er ihn nicht verstanden, fragte er, was er wünsche.

O, rief Renatus, unsere ganze Unterhaltung ging mir durch den Kopf, und ich mußte mir sagen, daß die symbolische Figur des Herkules am Scheidewege albern sei!

Sehr albern, wiederholte der Graf, während er sich von seinem Platze erhob – und um so alberner, als die Dinge, welche man Tugend und Laster nennt, gar nicht so bestimmt zu trennen und weit näher mit einander verbunden sind, als man uns in der Jugend glauben machen möchte. Was ist Tugend? Wo hört sie auf? Wo fängt das Laster an? – Hirngespinnste und Ammenmärchen, zum Besten einiger Wenigen erfunden! – Er nahm eine Prise, ging auf dem weichen Teppiche des Zimmers auf und nieder und trat dann an das Fenster, durch dessen Scheiben er in die Straße hinaussah.

Er hatte noch nicht lange so gestanden, als sich sein Neffe zu ihm gesellte. Der Graf hatte das erwartet, that aber, als beachte er es nicht. So ging eine Weile hin. Endlich klopfte er dem Jüngling auf die Schulter und sagte mit einladender Zutraulichkeit: Nun, heraus damit! Was hat's gegeben? Denn geschehen ist etwas, wobei Deine Weisheit und Tugend sich nicht zu helfen wissen!

Renatus fuhr aus seinem Brüten auf, und innerlich von dem Einen Gedanken hingenommen, der ihn seit gestern nicht verlassen hatte, rief er, durch die plötzliche Anrede aufgeschreckt und überrascht: Beantworten Sie mir Eine Frage, Onkel! ist dieser Tremann meines Vaters Sohn?

[353] So gewiß, als Du selbst es bist! entgegnete der Graf gelassen, der freilich irgend eine andere Anforderung erwartet hatte.

Der junge Freiherr biß sich in die Lippe, seine Nasenflügel blähten sich im Stolz. Aber woher diese außerordentliche Freundschaft mit den Flies? Woher das große Aufheben, das sie mit diesem – Menschen machen?

Spekulation! lachte der Graf.

Aber worauf, worauf?

Worauf? Auf die Gunst des Zufalls, auf den diese Leute, denen es von ihren trödelhaften Anfängen inne wohnt, sich auf glückliche Zufälle zu verlassen, nie zu rechnen verlernen! Der Graf hatte seinen Platz am Fenster verlassen und sich behaglich an dem Feuer niedergesetzt. Er war müßig und gut aufgelegt, es unterhielt ihn, die Aufregung seines Neffen nach Belieben zu erhöhen und zu dämpfen.

Es ist übrigens ein eigenes Ding um dasjenige, was wir Zufall nennen, hob er nach einer anscheinenden Ueberlegung an. Man sollte ihm bisweilen eine Folgerichtigkeit, einen inneren Zusammenhang zutrauen, an gewisse Vorherbestimmungen glauben, wenn man überhaupt zum Glauben und damit zum Aberglauben Neigung hat. Ich zum Beispiel stehe anscheinend in einem geheimnißvollen Zusammenhange mit diesem Monsieur Tremann – oder Mannert, wie er eigentlich heißt. Er wird mir immer wieder in den Weg geführt, und es wird wohl schließlich meines Amtes sein, ihn – aus dem Wege zu schaffen, auf dem er nun auch Dich behindern zu wollen scheint.

Renatus war sehr ernst geworden. Er nahm neben dem Grafen Platz und sagte: Wenn man an eine Vorherbestimmung glaubt, wie ich es nach den Lehren unserer Kirche und aus fester Ueberzeugung thue, so kann und darf man nichts in der Welt als ein bloßes Spiel des Zufalls ansehen! Es berührt mich daher sehr eigenthümlich, daß mir eben heute die Nothwendigkeit [354] aufgedrängt wird, mich mit diesem Sohne meines Vaters zu beschäftigen und auf die Vergangenheit meiner Eltern zurückzublicken, die – ich weiß das wohl – leider keine glückliche gewesen ist! Aber in welcher Verbindung stehen Sie mit jenen Ereignissen, deren man gegen mich nie mit Offenheit erwähnte, die ich nur aus einzelnen Aeußerungen kennen und aneinanderreihen lernte? Sie würden mir einen Dienst leisten, Onkel, wenn Sie mir alles mittheilen wollten, was Sie von jenen Verhältnissen wissen, die für mich ja von so entschiedener Bedeutung sind!

Die ganze Arten'sche Pedanterie, die ganze Empfindsamkeit der guten Angelika! rief der Graf. Nur schade, daß es nicht mit wenig Worten zu sagen ist, wie ich mit jenen Vorgängen zusammenhänge! Gefühlvolle Seelen können etwas Verhängnißvolles, etwas Romantisches in der sehr prosaischen Geschichte finden, die nur durch die Ueberspannung Deiner Eltern zu einer Art von Wichtigkeit erhoben wurde! Du wirst davon gehört haben, daß Dein Vater einer Jägerstochter, die ihm diesen Monsieur Mannert geboren hat, aus philanthropischer Laune eine Art von Erziehung hatte geben lassen! Sie dankte ihm dieselbe, indem sie sich an dem Morgen, an welchem er zu seiner Hochzeit fuhr, ertränkte!

Ich weiß das! bemerkte Renatus mit einem Seufzer.

Es war allerdings ein lästiges Zusammentreffen; aber Dein Vater nahm die Sache unbegreiflich schwer, noch schwerer nahm sie Deine Mutter. Es ist am Ende Jeder nur für die berechenbaren Folgen seiner Handlungen, nicht für das Unberechenbare verantwortlich, was sie in Unvernünftigen erzeugen. Dein Vater empfand Gewissensbisse, machte sich Vorwürfe, Deine Mutter fand es nöthig, sie mit ihm zu tragen und zu theilen, Euer vortrefflicher Caplan wußte solche Stimmungen zu benutzen. Man gelobte den Bau einer katholischen Kirche, weil eine Jägerstochter [355] die Geliebte ihres Herrn gewesen war; und weil eine lutherische Magd sich das Leben genommen hatte, machte Deine Mutter, machte eine Gräfin Berka sich zur Katholikin. – Ich war damals sehr jung und Zeuge davon, wie man die Ertrunkene suchte, und ich verstand die Logik der darauf folgenden Ereignisse nicht; aber ich bekenne Dir, daß ich sie auch heute noch nicht verstehe. Begreife Du sie, wenn Du kannst!

Deine Mutter wollte den Bastard nicht in ihrer Nähe wissen; man vertraute ihn also meiner jetzigen Haushälterin, der Kriegsräthin, zur Erziehung an, die im Flies'schen Hause wohnte, und ein neuer Zufall brachte mich in demselben Hause in's Quartier. Ich war es, der auch mit einer ganz zufälligen Aeußerung in dem Knaben die Erinnerung an seine Mutter, an seinen Vater weckte, und wie des Burschen Aehnlichkeit mit Deinem Vater mir seine Abkunft augenblicklich verrathen hatte, so machte die übertriebene Zärtlichkeit, die man für den fremden Knaben im Flies'schen Hause an den Tag legte, mir bald klar, daß man gesonnen war, sich das Geheimniß, welches man Deinem Vater bewahrte, gelegentlich bezahlen zu lassen. Seba vor Allen schien eine ganz besondere Liebe für den Knaben zu haben, der beständig um sie war, und das machte ihn mir nicht lieber, denn Seba war damals jung und schön, ehrgeizig und phantastisch, abenteuerlich und zärtlich – und leichtgläubig, wie die Weiber alle.

Er hielt inne, lächelte und sagte dann, die Augen fest auf seinen jungen Gast gerichtet: Du hast vorhin mit einer Erkenntniß, die ich Dir gar nicht zugetraut habe, die Fabel vom Herkules am Scheidewege eine Albernheit genannt. Die meisten dieser Mythen sind Albernheiten: auch die Fabel vom Tantalus ist eine solche. Keine reife Frucht entzieht sich der durstenden Lippe, aber tausend reife Früchte welken, weil sich Niemand findet, der sie bricht. Es ist lächerlich, von verführten Weibern [356] zu sprechen! Sie unterliegen immer nur der eigenen Begehrlichkeit, der eigenen Phantasie! Wie reife Früchte warten sie am Baume sehnsüchtig auf den Durst des vorübergehenden Wanderers, um bei der leisesten Berührung ihm in die Hand zu fallen. Nun, ich ging vorüber mit dem Durste der heißen Jugend, und – die schöne Seba fiel mir ohne all mein Zuthun in die Hand!

Onkel! rief Renatus mit nicht zu verbergendem Widerwillen, weil seine Reinheit und Rechtschaffenheit vor solcher geflissentlich zur Schau getragenen Sittenlosigkeit zurückschreckten. Aber der Graf gehörte zu jenen Wüstlingen, die es belustigend finden, Andere erröthen zu machen, wenn sie selber zu erröthen verlernten, und als habe er den abwehrenden Ruf des jungen Mannes nicht vernommen, fuhr er gleichmüthig zu erzählen fort.

Wir rückten an demselben Tage, an welchem Seba sich mir ergeben hatte, in das Feld. Ich erhielt einige Briefe, klagend, bittend, drohend und beschwörend, wie eine Jede sie schreibt. Ich beantwortete sie nicht. Jahre vergingen, ich glaubte die Schöne längst getröstet, wähnte das Abenteuer längst begraben und vergessen, aber ich hatte die eigensinnige Beharrlichkeit der Juden nicht in Anschlag gebracht, die, wie gesagt, jeden Zufall zu benutzen weiß und der kein Umweg zu weit ist, wenn er nur früher oder später zum Ziele zu führen verspricht. Mich zu rühren hatte Seba nicht vermocht, mich zu bestimmen hatten sie und die Ihrigen keine Möglichkeit, aber mich überlisten und durch Ueberraschung gewinnen zu können, hatten sie nicht aufgegeben. Sie wußten von unseren und von den Verhältnissen Deiner Eltern durch den Architekten, der Euch die Kirche baute, durch Euren Amtmann, dem Flies die Mittel an die Hand gab, sich die Verlegenheiten Deines Vaters zu Nutze zu machen, was sie zu wissen wünschten, und mehr als das. Arglistig stellte man Deiner armen, kranken Mutter den ihr [357] verhaßten Bastard gegenüber, und als die Aermste zusammenbrach, da war der Menschenliebe und der Dienstfertigkeit, der Rücksicht und der Hingebung für sie kein Ende. Unter dem Scheine der höchsten Uneigennützigkeit erschlich sich Seba die Freundschaft und das Zutrauen Deiner Mutter. Als ihre einzige, als ihre beste Freundin führte Angelika, als ich eben zu einem Wiedersehen mit den Meinigen angekommen war, die edle Seba bei meiner Mutter ein, und diesen Augenblick benutzte die schöne, erhabene Seele, ihre Geständnisse zu machen und von mir die Herstellung ihrer Ehre zu verlangen, die sie mir sehr freiwillig geopfert hatte.

Renatus konnte diesen Ton nicht ertragen. Es schnürte ihm die Brust zu, es klopfte ihm in allen Adern, er erhob sich wie im Schrecken. Er hätte das Fenster öffnen mögen, obschon der Wind, der sich inzwischen erhoben hatte, die Scheiben klirren machte. Auch der Graf hatte sich erhoben, aber er ging gemächlich auf und nieder und pfiff leise das damals sehr beliebte Lied vom schönen Dunois durch die Zähne.

Jeder Mann, sagte er nach einer Weile, spielt zwischen drei Frauenzimmern in einer solchen Lage eine abgeschmackte Rolle. Die arme, sterbende Angelika schwamm in Thränen und hätte mir am liebsten die schöne Seba sofort angetraut; meine Mutter wollte Seba überreden, mir zu verzeihen, was sie mir gar nicht zu verzeihen hatte – und ich that das Einzige, was mir bei einer derartigen Scene und Ueberrumpelung zu thun übrig blieb: ich ließ sie alle gewähren! – Ich gönnte Deiner Mutter die Zeit, sich auszuweinen und das Vertrauen und die Freundschaft zu bedauern, welche sie Seba gewährt hatte. Ich ließ meiner Mutter die Zeit, zu begreifen, daß sie überlistet worden sei, und Seba Zeit und Freiheit, sich zu entfernen, was sie denn auch schließlich that. – Aber, rief er mit fester Stimme und mit einer Erbitterung, welche gegen die spöttische [358] Leichtigkeit sehr abstach, in der er bis dahin gesprochen hatte – aber ich habe es ihr nicht vergessen, daß sie mich gezwungen hat, vor meiner Mutter und meiner Schwester als ein Angeklagter da zu stehen! Ich habe es ihr nicht vergessen und vergeben, daß sie meine Mutter, die Gräfin Berka, dahin brachte, sich mit einer Bitte vor ihr zu erniedrigen – und sie hat es mir, sie hat es uns allen eben so wenig vergessen und vergeben, daß sie ihre Geständnisse unnöthig und vergebens vor uns abgelegt hat! Durch Dich und Deine Unschuld hofft sie zu erreichen, hofft sie, uns zu vergelten, was sie sich, was sie uns schuldig zu sein meint! Daher die große Freundschaft, welche man Dir im Flies'schen Hause beweist, daher die Annäherung an die Rhodens, mit der sie sich das Ansehen einer gesellschaftlichen Stellung zu geben suchen, die Dich sicher machen soll, daher die lächerliche Deutschthümelei, mit der sie ihr Judenthum maskiren! Darum mußte der Bastard Deines Vaters, der so gescheit gewesen war, sich aus dem Staube zu machen, zurückberufen und Dir als ein Bewerber um Davide in den Weg gestellt werden! Auf Deine Unerfahrenheit, auf Deines Vaters Lage ist dabei gebaut! Ich durchschaue den ganzen Plan, so weit und vorsichtig er auch angelegt ist; und wie wenig die Meinigen und Dein Vater dies von mir zu fordern haben, ich werde für sie, für Dich, für uns alle handeln! Die nöthigen Schritte dazu sind bereits gethan! Man weiß es, daß dieser Tremann unter falschem Namen hier ist, daß er nach allen Seiten Verbindungen hat, die ihn verdächtigen, sein Eintritt in die Geschäfte des alten Wucherers, des Flies, verdächtigt diesen ebenfalls! Man ist aufmerksam auf alles, was in dem Hause vorgeht. Und da sie sich so geflissentlich in den Vordergrund drängen, da dieser Tremann sich uns so unberufen in den Weg stellt, fühle ich mich, wie ich Dir vorhin sagte, auch berufen, sie mit ihrem neuen Günstlinge sammt und sonders aus dem [359] Wege zu schaffen und unschädlich zu machen! Dann ist Davide frei, und ....

Der Graf hielt plötzlich inne, denn der Diener öffnete einladend die Thüre des Nebenzimmers, in welchem die Mahlzeit den Grafen und seinen Gast erwartete. Als hätten sie bis dahin die heiterste Unterhaltung gepflogen, so leicht und freundlich bot der Oheim seinem Neffen den Arm; aber Renatus konnte sich nicht überwinden, sich auf ihn zu lehnen, er that als bemerke er es nicht.

Zorn, Scham, Empörung und Niedergeschlagenheit wechselten ihre Herrschaft in dem jungen Manne ab und ließen ihn zu keinem festen Gedanken, zu keinen klaren Vorstellungen kommen. Er kannte mit einem Male die Welt nicht wieder, in der er lebte. Sie starrte ihm unheimlich entgegen wie eine liebe, heimisch vertraute Landschaft, welche man plötzlich durch grell gefärbte, entstellende Gläser betrachtet. Er wußte, daß die Mittheilungen, die ihm durch diesen Erzähler aufgedrungen wurden, keine zuverlässigen und keine reinen sein konnten, aber er vermochte nicht zu unterscheiden, was Wirklichkeit, was Täuschung, was unabsichtliche, was geflissentliche Entstellung sei, und nur die Ansicht setzte sich unabweislich in seiner Seele fest, daß sein Vater nicht wohlgethan habe, ihn mit der Flies'schen Familie in Berührung zu bringen und ihn dadurch mit Personen zusammen zu führen, deren Stand und Gewerbe sie zu vielerlei Nachgiebigkeiten und Läßlichkeiten nöthigten und deren Sitten-, Rechts- und Ehrbegriffe also weit von denen eines Edelmannes abliegen mußten. Es kränkte ihn, daß diese Leute von seinen Familienverhältnissen in vieler Beziehung besser unterrichtet waren, als er selbst; er schämte sich bei dem Gedanken, daß er sich zu Seba so hingezogen gefühlt, daß er sie, die Entehrte, die sich seiner Familie aufdringen wollen, seine Freundin genannt habe, daß sie die Freundin seiner Mutter gewesen sei. [360] Sein Name, seiner Eltern Ehe, sein Vaterhaus, Alles schien ihm wie von einem Gifte angehaucht zu sein, und während gestern die bürgerliche Freiheit seines Bastardbruders ihm ein unbestimmtes Verlangen nach Ungebundenheit eingeflößt hatte, während er noch am Vormittage ein Verlangen nach ungewöhnlichen und abenteuerlichen Erlebnissen in sich gehegt, sehnte er sich nun plötzlich in den Kreis jener reinen Empfindungen zurück, in welchen er bis dahin so friedlich und so unbeirrt geathmet und gelebt hatte.

Die Tagesereignisse, die Stadtneuigkeiten, die Erzählungen aus der Gesellschaft der französischen Hauptstadt, mit denen der Graf sich und ihn bei Tische unterhielt, fesselten die Theilnahme seines Neffen nicht. Die gewählten Speisen, die feurigen und feinen Weine reizten des Jünglings Gaumen nicht. Er war schweigsam und ernsthaft in sich versunken, denn das Bild, das er am Morgen als eine Albernheit verspottet hatte, das Bild des Herkules am Scheidewege, drängte sich ihm abermals und jetzt in einem anderen Lichte auf. Auch er stand auf der Grenze zwischen zwei Welten, an einem Scheidewege, auch er hatte eine Wahl zu treffen zwischen den Verlockungen des Lebens und den Ueberzeugungen und Ehrbegriffen, in denen er erzogen und erwachsen war und die für alle Zeit die Handlungen eines wahren Edelmannes leiten mußten. Und noch ehe man sich von dem verschwenderischen Mahle erhob, war seine Wahl getroffen.

Statt ihn zu verführen, hatte die Charakterlosigkeit des Grafen ihn zur Besinnung und zu sich selbst gebracht. Renatus bereute, was er seit gestern gedacht, gethan; er war entschlossen, sich für immer von einem Kreise loszusagen, in welchem so niedrige Elemente sich verbergen konnten, und er hätte viel darum gegeben, hätte er auf den Lebensweg seines Vaters mit derselben Zufriedenheit zurückblicken können, wie auf denjenigen, den er bis gestern selbst zurückgelegt hatte. Es war nie ein unedler [361] Gedanke in sein Herz gekommen und – er wollte seine Seele rein erhalten. Er war stolz auf seine Sittenreinheit wie auf seinen alten Adel; er wollte durch seinen Edelmuth die Schwäche seines Vaters sühnen und vergessen machen, er wollte in sich das vollkommene Vorbild eines Edelmannes darstellen; und weil die Jugend ihr augenblickliches Wollen sich gern als eine That anrechnet, sah er bald mit einem mitleidigen Selbstgefühle, ja, endlich mit stolzer Verachtung auf seinen Oheim, auf den Mann herab, dessen Menschen- und Weltkenntniß ihm vor wenig Stunden noch beneidens- und bewundernswerth erschienen waren.

Renatus' Haltung hob sich an seinen guten Vorsätzen, er gewann seine Fassung wieder. Er nannte es in seinem Innern gut und nützlich, die Nachtseiten des Lebens in solcher Weise kennen gelernt und einen Blick in die verborgen gehaltenen Geheimnisse seiner Familie und seines Hauses gethan zu haben, den er sich zu Nutze zu machen beschloß. Daß er Seba nicht wiedersehen, das Flies'sche Haus nicht wieder betreten, die Gräfin Rhoden bestimmen müsse, mit Seba zu brechen, um Hildegard vor jeder Berührung mit derselben ein für alle Mal zu sichern, das verstand sich ganz von selbst. Er fühlte sich plötzlich berufen, die Zügel in die Hand zu nehmen und für Alle, die ihm nahe standen, einzutreten. War er doch der Freiherr von Arten, auf dessen Schultern die Verantwortung für die Ehre dieses Namens schon jetzt und in der Zukunft ruhte! Und er war jung genug, an die Dauer des Augenblickes zu glauben und mit der Kraft einer augenblicklichen Erhebung und Begeisterung, Vergangenheit und Zukunft umfassen und umgestalten zu wollen.

Er sann darüber nach, wie er, noch ehe er sich heute von seinem Onkel trennen würde, diesem die Entschlüsse kund geben könne, die er gefaßt, wie er ihm, ohne ihn zu beleidigen, deutlich machen könne, daß sie beide auf einem völlig verschiedenen Standpunkte ständen, daß sein Versuch, sich den Anschauungen seines [362] Onkels zu nähern, ein vergeblicher gewesen sei, und daß es also für sie in Zukunft gerathen sein dürfte, einander zu vermeiden. Aber der Widerspruch zwischen den Erzählungen des Grafen und den Gedanken und Empfindungen, welche sie in Renatus erzeugten, fing diesen allmählich poetisch zu dünken an. Es reizte ihn, sich in solcher Weise geistig von seiner zufälligen Umgebung befreien, seine Seele bis zu religiösen Empfindungen erheben zu können, während er die nöthigen Entgegnungen auf die ganz weltlichen Reden und Fragen seines Onkels nicht schuldig blieb; und er war mitten in diesem poetischen Selbstgenusse, als die Meldung von der Ankunft des Herrn von Castigni ihn störte, der als ein vertrauter Freund des Hauses dem Diener auf dem Fuße folgte.

Wichtige Nachrichten, ich bringe wichtige Nachrichten! rief er dem Grafen zu, während dieser den Franzosen nöthigte, an der kleinen Tafel Platz zu nehmen, und der Diener ihm ein Glas hinsetzte. – Rüsten Sie Sich zum Aufbruche, mein Herr Baron! Non più andrai far fallone amoroso! wie viel Thränen es auch kosten mag, fügte er scherzend hinzu. Der Marschbefehl für die preußischen Truppen ist ertheilt, und Mademoiselle Davide wird sich mit uns armen Civilisten genügen lassen müssen, bis die jungen Helden wiederkehren, um der Schönen ihre Lorbeeren auf's Neue zu Füßen zu legen.

Er durfte nach dieser Aeußerung eine eben so leichte Entgegnung erwarten und sah Renatus deshalb verwundert an, als derselbe mit einer gewissen Empfindlichkeit die Bemerkung machte, daß Mademoiselle Davide ihn weder Thränen kosten, noch Thränen um ihn weinen könne, da sie gar kein Interesse an einander nähmen. Dann erhob der Jüngling sich von der Tafel, wozu die Nachricht von der Marschordre ihm die erwünschte Veranlassung lieferte.

Der Graf, welcher es sich leicht gedacht hatte, Renatus für sich zu gewinnen und ihn zu einem Werkzeuge seiner Rache zu [363] machen, ahnte, daß er sich darin betrogen habe, und war der Zerstreutheit seines Neffen ohnehin müde geworden. Er versuchte also nicht ihn zurückzuhalten. Das Gespräch bewegte sich noch eine kurze Zeit um die Tagesnachricht; Renatus sprach die Hoffnung aus, auf dem Marsche auch zu seinem Vater nach Richten kommen zu können, und der Graf gab ihm dann mit scherzenden guten Lehren das Geleit.

Als sie die Thüre des Nebenzimmers erreichten, so daß Castigni ihre Worte nicht mehr vernehmen konnte, sagte Renatus ernst und feierlich, indem er stehen blieb: Ich habe noch etwas auf dem Herzen, ehe ich scheide. Sie haben vorhin feindliche Gesinnungen gegen den Kaufmann Tremann ausgesprochen. Ich bitte Sie, Onkel, geben Sie dieser Abneigung, die ich übrigens mit Ihnen theile, keine Folge. Es dünkt mich unserer nicht würdig, uns mit diesem Manne zu beschäftigen. Es ist nicht seine Schuld, daß er existirt, und Ehre ist für Unsereinen von seines Gleichen nicht zu holen. Ich für meinen Theil bin fertig mit ihm und seinem ganzen Anhange, da der Feldzug es mir möglich macht, mich ohne Aufsehen von Bekanntschaften zurückzuziehen, in die ich niemals gerathen sein würde, hätte man sich früher die Mühe genommen, mich zur rechten Zeit über jene Personen aufzuklären. Ich danke Ihnen, daß Sie dieses heute gethan haben. Meiner Verschwiegenheit sind Sie gewiß, und somit, Onkel, leben Sie wohl!

Der Graf nahm die ernste Anrede leichthin auf, und Renatus eilte von dannen, zufrieden, daß er mit dieser Fürsprache für Tremann die ersten Schritte auf dem Wege gethan hatte, von dem fortan nicht wieder zu weichen, er sich heute ein für alle Mal gelobt hatte.

[364]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel

Als Renatus seine Wohnung betrat, fand er seinen Burschen bereits damit beschäftigt, die für den Feldzug bestimmten Effecten auszusondern und zu packen. Renatus freute sich dessen, denn er sehnte sich, fortzukommen. Wie man die erhitzten, müden Glieder in eine frische, kühle Flut zu tauchen begehrt, so wünschte er die Erfahrungen der letzten vierundzwanzig Stunden in frischen, ermuthigenden Erlebnissen zu vergessen, und mit wahrer Sehnsucht richteten seine Gedanken sich in die Zukunft, in eine Zukunft, die er selber sich rein und schön und frei zu gestalten hoffte.

Nicht in der Todesstunde seiner Mutter, da sie ihn mit frommem Wunsche gesegnet, nicht an dem Tage, an welchem der Freiherr von ihm bei dem Abschiede aus dem Vaterhause das Gelöbniß gefordert hatte, daß er sich seines Namens und Hauses würdig machen wolle, hatte Renatus sich so ernst und in sich gefestet empfunden, als heute; aber es war die Weihe jener Momente, welche in ihm nachwirkte und ihn sich selbst versprechen ließ, was er denjenigen gelobt hatte, die er freilich jetzt nicht mehr als seine Vorbilder zu betrachten vermochte. Er beklagte seine Mutter, er bedauerte die Charakterschwäche seines Vaters, er pries sich glücklich, den Caplan zum Lehrer und Führer gehabt zu haben, er segnete die einsame, sittenstrenge Erziehung, die ihm zu Theil geworden und die er noch wenig Stunden vorher als ein Unglück anzusehen geneigt gewesen war, und es fiel ihm gar nicht ein, wie schnell eben im Laufe des letzten Tages seine [365] Empfindungen und Gedanken sich gewandelt und mit einander gewechselt hatten. Er hielt eben noch immer jede seiner Stimmungen für die Folge einer neu gewonnenen Erkenntniß und jede solche Erkenntniß für die einzig richtige und abschließende; das ist eine Eigenschaft der Jugend, welche beschränkten Geistern aber lebenslang eigen bleibt und es ihnen möglich macht, alle ihre Irrthümer im besten Glauben an die Unumstößlichkeit ihres Rechtes zu begehen.

Der Freiherr hatte, im Geiste der Zeit, welcher er angehörte, sich selbst genügen, und von dem Momente ab, in welchem er die Rechte seines Standes angefochten sah, sich in diesen Rechten, in seinem Ansehen und in seiner äußern Würdigkeit behaupten wollen. Das erkannte und begriff der Sohn, aber seine Erziehung hatte ihm, wie er meinte, ein höheres, ein idealeres Ziel vor Augen gehalten, und nie hatte ihm dies heller entgegen geleuchtet, als eben jetzt. Nicht allein um die äußere Würdigkeit war es ihm zu thun; er wollte in seiner Person, in seiner Handlungsweise es bestätigen, daß der Edelmann in sich den Begriff der Ehre reiner bewahre und darstelle, als die anderen Stände, daß er eine edlere Kaste sei, welche eben deßhalb sich einer strengen Ausschließlichkeit befleißigen müsse. Das hatte, wie Renatus meinte, sein Vater außer Acht gelassen, das hatte auch seine Mutter nicht genug beherzigt, und eben deßhalb hatte auch er jetzt auf dem Punkte gestanden, in unpassenden Verbindungen zu unangemessenen Handlungen verleitet zu werden. Ein Schreckbild war ihm in der Gestalt des Grafen zur rechten Stunde entgegen getreten. Er dankte seinem Schutzgeiste dafür, daß es einzulenken noch Zeit für ihn, noch nicht zu spät war, daß er sich noch vorwurfslos aus Umgebungen befreien konnte, in denen sein Name nicht an seinem Platze gewesen wäre, in denen seine Seele hätte Schaden leiden können und, er wies den Ausdruck Anfangs von sich, aber er drängte sich ihm ihm immer [366] wieder auf, in denen er in Gefahr gewesen war, sich zu erniedrigen.

Wie er sich auf den stolzen Schwingen seiner guten Vorsätze über seine Eltern erhob, so sah er von seiner neu erklommenen Höhe auf alle seine bisherigen Verhältnisse herab, und wie fern er sich auch von der bürgerlichen Gesellschaft fortan zu halten entschlossen war, wollte er doch nicht, daß irgend Jemand sich über ihn zu beklagen oder ihn der Versäumniß einer gesellschaftlichen Form zu zeihen haben sollte. An ihm, an einem Freiherrn von Arten, sollte, so weit er es verhindern konnte, kein gerechter Vorwurf haften.

Er hatte bis zum nächsten Mittage noch vollauf Muße, alles, was ihm oblag, zu ordnen und abzuthun. Er sendete seinen Burschen fort, einige Rechnungen zu bezahlen, verschiedene kleine Besorgungen zu machen; dann suchte er die Bücher zusammen, welche er im Laufe der Zeit von Seba entliehen hatte, packte sie sorgfältig ein und setzte sich nieder, ihr zu schreiben; indeß er konnte die Form dafür nicht finden. Er wünschte sich einfach zu verabschieden, aber es kam ein vornehmer, feierlicher Ton in seine Worte, der ihm selbst fremd und dann auch kränkend für Seba erschien, bis er nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein förmliches und doch freundliches Billet zu Stande zu bringen, sich sagte, daß er ein Unrecht begehe, wenn er sich zu einer Vertraulichkeit zwinge, die er nicht mehr fühle, und daß es demjenigen, der sich zu einem Charakter zu erziehen wünsche, weil er die Kraft eines solchen in sich trage, wohl anstehe, auch in Kleinigkeiten den Muth seiner Meinung zu haben. Er las sein Schreiben mehrmals durch, es gefiel ihm allmählich immer besser, und als er das freiherrlich von Arten'sche Siegel mit seinem »Fortis in adversis« darauf drückte, hatte er eine Genugthuung, als ob er eine gute That vollbracht oder eine schwierige Arbeit beendet hätte.

[367]

Er ließ die Koffer zuschnallen, die Kisten vernageln, in denen alles, was nicht zu seiner Feldausrüstung gehörte, in Berlin zurückbleiben sollte. Die Gräfin Rhoden hatte sich erboten, ihm diese Sachen aufzuheben. Es that ihm leid, daß er sie, deren Wohnung sehr eng war, damit beschweren mußte, und er dachte an die großen, weiten Räume, an die Fluren, Zimmer, Galerien und Remisen im Flies'schen Hause, um dabei die Betrachtung anzustellen, wie gut sein Vater es in seiner Jugend gehabt habe, als dieses Haus noch in Tante Esther's Händen gewesen war, und um es zu beklagen, daß ein so schicklicher Besitz für seine Familie verloren gegangen sei. Er hatte das nie vergessen können, wenn er bei Seba gewesen war, und schon deßhalb war es ihm lieb, mit den Eigenthümern jenes Hauses künftighin nicht mehr in Verkehr zu bleiben.

Es dunkelte schon, als die bestellten Träger sich mit seinen Sachen auf den Weg machten, und es war ziemlich spät, als der heimkehrende Diener ihm ein Briefchen der Gräfin einhändigte, in welchem diese die Erwartung aussprach, daß sie ihn heute noch sehen werde, da sein letzter Abend in Berlin, falls er nicht mit jüngeren Genossen eine Verabredung getroffen habe, nothwendig seinen ältesten Freunden zugehören müsse.

Er sah aus den wenigen Zeilen, daß Hildegard der Mutter ihren heutigen Streit mit ihm verschwiegen hatte, denn die Gräfin würde desselben sonst in einer oder der anderen Weise erwähnt oder unter den obwaltenden Umständen es vielleicht vermieden haben, den Jüngling, der ihr Haus im Mißmuthe verlassen hatte, zur Wiederkehr aufzufordern. Renatus fand sich dadurch aber in Verlegenheit gesetzt, und da er nun begonnen hatte, sein Thun und Handeln, wie er es nannte, einem strengen Urtheile zu unterwerfen, dünkte ihn sein ganzes Verhalten gegen seine mütterliche Freundin, gegen die Gräfin Rhoden, die ihm [368] zutrauensvoll den freiesten Verkehr mit ihren Töchtern gestattet hatte, noch weniger tadellos, als sein Betragen gegen Hildegard.

Beiden war er eine Erklärung schuldig, aber um sie zu machen, bedurfte er einer genauen Prüfung seines Herzens, und er war nicht ruhig genug, eine solche anzustellen. Die Fragen seines Dieners, die mancherlei Anordnungen, welche er zu treffen hatte, unterbrachen und zerstreuten ihn, wenn er sich zu sammeln strebte, nur daß er vor sehr ernsten Entscheidungen stehe, fühlte er deutlich und immerfort.

Es war kein Tanz, zu dem er morgen auszog! Seit die Geschichte die Thaten der Menschen aufgezeichnet hatte, war kein so gewaltiger Heereszug unternommen worden. Die ungeheuren Vorbereitungen, welche Napoleon getroffen hatte, ließen auf die Schwierigkeiten und auf den furchtbaren Widerstand schließen, den er selbst erwartete. Glänzende Erfolge waren für den Theilnehmer an diesem Kriege eben so möglich als das größte Unheil und Elend. Renatus konnte ruhmgekrönt, er konnte siech und verstümmelt wiederkehren: der Abschied, den er heute von dem Mädchen nahm, das er seit einiger Zeit als seine Geliebte und künftige Gattin im Herzen getragen hatte, konnte ein ewiger sein. Aber eben das machte ihn nur bedenklicher, Versprechungen zu leisten oder zu begehren, und dazwischen wunderte er sich, daß die Aussicht, von Hildegard zu scheiden, ihn nicht mehr erschüttere, daß er weit weniger an sie, als an die bevorstehenden wechselnden Ereignisse und Abenteuer seines Kriegerlebens denke, daß ihn die Hoffnung, Vittoria wahrscheinlich wiederzusehen, weit lebhafter beschäftigte, als die Nothwendigkeit, sich von Hildegard zu trennen.

Er nahm ein Etui heraus, in welchem sich eine Silhouette von ihm befand, die er, in Erwartung des Feldzuges, für die Gräfin Rhoden zum Andenken hatte machen lassen. Später, als er seine Wünsche auf Hildegard gerichtet, hatte er dieser das kleine [369] Bildniß bestimmt, und jetzt war er unsicher, ob er es überhaupt einer der Frauen anbieten dürfe und solle. Von jener Leidenschaft, welche die Dichter besingen, von jener überwältigenden Liebe, deren Feuer die Jugend so durchglüht und umleuchtet, daß ein ganzes Leben davon bis in seine fernsten Tage erwärmt und verschönt wird, fühlte er nichts in sich. Von dem unwiderstehlichen Zuge, von dem naturgewaltigen Müssen, die zwei Menschen zwingen, sich einander zu eigen zu geben, empfand er keine Spur. Er liebte Hildegard also nicht eigentlich, er hatte sich über seine Empfindung für sie getäuscht, hatte die Freundschaft, das Wohlgefallen, mit denen er an ihr hing, für ein wärmeres Gefühl gehalten, und wie peinlich diese Erkenntniß und die aus ihr folgenden Schritte für ihn in diesem Augenblicke auch sein mochten, durfte er es doch immer als ein Glück bezeichnen, daß er seines falschen Wahnes rechtzeitig inne geworden und vor dem Loose bewahrt worden war, sich im Herzensirrthume unwiderruflich an ein Mädchen zu binden, dem er keine wahre Liebe entgegenbrachte und mit dem er also eben so wenig glücklich werden, als er es mit seiner unvollständigen Liebe glücklich machen konnte. Er hatte Erinnerung genug an seine Kindheit, um eine unglückliche Ehe sehr zu fürchten, aber eben so schreckte er vor der Nothwendigkeit zurück, Hildegard seinen Selbstbetrug einzugestehen und von ihr wie von ihrer Mutter seine Vergebung zu fordern.

Alle seine Geschäfte waren abgethan, er stand allein in dem jetzt leer aussehenden Zimmer und blickte zerstreut auf die Straße hinaus. Von Minute zu Minute verschob er es, sich zu entschließen. Es war dunkel, der Wind hatte sich gelegt, Renatus fand keinen festen Anhaltspunkt für seine Vorstellungen.

Wie manchen Marsch in dunkler Nacht, wie manchen dunkeln Weg werde ich zu gehen haben, und wer weiß, auf welcher dunkeln Straße mir mein Todesloos geworfen wird! sagte er [370] mit einem Male zu sich selbst, und es ergriff ihn, daß ihm eben eine solche Idee gekommen war. Sollte das eine Ahnung sein?

Er wurde immer trauriger. Er konnte es sich nicht verhehlen, seiner Kindheit, seinem ganzen Dasein hatte der rechte, heitere Glanz gefehlt, und wie er in dem Lebensherbste seines Vaters geboren worden, war jetzt auch der Stern seines Hauses über die Mittagshöhe hinaus und nicht mehr im Steigen. Von früh auf hatte man ihn auf den Wahlspruch seines Wappens, auf das »Fortis in adversis« verwiesen, das er noch vorhin mit so viel Selbstbefriedigung betrachtet. Er hatte die Worte auch oft im Munde geführt, aber er hatte dabei immer an große, plötzliche Unglücksfälle gedacht, denen gegenüber man sich mit entschlossener That schnell und muthig zu bewähren hätte. Die Widerwärtigkeiten, die inneren Hindernisse und Zweifel, mit denen zu kämpfen ihm beschieden war, hatte er damals noch nicht gekannt, und Ehre und Ruhm, wie sie ihm begeisternd vor der Seele schwebten – wo sollte er sie erringen? In dem Kriege, zu welchem das Volk, das Heer des großen Friedrich jetzt unter dem Adler seines Unterdrückers auszog, waren sie für einen preußischen Edelmann nicht zu suchen und zu finden.

Er hielt inne, als er in seinen Gedanken auf diesen Punkt gekommen war; denn das, eben das, hatte ja Tremann gestern ausgesprochen. Es war nicht anders, Tremann hatte Recht gehabt, und mit allen seinen Vorsätzen und Entschlüssen kam Renatus nicht über die Schranke hinaus, in welche er durch seine Verhältnisse gebannt war: die Gesetze der Standesehre zwangen ihn, wider seine Neigung, ja, gegen seine Ueberzeugung zu handeln.

Wohin er sich auch wendete, nirgends hatte er einen klaren, freien Ausblick, nirgends sah er einen leichten Weg für sich offen, und doch war er durch seine Geburt auf die Höhen des Lebens gestellt und über die große Menge hinausgehoben! – Er wußte[371] sich nicht zu helfen in seiner stolzen Verzagtheit, und weil ihm Alles nur schwerer und trüber erschien, je länger er darüber nachsann, faßte er sich endlich gewaltsam zusammen, um das Nöthigste abzuthun und sich wenigstens nach der einen Seite Luft und Freiheit zu verschaffen.

Renatus hatte von seinem Hause bis zu der Wohnung der Gräfin ziemlich weit zu gehen und also hinlängliche Muße, sich zu überlegen und zu wiederholen, wie er sein Verhalten zu erklären und zu rechtfertigen versuchen solle. Weil er die regelmäßigen Gewohnheiten seiner Freunde kannte, fiel es ihm leicht, sich die Lage, in welcher er sie antreffen werde, vorzustellen, sich den Gang auszumalen, den das Gespräch wohl nehmen würde, und sich danach die Form zurechtzulegen, in welcher er von der Unterhaltung über seine äußeren Angelegenheiten auf seine Empfindungen und innerlichen Erlebnisse überleiten könne, und er hatte eine gewisse Fassung und Haltung gewonnen, noch ehe er vor der Thüre der Gräfin anlangte.

Er sah zu ihren Fenstern hinauf, das Licht schimmerte durch die Vorhänge, die beiden großen Myrtenstöcke warfen ihren Schatten gegen dieselben. Die Gräfin hatte diese beiden Myrten bei der Geburt ihrer Töchter, nach der Sitte ihres Hauses, selbst gepflanzt; es waren unter ihrer sorglichen Hand zwei schöne Stöcke geworden, sie sollten einst die Kränze für ihre Töchter liefern. Renatus hatte vor Hildegard's Myrte manch lieblichen Traum geträumt; jetzt fiel ihm bei dem Anblicke das Non più andrai far fallone amoroso! ein, das Herr von Castigni ihm vor wenig Stunden zugerufen hatte. Die Zeit der Liebeständelei, die Zeit der Jugend waren für ihn vorüber!

Oben angelangt, dünkte es ihn, als müsse er lange warten, bis das Mädchen ihn angemeldet hatte und ihm die Thüre zum Eintritte öffnete. Es war in den Zimmern Alles wie sonst. Die Gräfin saß ruhig wie immer auf ihrem gewohnten Platze, [372] Cäcilie am unteren, Hildegard am oberen Ende des Tisches. Er hätte sich nicht gewundert, hätte er sich selber zwischen den beiden Schwestern an der freien Seite, der Gräfin gegenüber, sitzen sehen. Das sollte nun ein Ende haben.

Das Herz wurde ihm schwer und fing ihm stark zu klopfen an, als er den Frauen den guten Abend bot, denn ihre Traurigkeit war unverkennbar. Er sagte sich, daß er Muth für sie alle werde haben müssen und daß es nöthig sei, sich nicht erweichen zu lassen. Mit festem Schritte und noch festeren Vorsätzen ging er zu der Gräfin, ihr, wie immer, die Hand zu küssen, dann reichte er Cäcilien die Hand und wollte sich eben der älteren Schwester in gleicher Absicht nähern, als diese sich schnell erhob, ihm beide Hände entgegenreichte und mit warmer Empfindung die Worte hervorstieß: Vergib mir – ach, vergib mir!

Daß Hildegard ihn in Gegenwart der Mutter, ohne all sein Zuthun, um Vergebung bitten könne, darauf allein hatte er nicht gerechnet. Es erschreckte ihn also, wie es ihn rührte, und weil es ihn unvorbereitet traf, wußte er nicht gleich das rechte, mit seinen Absichten vereinbare Wort zu finden.

Liebe Hildegard, sagte er; aber sein zögernder Ton bestärkte sie in dem Glauben, daß er ihr noch zürne, und ihres Schmerzes bei dem Gedanken an die bevorstehende Trennung nicht länger Meister, hingerissen von ihrer Liebe, warf sie sich mit erhobenen Armen um seinen Hals und klagte: Ich sterbe, Renatus, wenn Du im Zorne von mir gehst!

Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, er fühlte das Schlagen ihres Herzens an dem seinigen, er hielt sie umfangen, er erwiederte ihre Küsse, er knieete mit ihr zu den Füßen ihrer Mutter, die sie unter Thränen segnete.

Er hatte das so oft geträumt, daß es ihm auch jetzt war, als träumte er es wieder; nur daß er im Schlafe sehr natürlich gefunden hatte, was ihm jetzt fast unglaublich däuchte, und daß [373] statt der unklaren Furcht vor dem Erwachen, die ihn sonst in seinem Glücke gestört hatte, jetzt wie ein kühler, unheimlicher Schatten das Bewußtsein über ihm lag, daß kein Erwachen das Geschehene ungeschehen machen werde. Seine Gefühle und Gedanken trieben in einem solchen Wirbel durcheinander, daß er keinen von ihnen festzuhalten wußte und allmählich von ihnen fortgerissen wurde. Hildegard's überwältigende, alle mädchenhafte Scheu besiegende Liebe schmeichelte seiner Eitelkeit, ihre Zärtlichkeit entflammte, aufgeregt, wie er es ohnehin war, seine Sinne. Er hielt sich berechtigt, seine Braut – denn das war Hildegard ihm jetzt – im Bei sein ihrer Mutter fester und inniger zu umarmen, als je zuvor, und die Phantasie des Mädchens war der seinigen seit langer Zeit vorausgeeilt, denn Mädchen reifen immer schneller als der Jüngling. In dem Bestreben, ihrer Mutter zu erklären, daß sie nicht anders habe handeln können und daß sie ihrem Herzen habe folgen müssen, erzählte Hildegard mit frohem, liebevollem Rückerinnern, wie Alles sich in den letzten Monaten zwischen ihr und dem Geliebten begeben habe, und Renatus' eigenes Herz wurde davon erweicht und entflammt. Er fragte sich, wie er das alles habe vergessen können, er sagte sich daneben, daß ein Edelmann, der mit einer Dame seines Standes so weit gegangen sei, sich auch ohne eine bestimmte Erklärung an sie gebunden habe, und es fiel ihm nicht ein, daß er mit diesem bloßen Gedanken seine Verlobung als eine nicht frei gewollte That anerkannte, daß er es stillschweigend beklagte, seine Freiheit verloren zu haben. Er hatte auch zu solchen Ueberlegungen die äußere Ruhe nicht.

Die Gräfin sprach es ihm mit ihrer sanften Würde offen aus, daß seine Liebe für Hildegard ihr kein Geheimniß gewesen sei und ihr den liebsten Wunsch ihres Herzens erfülle, daß sie aber fürchte, der Freiherr werde anderer Ansicht sein und eine mittellose Schwiegertochter nicht willkommen heißen. Sie klagte [374] sich an, in ihrer Rührung voreilig ein Bündniß gesegnet zu haben, für welches Renatus die Zustimmung seines Vaters noch fehle; sie hielt ihm seine Jugend, die Gefahren des bevorstehenden Krieges vor, sie ersparte ihm keines der Bedenken, die er sich selbst entgegengehalten hatte – und ohne daß sie es wollte oder auch an eine solche Möglichkeit dachte, half sie ihm damit, sich in seiner neuen Lage festzusetzen.

Die Nothwendigkeit, die Gräfin zu überreden, zwang ihn, nach Gründen zu suchen, welche sie widerlegen konnten und welche also auch seine früher gehegten Besorgnisse widerlegten. Der Hinweis auf seine Jugend, auf seine Abhängigkeit von seinem Vater regte sein männliches Selbstgefühl auf, und da er wenig gewohnt war, auf Widerstand zu stoßen, trieb ein solcher ihn nur an, es darzuthun, wie er ihn zu besiegen wisse. Die berechnetste Absichtlichkeit hätte für Hildegard's Wünsche und gegen die früher gefaßten Vorsätze des jungen Freiherrn nicht wirksamer eintreten können, als die edle Gewissenhaftigkeit der Gräfin.

Kein Mann mag vor den Augen eines Weibes, das ihm nur irgend eine Art von Theilnahme eingeflößt hat, als ein Abhängiger, ein Unfreier erscheinen, am wenigsten konnte Renatus dies ertragen. Er sagte, daß er die Hoffnung hege, von seinem Vater die Wahl gebilligt zu sehen, welche sein Herz getroffen habe, aber er betheuerte zugleich, daß er Mannes genug sei, auch wider seines Vaters Willen sein Recht auf freie Selbstbestimmung zu behaupten. Hildegard's strahlendes Antlitz, ihr fester Händedruck, die Bewunderung, mit welcher die liebliche Cäcilie auf den Geliebten ihrer Schwester blickte, der sanfte Beifall, den er in der Mutter Augen las, steigerten seine Selbstgewißheit wie sein Feuer. Er versicherte, daß er nicht von dieser Stelle scheiden werde, ohne die feste Zusage von Hildegard's Hand erhalten zu haben. Er ging so weit, ihr und der Mutter zu bekennen, wie er sich alle jene Einwendungen selbst gemacht habe, [375] wie er Willens gewesen sei zu schweigen, und ohne das beseligende Bewußtsein, daß die Geliebte für ihn bete und ihm mit ihrem Geiste nahe sei, in den Kampf zu ziehen, und wie unmöglich er das gefunden habe, als er Hildegard ins Auge geschaut, als ihr süßer Mund von ihm Vergebung gefordert habe, wo er, er ganz allein der Schuldige, ihrer Verzeihung bedürftig gewesen sei.

Er lag dabei vor ihr auf den Knieen, er hatte sich von Allem überredet, was er sagte, Hildegard's Hände hoben sein blondes Haupt empor, er blickte trunken und beseligt in ihr Antlitz. Es war ihm völlig entschwunden, daß er sie am Morgen unschön gefunden hatte. Er nannte sie seinen Engel, seine schöne, blonde Heilige, und sie sah auch schön aus in ihrem Glücke. Wie hätte die Mutter ihren Kindern diese erste Seligkeit des Zueinandergehörens trüben oder stören mögen, wie hätte sie nicht mit ihren Kindern hoffen sollen, daß Alles sich zum Guten wenden werde!

Es war weit über die gewohnte Stunde, als sie den Jüngling daran erinnerte, daß es Zeit zum Aufbruch sei, daß er Hildegard verlassen müsse.

Auf morgen! sagte er, als er die Braut umarmte.

Aber dann, aber dann! rief sie in Vorahnung der langen, schweren Trennung, die ihnen drohte. Auch ihm krampfte es das Herz zusammen. Er küßte sie wieder und wieder, er trank die Thränen von ihren Augen, und jetzt dachte er wieder an die für Hildegard bestimmte Silhouette. Die Zweifel, die ganze Stimmung, mit welcher er das Portrait am Abende in Händen gehalten und betrachtet hatte, waren wie aus seiner Erinnerung weggelöscht. Der glückliche Augenblick verscheuchte und verhüllte, wie ein mächtiger Zauber, alles, was seiner Herrschaft in der Vergangenheit und in der Zukunft im Wege stand.

Hildegard drückte das Bild an ihre Lippen, dann rief sie, [376] daß man ihr folgen, daß man ihr leuchten solle, und schnellen Schrittes eilte sie den Andern voran in ihr Schlafgemach.

Renatus hatte den stillen Raum nie zuvor betreten. Ueber dem keuschen, weißen Lager der Geliebten hing das Crucifix und das Weihwasserbecken, ein kleines Bild, das die Gräfin als Braut darstellte, hing darunter. Hildegard nahm es von der Wand und befestigte die Silhouette an der Stelle.

Ihm mußt Du weichen, Mutter, das ist jetzt sein Platz! rief sie, indem sie die Gräfin umarmte, und sich zu Renatus wendend, sagte sie mit einer Erhebung, die ihr sehr wohl anstand: Denke hierher, Geliebter! Hier wird meine Seele für Dich beten, hier werde ich auf meinen Knieen liegen früh und spät und Gottes Schutz und Segen herniederflehen auf Dein geliebtes Haupt, und hier – ihre Stimme ging in Thränen unter – wird mein letzter Seufzer Dir gehören, wenn Gott es anders über Dich und mich beschlossen hat!

Die Verlobten sanken sich tief erschüttert in die Arme, die Gräfin und Cäcilie waren nicht weniger gerührt, sie umarmten den Jüngling gleichfalls, und die schlanke Cäcilie konnte sich in ihren Thränen kaum von seinem Halse trennen. Er mußte sie endlich mit sanfter Gewalt von sich entfernen, sie war des Schmerzes noch ganz ungewohnt.

Als ein verwandelter Mensch kehrte Renatus in seine Wohnung zurück. Wie verdiene ich dieses Glück, wie verdiene ich ihre Liebe? fragte er sich – ich, der ich mich so schwer gegen dieses reine, seltene Herz versündigt habe?

Hildegard's Frömmigkeit wirkte in ihm nach. Er betete ernster, inbrünstiger, als seit langer Zeit, und mit voller Ueberzeugung wiederholte er sich alle die Gelöbnisse, die er sich gethan hatte, und fügte den Schwur hinzu, daß Hildegard's Glück ihm heilig wie seine Ehre, und seine Ehe mit ihr ein Musterbild adeliger Würdigkeit und Sitte werden solle.

[377]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel

Es waren ein paar schmerzlich schöne Stunden, die Renatus am Morgen noch mit seiner Braut verlebte. Die Aufregung des vorigen Abends hatte einer milden, weichen Stimmung Platz gemacht. Hand in Hand bei einander sitzend, besprachen die Liebenden in dem Beisein der Gräfin ihre Plane und Aussichten für die nächste Zeit und für die Zukunft, und man suchte es darüber wenigstens für diesen Augenblick zu vergessen, daß Renatus scheiden mußte und welchen Gefahren er entgegenging. Er gab der Braut Anweisungen darüber, wie sie ihm ihre Briefe durch Vermittlung der Behörden zuzusenden habe, verhieß ihr, zu schreiben, so oft sich ihm die Gelegenheit dazu bieten würde, und als der Zeiger der Uhr sich der Trennungsstunde nahte, als man noch eilig alles zu sagen, zu fragen, zu hören und zu besprechen strebte, was man für einander auf dem Herzen hatte, als Jedem immer noch etwas einfiel, was er vergessen zu haben meinte, und Allen der Trennungsschmerz schon die Brust belastete, daß die Stimmen weich wurden und die Augen sich mit feuchtem Schimmer füllten, sagte Renatus, daß er noch eine Bitte an die Gräfin habe, mit deren Gewährung sie ihm eine Beruhigung bereiten könne. Er wünsche, daß Hildegard das Flies'sche Haus nicht mehr besuche und daß ihr Verkehr mit Davide ein Ende haben möge.

Man hatte auf jedes andere Verlangen eher als auf diese Forderung gerechnet, und weil sie gar so auffällig erschien, begehrte die Gräfin, daß er erklären solle, worauf sie sich begründe. [378] Er antwortete, es sei ihm nicht möglich, dies auseinander zu setzen, am wenigsten könne er das in den wenigen Minuten thun, die zu weilen ihm noch vergönnt sei; man möge aber zu seinem Herzen und zu seinem Ehrgefühle das Zutrauen haben, daß er eine solche Warnung gegen eine Familie und gegen Personen, deren Gastfreundschaft er selbst angenommen und die seine Mutter ihrer Theilnahme werth geachtet habe, nicht auszusprechen wagen würde, wenn ihn nicht die entschiedensten Gründe dazu nöthigten.

Die Gräfin war sehr geneigt, ihm in allen seinen Wünschen zu willfahren, denn sie hatte ihn von jeher lieb gehabt und hatte Vertrauen in seine Rechtschaffenheit; dennoch machte sie Einwendungen, die auf ihrer persönlichen Kenntniß und ihrem persönlichen Wissen von Seba beruhten. Allein sie machte damit weder auf Renatus, noch auf ihre Tochter den gehofften Eindruck. Der Jüngling beschied sich zwar, auf die Entschließungen der Gräfin keinen Einfluß zu üben, aber von seiner Braut meinte er Nachgiebigkeit und Gehorsam gegen seine Ansichten fordern zu dürfen, und Hildegard war mit der unheilvollen Ausschließlichkeit der Liebe augenblicklich bereit, ihm zu gehorchen.

Du und ich, ich und Du, rief sie, das ist fortan unsere Welt! Was kümmern uns die Andern! Kehrst Du mir wieder, so brauche ich Niemanden sonst, und ohne Dich – werde ich überhaupt nichts mehr bedürfen!

Die Aeußerung erschreckte und verletzte die Gräfin. Sie erinnerte die Tochter daran, daß Renatus mit solcher Ausschließlichkeit schwerlich einverstanden sein werde, da er große Zärtlichkeit für seinen Vater, für Vittoria und für seinen kleinen Bruder hege; aber Hildegard's Seele hatte immer nur für eine Empfindung, ihr Geist immer nur für einen Gedanken Raum, und sie hatte in jenen Worten, mit denen sie ihre Liebe auszudrücken wünschte, ihren Zustand völlig richtig bezeichnet. Sie [379] zog daher von jener Mahnung auch keinen Schluß auf die berechtigten Ansprüche der Mutterliebe, sie schien eben so vergessen zu haben, daß sie bisher in ihrer Verehrung vor Seba, in ihrer Zuneigung und in ihrem Umgange mit Davide eine Genugthuung gefunden hatte. Renatus aber war zu jung und viel zu unerfahren, um nicht durch den Gehorsam seiner Verlobten sehr befriedigt zu werden, um in ihrer hingebenden Willfährigkeit neben ihrer Liebe auch die ganze, rücksichtslose Härte einer beschränkten und engherzigen Natur vorahnend zu erkennen und zu schauen, und als sie, überwältigt von ihrem Schmerze, im Augenblicke der Trennung, als könne sie sich nicht genug thun mit ihrem Leiden und mit ihren Thränen, eine ihrer langen, blonden Locken abschnitt, damit er sie zu ihrem Gedenken auf dem Herzen trage, preßte er die Geliebte noch einmal mit stolzer, seliger Freude an seine Brust und verließ sie und das Haus ihrer Mutter und die Stadt, in dem Gefühle, daß so viel Liebe von Gott gesegnet und unvergänglich, ewig sein müsse.

Er hatte zu lange bei der Braut verweilt, um seinen Onkel, den Grafen Gerhard, noch aufzusuchen, er fühlte sich auch nicht dazu geneigt; denn er hatte nur einen einzigen Gedanken, und diesen zu verschweigen wäre ihm eben so schwer geworden, als ihn vor seinem Oheim auszusprechen. Er hätte eben so gern die geweihte Hostie, den heiligen Leib des Herrn von unreinen Händen berührt gesehen. Dazu hatte die Gräfin verlangt, daß Hildegard und Renatus ihre Liebe geheim halten sollten, bis sie sich der Einwilligung des Freiherrn sicher wüßten, und des Jünglings reine Seele fand einen keuschen Genuß in seinem stillen, innerlichen Liebesglücke.

Als er mit seinem Regimente an dem Flies'schen Hause vorüberkam, blickte er aus Gewohnheit hinauf, aber es war Niemand von der Familie an den Fenstern sichtbar; nur Herr von Castigni winkte ihm seinen Gruß zu.

[380] Mein Billet ist verstanden worden, sagte sich Renatus mit Zufriedenheit; gleich darauf kam es ihm jedoch in das Gedächtniß, daß Seba neulich ausgesprochen, sie denke es nicht mit anzusehen, wie die Kinder des Vaterlandes von einem fremden Tyrannen für eine ungerechte Sache an das Messer geliefert würden. Er hätte das gern vergessen mögen, aber es fiel ihm immer wieder ein; noch vor dem Hause, in welchem sein Oheim wohnte, dachte er daran.

Es war lebhaft in der Straße, obschon Truppenmärsche seit Jahren eine alltägliche Sache geworden waren. Freunde und Verwandte der Ausmarschirenden, Müßige und Neugierige standen zu beiden Seiten des Weges, den das Regiment zu machen hatte. Die Kriegsräthin, die noch immer ihre Freude an schönen Uniformen und an schönen Männern hatte, saß seit dem frühen Morgen, wohl frisirt und sorgfältig geschminkt, am Fenster. Sie hatte, um sich in dem vorderen Eckzimmer aufhalten zu können, den Grafen gefragt, ob sie nicht aufpassen und ihn benachrichtigen solle, wenn das Regiment des jungen Herrn Baron vorüberkomme; und obschon es noch früh im Jahre und nicht eben warm war, öffnete sie die Fensterflügel und legte sich weit hinaus, als das Schmettern der Trompeten sich vernehmen ließ und die stolzen Reihen der Garde-Dragoner sichtbar wurden.

Auf den Ruf seiner Haushälterin trat Graf Gerhard gleichfalls an das Fenster, aber es hätte ihres Rufes nicht bedurft. Er kannte sie, diese Trompeten, er kannte ihren Klang und dieses Regiment. Sein Großvater hatte es in der Schlacht von Hohenfriedberg geführt, in der es zur Entscheidung des Sieges beigetragen, sein Vater hatte darin gedient und auch der Graf selber hatte zuerst bei demselben gestanden. Es lebten ihm zahlreiche Kameraden und Genossen froher Stunden in seinen Reihen.

Die Kriegsräthin kannte auch von früher her verschiedene der Herren Offiziere, und winkte, wie man das in gar vielen [381] Häusern that, den Scheidenden ihre Abschiedsgrüße zu; indeß man mußte es nicht gewahren oder es nicht beachten wollen. Die Blicke, welche das Fenster streiften, an welchem jene Beiden standen, glitten schnell über sie hinweg, ihr Gruß ward nicht erwiedert.

Ob Graf Gerhard das bemerkte? Die Kriegsräthin hätte das nicht sagen können. Er stand hoch aufgerichtet da, die Arme über die Brust gekreuzt, wie es durch Napoleon's Gewohnheit zur Mode geworden war, und sah anscheinend gleichmüthig auf die Vorüberziehenden hinab. Aber mit ihnen zog die ganze, würdige Vergangenheit seiner Väter an ihm vorüber, seine Stirn verdüsterte sich, es zuckte ein paar Mal unheimlich in seinen Mienen und um seine Lippen; indeß er sprach kein Wort, und Escadron nach Escadron ritten sie vorbei, und immer noch drangen die bekannten Klänge wie vorwurfsvolle Fragen an sein Ohr.

Der Hohenfriedberger Marsch! sagte er endlich unwillkürlich und das Blut wich aus seinen Wangen; es faßte kalt nach seinem Herzen. So elend hatte er sich nie gefühlt, auch nicht in jener Stunde, als er gedemüthigt vor den Augen seiner Mutter zusammengebrochen war. Sein Gewissen war wider ihn aufgestanden. Er sah sich in dem Spiegelbilde, welches sein innerstes Bewußtsein ihm ohne Erbarmen vorhielt, er schämte sich vor sich selbst. In bitterem Grimme trat er in das Zimmer zurück.

Der junge Herr Baron! rief die Kriegsräthin und nöthigte den Grafen damit, wieder an das Fenster zu kommen. Renatus neigte zum Zeichen des Abschiedsgrußes seinen Säbel vor dem Onkel, und noch einmal sagte sich dieser: Und dazu blasen sie den Marsch von Hohenfriedberg! Unwillkürlich fragte er sich, was seine Schwester Angelika empfinden würde, sähe sie den Sohn beim Klange dieser Musik unter französischer Aegide in das Feld ziehen; aber der heitere Blick, der lächelnde Mund und die vollendete Anmuth, mit denen er des Neffen Gruß erwiederte, ließen nicht errathen, was eben erst in der Seele des Grafen[382] vorgegangen war, und sich von seinem Gewissen mehr als einen Augenblick beunruhigen oder sich mehr als flüchtig von seiner Erinnerung rühren zu lassen, war er nicht gewohnt! Im Gegentheil: der Zorn, den er gegen sich selbst gefühlt hatte, wendete sich gegen diejenige, welche er sich gewöhnt hatte, als die Ursache und Urheberin seines Abfalls von sich selbst wie von der Sache seines Vaterlandes zu betrachten, und der Anblick von Renatus erinnerte ihn nur daran, daß dieser sich seinen Absichten und Planen nicht geliehen hatte.

Ein hübscher junger Herr, sagte die Kriegsräthin, ein ganz Berka'sches Gesicht! Man könnte ihn für den Sohn des Herrn Grafen halten, nur daß der Herr Graf viel männlicher und schon viel gebietender aussahen, als Sie des Herrn Lieutenants Jahre hatten. Dem Herrn Vater sieht er gar nicht ähnlich.

Der Graf ließ die ihm schmeichelnde Bemerkung der Kriegsräthin unerwiedert fallen und sagte: Dafür sieht Ihr ehemaliger Pflegesohn ihm um so ähnlicher!

Nun war die Reihe des Nichtbeachtens an der Kriegsräthin. Sie wußte nicht, wo der Graf mit der Bemerkung, die er nicht zufällig gemacht haben konnte, hinauswollte, und da sie sich als Schmeichlerin der Männer von jeher eine scharfe Beobachtungsgabe angeeignet hatte, sah sie, daß Graf Gerhard sich in einer Laune befinde, in der sie ihn zu schonen habe.

Auch schien er keine Antwort zu erwarten, denn er ging, sobald Renatus aus dem Bereiche des Fensters war, nach dem Nebenzimmer, und erst unter der Thüre desselben sagte er: Sie waren ja, wie ich meine, gestern oder vorgestern bei Ihrem Manne; was hat er denn beständig für Tremann zu copiren? Haben Sie's vielleicht gesehen?

Die Kriegsräthin bejahte es, aber sie meinte, sie hätte sich aus den Papieren nicht vollständig vernehmen können. Es wären Auszüge aus Reisebüchern, Handelsberichte aus Zeitungen, die ihr Mann zu machen habe.

[383] Briefe und Actenstücke oder dergleichen copirt er nicht? fragte der Graf.

Sie antwortete, daß sie sich nicht erinnere, Derartiges gesehen zu haben; übrigens werde Paul Berlin bald für längere Zeit verlassen.

Der Graf warf die Bemerkung hin, er wisse durch Herrn von Castigni, daß Tremann noch an diesem Abende reisen werde. Das bezweifelte die Kriegsräthin nach den Aussagen ihres Mannes, der seine Arbeit erst an einem der folgenden Tage abzuliefern habe. Der Graf entgegnete darauf nichts. Er blieb jedoch noch in dem Zimmer, sah, wie die Menge sich in den Straßen allmählich verlief, nun das militärische Schauspiel vorüber war, und erkundigte sich nach verschiedenen Kleinigkeiten, die er seiner Haushälterin zur Besorgung aufgetragen hatte. Dazwischen warf er ganz beiläufig die Frage hin, ob Tremann nie bei ihr gewesen, seit er wiedergekommen sei.

Sie zuckte mit den Schultern. Um sich, wie Sie, Herr Graf, seiner Bekannten in ihrem Unglücke anzunehmen, muß man großmüthiger sein, als Paul es bei Seba und bei ihrem Vater lernen kann. Ich vermag mich nicht so wie mein Mann zu demüthigen, und Paul sowohl als Seba haben es ganz und gar vergessen, wie glücklich diese gewesen ist, als ich ihr zuerst erlaubte, zu mir zu kommen, und wie ich mich ihrer angenommen habe, um sie nur erst für den Verkehr mit gebildeten Männern und guter Gesellschaft zuzustutzen. Seit man den Juden so viel Freiheiten gewährt, sind sie hochmüthig und noch schlechter geworden, als sie stets gewesen sind. Erst gestern früh, als ich von meinem Manne kam, ist Seba in einem prachtvollen, echten Shawl, wie keine Königin ihn schöner haben kann, an mir in ihrer neuen Equipage mit einem Stolze vorübergefahren, mit einem Stolze .... Sie unterbrach sich, da sie ihrer Redseligkeit sonst in ihres Herrn Gegenwart nicht die Zügel schießen lassen durfte, indeß ihre Empörung [384] war so groß, daß sie sich nicht enthalten konnte, den Nachsatz hinzuzufügen: Aber ich werde es ihr gedenken! Hochmuth kommt vor dem Falle, und es wird mit Seba und mit Paul wahr und wahrhaftig auch noch einmal ein schlechtes Ende nehmen!

Wohl möglich, meinte gleichmüthig der Graf, der sie wider seine Gewohnheit nach Belieben hatte sprechen lassen. Wenn Sie übrigens zufällig erfahren, ob Tremann heute oder erst in einigen Tagen abreist, so sagen Sie es mir. Die Sache kümmert mich freilich nicht, ich möchte jedoch um Herrn von Castigni's willen wissen, ob man ihn in dem Hause geflissentlich hintergeht, wozu man denn doch Gründe haben müßte, die für jenen bedenklich sein könnten.

Sie sagte, dies zu erfahren, werde ihr ein Leichtes sein, und obschon der Graf ihr wiederholte, daß es damit keine Eile habe, hatte er sich kaum entfernt, als die Kriegsräthin schnell ihre nöthigsten Geschäfte besorgte und sich zum Ausgehen ankleidete. Weßhalb dem Grafen so viel daran gelegen war, den Reisetag des jungen Kaufmannes genau zu wissen, das konnte sie sich nicht erklären. Nur, daß es auf keinen Liebesdienst für Seba oder ihren Vater damit abgesehen sei, davon durfte sie sich überzeugt halten, und das genügte ihr. Was kümmerte es sie im Grunde auch, ob der Kriegsrath von jenen und von Paul unterstützt wurde oder nicht! Sie hatte für sich zu sorgen, sich dem Grafen gefällig zu beweisen. Mochte der Kriegsrath sehen, wie er fertig wurde.

Jeder für sich und Gott für uns Alle! sagte sie, als sie ihren Weg antrat, und sie hatte dabei das Bewußt sein, daß sie weltklug und erfahren sei, das Leben muthig nähme, wie es sich ihr biete, und sich mit Ergebung in das Unerwartete und Nothwendige zu schicken wisse.

[385]
16. Capitel
Sechszehntes Capitel

An demselben Tage, an welchem die preußischen Truppen ihren Marsch nach Rußland angetreten hatten, versammelte sich in den prächtigen Sälen eines der preußischen Armee-Lieferanten, der in den letzten Jahren ein großes Vermögen erworben hatte und ein glänzendes Haus machte, eine zahlreiche Gesellschaft zu einem Balle. Die Gesellschaft war sowohl den Nationalitäten als den Berufsklassen und Ständen nach eine sehr vielfarbige, und es befanden sich in ihr Personen genug, welche den Augenblick nicht für günstig gewählt zu einem Feste hielten. Aber man durfte sich, wenn man nicht Verdacht oder Verfolgung auf sich laden wollte, der Geselligkeit, in welcher das französische Militär und die kaiserlichen Civilbeamten eine große Rolle spielten, nicht entziehen, und schon am Mittage hatte Herr von Castigni sich danach erkundigt, ob er das Vergnügen haben werde, der Familie Flies und Herrn Tremann auf dem Balle zu begegnen.

Abends, um die Stunde, in welcher man in die Gesellschaft zu fahren pflegte, saßen Seba und Davide in Balltoilette in dem Wohnzimmer; aber ihre ernsten Mienen paßten nicht zu dem glänzenden Schmucke, den sie angelegt hatten. Man konnte die unruhige Spannung unschwer in ihren Mienen lesen. Bei dem leisesten Geräusche blickten beide Frauenzimmer nach der Gegend hin, von der es kam, und nachdem Erwartung und Täuschung sich zu verschiedenen Malen wiederholt hatten, sagte Davide endlich: ich möchte wohl wissen, wie den Menschen zu Muthe [386] gewesen ist, als man noch ein ruhiges Leben geführt und sich auf irgend etwas recht von Herzen in voller Sicherheit zu freuen vermocht hat. Seit ich mich erinnern kann, ist die Welt immer voll Schrecken und voll Unruhe gewesen. Schon als kleines Kind habe ich, obschon man es vor mir zu verbergen gestrebt hat, es doch immer empfunden, daß man in Sorgen und Nöthen vor Krieg und Feinden und Krankheiten, und in Angst um seine Freunde gewesen ist, und jetzt ....

Nun, jetzt? fragte Seba; aber es blieb Daviden keine Zeit zum Antworten, denn Paul, gleichfalls für den Ball gekleidet, trat in das Zimmer, und Seba empfing ihn mit der besorgten Frage, was der Kriegsrath zu so später und ungewohnter Stunde noch gewollt habe.

Nichts für sich, wie Du denken kannst, entgegnete Paul, und natürlich ist's nichts Gutes, was den Alten bewogen hat, mich aufzusuchen. Es sind unerträgliche Zustände, in denen wir leben; wir werden wie Verbrecher beaufsichtigt, wir sind in unseren Häusern nicht mehr sicher vor Verrath und müssen die Verräther als gefeierte Gäste an unserem Tische sitzen sehen. Das kann nicht dauern, es kann nicht dauern! Das Tischtuch muß endlich zerschnitten werden zwischen uns und ihnen. Der berechtigte Haß verlangt seinen freien Weg, und wie grauenhaft Dir das neulich auch erschien, als ich es in meiner Empörung gegen Dich äußerte: eine sicilianische Vesper dünkt mich berechtigt in den Zuständen, in denen wir uns befinden und in denen jede Faser, die an uns gut und edel ist, nach Rache und nach Vernichtung unserer Unterdrücker schreit!

Es geschah selten, daß seine leidenschaftliche Natur in solcher Weise die Schranken der Selbstbeherrschung durchbrach, in die er sie zu bannen gelernt hatte, und er war offenbar auch unzufrieden mit sich, weil er sich von seinem Zorne hatte übermannen lassen; denn er nahm sich plötzlich zusammen und sagte ruhiger: [387] Der Kriegsrath kam, um mir zu sagen, daß die Frau, ganz gegen ihre sonstige Weise, heute schon wieder bei ihm gewesen sei. Sie war unter dem Vorwande gekommen, ihm im Namen ihres Herrn, der sich nach Weißenbach erkundigt haben sollte, eine Flasche alten Weines zur Stärkung zu bringen; indeß wie leicht der Kriegsrath sonst auch zu täuschen ist, war er dieses Mal doch nicht leichtgläubig genug, ihr zu vertrauen, und er merkte denn auch, daß die Erkundigungen des Grafen nicht ihm, sondern mir und meiner Abreise gegolten hatten. Auch Castigni hat mei nen Diener deßhalb ausgefragt, hat sich bei diesem durch seine Leute sorgfältig über all mein Thun, über die Personen, welche mich besuchen, über Tag und Stunde meiner Abreise zu unterrichten gestrebt, und die Kriegsräthin hat unter dem Vorgeben, daß der Graf ihrem Manne eine Stelle zu schaffen denke, vorher aber seine Handschrift sehen und mit ihm selber sprechen wolle, den Alten zu überreden getrachtet, daß er ihr die Arbeiten ausliefere, die er für mich augenblicklich unter Händen hat.

Und er hat sie ihr gegeben? unterbrach ihn Seba mit sorgenvollem Erschrecken.

Paul verneinte es. Der Alte ist gerade so brav und gut, als sein Verstand und seine Schwäche es ihm erlauben, und ich könnte beinahe wünschen, er hätte der Frau nicht widerstanden, denn alles, was er für mich arbeitet, bezieht sich auf nationalökonomische und commercielle Studien, aber ....

Paul, rief Seba, warte nicht bis morgen, reise gleich heute ab!

Wo denkst Du hin? entgegnete er, während sein Gesicht schon wieder die gewohnte fröhliche Sicherheit zeigte; ich muß doch mit Davide den besprochenen ersten Walzer und den Kehraus tanzen!

Ach, reisen Sie, lieber Paul! bat Davide, indem sie ihre Hände bittend faltete.

[388] Unmöglich, dazu sehen Sie viel zu reizend aus, Davide! Ja, hätten Sie die weißen Hyacinthen nicht in Ihren schwarzen Locken, so ließe sich eher davon reden!

Aber er hatte kaum die Worte ausgesprochen, als Davide mit hastiger Hand nach ihrem Haupte fuhr, die Blumen aus ihren Locken und Flechten nahm und siegesgewiß die Worte ausrief: Jetzt müssen Sie gehen, und wir bleiben nun zu Hause!

Liebes, entschlossenes Kind! sagte Paul, während er sie mit freudigem Erstaunen betrachtete; aber es wäre nicht wohlgethan, blieben wir von dem Balle fort. Im Gegentheile, ich muß ja dort sein, muß Ihr Tänzer sein, um Sie vor den Bewerbungen Ihres Verehrers Castigni möglichst zu bewahren. Oder wollen Sie lieber ihn als mich zum Tänzer haben?

Es war unverkennbar, daß er großes Wohlgefallen an dem schönen Mädchen hatte; die freundliche Weise, in welcher er heute mit ihr scherzte, that Daviden aber wehe. Sie wendete sich von ihm, trat an den Spiegel und steckte, da Seba der gleichen Ansicht wie Tremann war, daß man den Ball besuchen müsse, auf deren Geheiß die Blumen wieder gehorsam in das Haar; sie sprach jedoch kein Wort, und auch Seba war niedergeschlagener, als sie es zeigte.

Der erste Walzer war schon in vollem Gange, als Herr Flies und Paul mit den beiden Frauen in die Säle eintraten, und Paul nahm nach den Begrüßungen mit Freunden und Bekannten sogleich mit Daviden seinen Platz in den Reihen der Tanzenden ein. Civilisten und deutsche und französische Offiziere waren in ihnen bunt gemischt, aber zwischen all den glänzenden Uniformen blieb Paul noch immer eine hervorragende Erscheinung durch seine schöne, mächtige Gestalt und den festen Ausdruck seines charaktervollen Gesichtes.

Paul sieht gut aus, sagte Herr Flies zu Seba, als das tanzende Paar an ihnen vorüberkam; und in der That standen [389] die weißen Casimir-Escarpins und der blaue Frack ihm sehr wohl an. Aber Seba, die sonst so stolz auf ihres jungen Freundes Schönheit war, als hätte sie selber ihn geboren, vermochte sich heute seiner nicht zu freuen, weil die Sorge um ihn sie peinigte. Jene errathende Kraft des Herzens, die oft scharfsichtiger ist, als der schärfste Verstand, ließ sie nicht bezweifeln, was den Grafen antreibe, Paul zu verfolgen, und wenn sie ihre eigene Seele prüfte, mußte sie sich gestehen, daß für den Grafen eine Wollust darin liegen müsse, sich an ihr zu rächen, da sie sich die gleiche Befriedigung einst nicht hatte versagen mögen. Sie zählte die Stunden, die noch bis zu Paul's Abreise vergehen müßten, die Tage, innerhalb derer er die Grenze erreichen konnte. Daß Graf Gerhard jeder Unwürdigkeit fähig sei, wenn sie seinen Wünschen und Absichten diene, das wußte sie, und er besaß das Ohr und das Vertrauen der französischen Behörden. Es konnte den Grafen nicht viel kosten, Paul und mit ihm ihren Vater wie sie selber zu verderben, denn das Mißtrauen der napoleonischen Regierung war grenzenlos, und wessen man sich von ihren Dienern zu versehen habe, das war durch die Gewaltthaten an dem Buchhändler Palm und an Lord Bathurst hinlänglich erwiesen.

Sie überlegte, ob es nicht gerathen sei, Paul an diesem Abende gar nicht mehr nach Hause zurückkehren, sondern in irgend einer befreundeten Familie übernachten zu lassen, aber eben dadurch konnte man den Argwohn, welcher ihn offenbar umgab, nur steigern. Dann kam ihr der Gedanke, daß man irgend einen der Gehülfen ihres Vaters in Paul's Wagen mit seinem Diener und mit einem scheinbaren Auftrage den geraden Weg nach der russischen Grenze schicken könne, während Paul auf Umwegen zu entkommen suchen müsse; indeß überall trat ihr die Sorge um ihren greisen Vater entgegen, und selbst mit diesem oder gar mit Paul ein vertrauliches Wort zu reden, ward ihr [390] nicht gegönnt, denn sie meinte zu bemerken, daß Herr von Castigni Paul und Davide nicht aus dem Auge lasse. Das konnte seine Ursache in der Bewerbung haben, mit welcher der Franzose Daviden umgab; aber wer viel zu verlieren hat, ist ängstlich, und die lange Fremdherrschaft hatte alle Patrioten genugsam an Zurückhaltung und Vorsicht gewöhnt.

Der Vater hatte sich zum Spiele niedergesetzt, Davide tanzte, Herr von Castigni nahm sie völlig in Beschlag, wenn Paul sie frei ließ, und dieser, welcher sonst kein leidenschaftlicher Tänzer war, sondern meist die Gesellschaft der älteren Männer und Frauen suchte, hielt sich heute ganz zur Jugend. Er machte, so oft es sich thun ließ, Daviden's Gegenüber, und obschon sie voll Sorgen war, dachte Seba daran, daß Paul möglicher Weise doch mehr Antheil an ihrer Nichte nähme, als sie bisher geglaubt, daß Daviden's unverkennbare Neigung für ihn, die sich heute erst wieder so lebhaft verrathen hatte, ihren Eindruck auf den jungen Mann nicht verfehlt habe, und sie nannte es in ihrem Herzen einen echt weiblichen Zug, daß Davide eben heute sich Herrn von Castigni freundlicher als sonst bewies, daß sie Paul vernachlässigte, da dieser sie zum ersten Male ganz entschieden suchte. Sollte Davide im Stande sein, zu so kleinlichen Mitteln der Vergeltung zu greifen? fragte sie sich; sollte sie in der Liebe irgend einer Berechnung fähig sein und einem geliebten Manne gegenüber irgend etwas Anderes empfinden können, als das Verlangen, ihm ihre Liebe kund zu geben und Freude oder Trauer, je nachdem er sie erwiedert oder nicht erwiedert?

Sie wurde förmlich irre an dem Mädchen, das sie doch so genau zu kennen meinte. Davide sprach so laut, lachte so viel, suchte so unverkennbar die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; Seba wußte nicht, was sie davon denken sollte. Aber es mußte auch Paul mißfallen, denn sie sah ihn den Saal verlassen und [391] im Nebenzimmer an den Tisch treten, an welchem alte und junge Männer, Civilisten und Militärs ein hohes Pharo spielten. Sie wollte zu ihm gehen und mochte doch zum ersten Male Davide nicht ohne Aufsicht lassen, denn der Ballsaal hatte sich nach dem Schlusse des Theaters noch mehr gefüllt, der Lichtglanz, die Wärme, der Tanz und der Wein hatten die Tänzer, die Männer wie die Mädchen und die Frauen, aufgeregt, und auch Daviden's Augen flammten, ihre Wangen brannten, als sie, von Castigni's Arm umschlungen, zum vierten und fünften Male die Tour um den Saal zurücklegte, die man sonst immer mit drei Ronden beendigte. Das Haar flog ihr um die Schläfen, die junge Brust hob und senkte sich gewaltsam, als der Franzose sie endlich dicht vor ihrem Platze aus seinem Arme ließ und, einen leidenschaftlichen Kuß auf ihre Hand drückend, ihr versicherte, daß er sie nie so schön gesehen habe, wie eben heute, eben jetzt. Aber von dem wilden Tanze erschöpft, trat er zurück, um im Nebenzimmer eine Erfrischung zu suchen; auch Davide hatte sich neben Seba in einen Sessel geworfen, und sich rasch umblickend, als fürchte sie gehört zu werden, flüsterte sie leise und athemlos die Worte: Er ist fort!

Seba wendete sich um, sie sah Davide an, und das Wort des Tadels, das auf ihren Lippen schwebte, verstummte. Mit einem Blicke verstand sie, von wem die Rede sei.

Woher weißt Du es? fragte Seba.

Ich sah ihn gehen, antwortete Davide.

Eben jetzt?

Nein, gleich nachdem wir zur Quadrille angetreten sind.

Und er hat Dir gesagt, daß er sich entfernen wolle?

Nichts, gar nichts! entgegnete Davide eben so kurz, denn schon trat ihr Bewunderer wieder an sie heran, und urplötzlich leuchtete die strahlende Heiterkeit wieder um ihre schönen Wangen, [392] tönte das silberhelle Lachen wieder von ihren Lippen, und an der Hand ihres Tänzers stand sie wieder in den Reihen.

Seba sah ihr sprachlos, aber mit Freude nach.

Sie konnte nicht errathen, was Paul beabsichtige, was Davide davon wisse, nur das war ihr klar, daß hier die Liebe ein Mädchen schnell zum Weibe gereift habe und daß man ein junges Herz, welches aus Liebe solcher Herrschaft über sich fähig sei, wie Davide sie eben jetzt bewiesen hatte, sich selber überlassen könne.

Beide Frauenzimmer konnten das Ende des Balles kaum erwarten und trugen doch Bedenken, das Fest eher als die Mehrzahl der Gäste zu verlassen. Sie blieben im Gegentheile mit unter den Letzten, um auch Herrn von Castigni von der Rückkehr in ihre Wohnung abzuhalten.

Er hatte, von Davidens Gunst entzückt, Tremann's fast vergessen, und es war Seba, welche ihre Nichte geflissentlich befragte, wo Paul geblieben sei. Diese versetzte ruhig: sie wisse es nicht; er sei verdrießlich gewesen und in das Nebenzimmer gegangen. Als man ihn dort nicht fand, äußerte Davide die Erwartung, daß er zum Kehraus, für den sie mit ihm engagirt sei, schon wiederkommen werde; und da er sich auch zu diesem nicht einstellte und Seba sich in Castigni's Beisein durch Paul's Entfernung beunruhigt zeigte, ließ Davide es errathen, daß sie einen kleinen Streit mit ihm gehabt habe, daß er mißmuthig gewesen sei und wohl vom Balle fortgegangen sein möge, weil er sie damit zu strafen geglaubt habe. Aber sie wisse sich zu trösten; und an einem Tänzer, fügte sie mit einem lächelnden Blicke auf Castigni hinzu, wird es mir hoffentlich doch nicht fehlen.

Inzwischen hatte auch Herr Flies seinen jungen Compagnon vermißt und kam, sich nach ihm zu erkundigen, da Paul, als er eine Weile neben Herrn Flies zusehend am Spieltische [393] gesessen, sich über Kopfweh beklagt hatte. Seba konnte erkennen, daß ihr Vater eben so wenig als sie von Paul's Vorhaben unterrichtet gewesen sei, und es blieb unmöglich, sich auf dem Balle von Daviden eine Aufklärung zu verschaffen. Es war schon gegen den Morgen hin, als man, von dem Feste kommend, das Haus erreichte, und selbst während der Fahrt war keine Verständigung möglich gewesen, da man es nicht hatte vermeiden können, Herrn von Castigni's Begleitung anzunehmen, indem er, wie er sagte, im Vertrauen auf die Güte seiner Wirthe seinen Wagen einem Freunde angeboten und überlassen habe.

Als der Hauswart die Thür öffnete, fragte Herr Flies zu Seba's und Daviden's Erschrecken, ob Herr Tremann schon zu Hause sei, und die beiden Frauenzimmer blickten einander verwundert an, als der Bescheid erfolgte, Herr Tremann sei ja schon gegen Mitternacht heimgekehrt und werde wohl noch wach sein, denn er habe frische Kerzen befohlen, weil er noch arbeiten wolle.

Man trennte sich oben an der Thüre der Wohnzimmer. Herr von Castigni stieg wohlgelaunt, den Kopf voll froher Erinnerungen und noch freudigerer Aussichten, die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, und ihre Nichte bei der Hand nehmend und rasch mit ihr in die Stube hineintretend, rief Seba: Du hast Dich also geirrt, Paul ist hier!

Gewiß nicht, entgegnete das junge Mädchen mit großer Bestimmtheit; und während Herr Flies sich noch erkundigte, um was es sich handle, hatte Seba schon einen der Leuchter ergriffen und eilte durch den Glascorridor und die innere Treppe, welche Fräulein Esther einst zu ihrer Bequemlichkeit hatte erbauen lassen und die gerades Weges aus dem großen Saale des ersten Stockwerks in das Gartenzimmer führte, nach Paul's Wohnung hinunter.

Sie klopfte an, es blieb Alles still. Die Thüre war unverschlossen, sie trat also ein, es war Niemand in dem Zimmer. [394] Die Kerzen brannten auf dem Schreibtische, die Schlüssel steckten in den Schubladen und Schränken, Alles lag und stand wie immer, nur die Schreibmappe fehlte. Sie ging in die Nebenstube und öffnete den Kleiderschrank; da hing der Anzug, den er auf dem Balle getragen hatte. Er war also wirklich nach Hause gekommen, was Seba schon zu bezweifeln angefangen hatte, und schnell, wie sie die Treppe herunter geeilt war, stieg sie dieselbe wieder hinauf, um sich mit den Ihrigen zu besprechen und zu berathen.

Man wollte von Davide Auskunft haben, aber diese hatte nichts oder doch nur wenig zu berichten. Sie habe bemerkt, sagte sie, daß Paul öfter nach seiner Uhr gesehen, was er sonst nicht zu thun pflege. Er sei dazu so ungewöhnlich aufgeräumt gewesen, habe fortwährend mit ihr gescherzt, sich auch um die anderen Damen mehr als sonst bemüht, und während sie darüber nachgesonnen, was ihn in eine ihm so fremde Laune versetzt haben möge, habe er wieder plötzlich nach der Uhr gesehen und sei dann mit Einem Male fortgegangen und verschwunden.

Seba wendete ihr ein, daß in diesen Dingen nichts gelegen habe, was Davide irgend zu der Vermuthung habe berechtigen können, daß Paul früher, als er es vorgehabt, seine Reise antreten, sie gleichsam als Flucht antreten werde, und Davide versuchte einen Augenblick, ihre frühere Erzählung durch Hinzufügung verschiedener kleiner Aeußerungen zu verdeutlichen. Indeß plötzlich schien sie anderen Sinnes zu werden, und sich in ihrer ganzen stattlichen Höhe aufrichtend, sprach sie, während ihre Wangen erglühten und ihre Augen, die sie auf den Onkel und auf Seba zu richten versuchte, sich unwillkürlich senkten: Ich will's Euch sagen, und Ihr könnt's mir glauben, denn ich bin ja nicht eitel und bilde mir nichts ein. Und da sie es nun sagen wollte, stockte ihr das Wort auf den Lippen in holdseliger Scham, und sie mußte sich zwingen, es auszusprechen. [395] Paul, sagte sie, hat mich immer wie ein Kind behandelt, oder wie ein Spielzeug, denn so machen sie es ja Alle mit uns. Auch heute Abend that er das, Du hast es ja gehört, liebe Seba. Aber als wir tanzten und als er immer wieder nach seiner Uhr sah, da blickte er mich an, als wüßte er, daß ich mich um ihn sorgte. Er war ernsthaft, wenn man ihn nicht beachtete, und als er dann plötzlich aufbrach, da – da drückte er mir die Hand, wie man es nur beim Abschiede thut, wenn man sieht, daß der Abschied – einem Anderen schwer wird.

Ihr Ton war immer leiser geworden, sie nahm sich zusammen, um ihre Bewegung und die Thränen zu bemeistern, die sich ihr in die Augen drängen wollten.

Seba fühlte sich ergriffen von ihres Pflegekindes Schönheit und freimüthiger Selbstüberwindung, und wie ein warmer, Frühling verkündender Sonnenschein zog eine neue, selbstlose Hoffnung in ihre Brust; aber sie sowohl als ihr Vater hüteten sich, es auszusprechen, wie hoch sie Davide in dieser Sunde hielten und wie sie beide ihre Wünsche und Hoffnungen theilten. Man nahm ihr Bekenntniß wie eine sich von selbst verstehende Sache hin, und als Seba die Absicht äußerte, den Portier zu befragen oder den Gärtner kommen zu lassen, ob und wann und auf welchem Wege Paul das Haus verlassen habe, gab ihr Vater das nicht zu.

Er sagte, da Paul einmal verdächtigt worden sei, habe er, wie immer, richtig gehandelt, indem er Berlin so bald als möglich und heimlich verlassen habe. Es entziehe dieses Letztere sie Alle für den schlimmsten Fall jeder Verantwortlichkeit, und wolle die französische Regierung seiner habhaft werden, lasse man ihn selbst verfolgen, so sei mit jeder Stunde Vorsprung ein Wesentliches gewonnen. Da die Leute im Hause ihn noch in der Nacht arbeitend glaubten und Herr von Castigni dies gehört habe, werde man es nicht auffallend finden, wenn Paul [396] nicht um die gewohnte Morgenstunde im Hause und im Comptoir erscheine, und es sei wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Herr von Castigni früher als am Vormittage von der Abreise Paul's benachrichtigt werde. Er traue es dem Letzteren zu, daß er seine Maßregeln zweckmäßig und umsichtig getroffen haben werde, und wenn es ihm nur gelungen sei, unbehindert aus der Stadt zu kommen, so hoffe er das Beste.

Das Land ist freilich überschwemmt von Truppen, aber gerade das erleichtert es ihm vielleicht, unbeachtet zu bleiben; denn man hat überall mit sich vollauf zu thun, und seine Papiere wird er in Ordnung haben, tröstete Herr Flies, um die Seinigen zu beruhigen. Kann Paul jenseit der Oder oder Weichsel, wie ich vermuthe, noch mit Schlitten reisen, so ist er geborgen und wir hören bald von ihm.

Aber bis dahin? fragten ängstlich Seba und Davide wie aus Einem Munde.

Bis dahin müssen wir uns gedulden, meine lieben Kinder, und uns vorbehalten, daß man nicht zu beklagen ist, so lange man für die Seinigen noch fürchten und hoffen kann.

Welch ein Unglück! rief Seba, niedergeworfen von der Sorge um den so lange Entbehrten und endlich Wiedergefundenen, aus.

Ja, sagte Herr Flies, es sind böse, böse Zeiten; aber unglücklich ist man erst, wenn man nicht mehr hoffen kann! Behaltet guten Muth, zeigt morgen ein heiteres Gesicht, denn wir sind Gefangene in unseren eigenen Häusern und Sklaven der Fremden in unserem Vaterlande, und obschon wir nicht Verbannte sind, könnten wir singen, wie es in den Psalmen heißt: »Wir saßen an den Wassern und weineten!«

Er seufzte, küßte die Tochter und Nichte auf die Stirn, hieß sie, sich zur Ruhe begeben, und bald war es still und dunkel in dem ganzen Hause; nur in Paul's einsamem Zimmer brannten die Kerzen fort, bis sie am Morgen in sich selbst erloschen.

[397]
17. Capitel
Siebzehntes Capitel

Drei Tage und fast drei Nächte waren seitdem vergangen. Ein feiner, trockener Schnee fiel dicht und leuchtend hernieder. Von durchsichtigem Gewölke leicht verhüllt, stand der Mond am Himmel, als ein offener Schlitten, von zwei kleinen, raschen Pferden pfeilschnell fortgezogen, über die Nehrung, über jene Landenge fuhr, die sich zwischen der Ostsee und dem kurischen Haff hinzieht.

Zwei Männer, in Pelze eingewickelt, saßen in dem Schlitten. Ein polnischer Jude, ebenfalls in seinen Pelz gehüllt, die spitze, verbrämte Sammetmütze tief auf die gedrehten Seitenlocken heruntergezogen, machte ihren Kutscher. Die Nacht war kalt. Schwer und langsam schlugen die Wogen des Meeres an das Ufer, das sich mit seiner Schneedecke hellschimmernd von der weiten, dunklen Fläche abhob.

Ein Königsberger Kaufmann hatte den Juden, der in Rußland zu Hause war, gedungen, die beiden Fremden über die Nehrung nach der Grenze zu bringen; aber wie sehr der Jude sich auch bemühte, er hatte es nicht ermitteln können, wer sie wären und was sie in Rußland zu suchen hätten.

Daß sie nicht Herr und Diener seien, als welche ihre Kleidung sie bezeichnete und als welche sie sich ausgaben, das hatte der Schlaue bald bemerkt; denn überall war es der sogenannte Herr gewesen, der, wo es Noth that, die rasche Hand angelegt, während der Diener sich immer erst nachträglich dazu [398] entschlossen hatte. Deutsche waren sie nach des Juden Meinung nicht, denn er hatte, so genau er auch darauf merkte, noch kein deutsches Wort von ihren Lippen vernommen; Franzosen aber waren nicht so gelassen. Für gewöhnliche Reisende war in dieser Jahreszeit die Nehrung nicht die Straße, für Kaufleute, die Geschäfte in Rußland machen, also länger dort verweilen wollten, hatten die Fremden ihm nicht genug Gepäck bei sich, und französische Emissäre konnten sie vollends nicht sein, denn diese würden bis zur Grenze die Beförderung durch die Post gefordert haben. Er kam also, je mehr er darüber nachsann, immer wieder auf den Gedanken zurück, daß seine Passagiere, obschon sie Französisch mit einander redeten, Engländer sein müßten und daß sie auf diesem wenig besuchten Wege nach der Grenze gingen, um zu sehen, auf welche Weise sich englische Waaren über Rußland nach Deutschland bringen ließen. Dadurch aber stiegen sie nur in seiner Werthschätzung, denn von einem Handelsverkehre, wie er ihn bei den Reisenden vorauszusetzen für angemessen fand, pflegte für die vermittelnden Juden immer ein kleinerer oder größerer Gewinn abzufallen, und: »Leben und leben lassen« ist ein alter Grundsatz.

Es war eine schnelle, lautlose Fahrt. Von Zeit zu Zeit sah der eine oder andere der beiden Reisenden in die Gegend hinaus, und wenn sie gewahrten, daß sie einsam auf der überschneiten Düne blieben, schien ihnen das erwünscht zu sein. Sie redeten dann auch eine Weile mit einander, aber so leise, daß der Jude nicht ermitteln konnte, um was es sich dabei handle, obschon er in der langen Zeit des Krieges und der Franzosenherrschaft genug von der Sprache der Fremden erlernt hatte, um sie verstehen und sich in ihr halbwegs verständlich machen zu können.

Eine geraume Zeit war auf diese Weise seit dem letzten Anhalten hingegangen, als der Diener sich bei dem Kutscher erkundigte, wie lange man bis zur Grenze noch zu fahren habe.

[399] Der Jude, froh der Anrede, weil sich ihm mit derselben doch eine Möglichkeit eröffnete, seine redselige Neugier zu befriedigen, meinte, wenn er so zufahre, wie bisher, und seine Pferde es aushielten, so könne man bald nach Tagesanbruch auf der Grenze sein.

Muß man die Stadt passiren, um an die Grenze zu gelangen? fragte der Diener ihn abermals.

Wenn die gnädigen Herren nichts haben zu thun in der Stadt, entgegnete der Jude, so müssen die Herren nicht; aber ich muß halten in der Stadt oder muß noch einmal machen eine Station hinter der Stadt, von wegen meiner Pferde.

Er hatte die Thiere, während er dieses sagte, sich selber überlassen; sie fingen also langsamer zu gehen an, und der Diener ermahnte den Juden, mit Zusage einer besonderen Belohnung, sie auf's Neue anzutreiben.

Will das sein ein Bedienter, dachte der Jude, und nimmt seinem Herrn das Wort vorweg. – Er schlug nichts desto weniger mit lautem, ermuthigendem Schrei anscheinend unbarmherzig auf seine Thiere los, wußte den Hieb jedoch so geschickt zu führen, daß er sie gar nicht traf. Der andere Reisende, dessen schweigender Achtsamkeit sich nicht das Geringste entzog, bemerkte diese List.

Lassen Sie ihn nicht merken, mein Freund, sagte er zu seinem Gefährten, wie sehr wir die Grenze zu erreichen wünschen. Er könnte sonst leicht auf den Gedanken kommen, sich zaudernd eine größere Belohnung zu verdienen, und wir sind in seiner Hand.

Die Nähe des Zieles macht ungeduldig, und Sie kennen sicher so gut wie ich die abergläubische Furcht vor dem Scheitern im Angesichte des Hafens! entgegnete der Zurechtgewiesene, mit diesen Worten sich gleichsam rechtfertigend.

O ja! Es gab eine Zeit, versetzte Paul, in welcher ich diesen Eindrücken sehr unterworfen war; seit ich aber nicht mehr [400] sonderlich an dasjenige glaube, was man als Glück bezeichnet, habe ich auch die Furcht vor seinen Launen verloren.

Sie würden es also nicht als ein Glück erachten, wenn wir ungehindert unser Ziel erreichten, und es nicht ein Unglück nennen, würden wir daran verhindert?

Nein! entgegnete der Andere. Ich habe für den Fall, daß man es wirklich auf meine Person abgesehen hätte, mit Ihrer Hülfe nach bestem Wissen meine Vorsichtsmaßregeln genommen! Täuscht uns die Wirksamkeit derselben nicht, so ist das unser Verdienst und kein besonderes Glück! Mißlingt unser Unternehmen, so unterliegen wir nur einem Naturgesetze, der Macht des Stärkeren, denn zwischen uns und unseren Feinden ist die Partie nicht gleich!

Er brach ab, und diesmal war er es, der mit scharfem Auge um sich blickte, denn das Wetter fing an, sich bedenklich zu verändern. Die leichten Wolkenstreifen hatten sich zusammengezogen und verdichtet, der Mond verschwand bisweilen plötzlich hinter ihnen, dann kam er eben so plötzlich aus dem schweren, schwarzblauen Gewölke hervor, das Meer beleuchtend, dessen Wogen sich immer höher hoben, während ein dumpfes Grollen aus seinen Tiefen dem klagenden Weherufe des Windes Antwort gab. Licht und Schatten wechselten schnell und phantastisch mit einander ab, aber das Durchbrechen des Lichtes wurde seltener, die Dunkelheit immer tiefer. Nur bisweilen meinten sie noch den Gischt der aufgebäumten Welle zu gewahren, wenn sie unter dem Stoße des heulenden Windes niederdonnerte und hinzischend auf dem eisigen Ufer zerfloß.

Je länger sie fuhren, je stärker erhob sich der Sturm. Er trieb ihnen den stechenden Schnee entgegen, daß es ihnen den Athem versetzte und sie die Augen kaum noch öffnen konnten; aber sie beklagten sich nicht darüber, und das bestärkte den Juden nur in seinen Vermuthungen über sie. Die sind's gewohnt,[401] wie ich, dachte er, und er wollte versuchen, ob sich aus der Lage, in welcher sich nach seiner Meinung die Reisenden befanden, nicht ein Vortheil für ihn ziehen ließe.

Gnädiger Herr, hob er an, sich auf seinem Sitze halb umwendend, gnädiger Herr! Der Herr Bedienter haben mich vorhin zu fragen beliebt, ob man kann an die Grenze kommen, ohne zu fahren durch die Stadt. Wenn der gnädige Herr mir geben will fünfunddreißig Rubel mehr, daß ich meine Pferdchen kann nachher rasten lassen, will ich den gnädigen Herrn über die Grenze bringen, ohne daß er soll zu sehen bekommen einen Grenz-Kosaken oder einen Beamten von dem Zoll.

Und wer soll mir denn den Paß visiren? fragte Paul.

Der Herr haben also einen Paß? forschte der Jude ungläubig.

Wie anders? entgegnete Paul und wickelte sich fester in seinen Pelz ein.

Der Jude war aber so leicht nicht abzuweisen. Ich bin drüben gleich hinter unserer Grenze zu Hause, fuhr er fort, und habe meine Tochter diesseits verheirathet im letzten Kruge. Ich kenne Weg und Steg und kenne den Herrn Leutnant von der Wache und den Herrn Inspector von dem Zoll, und sie kennen mich auch. Wenn vielleicht.... Er hielt überlegend inne, ob er so weit gehen sollte, und wagte es endlich dennoch, seine pfiffige Vermuthung auszusprechen – wenn vielleicht der Herr Bedienter nicht sind versehen mit einem Paß – die Pässe werden streng visirt und die Zolluntersuchung ist noch strenger!

Schlimm für Dich, der Du heimlich über die Grenze gehen willst, falls wir Dich verhindern, Deine Contrebande in der Stadt oder draußen bei Deinem Tochtermanne abzulegen, bis Du sie Dir gelegentlich herüberholen kannst! Und nun fahr zu! rief Paul befehlend, allen Vermuthungen, Vorschlägen und Planen des Juden damit ein Ende machend, wie sehr dieser[402] sich auch hoch und theuer verschwor, daß er gar keine Waare bei sich habe, daß er ein ehrlicher Mann und ganz ausschließlich nur auf der gnädigen Herren Vortheil bedacht gewesen sei. Aber die Besorgniß, daß es doch vielleicht französische, mit heimlicher Beaufsichtigung der Grenze betraute Beamte sein könnten, die er fahre, lähmte endlich des Juden Zunge, und, Jeder in seine Gedanken versenkt, sahen die beiden Reisenden schweigend in die Nacht hinaus, während die Sekunden kamen und entschwanden, während Woge um Woge gleichmäßig auf das Eis des Ufers rollte, während der Sturm die Wolken, die er zusammengefegt hatte, in wildem Laufe vor sich her trieb, bis hier ein Stern durchblitzte und dort ein zweiter, und bis endlich hoch am Horizonte der Nordstern wieder hell strahlend aus dem Siebengestirn herniedersah.

Paul begrüßte ihn wie einen alten Freund. Seine frühesten Erinnerungen knüpften sich an dieses Gestirn. In dem kleinen Hause seiner Mutter hatte er auf seines Vaters Knie gesessen, als dieser ihm das Gestirn gezeigt; aus dem Fenster der Kriegsräthin, aus Seba's Stube hatte er es gesehen. Es hatte ihm geleuchtet in der Schmerzensnacht, die ihn aus der Heimath fortgetrieben, es hatte ihn nicht verlassen, als er, ein flüchtig gewordener Knabe, über das weite Weltmeer gefahren war, und es war bei ihm gewesen wie der einzige Gefährte aus der Heimath, als er in dem fremden Welttheile nichts sein eigen genannt hatte, als sein nacktes Leben.

Eine Rührung, die ihm fremd war, bemächtigte sich seiner. Hingenommen von seiner rastlosen Thätigkeit, war ihm durch alle die Jahre wenig Zeit zum Nachsinnen geblieben. Wie man im raschen Fluge des Caroussels mit scharfem Blicke und sicherer Hand den Ring absticht, hatte er im eiligen Wechsel der Ereignisse den Augenblick erhaschen und sich aus seinen Erfahrungen die Ueberzeugungen und Grundsätze bilden müssen, nach denen er sein Leben regelte. Von der flüchtigen Minute hatte er Belehrung [403] fordern, in die freie Minute sein Empfinden zusammenpressen müssen, und des glücklich Erreichten hatte er sich kaum erfreuen dürfen, weil immer ein neues, nothwendig noch zu Erreichendes schon wieder nahe vor ihm gestanden hatte.

Nun freilich hatte er, was er zuerst erstrebt. Er hatte einen eigenen und einen guten Namen, den ihm nicht sein stolzer Vater vererbt und nicht seine arme Mutter hinterlassen hatte, sondern einen Namen, den er sich selbst geschaffen, wie seinen ganzen, nicht unbedeutenden Besitz. Aber wozu das alles? fragte er sich auch in dieser Stunde. Wer bedarf des Besitzes, den Du Dir erworben hast? Wen freut es, wenn Dein Fleiß ihn wachsen macht? Wer sorgt sich darum, wenn er Dir verloren geht? Für wen bist Du eine Nothwendigkeit in dieser weiten Welt?

Und während diese Gedanken in ihm aufstiegen, nannte er selbst sie ein Unrecht gegen die Frau, welche die Beschützerin seiner Kindheit und das Ideal seiner Jugend gewesen war. Er liebte Seba auch heute noch, wärmer, zärtlicher, begeisterter, als der Sohn die Mutter liebt; denn seine Liebe war freier, als die Kindesliebe, war nicht naturbestimmt, sondern Erkenntniß und frei Wahl, und überall steht das Freigewählte hoch über allem Angeborenen.

Aber Seba war nicht jung wie er, sie bedurfte seiner nicht, sie war nicht ausschließlich sein eigen. Es änderte sich in ihrem Loose, in ihrem Leben nichts, was auch aus ihm werden mochte, und doch dünkte es ihn, als gleiche er immer nur dem Blatte, das der Wind umhertreibt, als fasse er nicht feste Wurzel in dem Leben, so lange er sich nicht nothwendig, nicht unentbehrlich für ein anderes Menschenwesen wisse, so lange er, der keine Heimath und keine Familie für sich vorgefunden hatte, sich nicht seine Heimath selbst geschaffen habe in der Familie, die er selbst begründet, so lange er sich in seinen Kindern nicht eine Fortdauer über seinen Tod gesichert habe.

[404] Ein scharfer Luftstrom streifte über Paul's Stirn und entriß ihn seinem weichen Sinnen. Die Nacht war im Entschwinden. Wie am ersten Schöpfungstage begannen Luft und Wasser sich vor seinem Auge zu scheiden, der Blick wurde wieder Herr der Welt, und langsam durchdringend und sich Bahn machend durch das schwebende und wallende Gewölk, das sie mit ihrem Purpur färbte, stieg endlich in flammender Herrlichkeit die Sonne, mächtig in ihrer Leben bringenden Kraft, aus den dunkeln, kalten Wogen an dem klar gewordenen Winterhimmel empor.

Der Morgen, rauh und kalt wie er war, erfrischte Paul und gab ihn sich selber wieder. Er wußte, was ihm das Herz so weich gemacht hatte, aber er scheuchte den Gedanken wie einen entnervenden Traum weit von sich fort, denn Ungeduld und Unzufriedenheit mit dem selbstgeschaffenen Loose erschienen ihm als eine Unmännlichkeit und Schwäche. Erst das Vaterland und dann das Haus, erst die Freiheit und dann das Glück! rief er laut sich selber zu, und ohne zu wissen, worauf dieser Wahlspruch sich bezog, stimmte Herr von Werben von Herzen in denselben ein.

Dem Juden, der inzwischen nicht aufgehört hatte, seine Passagiere heimlich zu beobachten, entging weder die sichtliche Zufriedenheit, mit welcher sie den Tag begrüßten, noch ihr wachsendes Verlangen, an die Grenze zu kommen, und er gab die Hoffnung noch nicht auf, von ihrer guten Stimmung zu erlangen, was ihre Verschlossenheit ihm abgeschlagen hatte. Daß seine Passagiere keine gewöhnliche Leute seien und daß er unter ihrem Schutze, wenn sie nur wollten, mit seinen Waaren die Grenze gut passiren könne, das hatte sich in den Stunden einsamen Sinnens für ihn als letzte Ueberzeugung festgestellt. Es kam daher für ihn, wie er meinte, nur Alles darauf an, ihr Zutrauen und ihren guten Willen für sich zu gewinnen, und er ließ es an den Zeichen einer sorglosen Heiterkeit nicht fehlen.

Er rückte seine Spitzmütze vergnüglich weit aus der Stirn [405] zurück, er schnalzte mit der Zunge, knallte mit der Peitsche, schlug, sich zu erwärmen, mit den Beinen gegen seinen elenden Sitz, daß die Stiefel gegen das Holz klapperten. Aber was er auch that, die Aufmerksamkeit der Reisenden auf sich zu ziehen, es schlug alles fehl, denn Paul war Kaufmann genug, um den Begehrenden an sich herankommen zu lassen. Endlich, als über der weiten Fläche die Thürme der Hafenstadt sich schon erhoben, hielt der Jude seine Pferde mitten in ihrem Laufe an und sagte, sich mit dem pfiffigen und zugleich ängstlichen Blicke seines Volkes zu den Reisenden wendend, während er mit dem Stiele seiner zerbrochenen Peitsche vorwärts zeigte: Der gnädige Herr sehen, ich habe gehalten mein Wort und meine Zeit! Was soll ich haben, wenn ich die Herren gerades Weges nach der Grenze fahre?

Das wird sich an der Grenze finden, gab ihm Paul zur Antwort, dessen sich, nun er sich dem Ziele so nahe wußte, das Verlangen, es zu erreichen, mit einer wahren Leidenschaft bemächtigte, und noch ehe der Jude sich besinnen konnte, hatte Paul, um seiner Sache sicher zu sein, sich an seine Seite gesetzt und ihm mit dem Befehle, ihm die nächste Straße nach der Grenze anzugeben, Zügel und Peitsche aus der Hand genommen.

Der Jude, sobald er merkte, daß es Ernst und daß kein Auflehnen gegen den fremden Willen möglich sei, ließ zwar Alles geschehen, denn auch er war schneller Berechnung fähig und hoffte seinen Vortheil von seiner Nachgiebigkeit zu ziehen. Aber er schrie und klagte über die Gewaltthat, die Paul an ihm beging. Er jammerte über sein Mißgeschick, er nahm Gott zum Zeugen, daß er ein rechtlicher Mann sei, und klagte Gott an, daß er ihm diese Passagiere zugesendet. Er verwünschte sich und sie und seine Noth und seine Armuth, bis er endlich den kutschirenden Paul, der in seiner wachsenden Spannung des Juden gar nicht achtete, beschwor, wenigstens den Pferden in dem einsamen [406] Kruge, aus dessen Schornstein man den weißgrauen Rauch aufsteigen sah, eine kleine Rast zu gönnen.

Wenn sie nicht bekommen einen Bissen Brod und Branntwein, werden's die armen Thiere nicht halten aus, und die gnädigen Herren werden liegen bleiben, wenn sie nicht hier anhalten bei dem Abraham, der ein ehrlicher Mann ist und mein Tochtermann! Es ist noch eine geschlagene Stunde bis zur Grenze, und ohne Fütterung können die Pferdchen nicht weiter fort!

Paul konnte es sich nicht verhehlen, daß der Jude hierin die Wahrheit redete. Die abgetriebenen Pferde stolperten vor Mattigkeit, und die Peitsche und sein Zuruf machten keinen Eindruck mehr auf sie.

Als sie vor dem einsamen, an der Straße liegenden Gehöfte des Wirthshauses vorfuhren, trat der Krüger, ebenfalls ein polnischer Jude, vor die Thüre hinaus und erkannte und begrüßte seinen Schwiegervater, der ihm in einer den Reisenden unverständlichen Sprache gleich einige Worte entgegenrief.

Wie weit ist's von hier zur Grenze? fragte Paul den Krüger.

Eine halbe Stunde, gnädige Herren! antwortete ihm dieser, weil er dadurch Zeit für die Rast zu gewinnen meinte. Aber sein Schwiegervater fiel ihm in die Rede.

Eine halbe Stunde, sagst Du! Wie kannst Du sagen eine halbe Stunde? Eine Stunde ist's, und eine gute Stunde, und die Pferde ....

Genug! versetzte Paul, der am Ende dem Juden in seinem Erwerbe, wie dieser auch geartet war, kein unnöthiges Hinderniß und keine Gefahr bereiten wollte; denn er hatte sie gut bedient, und Paul und sein Gefährte hatten ihm eine Belohnung zugedacht. Genug! wiederholte er, zog die Uhr aus der Tasche und hielt sie dem Juden vor das Gesicht. Du sollst zwölf Minuten Zeit haben, Deine Pferde zu erfrischen, wenn Du uns danach in einer halben Stunde über die Grenze bringst!

[407] Der Jude versprach es und die Reisenden stiegen einen Augenblick vom Schlitten ab. Eine tragbare Krippe ward rasch herbeigeholt und vor die triefenden Pferde hingestellt, denen ihr Besitzer ein paar alte Decken überwarf, während die hungrigen Thiere das in Stücke geschnittene, mit Branntwein getränkte Brod gierig verschlangen.

Inzwischen waren des Krügers Frau und Kinder herbeigekommen, welche hastig die Kissen von dem Schlitten nahmen, sie mit anderen, eben so elenden Sitzkissen vertauschten und verschiedene Päcke und Rollen unter dem Stroh hervorzogen, das der Fuhrmann unter seinen Füßen liegen gehabt hatte. Zu wiederholten Malen nöthigte der Wirth die Fremden, einzutreten, um ein Glas Branntwein am warmen Ofen zu sich zu nehmen; aber er konnte sie nicht dazu bewegen. Die Uhr in der Hand, fragte ihn Paul, ob neuerdings viel Verkehr von Fremden in seinem Hause gewesen sei. Der Krüger verneinte es, hoffte aber, es werde bald besser für seine Wirthschaft kommen, wenn erst der Kriegszug des großen Kaisers begonnen haben werde, von dessen Bevorstehen ihm der französische Gensd'arme Kunde gebracht habe, der erst gestern wieder bei ihm angesprochen.

Es kommen ihrer jetzt öfter solche zu mir reiten, außer den preußischen; sie vigiliren scharf auf die Herren, die da passiren wollen über die Grenze! setzte er mit bedeutendem und listigem Blicke und Augenzwinkern hinzu. Aber das beredte Wort erstarb ihm auf der Zunge, als er sah, daß Paul das Taschen-Fernrohr, mit dem er nach der Seite, von welcher er hergekommen war, ausgespäht hatte, rasch zusammenschob und, nachdem er einige Worte auf Englisch zu seinem Gefährten gesprochen hatte, dem Fuhrmanne den Befehl gab, augenblicklich aufzubrechen. Er selbst und Werben legten eilig den Pferden die abgenommenen Zügel wieder an, dann sprangen sie in den Schlitten, zwangen den jammernden und lamentirenden Juden, mit ihnen einzusteigen, [408] und nachdem Paul dem Wirthe noch ein Geldstück als Bezahlung zugeworfen hatte, ging es fort, so schnell die unvollständig erquickten Pferde zu laufen vermochten.

Sie waren noch keine Viertelstunde gefahren, als Paul wiederum sein Fernrohr auf die beiden Punkte richtete, deren Gewahrung vorher den Entschluß des plötzlichen Aufbruches in ihm veranlaßt hatte. Er hielt es lange am Auge, während sein Freund die Zügel in die Hand nahm, und fragte dann, als er es absetzte, auf die abgejagten Thiere und den in Todesangst zitternden Kutscher blickend: Was halten Sie von der Sache, Herr von Werben?

Werben blickte ebenfalls zurück, zuckte die Schultern und sagte: Es hilft uns nichts! Ihre Pferde sind frisch – sie holen uns ein, noch ehe wir die Grenze erreichen.

So ist's besser, wir machen es gleich ab, meinte Paul. Sie hatten auch diese Worte wieder englisch gesprochen; Herr von Werben überließ dem Juden wieder die Zügel seiner Pferde, die beiden Reisenden nahmen auf dem hinteren Sitze ihre alten Plätze ein und Paul sagte, sich an den Juden wendend: Fahre langsam!

Dieser ließ sich das nicht zweimal sagen, und die Pferde fielen gleich in Schritt, als man eben in das beschneite Fichtenholz einfuhr, an dessen anderem Ende, wie der Jude angab, die Grenze sich hinziehe.

Was gedenken Sie zu thun, Tremann? fragte Herr von Werben seinen Gefährten, indem er ein Paar fein gearbeitete Doppel-Pistolen aus der Manteltasche nahm und Paul die Steine seiner Pistolen mit seinem schweren Einschlagemesser auf's Neue schärfte und frisches Zündkraut auf die Pfannen schüttete.

Das kommt darauf an! Sind es Preußen, so haben wir unsere geschriebenen Pässe, die in Ordnung sind; wenn es dagegen [409] Franzosen sind, nun, so – er lächelte mit einem Ausdrucke grimmiger Entschlossenheit, den Herr von Werben nie bisher an ihm bemerkt hatte – so haben wir diese geladenen Pässe, die nun auch in Ordnung sind!

Während die Reisenden, ihre Waffen in der Hand, langsam vorwärts fuhren, hielten an dem elenden Kruge, den sie kurz zuvor verlassen hatten, zwei Reiter. Der eine derselben, in halb militärischer Tracht, war augenscheinlich ein Franzose, der andere ein preußischer Gensd'arme, welcher jenem als Führer mitgegeben zu sein schien. Sie waren beschäftigt, den Wirth des Kruges zu verhören, und die Auskunft, welche sie auf ihre Erkundigungen erhielten, schien ganz nach dem Wunsche des Franzosen auszufallen.

Wir erreichen sie noch vor der Grenze! rief der Franzose seinem Begleiter zu, und wenn es die sind, die wir suchen, setzte er leise für sich hinzu, so ist mein Glück gemacht. Vorwärts, Kamerad! – Sie gaben ihren Pferden die Sporen und sprengten nach der Richtung fort, welche die Reisenden genommen hatten.

Es währte nicht lange, bis sie den langsam durch das Gestrüpp dahinfahrenden Schlitten vor sich erblickten. Sie waren noch ungefähr einige Hundert Schritte von demselben entfernt, als der preußische Gensd'arme gegen seinen Begleiter bemerkte: Das sind schwerlich Leute, die es eilig haben, Herr Commissar, denn sie fahren Schritt, obschon sie uns bereits seit längerer Zeit gesehen haben müssen, und die Grenze ist keine Viertelstunde mehr entfernt. Die müssen ein gutes Gewissen haben!

Aber der Andere antwortete auf diese Bemerkung nur durch ein drohendes Halt, welches er den Fahrenden zurief, während er im vollen Laufe an den ruhig weiter fahrenden Schlitten heransprengte. Kopfschüttelnd und sichtbar unzufrieden folgte ihm langsam der Gensd'arme. Er traf seinen Begleiter bereits in heftigem Wortwechsel mit den beiden Reisenden.

Ich kümmere mich den Teufel um Ihre Pässe! schrie der [410] Franzose, in welchem Paul augenblicklich einen der französischen Beamten erkannte, die er täglich bei Herrn von Castigni ein- und ausgehen gesehen hatte. Sie sind allerdings Herr Tremann, ich glaube das meinen Augen, nicht Ihrem Passe; aber der andere Herr ist eben so wenig Ihr Bedienter, als ich es bin! Sie müssen beide mit mir umkehren, ich habe Sie nach der nächsten Kreisstadt abzuliefern!

Sehen Sie Sich vor, was Sie thun! rief Paul ihm zu. Sie sind kein Beamter unseres Königs! Sie haben keine Vollmacht, Sie haben kein Recht, friedliche Reisende aufzuhalten, die sich durch ihre Pässe ausweisen können!

Sehen Sie selbst Sich vor, Monsieur Tremann! versetzte hohnlachend der Franzose. Sie sind der Spionage verdächtig, und der Bundesgenosse und Herr Ihres Königs, der Kaiser Napoleon, pflegt mit Spionen keinen langen Proceß zu machen!

Ich rufe Sie zum Zeugen an, wendete sich Paul, da Herr von Werben sich in der Rolle des Bedienten, wenn auch mit großer Selbstüberwindung, schweigend und zuwartend verhalten mußte, an den preußischen Gensd'armen, der inzwischen ruhig die Pässe der Reisenden durchgesehen hatte – ich rufe Sie zum Zeugen an, daß hier die Majestät Ihres Königs und Herrn beleidigt wird! Sie sind ein preußischer Unterthan und Soldat, wollen Sie das geschehen lassen?

Der Angeredete war sichtlich bewegt. Er versuchte, sich in das Mittel zu legen; aber es war vergebens, daß er dem Franzosen bemerklich machte, daß die Papiere der Reisenden völlig in Ordnung seien und daß also gar kein Grund vorliege, dieselben weiter aufzuhalten.

Kein Grund? rief der Franzose. Aber wenn ich Ihnen nun sage, daß dieser Bediente ein Offizier, ein preußischer Offizier, daß es der Hauptmann von Werben ist, den ich hiermit als Deserteur verhafte!

[411] Wie ein Blitz zuckte es über das Gesicht des Gensd'armen, als Herr von Werben, nun er sich entdeckt sah, der Verstellung ohnehin längst müde, die Mütze zurückschlug, welche sein Antlitz verborgen hatte, und Jener ihn erkannte. Herr Hauptmann, mein Herr Hauptmann! Sind Sie es denn wirklich? rief er in freudiger Bewegung aus.

Ja, ich bin es! entgegnete Werben, indem er aus seiner Brieftasche ein Papier hervorzog – aber ich bin kein Deserteur! Hier ist mein Abschied, von Seiner Majestät unserem Könige unterzeichnet! Ich bin frei, zu gehen, wohin ich will, und Gott der Allmächtige weiß es, setzte er knirschend hinzu, warum ein preußischer Soldat und Edelmann gezwungen ist, heimlich zu thun, was er offen zu thun berechtigt ist! Willst Du Deinen Hauptmann an die Franzosen verrathen, Wendland? –

Er hatte den Schlitten verlassen und war mit dem Gensd'armen ein wenig seitwärts an den Rand des Gehölzes getreten, als plötzlich dicht hinter ihnen ein Pistolenschuß fiel, dem auf der Stelle ein zweiter folgte. Sie blickten zurück: der Franzose, durch den Kopf geschossen, stürzte von dem Pferde, das, davon aufgeschreckt, zurück jagte. Paul stand aufrecht im Schlitten, die abgefeuerte Waffe in der Hand.

Er hat es gewollt! sagte er finster – der Elende hat seinen Lohn! Er schoß zuerst, fügte er hinzu, indem er mit der Hand nach der linken Schulter fuhr und sie blutig zurückzog. Sein Blut komme über ihn! Und jetzt vorwärts, Herr von Werben! Wir sind jetzt Zwei gegen Einen!

Gott bewahre, wir sind unserer Drei, rief der Gensd'arme, denn wo mein Herr Hauptmann bleibt, da bleib' ich auch! Mag der Teufel noch länger preußischer Gensd'arme in französischen Diensten sein! Ich gehe mit Ihnen zu den Russen und über die Grenze!

[3]
Zweites Buch
1. Capitel
[3] [5]Erstes Capitel

Das Regiment, in welchem Renatus stand, hatte seine vorgezeichnete Straße über die freiherrlichen Güter zu nehmen und sollte dort ein paar Rasttage halten. Der Commandeur bot es also dem jungen Freiherrn an, als Quartiermacher vorauszugehen, um auf diese Weise ein längeres Verweilen in seinem Vaterhause zu gewinnen, und Renatus machte mit Freuden davon Gebrauch. Während des langsamen und in der frühen Jahreszeit noch beschwerlichen Marsches waren seine Gedanken ihm ohnehin oft genug in die Heimath vorausgeeilt. Er hatte die Seinigen seit zwei Jahren nicht gesehen, und er hatte ihnen mitzutheilen, was jetzt ausschließlich seine Seele erfüllte, er hatte von seinem Vater die Zustimmung und den Segen zu seiner Verlobung zu erbitten.

Von seinen Kameraden mit der Versicherung entlassen, daß man sich danach sehne, ihm bald nachzukommen, um sich in Richten für die gehabten Unbequemlichkeiten und Strapazen zu entschädigen und für die vorauszusehenden Entbehrungen und Anstrengungen zu stärken, machte der junge Offizier sich auf den Weg.

Der Freiherr von Arten galt immer noch für einen reichen Mann, seine Gastlichkeit war weit und breit berühmt; Renatus selber hatte ihrer oft gegen seine Kameraden gedacht, unter [5] denen sich auch Blutsverwandte und Befreundete des Hauses befanden, und er hatte ihnen mit gutem Glauben die beste Aufnahme bei seinem Vater verheißen können. Freilich wußte er, daß Truppen-Durchmärsche für den Gutsbesitzer eine schwere Last seien. Er hatte es mit erlebt, wie furchtbar die Franzosen im Lande gehaust und wie die Italiener durch viele Monate in Richten im Quartier gelegen hatten. Aber Maßlosigkeiten und Gewaltthaten, wie man sie von den Franzosen erdulden müssen, waren von den Landsleuten und unter der strengen preußischen strengen Mannszucht nicht zu befahren, und wenn der lange Aufenthalt der Italiener auch große Summen gekostet hatte, so erinnerte sich Renatus doch sehr deutlich, in welch gutem Einvernehmen man mit ihnen gestanden, wie sein Vater für den Grafen Mariani eingenommen gewesen war, der die Reiterei befehligte, und wie bitterlich Vittoria seinen Tod betrauert hatte, als man später einmal die Nachricht erhalten, daß der schöne junge Mann auf einem der Schlachtfelder des österreichischen Feldzuges seinen frühen Tod gefunden habe.

Je weiter Renatus aber auf seinem Wege vorwärts kam, um so mehr wurde er von den Erinnerungen an die Vergangenheit abgezogen, denn der Anblick, welcher sich ihm überall darbot, war kein freundlicher. Seit Monaten hatten die Truppen-Durchmärsche auf dieser Straße nicht aufgehört, und überall waren die Spuren davon in trauriger Weise bemerkbar. In den Krügen, in denen er füttern ließ, auf dem Gute, auf welchem er übernachtete, waren die Klagen groß, der wirkliche Nothstand unverkennbar, und die Sorge, wie er es in Richten finden werde, fing an, sich des jungen Freiherrn immer ernstlicher zu bemächtigen. Dazu gesellte sich jenes Bangen, das man stets empfindet, wenn man sich einem ersehnten Wiedersehen naht. Renatus fing zu berechnen an, seit wann er keine Nachrichten aus der Heimath empfangen hatte. Er überlegte, daß er seinen [6] Vater nun seit zwei Jahren nicht gesehen habe, daß sein Vater bei Jahren sei, daß die letzten Monate wohl auch für seines Vaters Güter große Lasten mit sich gebracht haben müßten, und er sagte sich jetzt zum ersten Male, daß es im Grunde doch eine üble Nachricht sei, zu deren Ueberbringer er sich habe machen lassen.

Am letzten Tage war für die frühe Jahreszeit das Wetter schwül. In der Ferne zog ein Gewitter vorüber, das seine Regenwolken über das ganze Land ausbreitete. Renatus war nach der Hauptstadt des Kreises gekommen, in welchem seine väterlichen Güter gelegen waren. Er hatte dort der Behörde die Anzeige des bevorstehenden Truppen-Durchmarsches zu machen, die nöthigen Vorkehrungen zu besprechen, und es war ihm sonderbar dabei zu Muthe, daß er hier etwas Anderes, als seine eigenen Geschäfte zu besorgen hatte. Als er seinen Auftrag ausgerichtet, rastete er bei dem Wirthe, in dessen Gasthause der Freiherr einzukehren und zu dem man die Vorlegepferde hinzubestellen gewohnt war, wenn sich Jemand von der Familie auf Reisen befand oder wenn man Besuche erwartete. Der Wirth sagte, daß der reitende Bote aus Richten heute in der Stadt gewesen sei, die Postsendung zu holen; daß der Herr Baron sich lange nicht hätten sehen lassen und daß er die Zeit nicht denken könne, seit welcher die Frau Baronin zuletzt durch den Ort gekommen sei, die freilich im Winter zu reisen nicht liebe.

Er hegte nach Art seiner Standesgenossen offenbar Neigung, mit dem jungen Freiherrn zu verkehren, klagte über die schweren Zeiten, von denen hier Jeder mehr als anderswo gelitten habe und durch die man auf den Gütern noch weit schwerer als in den Städten getroffen worden sei. Er meinte, der junge Herr Baron werde ja wohl von Hause auch davon vernommen haben und nun selber sehen, wie es Alles stehe. Aber Renatus schenkte ihm nicht recht Gehör. Er war zu sehr [7] mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um Verlangen nach gleichgültigem Gespräche zu tragen, und gerade weil er viel darum gegeben hätte, den Zwischenraum überfliegen und die Stunden abkürzen zu können, die ihn noch von seinem Ziele trennten, hatte er eine Scheu vor jenen zufälligen Nachrichten aus der Heimath, wie sie dem Entferntgewesenen entgegen gebracht zu werden pflegen.

Er hatte Anfangs das Aufhören des Regens abwarten wollen; aber der Wunsch, vorwärts zu kommen und bei den Seinigen zu sein, wurde mit jeder Stunde lebhafter, und es ward ihm, er wußte selber nicht, weßhalb, je länger desto unheimlicher zu Sinne. Er ging selbst nach dem Stalle, zu sehen, ob man mit den Pferden noch nicht wieder aufbrechen könne, er trat mehrmals vor die Thüre hinaus, nach dem Wetter auszuspähen; das sah aber gar nicht darnach aus, als ob man ein baldiges Aufhellen erwarten dürfe. Der Wirth unterhielt ihn davon, wie viel Mann Einquartierung er voraussichtlich bekommen werde, berechnete, wie viel Mann auf seine Nachbarn fallen würden, und Renatus dachte, daß er heute zum ersten Male bei seiner Heimkehr in das Vaterhaus hier nicht den Wagen und die Dienerschaft seines Vaters fände. Es ging das freilich mit natürlichen Dingen zu, indeß es war ihm deßhalb nicht weniger unangenehm. Mit einem nicht zu überwindenden Mißgefühle setzte er den Czacko auf und blieb dann neben dem Wirthe unter dem Vordache des Hauses stehen, um zu warten, bis sein Bursche die Pferde gesattelt haben werde. Er konnte es in der geheizten, mit Tabacksdampf erfüllten Gaststube vor Ungeduld nicht mehr ertragen.

Als sie so vor der Thüre standen, sahen sie durch den Regen einen verdeckten, leichten Korbwagen herankommen, den zwei starke Braune zogen.

Das ist der Steinert aus Marienfelde, sagte der Wirth; [8] dem können der Herr Baron nur auch gleich sagen, was ihm bevorsteht, denn leer ausgehen wird der auch nicht.

Er trat mit diesen Worten an den Wagen heran, weil er meinte, daß Steinert einkehren werde. Dieser hatte es jedoch nur auf ein kurzes Anhalten abgesehen, denn er war nicht weit gefahren, hatte kaum noch eine Stunde bis nach Hause und wollte nur noch hören, ob und was es etwa Neues gäbe.

So wie er den Kopf zum Verdeck hervorbog, erkannte er den jungen Edelmann, obschon er ihn seit Jahren nicht gesehen hatte, und mit jener Freude, die jeder Gutgeartete über das schöne Heranwachsen eines Menschen empfindet, den er als Kind gekannt hat, rief er Renatus ein herzliches Willkommen und die Frage zu, was er denn Gutes aus der Ferne bringe. Aber Renatus vermochte ihm nicht in gleicher Weise zu erwiedern. Es verdroß ihn, daß ihn Steinert nicht, wie in früheren Jahren seinen Vater und die anderen Edelleute, als den gnädigen Herrn ansprach, sondern ihn schlechtweg Herr Lieutenant nannte. Es dünkte ihm eine verkehrte Welt zu sein, in welcher Adam Steinert behaglich und trocken in seinem Wagen einherfuhr, während er, der Freiherr Renatus von Arten-Richten, als Quartiermacher in Regen und Nebel durch das Land zog, und obschon er gleichzeitig diese Empfindungen und die Empfindlichkeit, zu der sie sich in ihm verwandelten, thörichte und zu bekämpfende nannte, fühlte er sie doch in einem solchen Grade, daß sie ihm alle Freiheit des Behabens nahmen.

Es dünkte Renatus also doppelt lästig, daß der Wirth sofort wieder von der Einquartierung zu sprechen anfing, da der Lieutenant sie wirklich auch für Marienfelde anzumelden hatte. Steinert verließ, sobald er davon hörte, seinen Wagen, und wie er nun in seiner bestimmten Weise von dem jungen Offizier genaue Auskunft forderte, wie er Fragen stellte, welche Renatus ihm zu beantworten verpflichtet war, da kam noch [9] einmal und noch stärker der Gedanke über diesen, daß die Welt sich umgewandelt habe. Er besaß im Allgemeinen wenig Leichtigkeit, und das Mißbehagen nahm ihm diese vollends. Er gab Steinert kurz und trocken die Zahl der Leute, der Pferde, den Tag ihrer Ankunft in Marienfelde und die Dauer ihres Aufenthaltes an. Steinert, der die kalte, abweisende Haltung des jungen Mannes nach der Freundlichkeit, mit welcher er ihm entgegen gekommen war, mit Recht als einen Hochmuth und eine Unhöflichkeit betrachtete, verzeichnete die Angaben in seinem Taschenbuche, dankte für die Mittheilung und bemerkte, sich zu dem Wirthe wendend, er sei in diesen Zeiten immer recht von Herzen froh darüber, daß er gleich ein tüchtiges Stück von dem Schlosse abgebrochen habe, nachdem er sein Gut gekauft; denn große Schlösser seien jetzt ein wahres Verderben für den Gutsbesitzer, der in ihnen immer die ganze Generalität zu beherbergen und zu ernähren bekomme, während er schon Noth genug habe, sich mit den Seinigen durchzubringen.

Renatus hörte darauf, wie Steinert sich des zeitigen Frühjahres freute und es günstig für die Arbeit nannte, und wie der Wirth ihm kopfschüttelnd entgegnete: Was hilft uns das, wenn sie uns die aufgegangenen Saaten wieder vom Felde in die Raufen schleppen und das reife Korn zu Schüttstroh nehmen, wie vor Jahren? Man möchte die Arme am liebsten über einander schlagen und die Felder brach liegen lassen, da hätte man wenigstens nicht den Aerger über die ganze vergebliche Mühe!

Ja, nichts thun, oder arbeiten was die Knochen halten wollen, versetzte Steinert, das ist die Frage, um die es sich jetzt handelt. Rasch schaffen, Alles zu Gelde machen, wenig brauchen, das Geld sichern und abwarten, bis man wieder mit Zuversicht an ein Unternehmen gehen kann – so habe ich's die ganzen Jahre her gehalten. Wo sie nichts finden, können sie nichts nehmen, und meiner Haut wehre ich mich noch. Es werden [10] Viele zu Grunde gehen in dieser Zeit, denn es sieht bedenklich auf den meisten Gütern aus, und wer den letzten Thaler in der Tasche haben wird, der wird einmal was machen können!

Er trank das Glas Bier aus, das er gefordert hatte, und ging nach seinem Wagen, als der Bursche des jungen Freiherrn diesem sein Pferd vorführte. Steinert sah, wie der Wirth dem jungen Offizier den regenschweren Mantel reichte, wie Renatus ihn um seine Schultern hing. Da kam eine jener Rückerinnerungen, welche dem jungen Edelmanne vorhin seine gute Laune genommen hatten, auch über Steinert; aber sie hatte jenen hart und ungerecht gemacht und dieser ward durch sie besänftigt. Wollen Sie mit mir fahren, Herr Baron? fragte er. Es kommt mir auf einen Umweg nicht an, meine Pferde sind frisch; wir binden Ihren Schimmel an, ich fahre Sie bis Rothenfeld, und bis dahin läßt der Regen vielleicht nach.

Er stand an seinem Wagen und schlug das Spritzleder einladend zurück; aber Renatus konnte sich nicht überwinden, der wohlgemeinten Aufforderung zu folgen. Er dankte ihm für seine gute Absicht.

Nun denn, rief Steinert, so leben Sie wohl und kehren Sie Ihrem Vater, dem Freiherrn, aus Rußland wohlbehalten wieder. Es wird ihm nahe gehen, Sie im Felde zu wissen, und er ist kein Jüngling mehr. Sie werden überhaupt hier zu Lande mancherlei verändert finden!

Damit fuhr er fort; auch Renatus stieg zu Pferde, aber das ganze Zusammentreffen mit Steinert hatte ihm einen peinlichen Eindruck hinterlassen und die letzten Worte desselben waren ihm schwer auf das Herz gefallen. Was hatte er damit andeuten wollen? Was war geschehen? –

Der schlimmste Reisegefährte, die unbestimmte Sorge, hatte sich dem jungen Manne zugesellt und wollte nicht von ihm weichen, wie er sie auch zu bannen versuchte. Es war das erste [11] Mal, daß er sich der Heimath nicht freien Herzens näherte, daß seine Gedanken sich ernstlich mit den Umständen und Vermögensverhältnissen seines Hauses beschäftigten.

Der Freiherr hatte es dem Sohne niemals fehlen lassen, und obschon dieser weder ausschweifende Neigungen noch übertriebene Bedürfnisse besaß, war er doch gewohnt, jeden seiner Wünsche zu befriedigen. Er wußte, daß sein Vater kein guter Rechner, kein umsichtiger Landwirth sei und viel verbrauche. Das war aber, wie Renatus meinte, bei einem Edelmanne sehr erklärlich, und man hatte es nur zu bedauern, daß der Freiherr bisher niemals passenden Ersatz für Steinert hatte finden können; denn gerade die besten Landwirthe hatten mit Renatus oft davon gesprochen, daß man die Hülfsquellen seiner väterlichen Besitzungen nicht nach Gebühr benutze, daß man aus den Gütern nicht mache, was sie werden könnten, daß man nicht die nöthigen Kapitalien in sie hineinstecke, um sie im Grund und Boden wuchern und Zinsen tragen zu lassen. Allein eben das flüssige Kapital fehlte seinem Vater, und dieser hatte dem Sohne in guten Stunden wohl den Rath gegeben, sich bei Zeiten nach einer reichen Erbin zur Gattin für sich umzusehen, damit man wieder in größerer Freiheit des eigenen Grundbesitzes froh werden möge. Wie würde der Freiherr nun die Nachricht aufnehmen, daß Renatus die völlig Mittellose in das Haus zu führen denke?

Bei dem Regenwetter dunkelte es früh, und der Sinn des jungen Mannes wurde dadurch eben auch nicht heiterer. Der Nebel stieg aus dem Boden der sumpfigen Wiesen empor und zog in langen, schwebenden Streifen langsam neben und um ihn her. Er ritt mit wachsender Ungeduld in schnellem Trabe vorwärts; er wollte das Schloß noch erreichen, ehe es Nacht ward. Es dünkte ihn, als sei der Weg weit länger geworden, als komme er nicht von der Stelle; und wie er den Weg nicht bewältigen zu können glaubte, so kam er auch mit seinen Gedanken [12] nicht vom Flecke. Wenn er sich es vorstellen wollte, wie er seinem Vater sein Herz enthüllen und was Vittoria zu seiner Verlobung sagen werde, sah er Adam Steinert vor sich stehen und es klang ihm das Wort vom letzten Thaler und von dem Unsegen, der jetzt auf den großen Schlössern laste, in den Ohren. Er war froh, als er endlich aus den Wiesen heraus war, als aus dem Nebel der Kirchthurm von Rothenfeld hervortrat und der Anblick der allbekannten, ihm engvertrauten Umgebung ihn von seinem Grübeln abzog. Er schwankte, ob er in der Pfarre vorsprechen und seinem greisen Lehrer seine Ankunft melden solle; aber seine Ungeduld sträubte sich dagegen, und auch sein Schimmel schien sich der Nähe des Stalles zu erinnern, in welchem er auferzogen worden war, denn er griff, ohne daß sein Herr ihn dazu antrieb, mit Einem Male lustig aus, so daß Renatus in wenigen Minuten die große Eichen-Allee zu erreichen hoffen durfte, die sich von dem letzten Vorwerke bis zur Rampe des Schlosses hin erstreckte. Aber er ritt und ritt, die Allee wollte noch nicht kommen. Er drückte dem Pferde die Sporen in die Seite, es sprang empor und ging mit raschem Satze vorwärts – aber sie kam nicht, die Allee.

Was ist das? fragte Renatus sich, und es fuhr ihm kalt über den Rücken. Er sah um sich, weil er meinte, nur der Nebel verhülle ihm die Bäume und der Nebel sei es auch, der ihn so erkälte; indeß der Nebel hatte sich verzogen, er konnte an einzelnen Stellen sogar die Sterne durch die Wolken schimmern sehen, und es war auch nicht der Nebel, der ihm das Herz in der Brust erstarren machte und ihm den Hals zusammenschnürte. Denn nun lag es ja vor ihm, das Schloß seiner Väter; er sah das Licht aus dem Fenster über dem Portale schimmern, das die riesigen, alten Bäume jetzt nicht mehr verdeckten. Schon breitete der Hofraum sich weit und öde vor ihm aus, aber es war nicht mehr, wie es gewesen war, es war nicht mehr die [13] alte Heimath! Das Schloß seiner Väter war seines schönsten Schmuckes beraubt, der Stolz der Herren von Arten-Richten, die prächtige, uralte Eichen-Allee war niedergeschlagen bis auf den letzten Baum. Jetzt wußte er, was die Worte Steinert's bedeutet hatten – und die Thränen stürzten ihm aus den Augen.

Oben in dem Zimmer des Freiherrn brannte das Feuer im Kamin. Der reitende Bote, welcher zweimal in der Woche die Briefe für den Freiherrn aus der Kreisstadt abholte, war um die bestimmte Stunde nach dem Schlosse zurückgekehrt, und fast gleichzeitig mit ihm war der Caplan bei dem Freiherrn angelangt. Er kam trotz seiner vorgerückten Jahre und seiner schwachen Gesundheit regelmäßig an den Abenden von Rothenfeld, wohin er gezogen war, bald nachdem Renatus zum ersten Male das Vaterhaus verlassen hatte, nach Richten herüber, um dem Freiherrn, dessen Augen in der letzten Zeit gelitten, zur Hand zu sein, falls er sich eines Vorlesers bedürftig fühlte oder Briefe zu beantworten hatte; denn der Sekretär des Freiherrn war noch während des ersten Krieges in die Dienste eines französischen Generals getreten, und man hatte seine Stelle nicht wieder besetzt.

Die Lichte waren bereits angezündet, aber es waren nicht die vielarmigen Leuchter, deren der Freiherr sich in früheren Jahren bedient hatte, als er am Abende noch selbst zu lesen und zu schreiben pflegte. Der große Raum war also nicht vollständig erhellt, und das Sopha, auf welchem Vittoria, die beiden Arme mit der anmuthigen Lässigkeit eines Kindes unter das Haupt gelegt, in stillem Hindämmern zu ruhen schien, war ganz in Schatten gehüllt. An dem Tische, auf welchem die eingegangenen Briefe und die Zeitungen der letzten Woche lagen, saß der Caplan, und der Freiherr ging, dem Vorlesenden zuhörend, langsam in dem Zimmer auf und nieder, wie es seine Gewohnheit war. Mit Einem Male blieb er stehen.

Es wird immer nutzloser, diese Blätter kommen zu lassen, [14] sagte er, indem er den Caplan unterbrach. Man müßte sich mitten im tiefsten Frieden glauben, wenn man keine anderen Nachrichten empfinge, als diejenigen, welche die Zeitungen uns verkünden. Nur von den friedlichen Gesinnungen Napoleon's, nur von seinen Decreten in der Gesetzgebung und für das Theater ist heute wieder die Rede, und dazu haben die Truppen-Durchmärsche bei uns nicht aufgehört; dazu meint man, so oft man zu unerwarteter Stunde ein Geräusch vernimmt, daß wieder irgend ein neuer Quartiermeister oder Fourier im Schlosse anlangt, um uns neue, unerbetene Gäste anzumelden.

Er hatte aber diese Worte noch nicht vollendet, als man den Hufschlag eines Pferdes auf der großen Rampe hörte. Da sehen Sie, mein Freund, wir leben gerade wie im Schauspiele! meinte der Freiherr. Man braucht von den Dingen nur zu sprechen, um sie eintreffen zu machen. – Er ging nach dem Fenster; auch der Caplan erhob sich, um hinunter zu sehen. Man konnte jedoch in der Dunkelheit nicht erkennen, wer der angekommene Reiter sei, und der Freiherr war eben auf dem Wege, die Klingel zu ziehen, um sich danach zu erkundigen, aber er stand dann wieder davon ab. Es hatte sonst nicht in seiner Art gelegen, den Ereignissen entgegen zu gehen, und er machte sich innerlich einen Vorwurf daraus, daß er die Ruhe verloren habe, sie an sich herankommen zu lassen. Er wendete sich mit einer anscheinenden Gelassenheit wieder in das Zimmer zurück, legte die Hände wieder über dem Rücken in einander, um bei dem Herumgehen die Brust zu dehnen, und wollte eben den Caplan ersuchen, mit dem Lesen fortzufahren, als man eilige Schritte auf der Treppe und im Vorsaale hörte und der Diener in der Thüre erschien.

Was gibt es? fragte der Freiherr, froh, des Zwanges ledig zu sein, den er sich angethan hatte.

Ein Offizier, gnädiger Herr, ein Offizier ist angekommen, [15] von den Unserigen einer! antwortete der Diener, und ehe der Freiherr noch sein Mißfallen über diese unruhige Meldung äußern konnte, war Renatus schon in das Zimmer eingetreten und hatte sich erschüttert an des Vaters Brust geworfen.

Auch der Freiherr war sichtlich ergriffen. Mein Sohn, mein lieber Sohn! rief er aus, als Renatus sich niederbeugte, des Vaters Hand zu küssen, und er die Thränen in des jungen Mannes Augen gewahrte. Was bewegt Dich so, Renatus? Fasse Dich, mein Sohn!

Aber die Stimme seines Vaters, weit davon entfernt, ihn zu besänftigen, rührte den Sohn noch mehr, denn sie klang ihm fremd. Es war nicht mehr der alte, volle Ton, und unfähig, sich zu beherrschen, rief er: Wo ist unsere Allee geblieben, Vater?

Des Freiherrn Brauen zuckten zusammen, er ließ die Hand des Sohnes fahren, denn er meinte einen Vorwurf in der Frage zu vernehmen, und nach des Freiherrn Begriffen von dem Familienrechte und von dem Erbrechte hatte der Sohn dem Vater eine solche Frage auch zu stellen; aber daß er sie in der Stunde der Ankunft, daß er sie in dem Augenblicke that, in welchem er den Vater nach längerer Abwesenheit zum ersten Male umarmte, daß er sie im Beisein des Caplans, im Beisein Vittoria's und gar in Anwesenheit des Dieners that, das kränkte des Vaters Herz, das beleidigte das Ehrgefühl des Edelmannes und des Hausherrn.

Die Franzosen hatten auf ihrem Durchmarsche Lücken in die Allee geschlagen. Der Anblick war mir unerträglich, machte mir die Allee zuwider, und ich fand es für angemessen, zu nutzen, was ein nächster Durchmarsch ganz zerstören konnte! entgegnete der Freiherr, schnell und abgebrochen sprechend. Aber weßhalb zeigtest Du Deine Ankunft nicht im Voraus an? Du weißt, daß ich die Ueberraschungen nicht liebe. Was führt Dich hieher?

[16] Ich komme als Vorbote meines Regimentes! sagte Renatus, durch die Worte seines Vaters und mehr noch durch ihren strengen Ton nun eben so beleidigt und verletzt, als der Freiherr sich erwies.

Also Einquartierung – schon wieder Einquartierung?

Der Stab unseres Regimentes kommt übermorgen in Richten an und wird drei Tage im Schlosse bleiben; das Regiment, zwölfhundert Mann stark, ist auf unsere Dörfer vertheilt, der Train bleibt in Marienfelde, berichtete Renatus, als mache er die Meldung vor einem fremden Manne; aber es kam ihm hart an, denn er sah, wie unwillkommen sie dem Freiherrn war, wie schwer sie ihn bedrückte, und er fand ihn ohnehin nicht, wie er ihn verlassen, nicht, wie des Vaters Bild ihm in der Erinnerung vorgestanden hatte.

Die beiden letzten Jahre hatten dem Caplan weit weniger angehabt, als seinem freiherrlichen Freunde. Da der Caplan niemals stark gewesen war, fiel es an ihm nicht wesentlich auf, daß er magerer geworden. Sein Haar hatte die Farbe nicht merklich geändert, nur dünner war es geworden, so daß die Tonsur sich nicht mehr kenntlich machte. Aber er hielt sich noch aufrecht wie in seinen besten Tagen, sein Gesicht hatte seinen alten, friedlichen und milden Ausdruck bewahrt, sein Auge war noch hell, und seine Soutane, jenes priesterliche Gewand, auf das die Mode keinen Einfluß übte, umgab noch mit der alten Sauberkeit, mit der es einst den Leib des Jünglings bekleidet hatte, auch die Gestalt des Greises.

Der Freiherr hingegen hatte sich sehr verändert. Weil er auf der Höhe des Mannesalters an Fülle sehr zugenommen, ließ die danach eingetretene Verminderung derselben seine Haut welk und schlaff erscheinen. Die einst so schönen, hochgeschwungenen Augenbrauen waren buschiger geworden und hingen tief herunter, alle Züge des Gesichtes hatten sich scharf ausgeprägt, [17] man sah, daß starke Leidenschaften sie gezeichnet hatten. Wer den Freiherrn einst in der Stattlichkeit der altfranzösischen Tracht gekannt hatte, dem konnte es nicht entgehen, daß sein Schritt jetzt in dem Klappenstiefel nicht mehr so wohlgemessen war, als in dem seidenen Strumpfe und in dem Schnallenschuh, und selbst das hohe, weiße Halstuch, das den Nacken des Freiherrn vielmals umgab und sein Kinn, wie die Mode es mit sich brachte, hoch empor hob, konnte es nicht verbergen, daß er sein Haupt nicht mehr so stolz trug, nicht mehr so frei bewegte, als in alter Zeit.

Der Freiherr hatte die Anzeige schweigend hingenommen. Erst nach einer Weile sagte er: Und Du beeiltest Dich, Dich zum Ueberbringer dieser angenehmen Neuigkeit zu machen; das ist ein sonderbarer Einfall, ein sonderbar Gelüsten! – Er schüttelte das Haupt und lächelte dazu spöttisch. Renatus regte sich nicht.

So entstand eine lange Pause, und wo eine solche sich in den ersten Augenblicken eines Wiedersehens zwischen Menschen, die eng zu einander gehören, einstellt, ist es eben so ein Zeichen als der Vorbote irgend welcher Mißverhältnisse. Der wohlgeschulte Diener war still hinausgegangen, da er sah, daß man ihm für jetzt keine Befehle zu geben habe, um nicht anzuhören, was man ihn sicherlich nicht hören zu lassen wünschte; auch Vittoria hatte, nachdem sie bei dem unerwarteten Eintritt ihres Stiefsohnes in freudiger Ueberraschung aus ihrer Ruhe aufgesprungen war, sich entfernt. Sie war es nicht gewohnt, von Renatus nicht gleich mit Zärtlichkeit begrüßt, von dem Freiherrn nicht berücksichtigt zu werden, und ernsthaften Verhandlungen, geschäftlichen Erörterungen oder gar einem Streite beizuwohnen, widerstrebte ihrer innersten Natur. Und doch bedurften der Freiherr und sein Sohn eines Vermittlers, dessen leise Hand ihnen über den Zwiespalt forthalf, der sich zwischen ihnen aufthat und der unausfüllbar werden konnte, wenn man ihm nicht in dieser ersten Stunde Schranken setzte.

[18] Es war der Caplan, der ihnen diesen Dienst zu leisten unternahm, denn er wußte, was es zu bedeuten hatte, wenn der Freiherr seinen Kopf so langsam in die Höhe hob, wenn seine Lippen sich so fest zusammenpreßten, und was Renatus fühlte, wenn er so die Augen senkte.

Mit jener ruhigen Bewegung, die von jeher eine der schönen Eigenschaften des Geistlichen gewesen war, ging er, obschon auch ihm Renatus noch die Begrüßung schuldete, auf diesen zu und sprach, indem er ihn in seine Arme schloß: Du wünschtest Deinem Vater offenbar die üble Nachricht weniger empfindlich zu machen, indem Du Dich zu ihrem Boten hergabst, denn Du hattest Dir es selbst gesagt, daß es der schweren Belästigungen und der noch schwereren Sorgen für den Herrn Baron bereits mehr als zu viel gegeben habe, und Du bist vorausgekommen, um zu sehen, ob Du nicht Deinen Antheil davon tragen könntest. Das macht Deinem Herzen und Deiner Einsicht Ehre, daran erkenne ich Dich und Deinen guten Willen.

Die Worte, welche den Vater wie den Sohn behutsam aber entschieden auf ihren rechten Standpunkt wiesen, beschämten beide und befreiten sie doch zugleich. Sie warfen weit mehr, als der Caplan es ahnen konnte, dem Sohne vor, daß er in jeder Beziehung nur an sich und sein Bedürfen gedacht habe, sie erinnerten den Vater daran, daß der Sohn sicherlich in freundlicher Absicht gekommen sei, und geboten dem Sohne Schonung für den Vater, dem Vater Rücksicht und Anerkennung für den Sohn. Aber man findet sich nicht gleich zurecht, wenn man einmal von der richtigen Straße abgekommen ist und die Gegenstände und die Menschen von einer falschen Seite angesehen hat.

Renatus erwartete, daß der Freiherr, wie das früher in ähnlichen Fällen geschehen war, nach kurzem Ueberlegen mit der Angelegenheit fertig sein, daß er dem Amtmanne durch einen Boten noch heute seine Befehle senden oder ihn in der Frühe [19] des nächsten Morgens kommen lassen werde, um mit wenigen Worten die Sache durchzusprechen, und daß von derselben danach nicht mehr die Rede sein werde, bis zur Ankunft der Einquartierung. Statt dessen nahm der Freiherr eine Brille zur Hand, setzte sich am Schreibtische nieder, verzeichnete die Namen und den Rang der Offiziere, die man im Schlosse unterzubringen hatte, ließ sich vom Caplan aus der Registratur, die er, seit Steinert aus seinem Dienste geschieden war, von Rothenfeld nach dem Archive in Richten und in eigene Verwahrung genommen hatte, verschiedene Acten und Papiere herbeiholen und machte sich daran, die Vertheilung auf die einzelnen Häuser eben nach jenen Papieren und Acten selbst auszurechnen und festzusetzen. Renatus sah mit Verwunderung, wie genau der Freiherr jetzt von der Lage und von den Verhältnissen der einzelnen Gutsinsassen unterrichtet war; aber eben so setzte ihn die hartherzige Strenge in Erstaunen, die sich bei dem Freiherrn gegen alle jene Leute aussprach, welche seit Jahrhunderten Hörige seiner Familie gewesen und nun in Folge der neuen Gesetzgebung freie Bauern und freie Arbeiter geworden waren. Der Caplan hatte beständig Nachsicht für sie von dem Freiherrn zu fordern, und es kamen dabei so traurige Schilderungen ihrer Noth zur Sprache, Renatus erfuhr durch die Entgegnungen des Freiherrn so viel von den Lasten, welche dieser bereits zu tragen gehabt hatte, sein Vater äußerte sich so unumwunden über den Mangel an Lebensmitteln, der auf den Gütern herrsche, und über die Schwierigkeit, welche man haben werde, das Geld zur Beschaffung der für die Aufnahme des Stabes nothwendigen Bedürfnisse aufzutreiben, daß Renatus sich abermals die Frage aufwarf, in welcher Welt er denn lebe, und ob er, ob sein Vater noch dieselben Freiherren von Arten-Richten wären, die sonst in stolzer Sorgenfreiheit in diesem Schlosse gleichsam Hof gehalten hatten.

[20] Er mußte es als ein Zeichen des Vertrauens, der Verzeihung ansehen, daß sein Vater ihm ein paar Blätter hinreichte, damit er sie mit ihm zusammen abstimme; aber er kannte seinen Vater in der Beschäftigung nicht wieder. Er fragte sich: wie ist es möglich, daß er in der Stunde meiner Ankunft an nichts Anderes, als an diese Geschäfte denkt, und er sah es ein, wie dieses nicht der Augenblick und nicht der Zeitpunkt sei, in welchem er seinem Vater mit der Nachricht, daß er sich versprochen habe und eine eigene Familie in Schloß Richten zu begründen wünsche, eine Freude machen könne.

Es war ihm schwer ums Herz, er bemitleidete seinen Vater. Der Freiherr und die Zeiten hatten sich so sehr verändert. Wie weit hatten sich sonst Thür und Thor jedem Gaste geöffnet, wie hatte man sich, als seine Mutter noch gelebt, zu jeder Stunde beeilt, den Ankommenden zu bewirthen und zu erquicken! Jetzt nahmen Sorgen des Vaters Sinn durchaus gefangen, jetzt dachte Niemand daran, daß Renatus weit geritten, daß er durch Regen und Nebel gekommen war, daß der Sohn des Hauses eine Erfrischung und Stärkung nöthig haben könne, und so traurig, so erschreckt, so niedergeschlagen und so fremd fühlte er sich, daß er sich nicht entschließen konnte, sie zu fordern! Die baumlose, kahle Fläche vor dem Schlosse schwebte ihm immer vor den Augen, das Wort von dem letzten Thaler lag ihm immer noch im Sinne.

Es half ihm nicht, daß er sich vorhielt, wie natürlich es sei, daß sein Vater der Geschäfte denke, wie thöricht er selber handle, daß er nicht verlange, was er nöthig habe. Er fand endlich eine Art von düsterer Genugthuung darin, sich die Wandlung recht empfindlich zu machen, die hier vorgegangen war, und weil er niemals rechnen und erwägen gelernt hatte, so unterschätzte er jetzt die Lage, in welcher sein Vater und seine Familie sich befanden, wie er sie bisher zu überschätzen gewohnt [21] gewesen war. Es ängstigte ihn, daß seine Vorgesetzten, seine Kameraden einen Einblick in die veränderten Verhältnisse seines Hauses thun konnten; er dachte mit Schrecken daran, wie gleich die niedergehauene Allee es Jedem verkünden müsse, daß die Axt auch an den Wohlstand seines Stammes bereits gelegt sei. Er kam sich wie ein Heimathloser, wie ein Bettler vor – und Hildegard erwartete von ihm das Glück ihres Lebens, eine schöne, reiche Zukunft!

[22]
2. Capitel
Zweites Capitel

Man hatte sich mühsam durch den Abend hingebracht, und der nächste Morgen ließ sich auch nicht besser an. Es regnete noch immer fort. Nirgends war ein Durchbruch der Wolken zu bemerken, der auf eine baldige Aenderung des Wetters hätte schließen lassen. Auf dem Lande aber hat ein lange anhaltender Regen etwas Einbannendes, das ihn weit lästiger macht, als in der Stadt.

Der Freiherr hatte früh den Amtmann rufen lassen, weiterhin gegen Mittag kamen ungefordert die Schulzen und verschiedene Bauern in das Schloß, um bei dem Freiherrn ihre Beschwerden und Bitten wegen der bevorstehenden Einquartierung anzubringen. Renatus sah daraus, daß sein Vater die Verwaltung seiner Güter fast ganz in seine Hand genommen hatte; aber er konnte sich nicht daran gewöhnen, daß die schweren Schritte der Bauern auf den Treppen und Gängen des Schlosses erschallten, daß ihr erdiger Stiefel den Teppich in dem Zimmer des Freiherrn betrat, und sein Vater that ihm leid, wenn er ihn Geschäfte verhandeln, ihn um Kleinigkeiten dingen und feilschen sehen mußte, an welche zu denken er in früheren Jahren weit unter seiner Würde gehalten haben würde. Es war still im Schlosse, aber nicht so ruhig, wie dereinst.

In dem Zimmer, welches das Wohngemach der Baronin Angelika gewesen, waren die Fenster alle geschlossen, obschon trotz des Regens die Luft sehr mild war. Im Kamine brannte [23] das Feuer. Vittoria lag auf einem türkischen Polster, Renatus saß ihr gegenüber. Sie hatte ein vielfarbiges Tuch um Kopf und Schultern geschlagen, als ob sie trotz der großen Wärme, welche in dem Zimmer herrschte, an Kälte leide, und bewegte, im Gegensatz dazu, mechanisch und zerstreut den mit Edelsteinen besetzten Fächer in ihrer Hand, als müsse sie sich Kühlung fächeln. Renatus sah, wie ihre schwarzen Locken an ihren Schläfen niederfielen, wie ihr kleiner Fuß unter dem gelbseidenen Morgen-Gewande hervorblickte, wie ihre langen Wimpern einen Schatten auf ihre Wangen warfen und wie sie es vermied, seinem Auge zu begegnen, so geflissentlich er das ihrige suchte.

Eine geraume Zeit verging auf diese Weise. Mitunter machte der junge Mann eine Bewegung, als ob er sich erheben und das Zimmer verlassen wolle; dann folgte ihm der Blick Vittoria's schnell und unmerklich, aber er stand immer wieder von seinem Vorhaben ab, obschon es ihn Ueberwindung kostete, zu bleiben; und wenn sie sich seines Verweilens auf's Neue sicher wußte, senkte sich das Auge seiner Stiefmutter wieder auf den Boden nieder, als gäbe es gar nichts, was ihre Theilnahme erregen oder sie von ihren eigenen Gedanken abwendig machen könnte.

Sie hatten eine lange Unterhaltung mit einander gehabt; eine jener Unterredungen, die, von dem völligsten Vertrauen ausgegangen, sie plötzlich zu einem Punkte gelangen lassen, auf dem sie sich getrennt empfunden hatten. Im Erstaunen über diese Möglichkeit, im Erschrecken über sie, war von der einen wie von der andern Seite manches Wort gefallen, das man gesprochen, ohne es sprechen zu wollen, Worte, die man bereute und die man doch nicht zurückzunehmen vermochte, weil sie zu tief in die Seele des Andern eingedrungen waren. Renatus hatte seine Stiefmutter der Selbstsucht angeklagt, sie hatte ihn undankbar genannt. Er hatte ihr vorgeworfen, daß sie nie empfunden [24] habe, was Liebe sei; sie hatte ihn daran erinnert, daß es dem Sohne seines Vaters übel anstehe, es ihr in das Gedächtniß zu rufen, was ihre Ehe ihr versagt habe; und bei jedem Tadel, bei jedem Vorwurfe, mit dem sie einander entgegentraten, schärfte der Gedanke, daß es eben Vittoria, daß es eben Renatus sei, der sich also ausspreche, den Stachel, mit dem sie einander verwundeten. Denn Niemand kann uns so tief verletzen, als die Hand eines sehr Geliebten.

Wie man von einer Höhe hinuntereilend durch die eigene Schwere und Bewegung über sein Wollen hinausgetrieben wird, bis man endlich, gewaltsam einhaltend, mit Erschrecken wahrnimmt, daß man hart am Rande eines Abgrundes steht, so saßen Renatus und Vittoria einander gegenüber. Das Herz war beiden schwer, beiden that die Bitterkeit wehe, die sie gegen den Andern empfanden, Jeder von ihnen hätte einlenken mögen, aber sie konnten den Weg dazu nicht finden, und selbst die urprüngliche Sprachverschiedenheit wurde heute ein Hinderniß zwischen ihnen, obschon beide des Französischen völlig mächtig waren, das ihnen von jeher zur Vermittlerin gedient hatte.

Renatus sah es mit einer wachsenden Unruhe, wie regungslos Vittoria zu Boden blickte, mit welch maschinenmäßiger Sicherheit sie ihren Fächer handhabte. Er hoffte, sie werde ihn einmal fallen lassen, er wünschte ihn aufheben, ihn ihr reichen, irgend eine Veranlassung finden zu können, die es ihm nöthig oder auch nur möglich machte, ein Wort zu ihr zu sprechen, einen Blick von ihr zu erhaschen, ihren Dank zu vernehmen. Es war ihm zu Muthe, als habe man ihm ein lang besessenes Gut entrissen, als habe man ihm mit einer theuren Erinnerung ein Stück seines Lebens genommen, als habe er etwas Unschätzbares vergessen, als habe auch Vittoria ihn vergessen. Er lebte wie unter einem Zauberbanne, und er meinte, Ein Wort, das erste, beste, gleichgültige Wort, müsse diese unselige Verzauberung lösen, [25] müsse ihm und seiner Stiefmutter das Gedächtniß wiedergeben können, das Gedächtniß all der langen Freundschaft, all der heiteren, überströmenden Neigung, die sie für einander in der Brust getragen bis auf diese Stunde. Er wollte immer sagen: Besinne Dich, Vittoria, ich bin's! Er sagte sich innerlich fortwährend: Es ist ja Vittoria! – Aber der Bann der harten, unglückseligen Worte lag über ihm und zwischen ihnen und wuchtete immer schwerer und machte ihn immer unfähiger, sich zu befreien. Und dazwischen dachte er mit Mißmuth und mit Sorge an Hildegard, welche die unschuldige Ursache all seines Schmerzes war.

Endlich erhob Vittoria das Haupt. Renatus hätte ihr schon dafür danken mögen. Sie sah ihn an, flüchtig mit ihrem dunklen Auge an ihm vorüberstreifend, sah in die Flammen, als gewahre sie erst jetzt, daß diese im Erlöschen seien, blickte dann in das Freie hinaus, wie wenn sie den langsamen Fall der feinen, dichten Regentropfen betrachtete, und sprach zusammenschauernd die Worte, mit denen Dante seinen Eintritt in den dritten Höllenkreis bezeichnet:


I' sono al terzo cerchio della piova
Eterna, maledetta, fredda e greve! 1

O, mag es regnen! rief Renatus, indem er sich, schon durch den Klang ihrer Stimme erfreut, zu ihr hinüber neigte und ihr seine Hand entgegenreichte, mag es doch regnen, wenn Du nur wieder mit mir sprichst! – Aber sie nahm seine dargebotene Rechte nicht an. Er hatte also die Kränkung, sie zurückziehen zu müssen, und doch ließ er sich dadurch nicht entmuthigen.

Mit ihr von dem Gegenstande zu reden, der sie so weit von einander entfernt hatte, noch einmal die Unterredung in [26] diesem Augenblicke auf seine Verlobung zurückzuwenden, konnte und mochte er nicht wagen, da ihm an einer Versöhnung mit Vittoria gelegen war, und sich selbst verleugnend, indem er zu dem Aeußerlichsten, zu dem Gleichgültigsten seine Zuflucht nahm, bat er: Habe Geduld mit diesem Wetter, Geduld mit unserem Klima! Aber er konnte nicht von sich selber los, und mit bewegter Stimme fügte er hinzu: Muß ich doch jetzt mich auch gedulden, bis Du mich ruhiger hören, bis Du wieder die rechte Vittoria, meine Vittoria sein willst! Nur ein paar Tage noch, und die Sonne und der Frühling sind wieder einmal da!

Um uns in ihrem kurzen Verweilen empfinden zu lassen, was wir den größten Theil des Jahres hindurch entbehren müssen! entgegnete sie ihm, sich nur an seine letzten Worte haltend. Dann erhob sie sich mit einem Seufzer und trat an eines der Fenster heran. Renatus folgte ihr dahin nach. Sie stützte die Stirn gegen die Scheiben, schaute eine Weile lautlos auf die Terrasse und in den Park hinunter, dessen kahle Bäume gespenstisch aus dem Regen und Nebel hervorsahen, während der aufkommende Wind das nasse Laub am Boden vor sich her zu treiben anfing.

Heute feiern sie in unserem Kloster, hob sie dann mit einem Male wie aus langem Rückerinnern an, den Namenstag unserer Aebtissin, der guten Mutter Benedicta. Wie blühte da Alles in unserem Lande, wie schwamm der Klostergarten in Licht und Duft! Wie freuten wir uns auf alle die Gäste, welche kamen, der Oberin ihre Ehrfurcht zu bezeigen! Hätte der Himmel mir statt meines Valerio eine Tochter beschieden, ich hätte sie in das Kloster gesendet! Ich war sehr glücklich in dem Kloster!

Des jungen Mannes Mienen verdüsterten sich auf das Neue, aber begütigend, wie seine ganze Haltung gegen die Baronin war, sprach er: Vergiß nicht, Liebe, wie oft Du mir erzähltest, [27] daß Du Dich aus dem Kloster in die Welt hinaus gesehnt hast!

Weil man sie mir mit so verlockenden Farben schilderte, als ich mein Kloster zum ersten Male verließ. Was wußte ich von der Welt? Ich war ein Kind! Wie konnte ich begehren, was ich gar nicht kannte? Und was hat sie mir geboten, diese Welt, in der ich lebe?

Renatus fuhr mit langsamer Hand über seine Augen. Es war das eine der Bewegungen, die er von seinem Vater ererbt hatte und die ihn demselben in einzelnen Augenblicken ähnlich machten, so wenig er ihm sonst auch glich. Er wollte seiner Stiefmutter verbergen, wie sie ihn verletzte, und sich zusammennehmend, fragte er sie mit sanfter Stimme: Und bin ich Dir denn nichts, Vittoria, gar nichts mehr?

Sie schüttelte das Haupt. Man lebt nicht mit einem halben Herzen und man liebt nicht mit einem getheilten Herzen! gab sie ihm abweisend zur Antwort, und wieder trat die frühere Stille ein, und wieder sahen sie beide schweigend in den kahlen, nassen Garten hinab und zu den schweren, grauen Wolken empor, die sich nicht zertheilen zu wollen schienen.

Endlich raffte sich Renatus auf. Du bist sehr ungerecht, Vittoria! sprach er, und er mußte innerlich wohl an die Unterredung gedacht haben, welche er vor wenig Wochen mit Seba über seine Stiefmutter gepflogen, denn er wiederholte die Worte, deren er sich damals gegen die Erstere bedient hatte: Ich habe kein Glück mit meinen Müttern!

Kein Glück? sprach Vittoria ihm nach, kein Glück? Und wer hat denn Glück? Habe ich es? Habe ich es je gehabt? – Sie wendete sich zu ihm, nahm ihn bei der Hand und zog ihn neben sich auf das Polster nieder, auf dem sie vorhin gelegen hatte. Es war eine finstere Leidenschaft in ihrem Blicke, in ihrer Stimme, selbst in der Kraft, mit welcher sie seine Hand [28] ergriff und festhielt. Er hatte diese zarte Gestalt, er hatte die heitere Natur Vittoria's einer solchen Leidenschaft gar nicht für fähig gehalten, so gut er sie zu kennen gewähnt hatte.

Weißt Du, was es heißt, fuhr sie in derselben Erregung fort, die um so heftiger erschien, als sie sich bis dahin gewaltsam zur Ruhe gezwungen hatte, weißt Du, was es heißt, wenn einem Menschen seine letzte Freude, seine letzte Zuversicht entrissen wird? Weißt Du, was es heißt, keine Hoffnung mehr zu haben?

Vittoria, wie magst Du also reden! mahnte der junge Mann, der sich nicht erklären konnte, was in ihrer Seele vorging.

Sie lachte. Freilich, rief sie, schweigen, immerfort schweigen; lachen, singen, immerfort lachen und singen und scherzen wäre besser gewesen! Es ist ja so bequem, an das Glück der Menschen zu glauben, so angenehm, sich zu sagen, Vittoria ist und bleibt ein harmloses Kind und ich mache sie glücklich! Es ist ja so bequem, Dank zu ernten von einem Herzen, das zu großmüthig ist, sein Wehe laut auszuschreien und die Hand anzuklagen, die es aus dem Boden seines Vaterlandes riß, ohne ihm eine neue Heimath in der Fremde bereiten zu können! Du sagst mir, ich hätte nie geliebt! – Sie lachte wieder mit jenem bitteren Lachen, das ihm in das Herz schnitt. – Und was ist's, fuhr sie fort, was Du von der Liebe weißt? Glaubst Du, die blasse Empfindung, welche man seit Jahren in Dir großgezogen und die man zu benutzen verstanden hat, als man sie für reif hielt, das sei Liebe? Ist diese blut-und phantasielose Hildegard, die älter ist, als Du, die nie jung gewesen ist in der Jugend des Herzens, ist sie ein Weib, das lieben kann, das man lieben kann? Ist sie in Dein Leben getreten so überraschend, so blendend, so überwältigend wie die Sonne, wenn sie plötzlich um Mitternacht über Deinem Horizonte aufginge und es fiele wie Schuppen von Deinen Augen und Du müßtest Dir sagen: [29] Ich habe geschlafen bis auf diese Stunde, nun bin ich erwacht und ich lebe!?

Vittoria! rief Renatus noch einmal mit bittender Abwehr, denn ihm bangte vor dem Geständnisse, das er zu hören fürchten mußte. Aber sie gab auf seine Mahnung nichts, und wie sich selber zur Genugthuung sprach sie: Hast Du es je empfunden, das Glück der Leidenschaft, das so groß ist, daß es kein Gestern hat und an kein Morgen denkt, weil der Augenblick ihm die Welt und das ganze Dasein aufwiegt – das so groß ist, daß Recht und Unrecht, Tugend und Sünde davor wie leere Schemen in sich selbst zerfallen – so groß, daß nur ein Schmerz daneben denkbar bleibt, ein einziger, der Schmerz der Endlichkeit! Kennst Du solch ein Glück?

Er antwortete ihr nicht. – Und wenn sie nun kommt, die Trennungsstunde, wenn nun Alles vor über ist und nichts mehr bleibt, als die Hoffnung eines Wiedersehens, und es kommt der Tag, der es verkündet: es gibt kein Wiedersehen, keines, keines! Denn die Erde gibt nicht wieder, was sie verschlungen hat.

Sie brach in lautes Weinen aus, Renatus lag zu ihren Füßen und preßte ihre Hände in die seinigen. Er wußte nicht, was er ihr sagen oder was er thun solle, ihre Aufregung zu besänftigen. Er dachte gar nicht mehr an sich. Jetzt erfuhr er, was Vittoria seit Jahren so verändert hatte und warum sie ihm bisweilen so fremd und unbegreiflich erschienen war. Sie war ihm auch fremd in ihrer Leidenschaft. Es kam mit einer heißen Angst der Gedanke über ihn, daß es seine Stiefmutter, daß es die Gattin seines Vaters sei, die also zu ihm spreche; aber er hatte das Herz nicht, sie zu verdammen. Er fühlte ein unaussprechliches Mitleiden mit ihr, indeß er fragte sie um nichts und sie sagte ihm nichts weiter. Er blieb auf seinen Knieen vor ihr liegen, sie schien ihn fast vergessen zu haben. Erst nach einer langen Weile legte sie ihre Arme um seinen Nacken.

[30] Sieh', sprach sie, wenn ich manchmal am Tage um mich sah und die Welt mir so leer war und ich mir sagte, daß ich jung sei und noch lange leben müsse und daß ich Niemanden hätte, Niemanden, der mich liebte ....

Vittoria, sagte Renatus schüchtern, mein Vater liebt Dich! –

Wie den Vogel, den er eingefangen hat und den er im vergoldeten Käfig nährt, damit sein Gesang ihn im Winter glauben mache, daß es Frühling sei! Ist das Liebe?

Aber Du nahmst seine Hand an, obschon Du es sehen mußtest, daß sein Lebenswinter nahe sei!

Singe ich denn nicht, sieht er mich traurig, glaubt er mich nicht glücklich? gab sie ihm zur Antwort.

Du hast auch Valerio! erinnerte er sie.

Sie sah ihn an und schwieg. Ja, sagte sie danach, ich bin Deines Vaters Frau und ich habe einen Sohn! Ich lebe für sie. Wer aber lebt für mich? Valerio ist ein Kind, und mein Gatte ist ein Greis! – Und wieder schwieg sie.

Bin ich Dir denn nichts, nichts mehr, Vittoria? fragte er, wie am Anfange ihrer Unterredung.

Sie schüttelte verneinend das Haupt. Hildegard liebt nicht zu theilen, sprach sie, und Hildegard hat Recht! Es wohnen nicht zwei Gefühle verträglich in einem Herzen bei einander! Sie und Du – Du und sie, das ist Deine Zukunft! Was kümmert Dich die meine?

Renatus verstummte. Er hatte, seit er sich ein selbständiges Urtheil über seine Stiefmutter zu bilden im Stande gewesen war, ihre Neigung zur Eifersucht gekannt und sie als einen Zug ihres National-Charakters angesehen; aber daß dieselbe sich auch auf ihn erstrecken könne, hatte er nicht erwartet, und doch war es nicht diese Erfahrung, die ihn rathlos machte.

Wer war der Mann, den Vittoria geliebt hatte? Wann hatte sie ihn gekannt? Wußte sein Vater davon, und was sollte [31] er selber gegenüber den Geständnissen thun, die ihm zu machen Vittoria sich hatte hinreißen lassen?

Er erschrak, als sein Vater eintrat, und doch war es ihm sehr willkommen, als derselbe ihn aufforderte, ihn auf einer Fahrt zu begleiten, die er unternehmen wollte, um sich zu überzeugen, wie man in Rothenfeld und in Neudorf die Vorbereitungen zur Unterbringung des Regimentes treffe. Vittoria war aufgestanden, als sie den Schritt des Freiherrn im Nebenzimmer vernommen, und hatte sich an das Fenster gestellt. Als sie den Kopf zurückwendete, war jede Spur der Leidenschaft, der Aufregung aus ihren Mienen verschwunden, das dunkle Auge glänzte, als hätte es nie eine Thräne gekannt, der schöne Mund lächelte, als hätte er nicht eben erst die Worte eines hoffnungslosen Unglücks ausgesprochen.

Sie verlangte mitzufahren. Der Freiherr, der nicht gewohnt war, ihr etwas abzuschlagen, machte sie auf des Wetters Ungunst aufmerksam; aber sie bestand auf ihrem Sinne, und bittend und schmeichelnd und scherzend versuchte sie, wenn auch vergebens, die Weigerung ihres Gatten zu bekämpfen und ihren Willen durchzusetzen. Renatus war dabei nicht wohl zu Muthe. Die Zärtlichkeit, welche sein Vater dieser Frau bewies, die Freude, mit der er sie betrachtete, die Befriedigung, mit welcher er jeder ihrer Bewegungen folgte, thaten dem Sohne eben so wehe, als die Heiterkeit Vittoria's. Er glaubte zu bemerken, daß sie ihn ängstlich beobachte, und von Minute zu Minute schwebte ihm der Ausruf auf der Lippe: Sprich nicht mit ihr, mein Vater, denn sie liebt Dich nicht! Sprich nicht mit ihr, denn sie hat Dich verrathen! – Aber durfte er dem Vater, dessen veränderte Gestalt sich ihm am Tage noch bemerklicher machte als an dem verwichenen Abende, den Glauben an Vittoria rauben, ihm das Glück zerstören, das er in ihr besaß? Hatte er ein Recht, ihr unseliges Geheimniß zu verrathen? [32] Durfte er vergessen, daß er sie selbst beklagenswerth gefunden hatte und daß sie ihm nur Gutes erwiesen hatte bis auf diesen Tag?

Was er erlebte, kam ihm fast unmöglich vor. Es waren die Gestalten, die er kannte, und sie waren es auch wieder nicht. Er liebte sie und hatte doch das alte Verhältniß nicht mehr zu ihnen. Er wollte sprechen und mußte schweigen. Er sah Alles in einem neuen Lichte und konnte doch nichts deutlich unterscheiden. Nie im Leben hatte er eine größere Qual empfunden!

Er glaubte zu bemerken, daß Vittoria's Augen ihm mit Sorge folgten, daß sie ihn in dieser Verfassung mit dem Vater nicht allein zu lassen wünsche; er selber hätte sich der Nothwendigkeit, eben jetzt mit seinem Vater allein zu sein, entziehen mögen, und doch rührte ihn Vittoria's banger Blick, doch übten auch in dieser quälenden Stunde der Ton ihrer Stimme und der Zauber ihres Wesens die alte, durch lange Gewohnheit gesteigerte Gewalt über ihn aus.

Er war froh, als der Wagen endlich vorfuhr; aber das Alleinsein mit seinem Vater erleichterte ihn nicht. Weil der Freiherr den Sohn immer in einer ehrfurchtsvollen Entfernung von sich zu halten bemüht gewesen war, weil er an den Spielen des Kindes, an den Beschäftigungen des Knaben, an den täglichen Erlebnissen des Jünglings keinen thätigen Antheil genommen und den Sohn bisher geflissentlich von allen ernsten Angelegenheiten seines Hauses fern gehalten hatte, fehlte es ihnen an allen jenen gemeinsamen Erinnerungen und Berührungspunkten, durch welche sich die Verbindung zwischen dem Alter und der Jugend herstellt und die für den geistigen Zusammenhang so unentbehrlich sind wie die Scheidemünze für den täglichen Verkehr. Dazu war Alles seit gestern so völlig anders gekommen, als er es erwartet hatte, die Menschen, die Verhältnisse verwandelten sich unter seinem Auge so unheimlich, daß er Scheu [33] vor seinem eigenen Worte trug, weil er meinte, auch das Wort könne sich verwandeln auf seiner Lippe, und was er heute spreche, könne nicht zum Heile führen.

So waren sie schweigend nach Rothenfeld gelangt. Der Freiherr stieg aus und besah in Begleitung des Amtmannes die Stuben und die Stallungen, in welchen die betreffende Einquartierung mit ihren Pferden untergebracht werden sollte. Er wendete sich dabei mit mannigfachen Erklärungen an seinen Sohn, gab ihm ungefragt Auskunft über die Verhältnisse des Dorfes, und Renatus begann sich an dem Gedanken, daß sein Vater ihn auf die einstige Uebernahme der Güter vorzubereiten strebe, zu erfreuen. Es zeugte ihm sogar für die feine Empfindung des Freiherrn, daß er eben den Augenblick des Abmarsches zu dem Anfange dieser Vorbereitung wähle, als wolle er zu erkennen geben, wie zuversichtlich er auf seines Sohnes glückliche Heimkehr baue, und Renatus war bemüht, den Freiherrn über seine antheilvolle Achtsamkeit nicht in Zweifel zu lassen, als dieser in das Haus seines Justitiarius ging, um sich zu erkundigen, ob er seine Befehle ausgerichtet und ob man den Bescheid von dem Vormundschaftsgerichte noch nicht erhalten habe. Der Justitiarius sagte, die nöthigen Schritte seien von ihm gethan, und wenn der junge Herr Baron nur einige Tage in Richten verweile, so würde man Alles in Richtigkeit bringen können, da die Verfügung in jeder Stunde ankommen könne.

Renatus fragte, wovon die Rede sei. – Von Deiner Mündigkeits-Erklärung! gab sein Vater ihm zur Antwort. Der Sohn, der dies mit der Art und Weise in Verbindung brachte, in welcher sein Vater ihm heute zum ersten Male von der Geschäftsverwaltung auf den Gütern sprach, glaubte daran zu erkennen, wie sein Vater sich altern fühle, und das machte ihn traurig. Aber da jeder Mensch bei den Ereignissen, die ihm begegnen, mit Naturnothwendigkeit zuerst an sich und an die [34] Wirkung denken muß, welche sie auf ihn und seine Zustände üben werden, so freute sich Renatus der Absicht seines Vaters, weil er sich sagte, dem Sohne, den er mündig sprechen lasse, könne und werde er die volle Freiheit bei der Wahl seiner Lebensgefährtin um so weniger versagen, als Renatus mit seiner Volljährigkeit den unbeschränkten Besitz seines allerdings nicht eben großen mütterlichen Erbes antrat.

Gerade diese Betrachtung legte jedoch seinem rechtschaffenen Herzen, wie er meinte, die Verpflichtung auf, dem Vater seine Verlobung mit Hildegard anzuzeigen, noch ehe derselbe ihn aus der väterlichen Gewalt entlassen habe, und er schickte sich, sobald sie wieder im Wagen neben einander saßen, zu seinen Mittheilungen an, als der Freiherr, ihm zuvorkommend, das Wort nahm.

Er sagte, daß die Ankunft seines Sohnes ihm sehr willkommen gewesen sei, weil er die Angelegenheiten seines Hauses zu ordnen beabsichtige, und er wünsche, daß für den Fall seines Todes Renatus sich in der Lage befinde, unabhängig von irgend einer Vormundschaft die Leitung der Familienverhältnisse in die Hand nehmen zu können. Er sprach das mit der Kraft und Ruhe, welche ihn in seinen besten Jahren ausgezeichnet hatten, Renatus gab sich also wieder der Hoffnung hin, daß er sich getäuscht habe, als er seinen Vater so verändert geglaubt. Er versicherte den Freiherrn, wie zuversichtlich er darauf rechne, ihn noch lange leben und sich seines Besitzes und Daseins erfreuen zu sehen. Der Freiherr drückte ihm die Hand.

Deine Gesinnung kenne ich, sprach er; sie ist gut, und ich habe eben im Hinblicke auf sie meine Maßregeln genommen. Es glitt ein Schatten über des Freiherrn Züge, er schien der Ueberwindung nöthig zu haben, um in seiner Rede fortzufahren. Deine Gesinnung ist gut, wiederholte er, und ich weiß, daß es Dir eine Genugthuung sein wird, mir eine Erleichterung in den [35] mannigfachen Verlegenheiten zu bereiten, mit denen ich seit Jahren und Jahren nun zu kämpfen habe. Er hielt abermals inne, Renatus hing mit liebevoller Sorge an seinem Antlitze.

Du wünschest mir, sprach der Freiherr, daß ich mich noch lange meines Besitzes, meines Daseins erfreuen möge, und Du kannst es selber kaum ermessen, denn Du hast es nicht empfunden, wie erfreulich das Dasein dem Manne ist, wenn er der Herr ist innerhalb seines Besitzes. Indeß die Zeiten, in welchen das der Fall war, sind vorüber. Man hat unsere alten Rechte angetastet, uns neue Pflichten aufgelegt und uns die Mittel entzogen, ihnen zu entsprechen, indem man unseren Besitz und unsere Vorrechte geschmälert hat. Ich bin nicht mehr Herr auf meinen Gütern, seit man die Leute, die mir gehörten, freigegeben hat, seit die Willkür des Königs ihnen Ansprüche an mein Eigenthum zuerkannt hat, seit ich es nicht mehr bin, der mein Verhältniß zu ihnen nach meiner Einsicht und nach meinem Ermessen ordnet. Es ist nicht erfreulich, mit denjenigen rechten zu sollen, die nicht unseres Gleichen sind, und noch weniger erfreulich, am Fuße seines alten Stammes ein Geschlecht heranwachsen zu sehen, das wie die Schwämme wuchert und sich breit macht.

Seine Stirn hatte sich gerunzelt, seine buschigen Augenbrauen hingen ihm tief herab. Er versenkte sich eine Weile in seine eigenen Gedanken, der Sohn wagte es nicht, ihn darin zu stören.

Wir sind nicht mehr die Herren! hob er nach einer Weile abermals an. Nicht die Herren in unserem Lande, nicht Herren auf unseren Gütern mehr. Der gewaltige Napoleon hat seinen Fuß auf den Nacken der Könige gestellt und sich zu ihrem Gebieter gemacht, und der Geist des Umsturzes, dessen Verkörperung er ist, ist auch in unsere neue Gesetzgebung eingedrungen und hat sie verdorben bis in ihre Tiefe. Wir sind rechtlos [36] geworden. Das Wort: »Stehe auf, damit ich mich setze!« ist der Grundsatz, der jetzt die Welt beherrscht. Jeder für sich und Niemand für den Andern!

Er nahm eine Prise und öffnete das Wagenfenster, sich Luft zu verschaffen, denn von diesen Angelegenheiten konnte er nicht sprechen, ohne daß es ihm das Blut zu Kopfe trieb. Renatus, der ihn eben deshalb von dem Gegenstande abzuleiten wünschte, erlaubte sich die Bemerkung, daß die Zeit vielleicht eine Ausgleichung der augenblicklichen Uebelstände mit sich bringen werde, und wie er diese Zuversicht von verschiedenen Seiten habe äußern hören.

Ausgleichungen bringen? fuhr der Freiherr lebhaft auf – wie soll das zugehen, wo von beiden Seiten die Kräfte so überspannt werden müssen, daß sie sich erschöpfen! Er war ja so glücklich gewählt, der Augenblick für die neue Gesetzgebung, setzte er spottend hinzu, so glücklich gewählt am Ende eines schweren Krieges, in Tagen, in denen die ganze Welt in Flammen stand! Frage die sogenannten freien Leute, ob sie jetzt besser daran sind, als zu jenen Zeiten, da sie mir gehörten! Frage sie, ob sie nicht heute, wo die schwere Last der Einquartierung wieder auf uns niederzufallen droht, lieber meine Leibeigenen und Hörigen sein wollten; ob sie besser daran sind, wenn man ihnen jetzt das Brod aus dem Hause und die Kuh aus dem Stalle nimmt! Und was uns anbetrifft – unser Besitz hat schwer gelitten, unser Vermögen ist sehr zusammengeschmolzen!

Er warf einen schnellen, prüfenden Blick auf seinen Sohn, aber obschon die Niedergeschlagenheit in dessen Zügen nicht zu verkennen war, schien der Freiherr durch die Haltung desselben sich beruhigter zu fühlen. Dennoch gewann er es nur mit großer Mühe über sich, dem Sohne von seinen Angelegenheiten weiter Auskunft zu ertheilen. Er sagte wie der Krieg und die ihm folgenden, fast unerschwinglichen Kriegssteuern ihn genöthigt [37] hätten, die Güter, eines nach dem andern, mit Hypotheken zu belasten, wie die allgemeine Geldnoth den Werth des Geldes von Jahr zu Jahr gesteigert und den Zinsfuß so erhöht habe, daß es immer schwerer geworden sei, den Gläubigern gerecht zu werden; wie er sich oftmals und gerade dann in peinlichen Geldverlegenheiten befunden habe, wenn es darauf angekommen sei, die Würde des Hauses zu behaupten und nicht durch eine zur Schau getragene falsche Sparsamkeit den unentbehrlichen Credit zu schwächen. Er erzählte das mit jener Klarheit, welche aus einer genauen Uebersicht der Verhältnisse entspringt, aber er hatte nicht mehr die leicht abfertigende Weise, die ihm sonst allen Geschäften gegenüber eigenthümlich gewesen war. Nur die Unlust des großen Herrn, der sich widerwillig dazu bequemt, den obwaltenden Zuständen sein freies Belieben unterzuordnen, war noch die alte in ihm, und Renatus fühlte ihm diese in ihrem ganzen Umfange nach.

Wenn Sie es wüßten, mein Vater, rief er, was ich dabei empfinde, Sie unter dem Drucke so unwürdiger Sorgen zu sehen!

Ich weiß es, ich weiß es! fiel ihm der Freiherr mit scheuer Hastigkeit in die Rede, und eben deßhalb habe ich beschlossen, Dich mündig sprechen zu lassen, denn Du erhältst dadurch die Möglichkeit, mir in einer vorübergehenden Verlegenheit zu helfen!

Er hielt inne und schien von seinem Sohne eine Antwort zu erwarten; aber Renatus war so betroffen, es stürmten so verschiedene Gedanken und Empfindungen auf einmal auf ihn ein, daß er nicht im Stande war, gleich den Ausdruck für sie zu finden. Seines Vaters Lage mußte sehr übel sein, wenn er sich herbei ließ, Beistand von seinem Sohne zu verlangen, selbst auf Kosten der Herrschaft und Gewalt über denselben, auf die er stets so eifersüchtig gewesen war. Renatus wagte es nicht, das Auge zu erheben, er mochte nicht sehen, wie sein [38] Vater in dem Momente aussah. Des Freiherrn leise bebende Stimme durchschnitt des Sohnes Herz, und ohne sich zu fragen, was er damit für die eigene Zukunft aus den Händen gebe und auf sich nehme, sagte er: Wenn mein mütterliches Erbe Sie aus einer Verlegenheit befreien kann, so werde ich glücklich sein, mein Vater, wenn Sie darüber ganz verfügen wollen!«

Der Freiherr holte tief Athem, aber er erwiederte nichts. Sie hatten Beide die Farbe gewechselt, denn ohne daß sie es aussprachen, fühlten sie es, daß ihr Verhältniß zu einander von diesem Augenblicke ab nicht mehr dasselbe sei. Renatus hatte, gerührt von seines greisen Vaters Anblick und Verlegenheit, nach seinem inneren Bedürfen, nach seiner Kindesliebe und seinem Ehrgefühle gehandelt; aber er hatte das Anerbieten kaum gemacht, als er sich sagte, daß er selber Verpflichtungen eingegangen sei, denen zu genügen ihm jetzt vielleicht nicht möglich sein werde, wenn er seines mütterlichen Erbes auf irgend eine Art verlustig gehen sollte. Er fühlte, daß er der Geschäftskenntniß, der Sparsamkeit und selbst der Gewissenhaftigkeit seines Vaters nicht unbedingt vertraute, und er schämte sich doch wieder solchen Gedankens. Er hätte es seinem Vater abbitten, sich ihm in die Arme werfen mögen, indeß ihm fehlte das Herz dazu, denn der Freiherr konnte die Erregung seines Sohnes mißverstehen. Er hätte dem Vater von Hildegard sprechen mögen, um Vertrauen mit Vertrauen zu vergelten und dem Vater die Genugthuung zu bereiten, daß er seinem Sohne gegenüber immer noch der Herr und der Gewährende sei. Wie aber, wenn der Freiherr in der Verfassung, in welcher er sich eben jetzt befand, des Sohnes Absichten und Wünschen sich nicht geneigt erwies, oder wenn er glauben könnte, der Sohn rechne darauf, daß der Vater ihm, der eben jetzt ein großes Opfer gebracht habe, in allen Fällen zu Willen sein müsse?

Er konnte zu keinem Entschlusse kommen. Das Mein und [39] Dein war zwischen ihn und seinen Vater getreten und machte ihn unfrei, eben jetzt, da sein Vater ihm anscheinend Freiheit zu geben beabsichtigte.

Es war jedoch, als errathe der Freiherr, was in seinem Sohne vorging, denn er wendete sich zu ihm und sagte sichtlich sehr beruhigt: Es freut mich, daß ich mich in Dir nicht irrte. Art läßt nicht von Art, und es soll meine Sorge sein, daß Dir Nichts entzogen wird. Ich werde Dein mütterliches Vermögen auf Richten eintragen lassen, das am wenigsten belastet ist und dessen wir uns sicherlich nicht entäußern werden. Die Zinsen sollen Dir regelmäßig zugehen, und das Jahrgeld, welches ich Dir bis jetzt gegeben habe, Dir nicht vorenthalten werden. Mit unserem Namen, mit Deinen persönlichen Vorzügen hast Du unter den ersten Familien des Landes zu wählen, und es wird Deine Sache sein, wenn Du, was der Himmel fügen wolle, uns aus dem Felde wohlbehalten heimkommst, eine Frau in unser Haus zu führen, deren Vermögen Dir einst die Mittel an die Hand giebt, den Schaden herzustellen, welchen die Noth und Ungunst der letzten Jahre unserem Besitze gebracht haben. Möge Dir in Deiner Gattin einst ein Glück beschieden werden, wie es mir in dem schönen, fröhlichen Herzen Vittoria's zu Theil geworden ist!

Er erging sich darauf in einer liebevollen Schilderung aller der Vorzüge seiner Gattin, erwähnte, daß er sein Testament zu machen beabsichtige, sobald Renatus mündig gesprochen sei, weil er über Vittoria's und ihres Sohnes Zukunft sich beruhigt fühlen dürfe, wenn er sie in die Hände von Renatus lege, und er war allmählich von diesen ernsthaften Erörterungen wieder zu den Ansprüchen zurückgekehrt, welche die Erfordernisse der nächsten Tage an ihn und seine Mittel machten, ohne daß sein Sohn es anders als mit einzelnen Worten kund gegeben hatte, daß er den Mittheilungen seines Vaters achtsam folge.

[40] Renatus befand sich in jenem Zustande, in welchem wir gleichsam ein doppeltes Denken haben. Er hörte alles, was der Freiherr zu ihm sprach, er nahm es mit dem Sinne auf, mit welchem sein Vater die Dinge und Zustände entweder selbst ansah oder sie ihn doch ansehen zu machen wünschte. Er war unter dem Einflusse, den die angeborene und anerzogene Ehrfurcht vor seinem Vater auf ihn übte, und doch hatte er die Ueberzeugung, sein Vater täusche ihn und sich mit bewußter Absicht über die Vermögensverhältnisse des Hauses, er sei weit weniger ruhig, weit weniger unbesorgt über dieselben, als er sich zeige; und doch wußte er, die Liebe, welche der Freiherr für Vittoria hegte, betrüge denselben, und seine Zuversicht sei verrathen. Er dachte unablässig an sich und an seinen Vater auf einmal. Jeder seiner Gedanken, jede seiner Empfindungen wurde von einem widersprechenden Gedanken, von einer widersprechenden Empfindung gekreuzt. Er fühlte sich eben so beängstigt als unglücklich.

Er ahnte, obwohl er der Geschäfte nicht sonderlich kundig war, daß auch Richten bereits mit schweren Schulden beladen sein müsse, und daß sein Vater nur darum sich zu seiner Mündigsprechung entschlossen haben werde, weil er es unmöglich gefunden habe, in den gegenwärtigen Zeiten selbst zu den höchsten Zinsen ein Darlehen für eine dritte oder vierte Hypothekenstelle zu erhalten. Daß er sein Vermögen hergeben müsse, darüber war er keine Minute in Zweifel gewesen. Er war das seinem Vater schuldig und es mußte fraglos auch geschehen, wenn er es nicht zu einem Aeußersten kommen lassen, wenn er sich und seinem Geschlechte den angestammten Grundbesitz erhalten wollte. Aber wer bürgte ihm dafür, daß damit wirklich den Nothständen abgeholfen war, und was sollte aus ihm selber werden, wenn seines Vaters Verhältnisse sich immer mehr verschlechterten, wenn man gezwungen wurde, wie das in den letzten Jahren manchem [41] Edelmanne begegnet war, die Güter zu verkaufen, und wenn der Kaufpreis nicht hoch genug sein sollte, sein auf Richten einzutragendes Vermögen zu decken?

Er selber – nun, er selber, so meinte er mit der Zuversicht des Reichgeborenen, der es nie bedacht hat, wie vieles Ueberflüssige ihm durch Gewohnheit zum Bedürfnisse geworden ist, und der es nie erfahren, wie schwer es für den Ungeübten ist, sich auch nur des Lebens Nothdurft zu erwerben – er werde mit sich und seinem Schicksal wohl fertig werden können; aber was sollte er beginnen, nun er sich gebunden hatte? Was sollte er mit Weib und Kind beginnen, wenn sein Vermögen ihm verloren ging? –

Alle jene Bedenken, welche er eben an dem Tage vor seiner Verlobung gegen dieselbe gehegt hatte, stiegen jetzt in erhöhtem Maße vor ihm auf, und das Herzeleid Vittoria's, die Täuschung, in welcher sein Vater von ihr gehalten ward, das ganze Unglück seiner Eltern wurden für ihn zu dem dunkeln Hintergrunde, auf welchem er sich und seinen Zustand wie in einem Spiegelbilde betrachten konnte. Aber er sah sich in demselben nicht mehr als den sorglosen und glücklichen Jüngling, als welchen er sich bisher betrachtet hatte. Seine Jugend lag mit Einem Male weit hinter ihm, sein Glück zerrann wie Nebel vor seinem Auge. Er war ein Mann geworden, von welchem um der Selbsterhaltung, um der Ehre seines Hauses willen ein schweres Opfer gefordert ward. Er trat plötzlich in die vordere Reihe seines Geschlechtes, er übernahm dessen Sorgen, Lasten und Pflichten, da die Schultern seines Vaters müde geworden waren; und nicht sein persönliches Wünschen, die Ehre seines Hauses mußte jetzt sein erstes und sein höchstes Ziel sein.

Er trug ein großes Verlangen, den Caplan allein zu sehen, sein Herz im Gespräche mit dem treuen Freunde zu befreien, aber er konnte an dem Tage nicht dazu kommen. Der Freiherr hielt ihn beständig in seiner Nähe. Er sah auch Vittoria [42] nicht anders, als in Gegenwart der Andern, und wie überall, wo es tiefe Mißstände in einer Familie gibt, war man es seit lange gewohnt, sich in der Unterhaltung an der Außenseite der Dinge zu halten. Es war von dem Vorhaben des Freiherrn in Bezug auf Renatus mehrfach die Rede, indeß man gedachte desselben nur als einer ehrenvollen Anerkennung, die der Freiherr dem Sohne zu gewähren für gut befand, und dieser ward dadurch genöthigt, des bevorstehenden Ereignisses ebenfalls nur mit Heiterkeit zu erwähnen.

Vittoria hatte sich mit Wahl gekleidet und zeigte sich so fröhlich, daß die Schatten von des Freiherrn Stirn davor verschwanden, wie draußen die Wolken vor des Frühlings ersten, mächtigen Sonnenstrahlen. Renatus wußte nicht, ob er sie bewundern und beklagen, ob er sie verachten und hassen solle. Sie erschien ihm wie ein unheimliches Räthsel; eben deßhalb nahm sie jedoch seine Phantasie gefangen, und während ihre eigenartige Schönheit ihren alten Zauber auf ihn übte, betrachtete er sie mit einer ihm noch völlig neuen Empfindung, wenn er sich sagte, daß der Freiherr ihn zum Schützer dieser Frau ersehen, und daß er einzustehen habe für des Knaben Zukunft, der ihr in seiner Schönheit und in seiner fremdartigen Anmuth so völlig ähnlich war, daß eben diese Aehnlichkeit des älteren Bruders Herz bestrickte.

Er mußte es sich immer wiederholen, daß er im Vaterhause sei, so verändert fand er Alles und so hatte sich seine Ansicht über die Seinigen und seine Stellung zu ihnen verwandelt. Er konnte zu keinem klaren Bilde von seiner Zukunft gelangen. Seine Gedanken schweiften hastig von einem Aeußersten zum andern, bis endlich die treue Gefährtin jedes Leides, die wohlthätige Ermüdung, ihn in ihre Arme nahm und der Schlaf in seinen Träumen alle Widersprüche löste und das Unvereinbarste zusammenführte.

[43]
3. Capitel
Drittes Capitel

Früh, ehe der Freiherr noch aufgestanden war, ritt Renatus nach Rothenfeld hinüber, um sich bei seinem greisen Lehrer und Erzieher Rath zu holen.

Er fand ihn mit seinem Gehülfen, der inzwischen auch nicht jünger geworden war, bei der Morgensuppe sitzen, denn der Caplan war der Ersten einer gewesen, welcher bei der Theuerung der Colonialwaaren sich bereit erwiesen hatte, auf ihren Gebrauch zu verzichten, obschon er durch ein langes Leben an den Kaffe gewöhnt gewesen und bei seiner großen Mäßigkeit eigentlich auf denselben als auf ein ihm nothwendiges Reizmittel angewiesen war. Wie Renatus ihn in dem hellen Sonnenlichte vor sich sah, bemerkte er, daß seine Schläfen tief eingesunken waren. Auch die Hauskleidung seines Freundes schien dem jungen Freiherrn trotz ihrer Sauberkeit sehr abgetragen zu sein, und man hatte in der Pfarrwohnung, obschon der älteste Diener und treueste Freund der Arten'schen Familie sie bewohnte, die Verwüstungen, welche die Einquartierten während der ersten Franzosenzeit in derselben angerichtet hatten, kaum auf das Nothdürftigste hergestellt. Die Fensterläden waren erneut, aber immer noch nicht angestrichen, die Wände noch eben so verräuchert, als Renatus sie vor zwei Jahren verlassen, der Kachelofen hatte zwar die nöthigen Ersatzsteine erhalten, aber sie paßten nicht zu demselben. Es war Alles in Verfall gerathen; nur die Blumentöpfe des Greises blühten wohlgepflegt am Fenster, und sein [44] Antlitz sah noch eben so edel und so zufrieden aus, als in den Tagen, in welchen die vorsorgliche Freundschaft der Baronin Angelika in Schloß Richten allen seinen Bedürfnissen schon im voraus begegnet war.

Sobald Renatus sich mit dem Caplan allein befand, erzählte er ihm, was vor seinem Abmarsche aus der Hauptstadt vorgegangen war. Er verhehlte ihm nichts, weder die Stimmung, in welcher er sich befunden, als er sich seiner Neigung für seine Jugendgespielin bewußt geworden war, noch die Zweifel, die ihn nachdem befallen hatten; auch nicht die Umstände, unter denen er sich Hildegard angelobt, ehe er noch seines Vaters Meinung eingeholt und dessen Billigung erhalten hatte. Er berichtete darauf, was am gestrigen Tage zwischen ihm und seinem Vater verhandelt worden war, und sagte dann: Nie in meinem Leben habe ich mich mehr im Zwiespalt mit mir selbst gefunden. Es drückt mich, mit einem solchen Geheimnisse vor meinem Vater zu stehen und von ihm Rathschläge und Wünsche für meine Zukunft aussprechen zu hören, die keine Bedeutung mehr für mich haben. Es drückt mich eben so, daß ich nicht den Muth besitze, meiner Liebe und meiner Braut gerecht zu werden, indem ich meinem Vater sage, daß ich bereits gewählt und mich gebunden habe. Aber kann ich meinem Vater, den ich sehr gealtert finde und sehr gebeugt sehe, unter den obwaltenden Umständen ein Zugeständniß abfordern, das er mir, wie ich jetzt weiß, nur widerstrebend geben würde? Meine Ergebenheit für meinen Vater, mein Ehrgefühl, ja, selbst meine Liebe für Hildegard sträuben sich dagegen. Sie ist kein Mädchen, das einer Familie aufgedrungen werden darf, und doch liegt mir Alles daran, sie auch von meinem Vater als meine künftige Gattin anerkannt zu wissen. Ich ziehe in das Feld, und da ich jetzt in den Besitz meines mütterlichen Vermögens treten soll, möchte ich für den Fall meines Todes zu ihren Gunsten über dasselbe [45] verfügen, denn Hildegard wird keinem anderen Manne angehören, wenn ich sterbe. Darauf kenne ich ihr Herz.

Der Caplan hatte ihn mit keiner Frage, mit keiner Bemerkung unterbrochen, da Renatus nicht zu den in sich befangenen Naturen gehörte, denen man zu Hülfe kommen muß, damit sie sich überwinden und erschließen. Er war vielmehr, wo er vertraute, zu überströmender Mittheilung geneigt, wurde sich in derselben gegenständlich, rührte und tröstete sich nach eigenem Bedürfen, sobald er nur erst dahin gekommen war, sich auszusprechen, und der Caplan hatte also keine große Mühe, den Seelenzustand seines jungen Freundes zu durchschauen, wennschon er es nicht für angemessen fand, ihn über denselben sofort aufzuklären. Er hatte niemals den Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, zu dem seinigen gemacht, aber er war, wie so Mancher, unter dessen Augen sich viele Lebensschicksale abgewickelt haben, zu der Ansicht gelangt, daß in dem Dasein der Menschen, wie in der Natur überhaupt, das Geringere dem Stärkeren dienen müsse. Da er ohne persönliche Wünsche und also ohne persönliche Hoffnungen war, hatte er, weil kein Mensch eines bestimmten Zieles entbehren kann, ohne in seiner Thätigkeit zu erlahmen, das Wohlergehen und Gedeihen des Arten'schen Geschlechtes und der von demselben gegründeten katholischen Gemeinde zu seiner Herzenssache gemacht, und beharrlich wie die Kirche, der er angehörte, suchte er in dem Sohne und durch den Sohn dasjenige fortzuführen, was der Vater begonnen hatte und was durch die Noth des Tages beeinträchtigt und gefährdet ward.

Jedes Wort, das Renatus zu ihm gesprochen, hatte den scharfblickenden Geistlichen davon überzeugt, daß der junge Freiherr, stolz auf den Rang, den sein Geschlecht seit langen Jahren unter dem Adel des Landes eingenommen hatte, augenblicklich mehr mit der Sorge um dessen würdiges Fortbestehen, als mit[46] seinen persönlichen Herzensangelegenheiten beschäftigt, und daß von einer eigentlichen Liebe oder Leidenschaft für seine erwählte Braut, für Hildegard, bei Renatus nicht die Rede war.

Aber der Caplan hütete sich, ihm dieses bemerklich zu machen. Er wollte ein mild erwärmendes und reinigendes Feuer nicht durch den scharfen Hauch des Widerspruches zu einer Flamme anfachen, die man nicht leicht wieder dämpfen und erdrücken konnte, wenn man dies zu thun etwa nöthig finden sollte. Der Caplan war es im Gegentheile nach den schweren Erfahrungen, welche das von Leidenschaften stürmisch bewegte Leben des alten Freiherrn ihn hatte machen lassen, sehr wohl zufrieden, daß Renatus sein unschuldiges Herz einem edeln jungen Mädchen zugewendet hatte, dessen Bild ihn begleiten, und ihn vor den Versuchungen des Lebens wie vor den Verlockungen seiner Sinne bewahren konnte. Aber daß Renatus sich mit einem armen Mädchen verheirathete, lag eben so außerhalb seiner als außerhalb des Freiherrn Ansichten.

Schon seit Jahren hatte der Caplan aus den Mitteln, welche der Freiherr seiner Zeit für den Pfarrer seiner katholischen Kirche bestimmt, den Sakristan und die vier Chorschüler unterhalten; denn es war, da der Freiherr sich nach dem Tode der Baronin auf Reisen begeben und viel Geld gebraucht hatte, nicht zu der Feststellung eines Capitals für die kirchlichen Zwecke gekommen, und auch die Hoffnung, daß man in den Chorschülern sich brauchbare Handwerker und eine katholische Gemeinde erziehen werde, hatte sich nicht verwirklicht. Weil man für die Knaben auf den Dörfern keine guten Lehrmeister finden konnte und man, wenn einmal ein solcher vorhanden war, bei ihm auf die Weigerung stieß, einen Katholiken in sein Haus aufzunehmen, war man stets genöthigt, die Chorschüler, sobald sie herangewachsen waren, in die Lehre nach der Stadt zu schicken, und die Mehrzahl von ihnen hielt es dann nach vollendeter Wanderschaft[47] und erlangter Meisterschaft mehr ihrem Vortheile angemessen, ihr Gewerbe in den großen Städten, als auf den Gütern des Freiherrn zu betreiben, auf denen obenein die Abneigung und das Mißtrauen der protestantischen Bevölkerung ihnen hindernd entgegentraten. Man mußte also immer auf's Neue katholische Knaben heranzuziehen suchen, und wenn es an und für sich auch ein gutes Werk war, diesen eine wohlgeleitete Erziehung zu geben, so ward das Unternehmen, weil es in sich nicht fortwirkte, sondern sich fast ganz unfruchtbar erwies, doch kostspieliger, als man erwartet hatte, und der Freiherr hatte schon bei seiner Rückkehr aus Italien alle Theilnahme dafür verloren. Er hatte es kein Hehl, daß er den Kirchenbau bereute, er kam auch selten in die Kirche, obschon Vittoria oft zur Messe fuhr, und wenn er gelegentlich auf den Sakristan und auf die Sänger zu sprechen kam, fragte er nicht, wie sie unterhalten würden, nachdem er einmal die Erfahrung gemacht hatte, daß der Caplan für sie Sorge trug.

Hatte man des Quartettes einmal nöthig, wenn Vittoria sich vor der Gesellschaft im geistlichen Gesange hören lassen wollte, so berief man den Sakristan mit seinen Schülern; der Freiherr wußte sich dann etwas mit dieser Art von Capelle, zeigte sich ihr gnädig, lobte und tadelte als ein Kenner und ließ es an einem Gnadengeschenke auch nicht fehlen. Im Uebrigen beruhigte er sich damit, daß der Caplan in den langen Jahren, welche er dem Arten'schen Hause angehört hatte, ein hübsches Vermögen erworben haben müsse, dessen er nicht bedurfte, und es schien dem Freiherrn so natürlich, wenn der Geistliche, der durch die Gründung der Pfarre lebenslang versorgt war, seinen im Arten'schen Dienste zusammengebrachten Besitz auch zum Nutzen und zur Ehre des Hauses, die hier zugleich die Ehre Gottes und der Kirche war, verwendete, daß er es nie für nöthig gefunden hatte, darüber auch nur eine Sylbe gegen den Caplan [48] zu verlieren. Er war in seinem Verhältnisse zu Allen, die ihm dienten, nach wie vor derselbe.

Aber der Caplan war auch sich selber treu geblieben, und wie der Freiherr an dem würdigen Fortbestehen seines Geschlechtes, so hing der Geistliche an der Erhaltung des Gotteshauses, das unter seinen Augen entstanden war, und an der Hoffnung, das katholische Bekenntniß in diesem Theile des Landes endlich Wurzel fassen und sich ausbreiten zu sehen. Indeß die Erhaltung der Kirche für die katholische Confession wurde zweifelhaft, wenn Renatus jemals gezwungen werden sollte, sich des väterlichen Besitzes zu entäußern, da derselbe dann leicht in nichtkatholische Hände übergehen und es in einem solchen Falle nicht allzu schwer halten konnte, das Gotteshaus den Evangelischen zusprechen zu lassen. Dem Caplan war also eben so wie dem Freiherrn daran gelegen, Renatus mit einer reichen Erbin aus den katholischen Provinzen sich verbinden zu sehen, und weil er dieses wünschte und es im Augenblicke nicht zu erreichen war, that er wenigstens so viel an ihm lag, dem jungen Baron für die Zukunft die mögliche Freiheit bewahren zu helfen.

Er nannte die Neigung, welche Renatus für Hildegard empfand, edel und berechtigt, er pries die Eigenschaften der jungen Gräfin und das Glück derjenigen, deren reine Seelen sich in keuscher Neigung früh zusammenfinden; aber er gab es dem Jünglinge zu überlegen, ob unter den Bedenken, die sich in ihm gegen diese Verlobung erhoben hatten, nicht eines oder das andere begründet sein sollte. Er fragte ihn, ob er überzeugt sei, daß er niemals eine stärkere Empfindung hegen werde; ob er glaube, daß Hildegard dem Ideale entspreche, welches jeder reine Jüngling von dem Weibe, das er lieben solle, im Herzen trage. Er erinnerte ihn daran, daß er an der Ehe seiner Eltern das Beispiel vor sich habe, wie unglücklich eine nicht völlige Zusammengehörigkeit die Gatten machen könne, und er sprach [49] sich, da er Renatus nachdenklich werden sah, endlich dahin aus, daß er es für alle Theile heilsam glaube, wenn man vorläufig das Herzensbündniß der Liebenden noch als ein Geheimniß bewahre.

Du, mein theurer Renatus, sagte er, wirst dadurch der Nothwendigkeit enthoben, Deinem richtigen Zartgefühle entgegen, eben jetzt von Deinem Vater ein sicherlich widerwillig gegebenes Zugeständniß zu fordern. Du und auch die theure Hildegard, Ihr gewinnt beide die Zeit, in der Trennung Eure Herzen und die Beständigkeit und Stärke Eurer Neigung zu erkennen und zu prüfen, und kehrst Du uns, wie wir alle sehnlich hoffen, unter dem Schutze des Höchsten aus dem Kriege heim, hellt unser politischer Gesichtskreis sich so weit wieder auf, daß Gewerbe und Handel sich wieder frei bewegen können, daß der Grundbesitz seinen wahren Werth zurückerlangt, nun, so wird Dein Vater keine Ursache mehr haben, Dir irgend eine Beschränkung bei Deiner Wahl aufzuerlegen, und er wird dann diejenige mit Freunden in seine Arme schließen, der er heute nur widerwillig seinen Segen geben würde.

Renatus hatte, den Kopf in die Hand gestützt, den Auseinandersetzungen seines geistlichen Freundes ohne eine Erwiderung zugehört. Auch als derselbe geendet hatte, regte der junge Mann sich nicht. Der Caplan kannte das an ihm und es galt ihm als ein gutes Zeichen. Wenn Renatus nach einem Meinungsaustausche auf solche Weise in sich selbst versank, war er in der Regel damit beschäftigt, wie er die fremde Ansicht mit der seinigen so verbinden könne, daß dasjenige als freie Entschließung erschien, was er auf Zureden eines Anderen that. Denn obschon er die stolze Selbstherrlichkeit seines Vaters nicht besaß, hatte er doch die Eitelkeit, in den geringfügigsten wie in den wichtigsten Dingen seine Meinung und seine freie Entschließung kundgeben und behaupten zu wollen; ja, er war im Stande, seine eigene Ueberzeugung, wenn ein Anderer dieselbe [50] ausgesprochen hatte, zu verleugnen und ihr entgegen zu handeln, nur um den Verdacht der Unselbständigkeit von sich abzuwehren. Hier aber, wo der Rath seines Lehrers mit seinem geheimsten Wollen zusammentraf, verlangte es ihn, vielleicht ohne daß er sich dessen klar bewußt war, danach, sich auch im voraus gegen die Vorwürfe zu sichern, die er oder Andere ihm später über seine Handlungsweise machen konnten. Er wollte Herr über seine Entschlüsse bleiben und doch die Möglichkeit haben, die Verantwortlichkeit für dieselben im Nothfalle auf fremde Schultern wälzen zu können, und der Caplan war es als ein Diener seiner Kirche gewohnt, wo es der Förderung ihrer Zwecke galt, schwerere Lasten und Verantwortungen über sich zu nehmen, als Renatus ihm in diesem Falle zu tragen auferlegen konnte.

Woran denkst Du, lieber Renatus? fragte er endlich, da der junge Mann alle Anregung, ja, selbst die Aufforderung, sich zu erklären, diesmal von seinem alten Freunde zu erwarten schien.

Muß ich Ihnen das erst sagen? Was wird Hildegard, was die Gräfin von mir denken, wenn ich die Forderung an sie stellen muß, unsere Verlobung geheim zu halten? Denn ich darf ihnen nicht auseinander setzen, daß die augenblickliche Stimmung und die gegenwärtigen Verhältnisse meines Vaters es mir fast wie eine Entweihung erscheinen lassen, wollte ich ihm jetzt enthüllen und Preis geben, was mir nächst meiner Ehre das Theuerste und Heiligste ist!

Er schwieg, um sich eine ihm zu Hülfe kommende Einwendung machen zu lassen; da der Caplan sie ihm aus gutem Grunde vorenthielt, sprach er selber nach einigem Ueberlegen: Wenn ich sicher wäre, daß Hildegard meiner Liebe, meinem Worte so voll vertraute, wie ich ihr ....

Mein Sohn, unterbrach ihn der Caplan, versündige Dich nicht an Hildegard: sie gibt ihr Herz nicht, wo sie nicht vertraut!

[51] Aber die Gräfin? wendete Renatus ein.

Der Caplan legte seine Hand auf des jungen Mannes Schulter und sagte: Gräfin Rhoden ist eine welterfahrene Frau und eine vorsorgliche Mutter, die Dich und ihre Tochter kennt, aber sicherlich auch auf des Lebens Wechsel und Möglichkeiten denkt. Sie weiß, daß Deine Liebe und Dein Wort ihrer Tochter angehören, wenn Du heimkehrst, indeß ... Er hielt inne und sagte dann, mit vorsichtiger Mißbilligung den feinen Kopf wiegend: Es war vielleicht nicht wohlgethan, im Angesichte eines solchen Krieges um die Hand eines jungen Mädchens zu werben. Ich bin sicher, daß es der Frau Gräfin nicht willkommen war, und es wäre großmüthiger von Dir gewesen, Dich zu überwinden und zu schweigen, denn es ist traurig, ein junges Mädchen zur Wittwe werden zu sehen, ehe es noch das Glück der Ehe kennen gelernt hat.

Renatus war gegen den leisesten Tadel empfindlich. Hildegard's Herz hätte in jedem Falle um mich getrauert, meinte er, wenn die Würfel des Todes mir fallen sollten!

Gewiß; aber man betrauert einen im Verschwiegenen geliebten Mann mit anderer Empfindung, als einen, dem man sich heimlich anverlobte, oder gar als einen erklärten Bräutigam. Das Mitwissen Anderer steigert für die meisten Menschen den Schmerz und zwingt oder veranlaßt sie oftmals, ihn in sich noch aufrecht zu erhalten, wenn sie bereits in der Verfassung wären, ihn zu überwinden. Und wo man nicht sicher ist, Glück und Freude bereiten zu können, soll man trachten, mögliches Leid und Unglück zu verhüten.

Renatus erhob sich, denn es bemächtigte sich seiner eine große Unruhe. Er konnte den Ansichten des Caplans nichts entgegensetzen, sofern sie auf eine noch zu begehende Handlung angewendet werden sollten; aber er ahnte ihren Zweck für diesen [52] besonderen Fall und er verhehlte sich nicht, daß seine Neigung für Hildegard keineswegs eine unüberwindliche gewesen war, daß er eine Uebereilung begangen habe und daß er leicht in die Lage kommen könne, ja, daß er sich eigentlich bereits in der Lage befinde, diese Uebereilung zu bereuen.

Er ging hastig ein paar Mal im Zimmer auf und nieder, blieb dann plötzlich vor dem Geistlichen stehen und fragte kurz und heftig: Was soll ich denn thun? Was wollen Sie denn, daß ich thue?

Dasjenige, was Du zu thun ohnehin entschlossen warst, sprach der Geistliche gelassen.

Sie rathen mir also, gegen meinen Vater von der ganzen Angelegenheit zu schweigen?

Unbedenklich!

Und Hildegard – die Gräfin – wie soll ich vor ihnen dieses Verhalten rechtfertigen? Wie kann ich ihnen meine Handlungsweise erklären? rief er noch einmal.

Der Caplan hob sein Auge zu ihm empor und blickte ihn ruhig an. Ueberlasse es mir, mein theurer Sohn, Deine Rechtfertigung zu übernehmen! sagte er. Und er wußte, daß Renatus diese Antwort von ihm erwartet hatte. Renatus zögerte auch nicht, sich dieselbe zu Nutzen zu machen.

Aber, fragte er, was soll ich Hildegarden schreiben?

Das fragst Du mich? entgegnete der Caplan. Nun, Du wirst Hildegarden alles sagen, was Dein Herz Dir eingibt, und das Uebrige vergönne mir, der Frau Gräfin auseinander zu setzen. Ich gebe die Verhältnisse des Freiherrn sicherlich nicht Preis, und da ich die Ansichten der Frau Gräfin aus langjährigem Vertrauen kenne, hoffe ich, Gehör bei ihr und die Billigung Deiner Handlungsweise von ihr zu erlangen. Jetzt aber – er trat an's Fenster und sah zu dem Kirchthurme empor – jetzt ist's wohl an der Zeit, auf Deine Rückkehr zu denken, denn der Freiherr wird Dich erwarten.

[53] Renatus zog die Uhr hervor und gab dem Caplan Recht. Er sagte, daß er ihm eine große Beruhigung verdanke, daß er nun wieder mit freiem Herzen an die Geliebte denken könne, und daß er nur bedauere, Vittoria in das Vertrauen gezogen zu haben. Indeß er nahm das alles leicht, da er für jetzt der Rücksprache mit dem Freiherrn enthoben war, vor der er sich mehr, als er sich selbst gestehen mochte, gefürchtet hatte.

Im Schlosse fand er, da von dem Freiherrn alle vorbereitenden Schritte bereits vor einigen Wochen geschehen waren, die richterlichen Beamten, vor denen der besprochene Akt seiner Mündigkeitserklärung vollzogen, und durch welche die Eintragung von Renatus' Vermögen auf Richten bewerkstelligt werden sollte, schon angelangt. Erst bei diesen Verhandlungen erfuhr der junge Freiherr, daß seine Befürchtungen wegen seines Vermögens nicht ohne Grund gewesen waren. Sein Capital stand, wenn man die Nähe des Krieges und die mit ihm zusammenhängenden Möglichkeiten in Betracht zog, keineswegs sicher auf dem Gute, und die vor ihm eingetragenen Gläubiger erhielten unverhältnißmäßig höhere Zinsen, als der Freiherr sie seinem Sohne festzusetzen für angemessen fand. Auch sah der Freiherr wohl, daß Renatus die Farbe wechselte, als er das betreffende Schriftstück unterzeichnete, indeß der Vater behandelte nur die Mündigkeits-Erklärung des Sohnes als ein ernstes Ereigniß, an das er mit aller Würde und Feierlichkeit heranging.

Er umarmte den Sohn, nannte ihn vor allen Zeugen einen fertigen Mann, einen Mann von wahrer Ehre und seinen Freund, und gab dann auf die Regelung der Geldangelegenheit anscheinend nur wenig Acht. Er erklärte sie für eine bloße Form, da zwischen Vater und Sohn von Mein und Dein doch nicht die Rede sein könne, meinte dann, daß Renatus erst jetzt wahrhaft in den Besitz seines mütterlichen Erbtheiles trete, wo er es in dem Grunde und Boden des Familiengutes anlege; und als [54] dann im Laufe des Nachmittages der militärische Chef des jungen Freiherrn mit seinem Stabe eintraf, war von den abgethanen Geschäften natürlich keine Rede mehr.

Der Freiherr hätte sich ein Gewissen daraus gemacht, es seinen militärischen Gästen, es einer solchen Gesellschaft von Edelleuten aus allen Provinzen des Landes, in seinem Schlosse an irgend etwas fehlen zu lassen, was zu bieten er im Stande war, und Renatus hielt wo möglich noch mehr darauf, daß der Empfang seiner Vorgesetzten und Kameraden seinem Vaterhause Ehre mache.

Er hatte sonst es nicht leicht gewagt, dem Freiherrn gegenüber Verlangnisse zu äußern und Vorschläge zu thun; aber er war nun großjährig gesprochen, er hatte auch sein ganzes, persönliches Vermögen hergegeben, seinem Vater eine Erleichterung zu bereiten, und man konnte es doch in der That nicht wissen, ob es nicht das letzte Mal sei, daß er im Vaterhause weile. Er hatte nie gefühlt, was es mit der hastigen und feurigen Lebenslust des Soldaten auf sich habe. Jetzt erwachte sie in ihm. Er wollte froh sein, er wollte genießen und Andere mitgenießen lassen, was er besaß. Er blieb in beständiger Bewegung und Aufregung, erhielt alle Andern in derselben, und noch niemals hatte er seinem Vater so wohlgefallen, noch nie hatte der Freiherr es wie eben jetzt erkannt, daß sein Sohn ihm doch sehr ähnlich sei. Er gab jetzt allen Wünschen desselben unbedingte Folge. Ein Ball wurde aus dem Stegreif in das Werk gesetzt, die Säle, die Zimmer, die Fluren und Treppen waren wieder einmal belebt, wie in den Tagen, deren Renatus sich aus seiner Kindheit zu erinnern wußte. Wo die jetzt beschränkte Dienerschaft des Hauses nicht ausreichte, half die militärische Bedienung der Einquartierten aus, die man für die wenigen Stunden, in denen man ihrer bedurfte, in die Livréen des Hauses steckte; es waren deren noch mehrere von früher her vorhanden.

[55] Allerdings durfte Renatus nicht nach der Schloßthorseite an das Fenster treten, ohne daß es ihm durch das Herz schnitt, wenn die Allee, die prächtige Allee, ihm fehlte, wenn er so weit hinaus die große Fläche übersehen konnte. Sie kam ihm wie ein Schlachtfeld vor, es schwebten traurige Schatten, Unheil verkündende Geister über ihr. Aber Niemand von seinen Kameraden vermißte die alten Bäume, es vermißte auch Niemand die schweren silbernen Tafelaufsätze und Pracht-Geräthschaften, die sonst bei feierlichen Gelegenheiten die Tafel geziert und den großen alten Schenktisch geschmückt hatten. Es waren während des Krieges viele Alleen niedergeschlagen worden und viele Gutsbesitzer hatten in den harten Zeiten ihr Silber eingeschmolzen oder es in den großen Städten in verhältnißmäßige Sicherheit zu bringen gesucht. Renatus fragte nicht darum, er nahm ohne Weiteres das Letztere an. Man ritt, man jagte in den schönen Revieren der Herrschaft, Alles wurde besehen, Alles bewundert: der Ahnensaal im Schlosse und die Kirche in Rothenfeld und die prächtige Familiengruft, in welcher die Baronin Angelika neben den anderen Todten ihres Hauses ihre Ruhestätte gefunden hatte.

Die Stunden der kurzen Rasttage entschwanden, ohne daß Renatus zur Besinnung kam. Er sah seinen Vater angeregt und wohlaufgelegt wie seit langen Jahren nicht. Vittoria schien auch neu belebt zu sein, die Anwesenheit so vieler Männer, der Eindruck, den sie auf dieselben machte, die Bewunderung, welche sie durch ihren Gesang wie durch die Fremdartigkeit ihres ganzen Wesens erregte, zerstreuten sie und schmeichelten ihr wie ihrem Gatten. Renatus konnte es nicht über sich gewinnen, noch einmal mit Vittoria von seiner Verlobung zu reden und die seltene Zufriedenheit zu stören, die ihn umgab. Es ward von Hildegard gar nicht mehr gesprochen. Nur mit Mühe fand er die Muße, seiner Braut zu schreiben oder ihrer in Ruhe zu gedenken.

[56] Am Abende vor dem Abmarsche hatte man noch einmal die Gesellschaft aus der ganzen Umgegend zusammengebeten. Man tanzte noch einmal, und man spielte. Spät, als die Dunkelheit schon lange über der Erde und über dem ersten Knospen des Frühlings ausgebreitet lag, flammte oben auf der Margarethen-Höhe ein Feuerwerk empor und an dem Giebelfelde des Freundschaftstempels glänzte in farbigem Licht das Wort: »Victoria.«

Es war eine Ueberraschung, mit welcher der Chef des Regiments seinen Wirthen den Dank für ihre verschwenderische Gastfreundschaft zu erkennen geben wollte; denn wie das Wort die Hoffnung der zum Kampfe ziehenden Krieger aussprach, so huldigte es auch der schönen Schloßherrin, und es kam dabei nicht in Betracht, daß der Freundschaftstempel sehr verfallen war, daß man alte Geräthschaften und Reisig in dem Raume aufbewahrte, der einst das Bild der Herzogin Margarethe umschlossen hatte und ihrem Andenken gewidmet worden war. Das glänzende Licht des Feuerwerks, wie vergänglich es auch war, machte alles Andere vergessen, und als es erloschen war, dachte man des Tempels und der Margarethen-Höhe überhaupt nicht mehr.

Renatus schrieb, wie er sich ausdrückte, mit dem Fuße im Bügel, noch an seine Braut. Der Caplan übernahm die Besorgung dieses Briefes.

Die Regimentsmusik schmetterte auf dem großen Schloßhofe schon ihre muthigsten Weisen, als der Freiherr den Sohn in die Arme schloß, als Renatus, mit Thränen und von des Vaters Segenswünschen begleitet, aus seinen Armen schied. Sie hatten sich nie so nahe gestanden, waren einander nie so lieb gewesen, als in diesem Beisammensein, und noch im letzten Augenblicke legte der Freiherr seine Gattin und Valerio an seines Sohnes Herz und sagte sehr erschüttert, obschon die Fremden es sehen und hören konnten: Kehre mir wieder, mein theurer, theurer [57] Sohn, und sei ihre Stütze, wenn ich nicht mehr bin, wie Du mein Freund und meine Freude bist! –

Er weinte und schämte sich der Thränen nicht. Der Mensch, der Vater, trugen in ihm den Sieg über die Formen der Gesellschaft davon, die überall aufrecht zu erhalten er sonst als seine Aufgabe angesehen hatte. Die Ereignisse waren stärker, als er und seine schwindende Kraft, und sie wuchsen mit jedem Tage an Gewaltigkeit, an Furchtbarkeit und an Erhabenheit über ihn hinaus.

[58]
4. Capitel
Viertes Capitel

Was die Abergläubischen bei dem Erscheinen des großen Kometen gefürchtet und vorausgesagt, was Seba einst hoffend ausgesprochen, als sie, mit Renatus in der Thüre ihres Gartensaales stehend, das prächtige Phänomen betrachtet, es hatte sich Alles über jedes Erwarten schnell erfüllt.

Es war ein verheerendes Kriegsunglück über die Welt gekommen, das größte Kriegsheer, das die Menschheit seit unvordenklicher Zeit gesehen, war vernichtet worden. Die Russen selbst hatten die heilige Hauptstadt ihres Reiches zerstört. Zu Hunderttausenden waren die Kinder eines glücklicheren Klima's, waren die Söhne Frankreichs und Italiens, waren Portugiesen und Spanier, Deutsche und Polen unter dem Schnee der russischen Eisgefilde umgekommen, und ein Flüchtiger, ein Geschlagener und Ueberwundener, war der bis dahin für unbesiegbar gehaltene Kaiser von Frankreich mitten durch das von ihm unterjochte und geknechtete Europa seiner Hauptstadt zugeeilt, um, ein niedergeworfener Riese, aus dem Boden seiner Heimath neue Kraft zu schöpfen.

Noth und Elend hatten den Weg bezeichnet, auf welchem das französische Heer nach Rußland gezogen war, Elend, Krankheit, Tod und Leichen bezeich neten die Straße, auf der die Trümmer dieses für unüberwindlich gehaltenen Heeres bald in kleineren, bald in größeren Massen, bald vereinzelt als jammervoll Verstümmelte, als in Lumpen gehüllte Bettler durch das [59] Land zogen, und es gab in den preußischen Ostprovinzen sicherlich nicht Eine Stadt, nicht Ein Dorf, ja, nicht Ein Haus, dem die Theilnahme an dem Entsetzen erspart worden wäre, welches das geschlagene Heer mit sich durch aller Herren Länder trug. Je größer die Ortschaften waren, je eher man hoffen durfte, in ihnen Aufnahme oder Erquickung, ja, oft nur ein ruhiges Sterbekissen zu finden, um so massenhafter drängten die Fliehenden sich dorthin, und die Herrschaft Richten mit dem Kirchthurme von Neudorf, mit dem weithin in die Ferne ragenden goldenen Kreuze der Rothenfelder Kirche, zogen immer aufs Neue ganze Scharen von Flüchtigen in ihren Bereich.

Die Kirchen beide lagen voll von Kranken und Sterbenden. Der protestantische Pfarrer, der des alten Pastors Nachfolger geworden war, der Caplan und sein Sakristan rasteten nicht Nacht, nicht Tag. Die leibliche Noth und das geistige Leiden der im fremden Lande, fern von den Ihrigen Hinsterbenden nahmen die Geistlichen der beiden Gemeinden gleichmäßig und ganz in Anspruch. Wollte man den Muth der Dorfbewohner nicht völlig sinken lassen, wollte man nur die Leichen unter die Erde bringen, so durften diese Männer sich nicht schonen, und keiner von ihnen dachte an sich und an die eigene Gefahr. Der Caplan ging Allen voran in hingebender Thätigkeit und Selbstaufopferung, und er rechnete sich dies nicht zum Verdienste. Seine Tage waren gezählt, er hatte nichts, woran seine Seele gefesselt war, er dankte seinem Gotte, daß er ihm die Kraft gelassen habe, zu helfen, zu trösten bis an sein Lebensende, und fernsehend mit dem Auge seines Geistes, gab er sich gläubig an die Hoffnung der Vaterlandsbefreiung hin, die am Horizonte des neuen Jahres emporzusteigen begann.

Der Freiherr theilte diese Hoffnung nicht. Er hatte Napoleon verabscheut, als er noch General und Consul gewesen war; aber die Gesinnungen des Freiherrn hatten eine Aenderung [60] erlitten, seit der Consul sich die Krone aufgesetzt und mit eiserner Hand der Volksherrschaft in Frankreich ein Ende gemacht hatte. Der Kaiser, dessen Tyrannei die Franzosen, wie der Freiherr es nannte, für das Freiheitsgelüsten geißelte, in welchem sie ihren König ermordet, den Adel des Landes unter das Messer der Guillotine geliefert und in die Verbannung zu gehen gezwungen hatten, erschien ihm wie eine sittliche Nothwendigkeit in der Weltordnung. Er sah das Unglück, das Napoleons schrankenlose Eroberungssucht über ganz Europa brachte, als die gerechte Strafe dafür an, daß die Fürsten und Völker dem angestammten französischen Herrscherhause und den gut gesinnten Franzosen nicht ihren vollen Beistand zur Niederwerfung der Revolution geliehen hatten, und wenn er in sein Inneres blickte, fühlte er für den Kaiser, der sein willkürliches Belieben zum Gesetze eines Welttheils machte, jetzt mehr Vertrauen, mehr Theilnahme und Bewunderung, als für irgend einen der deutschen Fürsten, die in widerwilligem Gehorsam und zum Theil in knechtischer Schmeichelei und Selbsterniedrigung zu des Eroberers Füßen lagen, oder gar zu seinem Landesherrn und zu dessen Regierung, welche gegen die Herrschaft des großen Genius, des Revolutions-Besiegers ankämpfen zu können glaubten, indem sie in dem eigenen Lande die Gemüther des niederen Volkes selbst in Aufregung versetzten, die Hand an geheiligte, alte Rechte legten, den Adel beraubten und von sich entfernten, ohne damit das Volk erheben und zufriedenstellen zu können. Er hatte den Ausspruch des vierzehnten Ludwig: »Ich bin der Staat!« immer verstanden und bewundert. Er bewunderte auch Napoleon, der sich als den Willen und das Gesetz für seine Zeit hinstellte, und der Gedanke einer von Napoleon begründeten Weltherrschaft stimmte mit den Ansichten des Freiherrn wohl zusammen, seit der Kaiser sich geneigt erwies, dem alten Adel seine Hand zu bieten, und ihn in viele seiner Rechte wieder einzusetzen.

[61]

Es war mit seiner vollen Zustimmung geschehen, es hatte sich kein Widerstreben in ihm geregt, als sein Sohn den Fahnen Frankreichs nach Rußland hatte folgen müssen. Der jähe Glückswechsel, der den Kaiser traf, erschreckte den Freiherrn also höchlich und warf ihn fast mehr darnieder, als einst das Unglück seines Vaterlandes. Er wurde irre an der Folgerichtigkeit der Dinge, wie er sie verstand, und die Ohnmacht auch des gewaltigsten Einzelwillens, das endliche Unterliegen auch der größten Kraft des Einzelnen, erschütterten ihn und ließen ihn Schlüsse machen, die er endlich gegen seine eigenen Ueberzeugungen zu richten sich nothgedrungen sah.

Er wollte nichts wissen von der Verbindung, welche schon lange im Lande thätig war und alle Stände zu einmüthiger Erhebung gegen die Tyrannei der Fremdherrschaft wachzurufen trachtete. Er wendete sich von den Mitgliedern des alten Adels mit Beschämung ab, wenn sie es als ein erstrebenswerthes Ziel bezeichneten, mit ihren Bauern und Insassen in gleicher Reihe und gleichem Gliede zu fechten. Er mochte nichts hören von den Verhandlungen, durch welche deutsche und vor Allem die preußischen Vaterlandsfreunde den Anschluß an Rußland vorzubereiten strebten, und er vermied es, den eigenen Sohn zu sehen, als dieser, mit dem York'schen Corps aus Rußland wiederkehrend, von der allgemeinen Stimmung über sich hinausgehoben, voll Begeisterung dem nahen Freiheitskampfe entgegen zu gehen hoffte.

Der eisige Winter hatte den Greis in seinem Schlosse gefangen gehalten. Auch das erwachende Jahr lockte ihn wenig hinaus. Er war nicht begierig, die Verwüstungen anzusehen, welche die fliehenden Franzosen und die sie verfolgenden Russen innerhalb seiner Besitzungen angerichtet hatten. Das Recht des Stärkeren, die Unerbittlichkeit der Noth hatten überall gewaltet, der gegenwärtige Amtmann war nicht der Mann gewesen, sich [62] dem Aeußersten zu widersetzen; der Freiherr hatte nicht mehr die Kraft, nicht mehr die Mittel besessen, mit großen Opfern größere Uebel zu verhindern. Es sah übel auf der Herrschaft aus, als im Beginne des Frühlings der König von Preußen den Aufruf an sein Volk erließ, der Jeden, welcher die Waffen tragen konnte, zu den Fahnen forderte, um mit Gott unter des Königs Führung für die Freiheit des Vaterlandes zu kämpfen.

Der Freiherr hatte den Aufruf wieder und wieder gelesen und ihn dann zu dem Caplan geschickt, den die Pflege seiner Verwundeten und Kranken jetzt in Rothenfeld zurückhielt und der schon seit vielen Wochen nicht nach Richten gekommen war, um das pestartige Lazareth-Fieber, das sich aus den Spitälern in den beiden Kirchen nach den Dörfern verbreitet hatte, nicht auch in das Schloß zu übertragen. Aber der Freiherr vermißte ihn sehr, das Herz war ihm beladen, und Vittoria war nicht die Frau, vor der er es entlasten konnte.

Es waren ihre Schönheit, ihre Weltunerfahrenheit gewesen, die ihn einst an der kaum der Kindheit entwachsenen Jungfrau bezaubert hatten, und er hatte von Vittoria liebevoll alles ferngehalten, was ihr diesen Reiz zerstören konnte. Sie war heute noch schön, fast schöner, als sie je gewesen, sie war heute noch fremd in der Welt Händeln und in den Nöthen und Bedürfnissen des täglichen Lebens, sofern diese letzteren nicht sie selbst betrafen; aber seit er ihrer Schönheit nicht mehr genießen konnte wie sonst, rührte sie ihn, statt ihn zu erfreuen, und die Selbstsucht, mit welcher Vittoria, wie ein wahres Kind, nur an ihr eigenes Wollen und Bedürfen dachte, quälte ihn jetzt bisweilen eben so, wie sie ihn sonst belustigt hatte. Er dachte jetzt oft, gar oft an die Baronin Angelika zurück, indessen er wußte daneben auch, nach welcher Seite das Herz seiner ersten Gattin sich in diesen Zeiten hingewendet haben würde.

Wenige Tage, nachdem der königliche Aufruf in die Provinz [63] und in das Schloß gelangt war, brachte einer der Chorsänger aus Rothenfeld dem Freiherrn einen Brief des Caplans. Der Freiherr, der in seinen jungen Jahren der verheerenden Seuche, welche auf den Gütern geherrscht hatte, muthig entgegengetreten war, zeigte sich jetzt ängstlich gegen Krankheit und Ansteckung und vermied es also, den Boten vor sich zu lassen. Er empfing den Brief durch seines Dieners Hand, ließ sich die Brille reichen, deren er sich, weil es ihn an eine Altersschwäche mahnte, nur ungern bediente, und trat an das Fenster, um das Schreiben zu lesen. Es war jedoch, als ob er seinen Augen nicht traute, denn er nahm die Brille ab, putzte mit vorsichtiger Hand die feinen Gläser, las den Brief noch einmal und sagte danach, daß er die Antwort senden werde.

Als der Diener sich entfernt hatte, ging der Freiherr eine Weile langsam in dem Zimmer auf und nieder. Der Caplan schrieb ihm, daß die sämmtlichen vier Chorschüler nach der Kreisstadt zu gehen dächten, um in die Landwehr einzutreten, daß er sie übermorgen, da die Kirche voll Kranker liege, zu diesem Schritte in seiner Wohnung vorzubereiten und einzusegnen wünsche, und daß er den Freiherrn anfrage, ob es ihm möglich sei, den jungen Leuten das Geld zu ihrer Ausrüstung zu geben, widrigenfalls er ihn ersuche, ihm einen Theil seines rückständigen Gehaltes auszahlen zu lassen, damit er, so viel an ihm sei, für die Bewaffnung seiner bisherigen Zöglinge sorge. Er meldete zugleich, daß aus allen drei Dörfern eine Anzahl von Arbeitern und von Bauernsöhnen sich dem Könige stellen, daß sie unter Adam Steinert's Führung, der gleichfalls in das Feld ziehe, sich auf den Weg machen würden, und daß der Pastor in Neudorf deßhalb auch eine religiöse Vorbereitung und Einsegnung auf dem Kirchhofe veranstalten werde.

Der Freiherr brauchte eine Weile Zeit, sich zu fassen. Die Welt wurde ihm fremd. Die Worte: Volkserhebung, [64] Volkskrieg, Volkswille, die ihm von Frankreich her oft genug aus der Ferne entgegengeklungen, wurden von dem ältesten Genossen seines Lebens anerkennend gebraucht, wurden jetzt unter seinen Augen, wenn auch in veränderter Gestalt, zu einer Wahrheit, und sie erschreckten ihn.

Er sah um sich her ein Geschlecht, eine Zeit, eine Welt erstehen, in welcher er besorgen mußte, seine bevorzugte Stellung nicht mehr aufrecht erhalten zu können, und ein Traum, den er einst gehabt, kam ihm plötzlich in die Erinnerung zurück. Er hatte einmal geträumt, daß er an einem Sommertage schlafend in einem Saatfelde gelegen, und die Saat war gewachsen und in Aehren geschossen und die Halme waren hoch und immer höher geworden, bis sie über ihm zusammenschlugen wie ein wallendes Meer, aus dem er sich mit Herzensangst zu erretten strebte und das ihn endlich doch in seinen Wellen begrub. Jetzt schoß eine solche Saat empor und ihre Halme schlugen über ihm zusammen.

Er fühlte sich vereinsamt und gebeugt, aber er durfte dem Freunde nicht verweigern, was dieser mit Recht begehren konnte, und er mußte sich mit Widerstreben eingestehen, daß er diese Volkserhebung, der er sich im tiefsten Innern abgeneigt fühlte, daß er diesem Kriegsunternehmen, welches er als ein unglückliches und hoffnungsloses ansah, seinen Beistand leihen, daß er sich dem allgemeinen Wollen, der allgemeinen Stimmung und Meinung unterordnen und zur Ausrüstung der Freiwilligen wider seinen Willen seinen Beitrag zahlen müsse, wenn er nicht dazu gezwungen werden, wenn er nicht auf die Achtung fast aller seiner Standesgenossen und Freunde verzichten wolle.

Er hatte wenig baares Geld im Vorrathe, und es war überall nicht leicht, in diesem Augenblicke Geld herbeizuschaffen. Nachdenklich stand er vor dem Schranke, in welchem er die Werthgegenstände des Hauses aufbewahrte. Er sah die Schmuckkästchen an, welche den Frauen des Geschlechtes von Arten angehört [65] hatten, und nahm dasjenige in die Hand, das einst zur Hochzeit für die Gräfin Angelika angefertigt worden war. Ohne recht zu wissen, was er damit wollte, öffnete er es. Der ganze, prächtige Schmuck lag noch darin, er sah ihn wohlgefällig an, die Brillanten funkelten im Sonnenlichte. Sie sprachen zu ihm von fernen Tagen. Es war ihm zu Muthe wie einem Gläubigen vor einem Heiligenschreine, und doch überkam ihn eine Art von Unruhe, von Angst vor seinem Denken und vor seinem Wollen. Er hielt den Kasten gegen das Fenster, um der Schönheit des Schmuckes recht inne zu werden. Es fehlt kein Stein! sagte er, und das Etui vorsichtig verschließend, setzte er es an die gewohnte Stelle zurück und ging, Vittoria aufzusuchen.

Er mochte nicht mit sich allein sein, er war auch nicht in der Verfassung, jetzt dem Caplan die Antwort zukommen zu lassen.

Vittoria war nicht in ihrem Zimmer. Der warme Sonnenschein hatte sie mit ihrem Knaben in das Freie hinausgelockt. Die Wärterin meinte, die Frau Baronin müsse bald wiederkehren, da die Mittagszeit Valerio's nahe sei. Der Freiherr schickte sie fort, ihre Herrin und das Kind zu holen, und setzte sich auf das Sopha nieder. Es war Vittoria's gewöhnlicher Platz. Er wußte nicht recht, was er dachte, aber es lag eine tiefe Traurigkeit über seiner Seele. Er wünschte, Vittoria zu sehen, er wollte sie bitten, ihm etwas vorzusingen, er hatte Lust, den Knaben bei sich zu haben – und sie blieben aus. Freilich hatte die Wärterin sie erst suchen zu gehen, und sie wußte nicht, nach welcher Seite sie gegangen waren, indeß das Warten machte ihn doch ungeduldig. Er griff nach einem Buche, das auf dem kleinen Lackschränkchen zur Seite des Sopha's lag. Vittoria hatte ihre Briefschaften und mancherlei An denken in diesem Schränkchen aufbewahrt; sie hing an diesem kleinen Besitze mit großer Liebe; es durfte Niemand daran rühren, sie trug den kleinen Schlüssel stets an einem Kettchen auf der Brust. Heute [66] jedoch hatte sie ihn wider alle ihre Gewohnheit stecken lassen; der Entschluß, auszugehen, mochte ihr wohl plötzlich gekommen sein, und sie mußte in ihrer Lebhaftigkeit des Schlüssels vergessen haben.

Der Freiherr, in müßigem Warten, wollte statt ihrer das Schränkchen zuschließen, indeß es widerstand etwas darin. Er öffnete die Thüre, einige Blätter Papier waren aus dem oberen Fache herabgeglitten. Als er sie auf die Seite schieben wollte, fiel ihm eine goldene Kapsel auf, die er nie bei Vittoria gesehen hatte. Arglos nahm er sie zur Hand, und blieb regungslos vor dem kleinen Schranke stehen.

Eine reiche, schwarze Locke nahm die eine Seite der Kapsel ein. »Der Seele meiner Seele!« war in italienischer Sprache in den kleinen Mittelraum hineingeschrieben. Die andere Seite wies das Bildniß eines schönen Mannes in militärischer Kleidung – und der Freiherr kannte diesen Mann. Es war Graf Mariano, der Oberst der italienischen Nobelgarde, der nach dem ersten Kriege Monate lang als Verwundeter im Schlosse und dem Freiherrn ein willkommener Gesellschafter und Gast gewesen war.

Ein dumpfer Schmerzenslaut entrang sich der Brust des Greises. Er raffte eilig zusammen, was er von Papieren vor sich liegen fand, und verließ das Gemach. Im Vorsaale kam ihm Vittoria entgegen, und der Knabe lief auf ihren Antrieb auf ihn zu. Er stieß ihn von sich, daß das Kind zur Erde fiel.

Was ist geschehen – im Namen Gottes, was ist geschehen? rief Vittoria, da sie die Verstörtheit ihres Gatten bemerkte; aber er antwortete ihr nicht. Die Papiere und die Kapsel, welche sie in seiner Hand sah, sagten ihr Alles.

Die erschrockene Wärterin führte Valerio fort, Vittoria blieb mitten in dem Vorgemache stehen. Ihr Kopf hob sich stolz in die Höhe, ihre Brust athmete tief; trotz ihrer kleinen Gestalt sah sie mächtig aus, mächtig und entschlossen, und wie von einer schweren Last befreit, rief sie: Endlich! Jetzt endlich bin ich frei!

[67]
5. Capitel
Fünftes Capitel

An dem Sonntage, welcher diesen Ereignissen folgte, segnete der Caplan in seinem Zimmer seine Chorsänger und einen katholischen Diener des Freiherrn für ihren Feldzug ein und ertheilte ihnen das Abendmahl. Man betete auch für den jungen Freiherrn und für das ganze freiherrliche Haus, aber es war Niemand vom Schlosse dabei zugegen. Der Freiherr hatte dem Caplan einen Theil seines Gehaltes und die gewünschte Beisteuer gesendet, die Baronin war eines Tages ganz plötzlich in die Pfarre nach Rothenfeld gekommen und am anderen Tage, trotz ihrer Scheu vor der im Dorfe verbreiteten Krankheit, noch einmal wieder dahin zurückgekehrt. Den Freiherrn sah man nicht. Es hieß, die Schlaflosigkeit, an der er vor langen Jahren schon einmal gelitten, habe ihn wieder befallen, aber er verweigere, ärztliche Hülfe zu nehmen, obschon er krank aussehe und stundenlang in den Sälen des Schlosses oder, wenn es dunkele, in den Gängen des Parkes umherwandere.

Die Einsegnung der evangelischen Freiwilligen fand, weil auch in Neudorf die Kirche voller Kranken lag, auf dem Kirchhofe unter freiem Himmel Statt. Aus allen Kirchspielen und Dörfern der Umgegend waren sie gekommen, Männer jedes Alters und Standes, die Frau an ihres Gatten Seite, der Bräutigam am Arme seiner Braut, die Eltern mit ihrem kaum zum Jünglinge herangereiften Sohne. Die Einen waren schon vollständig bewaffnet, den Andern fehlte die Waffe noch, aber das Feuer der Begeisterung und der opferfreudigen und todesmuthigen [68] Entschlossenheit war Allen gemeinsam, dem Manne wie dem Weibe, den Greisen wie den Jünglingen, den Fortziehenden wie den Zurückbleibenden. Jeder wußte, daß er das Seinige thun müsse in der großen Zeit, und die beiden Männer, der Hauptmann und der Lieutenant der Landwehr, welche in dieser Gegend die Erhebung geleitet und die gemeinsame Einsegnung veranlaßt hatten, sahen in ihren Offiziers-Uniformen nicht am wenigsten gefestet aus.

Es war am späten Nachmittage, und der Schatten der Eingesegneten, die sich still und feierlich entfernten, fiel schon lang über den frisch ergrünenden Rasen hin, als der ältere der beiden Offiziere, ein großer, starker Mann, das Landwehrkreuz an seiner Mütze, sich nach dem Ausgange des Kirchhofes wendete. Er mochte der Mitte der Fünfziger nahe sein, ein sechszehnjähriger, gleichfalls bewaffneter Sohn ging an seiner Seite, einen heranwachsenden Knaben führte seine Frau an ihrer Hand, seine Tochter hing an seinem Arme. Die Leute traten von allen Seiten an ihn heran, ihm zum Abschiede die Hand zu geben.

Leben Sie wohl, Herr Amtmann, sagten die Alten, die ihn noch im Dienste des Freiherrn gekannt hatten. Leben Sie wohl, Herr Steinert! riefen die Jungen; kommen Sie uns gesund wieder nach Hause! Gott erhalte Sie, Gott erhalte Ihnen auch den jungen Herrn!

Er schüttelte dem Einen die Hand, er klopfte dem Andern auf die Schultern. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen! entgegnete er; und wenn in Marienfelde etwas vorfallen sollte, meine Frau weiß sich wohl zu helfen – aber springt doch zu!

Verlassen Sie Sich darauf! Sie haben ja auch die Zeit her immer zu uns gehalten, und wir zu Ihnen! Verlassen Sie Sich darauf, Herr Steinert! erscholl es wie aus Einem Munde. Die Frau hob die Augen auf und wollte lächeln, aber ihr Schmerz war doch noch größer, als ihr opferfreudiger Wille. [69] Die Thränen rollten ihr über das noch blühende Gesicht, und sie bewegte im Unwillen gegen ihre Schwäche das Haupt, die schweren Tropfen unmerklich abzuschütteln.

Herr Amtmann, sagte ein alter Bauer, die Mütze in der Hand, wenn Einem von den Unseren hier – Sie kennen sie ja alle – was Menschliches begegnet – meine zwei Söhne und mein Schwestersohn und mein Knecht sind auch dabei .... Er konnte nicht weiter sprechen.

Ich behalte sie alle im Auge, so gut wie meinen Jungen da, versicherte Steinert. Ich melde Euch, wie es mit uns Allen steht; geht nur zu meiner Frau, da werdet Ihr's erfahren! Und nun lebt wohl! Wir stehen überall in Gottes Hand. – Lebt wohl!

Er hatte Mühe, sich loszumachen und mit Frau und Kindern seinen am Kirchhofthore wartenden Wagen zu erreichen. Als er einsteigen wollte, blickte er noch einmal zurück. Es lagen in dem Erbbegräbnisse der Steinert's nahe am Eingange des Kirchhofes unter den beiden von Adam neu gepflanzten Linden – denn die uralten Bäume hatten die Russen niedergehauen – Steinert's Vater und Mutter und sein ganzes, ihm vorangegangenes Geschlecht in Frieden unter dem grünen Rasen beisammen. – Werden ich und mein Sohn auch hier ruhen, oder wo wird uns die Todesstunde schlagen? fragte er sich unwillkürlich. Aber er sprach es nicht aus, und obschon die Seinigen ihn erriethen und Aller Augen sich feuchteten, hielten Alle sich still und aufrecht; sie durften einander die Herzen nicht erweichen.

Kommt denn der Herr Hauptmann nicht zurück? fragte die Frau, als sie bemerkte, daß der Bursche, dem man des Hauptmanns Pferd zu halten gegeben hatte, es noch am Zügel führte, und es war eine Selbstüberwindung für sie, daß sie an etwas Anderes und an einen Andern dachte, als an ihren Mann und ihren Sohn und ihren Schmerz.

[70] Der Hauptmann wird uns nachkommen, laßt ihn gehen! entgegnete Steinert, und sie fuhren von dannen, während der Mann, von dem sie gesprochen hatten, sich nach der anderen Seite des Kirchhofes wendete und mit ruhigem Schritte, die mächtige Gestalt hoch aufgerichtet, langsam über den Rasen herging.

Jahr und Tag war er von Deutschland entfernt gewesen, und es hatte ihn nicht danach gelüstet, in das Vaterland zurückzukehren, so lange die Franzosenherrschaft im Lande noch mächtig gewesen war. Er hatte es auch nicht wagen dürfen, denn der Blutbann schwebte über ihm, seit er bei dem Uebergange über die russische Grenze den französischen Commissär erschossen hatte.

Aber ihn dünkte, als läge dieses Ereigniß weit, sehr weit hinter ihm, denn er hatte viel erlebt in dieser Zeit und viel gelernt und viel gewirkt.

In der Nähe der nach Rußland geflüchteten deutschen Vaterlandsfreunde und unter ihrer Leitung mitwirkend für die Beförderung ihrer Zwecke, hatte er in der vielbewegten Zeit die Gelegenheit wahrnehmen und benutzen können, seine und des Flies'schen Hauses Capitalien im Handelsverkehre sich bewegen und wachsen zu machen, und während er selbst seinen Besitz vergrößerte, seine Anschauungen erweiterte, den Kreis seiner Bekanntschaften ausdehnte, hatte er unter des Hauptmanns von Werben Leitung, der, wie viele andere deutsche Offiziere, in russische Dienste getreten war, sich diejenigen militairischen Kenntnisse anzueignen gesucht, die ihn befähigen konnten, bei dem sich bietenden Anlasse für die Befreiung des deutschen Landes wirksam einzutreten.

Mit den ersten Russen war er über die Grenze gekommen, und bei der großen, den Krieg vorbereitenden Thätigkeit, welche in der Hauptstadt Preußens sich fast noch unter den Augen der Franzosen zu regen begann und in welcher das Bestreben der [71] gesammten Bürger mit dem selbstständigen Beschließen aller Behörden so einmüthig und ruhmwürdig zusammenfiel, daß sie endlich die zagende Unentschlossenheit des Königs mit sich auf dem Strome ihrer Begeisterung fortrissen, waren die unermüdliche Arbeitskraft und die schnelle Uebersicht eines geschäftskundigen Mannes recht an ihrem Platze gewesen.

Wo man seiner bedurfte: bei den Ankäufen für die Ausrüstung, bei der Controle der eingehenden Beiträge, bei der Beschaffung der nöthigen Capitalien, überall war Paul zu uneigennütziger Hülfe bereit; und als man schließlich daran ging, die Landwehr aufzubieten, war er wieder der Ersten Einer gewesen, die das bürgerliche Kleid mit dem Soldatenrocke, die Feder mit dem Degen vertauscht und das Kreuz an ihre Mütze geheftet hatten, um in dem ihm von den oberen Behörden angewiesenen Kreise im Verein mit Steinert, der zu den treuesten und eifrigsten Vaterlandsfreunden zählte, das Zusammentreten, die Ausrüstung, die erste Einübung und den Abmarsch der Freiwilligen bewerkstelligen zu helfen.

Es war nicht Paul's Wahl gewesen, daß er eben in diesen Theil der Provinz gekommen war, an den sich keine erfreulichen Erinnerungen für ihn knüpften. Indeß er war es nicht gewohnt, seinen widerstrebenden Empfindungen nachzugeben, wo es eine Pflichterfüllung galt, und die Arbeit, welche auf ihm und Steinert lag, war so gewaltig, der Augenblick nahm die ganze Kraft der Menschen so sehr in Anspruch, jeder Morgen brachte so viel neue Anforderungen, stellte so viel neue Nothwendigkeiten heraus, denen rasch begegnet werden mußte, daß Paul während aller der Tage, die er unter Adam's Dach verweilte, nicht viel an sich selber denken konnte.

Und doch wachte mit dem Klange der Namen Neudorf, Rothenfeld und Richten, doch wachte bei der Nennung des Freiherrn von Arten eine eigene Wehmuth in seinem vom Leben [72] geprüften Herzen auf, gegen die er sich vergeblich sträubte. Es half ihm nicht, daß er sein Verlangen, die Stätten wiederzusehen, die sein Fuß als Kind betreten hatte, eine müßige Neugier schalt. Er wußte, daß keine Spur mehr vorhanden sei von dem Hause, in welchem er geboren worden war, in welchem er mit seiner Mutter gelebt hatte. Es rief ihn keines Menschen Liebe, keiner Eltern Zärtlichkeit, kein Bruder, kein Jugendgespiele nach der Heimath seiner Kindheit zurück. Er trug auch kein Verlangen, den stolzen Bau zu sehen, den sein Vater über der Stätte aufgerichtet hatte, auf welcher seiner armen Mutter das Herz gebrochen worden war; aber es bewegte ihm doch die Seele, als er an dem schönen Frühlingstage an der Spitze der kleinen, kampfbereiten Schaar in Neudorf einritt, als er auf demselben Kirchhofe, der seiner Mutter Reste in sich schloß, zu dem ernsten Gange auf Leben und Tod die Weihe und den Segen über sich und seine Gefährten aussprechen hörte.

Der Kirchhof war nicht groß, er hatte nicht weit zu gehen bis zu der Ecke, in welcher, fern von den Gräbern der Glücklicheren oder der Muthigen und Geduldigen, die armen Ausgestoßenen gebettet lagen, die das Leben von sich geworfen hatten, weil es ihnen zu schwer geworden war. Die Hügel waren eingesunken. Kaum daß man noch die Wellungen im Erdreiche unterschied. Ein paar kleine Holztafeln ragten nur wenig über dem Boden hervor, die Kosaken hatten vor einigen Wochen mit ihren Pferden auf dem Kirchhofe campirt, es war Alles niedergetreten, nur ein paar eisenumgitterte Erbbegräbnisse, wie das der Steinert's, waren erhalten worden.

Er bückte sich nieder, um zu sehen, ob auf den kleinen Tafeln vielleicht ein Name erkennbar sei; aber der Regen hatte sie weiß gewaschen, die Hufe der Pferde sie zerschlagen, sie waren überhaupt nur übrig geblieben, weil die Kosaken die paar elenden [73] Splitter des Auflesens nicht werth geachtet haben mochten, wo sie Bäume umzuschlagen gefunden hatten.

Sinnend, die Arme über die Brust gekreuzt, das Haupt gesenkt, schaute Paul auf die kleine Scholle Erde nieder. Er fühlte ein tiefes Mitleid mit der Frau, die ihm einst das Leben gegeben hatte; er hätte sie neben sich haben, sie lächeln sehen und ihr alle die Leiden, die sie gelitten, in Freuden verwandeln, durch Glück vergelten mögen.

Arme, arme Mutter! rief er unwillkürlich – und wie das Wort, das er seit langen Jahren nicht mehr ausgesprochen, sein Ohr berührte, fühlte er, was das Leben ihm und ihr versagt hatte, und ein paar große, schwere Tropfen fielen aus seinen dunklen Augen auf den Boden nieder. Es war das einzige Liebesopfer, das er der Mutter darzubringen vermochte.

Als er aufblickte, stand der alte Bauer vor ihm, der seine Kinder dem scheidenden Steinert anempfohlen hatte. Er war dem fremden Offizier aus der Ferne gefolgt und hatte ihn schweigend beobachtet. Paul, in seine Gedanken versunken, wollte an dem Alten vorübergehen; aber dieser, der nicht wußte, wohin er mit der eigenen, ihm ungewohnten Rührung sollte, hielt ihn zurück.

Die Pferde sind darüber weggegangen, und über manches Christen Grab werden sie noch fortgehen, daß man seine Spur nicht findet, sagte er mit jener Feierlichkeit, die allen denen eigen ist, welche den Ausdruck für ihre Gefühle einzig aus der Bibel schöpfen.

Paul blieb stehen; es that ihm wohl, auf ein Zeichen des Mitgefühls zu stoßen. Er erkundigte sich bei dem Alten, ob er hier zu Hause sei. Als dieser es bejahte, fragte er, ob er ihm sagen könne, wo man vor Jahren des Jägers Mannert Tochter hier begraben habe.

Der Bauer besann sich eine Weile, dann fing er zu zählen [74] an. Hier, sprach er darauf, indem er auf einen der schwachen Hügel hinwies, hier, dieses ist's; es war das fünfte Grab hier von der Mauer!

Paul blickte hin, es war keine Bezeichnung irgend einer Art daran erkenntlich. Er wollte eine Frage thun, unterdrückte sie und konnte dem Verlangen endlich doch nicht widerstehen. Hatte das Grab denn kein Kreuz? fragte er, weil es ihn zu wissen gelüstete, ob sein Vater der Mutter wenigstens diesen letzten Liebesdienst geleistet habe.

Ein Kreuz? wiederholte der Bauer offenbar verwundert, sie hat sich ja in's Wasser gestürzt! Ein Kreuz konnte sie nicht bekommen und eine Tafel – wer hätte ihr die setzen lassen sollen? – Sie hatte nicht Vater, nicht Mutter, nicht Bruder, nicht Schwester; sie hatte gar keine Freundschaft hier zu Lande, und der gnädige Herr? – der Bauer zuckte, sich unterbrechend, die Schultern – damals freilich stand es noch sehr gut mit ihm. Aber als die Pauline sich in's Wasser stürzte, reiste er gerade zu seiner ersten Hochzeit ab, und hernach, wie sie im Garten aufgefischt wurde, waren die Eltern der gnädigen Frau, die Herrschaften von Berka, just im Schlosse. Es wird nun an die zweiundzwanzig Jahre her sein. Da hatte man nur zu thun, daß die nichts davon erfuhren und daß der Leichnam im Stillen unter die Erde kam. Wem ging sie auch was an? –

Arme Mutter! arme, arme Mutter! rief Paul in seinem Innern, und noch einmal drängten die Thränen sich in seine Augen. Sich leise niederbeugend, legte er, ohne zu wissen, weshalb er's that, die Hand auf das junge, grüne Gras, das über seiner Mutter Asche neu emporwuchs. Dann wendete er sich ab. Er hatte Abschied genommen von der Todten, nun konnte er gehen. Der Bauer sah ihm verwundert zu. Er hatte so etwas noch nicht erlebt; aber man konnte jetzt vielerlei geschehen sehen, was vorher nicht dagewesen war. Mit Einem Male, [75] wie er so neben dem Offizier her ging, schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er sah zu ihm empor und wollte eine Frage thun, aber gerade in dem Augenblicke richtete auch Paul sein Auge noch einmal auf seinen Begleiter, und es war in dem festen, strengen Blicke etwas, das die unerbetene Frage laut zu werden hinderte, etwas, dem der Alte von früher Jugend auf gehorsamt hatte.

Er zog den Hut ab und blieb voll Ueberraschung stehen. Der Offizier grüßte ihn und ging mit einem Dankesworte von dannen.

Sein ganzer Gang! sagte kopfschüttelnd der Alte, dem plötzlich die Bedeutung seines Erlebnisses klar zu werden anfing. Sein ganzes Gesicht, setzte er hinzu, da Paul, nachdem er zu Pferde gestiegen war, das Haupt noch einmal rückwärts wendete, sein ganzes Gesicht!

Paul hatte gerades Weges nach Hause reiten wollen, aber das eingesunkene, verlassene Grab seiner Mutter hatte ihm das Herz erschüttert. Er meinte sich ihrer plötzlich auf das deutlichste zu erinnern, er meinte, sie vor sich zu sehen, wie sie an dem letzten Abende ihres Lebens neben ihm gestanden. Er glaubte, den Ton der Stimme zu vernehmen, mit welcher sie zu ihm gesprochen hatte, und das Verlangen, das fast jedem Menschen inne wohnt, das Verlangen, sich mit seinen Anfängen im Zusammenhange zu erhalten, ward in ihm so mächtig, daß er sein Pferd zur Rechten lenkte und die Straße einschlug, auf welcher die große Rothenfelder Kirche ihm als Wegweiser diente.

Er kannte nicht Weg, nicht Steg. Das Dorf war ihm fremd, fremd auch die Menschen, die es bewohnten, und fremd war er Allen, die hier lebten. Hier und da standen ein paar Leute vor den Thüren und sahen zu dem Vorüberreitenden empor. Sie mochten seine Mutter wohl gekannt haben; von ihm wußten sie nichts. An einem Fenster nähte ein junges [76] Weib. So hatte seine Mutter wohl auch am Fenster gesessen und auf den Weg hinausgesehen, auf dem der Freiherr zu ihr zu kommen pflegte. Vor den Thüren spielten Kinder. Hatte er auch einst so gespielt, und wo waren sie geblieben, seine Spielgenossen? Wer waren sie gewesen? Er wußte sich keines solchen zu erinnern.

Die Häuser sahen zum Theil verfallen aus; auch die Leute schienen ihm armselig und verkommen, wenn er sie mit dem frischen, kräftigen Landvolke verglich, das er in Amerika durch lange Jahre vor sich gesehen hatte; nur die Kirche ragte stolz empor. Er wußte, daß sie bereits zum zweiten Male als Lazareth benutzt ward, und er dachte, daß sie auf diese Weise doch einem anderen, einem allgemeineren Zwecke diene, als der unfruchtbaren Selbstbefriedigung, zu welcher man sie einst errichtet hatte.

Er kannte durch Seba und durch Herbert die Familiengeschichte des Freiherrn von Arten, durch Steinert und durch die Geschäfte des Flies'schen Hauses die verwickelten Verhältnisse, in denen derselbe sich befand. Er hätte Hand anlegen, helfen mögen, daß so großer, so schöner Besitz nicht zu Grunde gerichtet, daß durch Fleiß und Vorsorge Wohlstand und Gedeihen geschaffen würde, wo thörichte Verschwendung, wo Unkenntniß und Sorglosigkeit den Untergang heraufbeschworen. Er begriff sich selber nicht, so schnell wechselten die Empfindungen und Gedanken in ihm ab. Er schalt sich über die Rührung, die ihn unwillkürlich überfiel, er tadelte sich, daß er sich der Vorstellung nicht entschlagen konnte, was er an dieser Stelle schaffen und leisten würde. Er hatte gewähnt, mit allen Gedanken an seinen Ursprung fertig zu sein, er hatte sich oft mit stolzer Zufriedenheit gesagt, wie es ein Glück für ihn gewesen sei, daß er losgerissen worden von dem trägen Stamme des Arten'schen Geschlechtes, daß er sie nicht eingesogen, die Vorurtheile dieser alten Welt, und doch fühlte er heute den ganzen schmerzlichen Zorn [77] in sich lebendig werden, der einst aus den Worten seiner Mutter in ihn übergegangen war, als sie mit ihm zum ersten und letzten Male vor dem Schlosse seines Vaters gestanden hatte; doch brannte heute die herbe, schmerzliche Leidenschaft wieder in ihm auf, die er einst empfunden, als seines Vaters Blick sich kalt und lieblos von ihm abgewendet, jene zornige Leidenschaft, die ihn in die Welt hinausgetrieben hatte. Wer hatte dem Freiherrn das Recht gegeben, seine Mutter zu verlassen? Wer hatte ihm das Recht gegeben, seinen erstgeborenen Sohn von sich zu stoßen und ihn seines Namens, seiner Heimath, seines Erbes zu berauben?

Thorheit, Thorheit! rief Paul sich selber zu, als er diese Fragen, auf welche die ganze wirkliche Welt und sein Wissen von ihr ihm die Antwort gaben, wie Gebilde eines wachen Traumes in sich aufsteigen fühlte. Er wollte nicht weiter vorwärts, er sagte sich, daß er nichts zu suchen habe auf diesem Grund und Boden, und nichts mehr gemein mit dem Geschlechte, dem derselbe angehörte. Freiwillig hatte er sich einst von allem Zusammenhange mit dem Manne, der vor den Leuten nicht sein Vater sein mögen, losgerissen, und er dachte nicht im entferntesten daran, die möglichen Beziehungen jetzt zu erneuen. Aber es war, als sei ein Dämon aus dem Grabe seiner Mutter aufgestiegen, als habe ein Zauber ihm den festen Sinn verwirrt. Er konnte es nicht lassen – er mußte es wiedersehen, einmal mußte er es wiedersehen, das Schloß von Richten und den weiten Park, der es umgab.

Der Weg war nicht schwer zu finden, der Freundschaftstempel auf der Margarethenhöhe zeigte ihn deutlich an. Ein Knabe, der dem stattlichen Landwehr-Offizier mit staunendem Blicke nachsah, war schnell herbeigewinkt, das Pferd zu halten, als Paul am Parke abstieg. Die breite Haupt-Allee that sich einladend vor ihm auf.

[78] Die Sonne war schon im Sinken, wie an dem Abende, da er diesen Park zum ersten Male betreten hatte. Die Gehege, welche ihn an dieser Seite einst umgeben hatten, waren zum Theil noch vorhanden, indeß die bunt gefleckten Hirsche mit den herrlichen Geweihen, die zierlichen Rehe mit ihren klugen Augen guckten nicht mehr aus den Drahtgittern hervor. Das Unterholz war stark zugewachsen, man sah selbst durch die unbelaubten Zweige nicht weit hinein.

Der Himmel war klar, aber seine Farben waren wie im Herbst kalt, und herbstlich raschelte auch das im vorigen Jahre liegen gebliebene welke Laub am Boden in dem wenig gepflegten Parke. Es war Alles still in der Natur; nur hier und da, wenn der aufsteigende Abendwind sie bewegte, knackte es leise in den Wipfeln der Bäume, um die das letzte Glühen der Sonne seine spielenden Flammen leuchten ließ. Gerade so war es gewesen, als er mit der Mutter einst diesen Weg gekommen war. Mit raschen Schritten ging er vorwärts. Ihm klopfte das Herz, er wollte mit sich fertig werden, es abgethan haben. Er hatte keine Erinnerung gehabt an die Gegend, an die Ortschaften, welche er an diesem Nachmittage durchritten: hier kannte er jeden Schritt, und wie aus einem Zauberspiegel tauchten die alten Bilder aus seiner frühesten Jugend vor ihm auf.

Wie an jenem Abende, ganz wie an jenem Abende, so lag es vor ihm auf der Terrasse, die sich über dem Flusse erhob, das stolze Herrenschloß der Freiherren von Arten-Richten. Die untergehende Sonne funkelte in seinen hohen Fenstern, daß sie golden erglänzten, als feiere man hinter ihnen ein fröhliches Fest; die Schornsteine stiegen, vom Abendrothe angestrahlt, hoch in die Höhe, nur unten auf dem Flusse dunkelte es schon und des Nebels graue Wellen fingen an, sich über dem Wasser zu kräuseln, wie an jenem Abende!

Wie an jenem Abende! Er meinte sie noch zu fühlen, die [79] Hand, welche ihn damals so fest gehalten, daß es ihn geschmerzt hatte; er meinte sie noch zu hören, die Stimme seiner Mutter, die so streng und rauh geklungen an jenem Abende, daß er sich vor ihr gefürchtet.

»Das ist Schloß Richten,« hatte sie gesagt, »das gehört dem Freiherrn von Arten, dem Onkel Baron, und der Onkel Baron ist Dein Vater!« – Er hatte Mühe, sich selber die Worte nicht nachzusprechen, wie einst seiner Mutter. Wie damals zählte er die Fenster, wie damals zählte er die Schornsteine. Er wunderte sich fast, daß er kein Kind mehr sei; aber es hätte ihn nicht gewundert, hätte seine Mutter plötzlich wieder an seiner Seite gestanden, wäre aus dem Abendscheine, wie damals, ein Mann hervorgetreten.

Er hielt in seinen Gedanken inne, er traute seinen Augen nicht. Was das auch nur ein Gebilde seiner aufgeregten Phantasie, oder wer war es, der da drüben gebeugten Hauptes, in einen weiten Mantel eingehüllt, langsam am Ufer herabkam und plötzlich nicht ferne von ihm stehen blieb?

Er ging nach jener Seite hin; auch die Gestalt bewegte sich vorwärts. Nur wenige Augenblicke und sie standen einander gegenüber. Paul trat sprachlos zurück. Es war kein Zweifel möglich, es war der Freiherr. Aber die Veränderung in seines Vaters Zügen und Erscheinung preßte Paul das Herz zusammen. Er hätte, alles Andere vergessend, das einst so stolze Haupt wieder aufgerichtet, den müden, schweren Schritt des Greises wieder so rasch und fest wie früher sehen mögen. Er hatte eben erst im Geiste den Jammer seiner jung gestorbenen Mutter durchlebt, jetzt erfaßte ihn der Schmerz um seines Vaters Alter. Er kam sich so glücklich, so mächtig vor in dem Vollgefühle seiner Kraft, im Hinblicke auf seinen emporsteigenden Lebensweg, daß er ein Erbarmen fühlte mit der Hinfälligkeit des Menschen und mit aller seiner Schwachheit, als ob er selber [80] ihnen niemals unterworfen sein würde. Nichts als Mitleid, nichts als liebevolles Rückerinnern, als das Verlangen, diesen müden Mann zu stützen, war in des Sohnes Herzen rege, als der Freiherr ihn mit dem gebietenden Tone anrief, der ihm auch jetzt noch eigen war.

Wer sind Sie? herrschte er.

Es wallte heiß auf in des Sohnes Brust, als er diese Stimme nach so langen, langen Jahren wieder an sein Ohr schlagen hörte. Es drängte ihn, sich zu nennen, es kostete ihn Ueberwindung, nicht zu sagen: Müder Vater, ich bin Dein Sohn, und ich bin jung und glücklich! – Aber er fürchtete, den Greis zu erschrecken, und sich zusammennehmend sagte er: Ich bin, wie Sie es sehen, ein Landwehrmann, der zu des Königs Heere zieht.

Von woher kommen Sie? erkundigte sich der Freiherr, der sich wie die Fürsten und Vornehmen die Freiheit des Fragens zuerkannte und doppelt, wenn er, wie in diesem Falle, dazu berechtigt war.

Ich bin mit der russischen Armee in's Land gekommen, entgegnete Paul, zufrieden, den Freiherrn im Gespräche festzuhalten.

Aber Sie sind kein Russe!

Nein!

Was führte Sie in diese Gegend?

Der Auftrag, die hiesigen Freiwilligen zu versammeln und einzuüben, und .... Er zauderte und schwieg.

Und? fragte der Freiherr, dem ein Etwas in des stattlichen Fremden Wesen wunderbar und doch vertraut entgegentrat, daß er sein Auge nicht von des Mannes schönem Antlitze abziehen konnte. Und? –

Da hielt sich Paul nicht länger. Die ihn selber überraschende Zuneigung zu dem greisen Freiherrn, der Wunsch, es [81] darzuthun, was er aus eigener Kraft aus sich gemacht, auch ohne daß seines Vaters Namen und Hülfe ihm zu Theil geworden waren, das Verlangen, als ein Rächer seiner Mutter Andenken in dem Freiherrn zu erwecken, das alles stürmte in raschem Wechsel auf ihn ein, und die mächtigen Augen auf den Freiherrn gerichtet, sagte er mit festem und doch schmerzlichem Tone: Ich wollte die Stelle wiedersehen, an welcher meine Mutter mir meines Vaters Haus gezeigt hat, ehe sie in den Wellen dieses Flusses Ruhe für sich suchte!

Der Freiherr trat einen Schritt zurück. Seine Augenlider hoben sich rasch empor, er schaute dem Sprechenden mit starrem Blicke in's Antlitz. Ich selber, ich selber! rief er und bedeckte seine Augen mit der Hand.

Sie blieben schweigend vor einander stehen. Was der Freiherr sich oft gesagt, was er nie bitterer empfunden hatte, als an dem Tage, an welchem Vittoria's Verrath ihm plötzlich klar geworden war, das brannte in diesem Augenblicke als ein verzehrender Schmerz in seinem Innern. Nur Ein Weib hatte ihn treu, hatte ihn allein und ausschließlich geliebt – die Niedriggeborene, der er nicht seinen Rang, nicht seinen Namen gegeben, wie der Tochter der Grafen Berka, wie der Tochter des Hauses Giustiniani. Nur Ein Weib, nur Pauline hatte nicht zu leben vermocht ohne ihn und seine Liebe, und er hatte, weil sie nicht seines Standes gewesen war, sich berechtigt gehalten, sie von sich zu weisen, als er dies für seine Zwecke nöthig gefunden, und er hatte sie in den Tod getrieben! Sie allein hatte sein Wesen so in sich aufgenommen, daß es ihm jetzt von ihrem treuen Schooße geboren wie sein eigenes Bild entgegentrat, wie sein eigener Schatten, vor dem er zitterte, weil dieser Doppelgänger seiner eigenen Jugend sich stolz und selbständig wider ihn erhob. –

Er konnte nicht fassen, was er eben jetzt erlebte, er konnte [82] seine Gedanken nicht ordnen, nicht sammeln. Er war also nicht todt, der Todtgeglaubte, dessen plötzliches Erscheinen einst Angelika den Tod gegeben hatte, der jetzt auch ihm selber, er fühlte es, den kalten Stachel in das ohnehin so müde Herz drückte. Wo war er gewesen? Wo kam er her, eben jetzt? Eben jetzt, da der Freiherr sich niedergebeugt fühlte von der Schmach, welche Vittoria ihm angethan, da er sich gedemüthigt fühlte bis in's Tiefste seiner Seele, weil er seines Hauses Namen auch dem Sohne Vittoria's, einem Bastard, hinterlassen mußte, wenn er seine eigene Schande nicht verkünden wollte – seines Hauses alten Namen!

Und hier stand er vor ihm, der Ausgestoßene, sein Bastardsohn – in jedem Zuge sein Fleisch und Blut – in jedem Blicke und Tone sein eigner Sohn, für ihn verloren, sollte er nicht sein ganzes Leben eine Lüge strafen, für ihn verloren auf immerdar, sollte er nicht, was er stets gemieden hatte, die Welt geflissentlich zum Mitwisser und zum Richter seines Thuns und Lassens machen!

Die Vorstellungen lösten, wie vorhin in seines Sohnes Geiste, einander mit Blitzesschnelle in ihm ab. Nur Eines blieb unwandelbar: er fürchtete den Heimgekehrten. Und in seines Alters Kraftlosigkeit dieser deutlichsten Empfindung die Herrschaft über sich lassend, machte er eine abwehrende Bewegung gegen den regungslos ihm gegenüber Stehenden.

Sie wirkte wie ein Schlag auf Paul, sie erkältete ihm die Seele. Er wollte nicht von hinnen. Seine Brauen zogen sich finster zusammen.

Der Freiherr kannte diese Miene. Es war Paulinen's dunkler Blick, er übte auch jetzt, auch aus ihres Sohnes Auge den alten, bannenden Zauber über ihn aus. Er meinte, Pauline vor sich zu sehen, eben emporgestiegen aus dem wallenden Nebel dieses dunkeln Wassers. Er konnte sie kaum noch auseinander [83] halten: sein eigenes Dasein und dieses Mannes Erscheinung und Paulinen's schattenhaftes Bild. Es war wie ein Spuk, der ihn umgab, dem er sich mit Gewalt zu entziehen suchen mußte, sollte er an ihm nicht augenblicks zu Grunde gehen.

Was willst Du von mir? rief er; sprich, was willst Du?

Nichts! entgegnete Paul und richtete sich in seiner ganzen stolzen Höhe empor, daß er die gebeugte Gestalt seines Vaters fast um eines Hauptes Höhe überragte.

So verlaß mich! sprach der Freiherr, seiner angstvollen Beklemmung folgend, und wie vor dem eigenen grausamen Worte erschrocken, schauderte er zusammen und wendete sich, den Mantel fest um seine Schultern schlagend, von dem Sohne ab, mit schwankendem Schritt den Rückweg nehmend.

Paul blieb wie angewurzelt stehen. – Sie war verschwunden die aufwallende Kindesliebe, nur eine erbarmende Sorge um den Greis regte sich noch in ihm. Er sah ihm achtsam und unverwandten Blickes nach, bis die Hecke auf der Terrasse und die Dämmerung den Freiherrn seinem Auge entzogen, bis er ihn unter dem Schutze seines Hauses, in der Nähe seiner Leute wußte. Er liebte, er haßte den Vater nicht, er bemitleidete ihn. Tief aufathmend, in sich gefaßter als je zuvor, und um eine Erfahrung, und um welche! reicher ging er von dem Flusse fort.

Am Rande des Waldes wendete er sich um. Nur die Umrisse des mächtigen Baues waren noch zu erkennen. Das Schloß sah wie ein riesiges Grabmal aus; es machte ihm einen melancholischen Eindruck. Er hatte einst die glücklichen Kinder beneidet, die hinter den goldenen Fenstern dieses Schlosses spielen würden. Heute beneidete er die Besitzer dieses Schlosses nicht mehr, heute fühlte er kein Verlangen mehr, sein Loos gegen das des jungen Freiherrn zu vertauschen.

Ihr Stern war im Sinken, der seine stieg empor, und er hatte sie nicht mit sich fortzutragen durch das Leben, die Herz [84] und Sinn verengenden Ueberlieferungen, die hemmenden und herabziehenden Vorurtheile dieses Hauses; er konnte frei und ungehindert seiner Einsicht, seiner Ueberzeugung und seinem Bedürfen folgen. Er freute sich, daß keine Verpflichtung irgend einer Art ihn an die Vergangenheit knüpfte; sein Alleinstehen dünkte ihn ein Glück. Und seinem Pferde die Sporen gebend, ritt er mit dem Rufe: Vorwärts! in das nächtliche Dunkel hinein, das ihn umgab – sicher, seinen Weg zu finden und seines Zieles nicht zu fehlen.

[85]
6. Capitel
Sechstes Capitel

In heftiger Erregung kehrte der Freiherr in das Schloß zurück, und kaum in seinem Zimmer angelangt, sank er in völliger Erschöpfung auf sein Lager nieder. Der Kammerdiener, den des Herrn kurzer Athem und sein starrer Blick erschreckten, wollte ihm Hülfe leisten, die Baronin rufen, den Caplan herbeiholen lassen, aber der Freiherr verwehrte es ihm.

Er blieb auch nur kurze Zeit auf seinem Bette liegen, dann erhob er sich, und ging, wie er es in heftigen Gemüthsbewegungen stets zu thun pflegte, in seinen Zimmern auf und nieder. Er wies jede Erfrischung, die sein Diener ihm aufzunöthigen versuchte, schweigend von sich, und es war bereits über Mitternacht hinaus, als er sich plötzlich an seinen Schreibtisch niedersetzte und dem Diener befahl, neue Kerzen hinzustellen und sich dann zur Ruhe zu begeben.

Am Morgen fand der Diener die Kerzen tief herabgebrannt und den Freiherrn in seinen Kleidern auf dem Ruhebette in seinem Arbeitszimmer eingeschlafen. Das war, so lange der Diener ihn kannte, nie geschehen, und er hatte doch schon vor der ersten Verheirathung des Freiherrn seine Stelle angetreten und viel mit seinem Herrn durchgelebt. Was konnte vorgegangen sein, das den Herrn bewogen hatte, von sei nen strengen, regelmäßigen Gewohnheiten abzuweichen?

Es war kein Fremder im Schlosse gewesen, kein Brief angekommen, der Freiherr hatte auch die Baronin nicht gesprochen. [86] Der Diener ging in den Zimmern des Freiherrn suchend umher, es war nichts aufzufinden, was ihn auf irgend eine Spur hinweisen konnte; nur im Kamine lagen die noch unzerstäubten Ueberbleibsel verbrannter Papiere auf den erloschenen Kohlen. Da der Diener sich niederbückte, sie aufzunehmen, zerfielen sie in Asche.

Als der Freiherr erwachte, ließ er sich ankleiden und sein Frühstück bringen; aber obschon es ein heller, schöner Tag war, ging er nicht aus. Stunden lang stand er am Fenster und sah in den Park hinunter; dann wieder saß er schreibend an seinem Arbeitstische, und ein paar Mal bemerkte der Diener, daß er das Geschriebene zerriß und die Stücke wieder in das Feuer warf. Bisweilen nahm er ein Buch zur Hand, aber er legte es stets nach wenigen Augenblicken wieder von sich. Er konnte seine Gedanken nicht von sich selber, nicht von der Erinnerung an Paul abziehen. Er konnte sich der Vorstellung nicht entschlagen, daß Paul dazu ausersehen sei, als ein Rächer seiner Mutter, auch für ihn, wie einst für die Baronin Angelika, der Todesbote zu sein, und die Schwermuth, welche ihn nach dem Selbstmorde seiner Geliebten befallen hatte, ward jetzt in verstärktem Grade abermals über ihn Meister. Er meinte ihn immer noch vor sich zu sehen, den Doppelgänger, der ihm sein eigenes und doch so gewandeltes Bild vor Augen gestellt hatte, und weit davon entfernt, sich zu dem ihm so ähnlichen Sohne hingezogen zu fühlen, hegte er einen bittern Groll, ja, einen hassenden Widerwillen gegen ihn. Er konnte es nicht verschmerzen, daß er nicht mehr die männliche Schönheit und die Jugend besaß, deren jener sich erfreute, er meinte seines sinkenden Lebens, seiner geschwundenen Kraft sich erst jetzt bewußt zu werden, da sein Sohn ihm vorgehalten hatte, was er einst gewesen war. Und in den bitteren Schmerz um seine eigene Vergänglichkeit mischte sich die düstere Sorge um das Fortbestehen seines Hauses, dem er Pauline hingeopfert hatte. Das Geschlecht derer von Arten-Richten [87] stand, wenn er einst starb, und sein Tod war ihm, wie er sich überzeugt hielt, nahe, nur noch auf zwei Augen, nur noch auf Renatus, über dessen Leben jetzt in jeder Stunde die Todeswürfel fallen konnten.

Es war ein furchtbarer Kampf, den der Greis in diesen Tagen in sich durchzuringen hatte, denn er vermochte nicht darüber mit sich einig zu werden, ob er verpflichtet sei, dem Fortbestehen seines Geschlechtes Alles, selbst seine beleidigte Ehre und sein empörtes Gefühl zum Opfer zu bringen, oder ob er, sich selber genugthuend, die Aufrechterhaltung seines Namens dem Zufalle überlassen dürfe.

Er hatte Stunden, in denen er Vittoria und Valerio von sich stoßen, Renatus Alles enthüllen, ihn zurückberufen und ihn schnell zu einer Ehe überreden wollte, um sich durch ihn eine Nachkommenschaft zu sichern; andere Stunden, in welchen der Gedanke, Paul anzuerkennen, falls Renatus in dem Kriege umkommen oder ohne Kinder sterben sollte, ihm nahe trat; aber wenn er eine dieser Absichten zu Papier gebracht hatte, flößte das Niedergeschriebene ihm beim Durchlesen ein Erschrecken ein, und weder zu dem einen noch zu dem andern Schritte vermochte sein Stolz sich zu entschließen.

Er konnte sich nicht überwinden, durch die Verstoßung Vittoria's und durch die gerichtliche und damit öffentliche Verläugnung ihres Sohnes, der Welt das Eingeständniß des Irrthums zu machen, den er begangen, als er im letzten Mannesalter das junge Mädchen zu seiner Gattin erwählt hatte; und eben so wenig konnte sein Adelsstolz sich an die Vorstellung gewöhnen, daß Paul, der Sohn einer Hörigen, einst dazu berufen sein solle, den Namen derer von Arten fortzupflanzen, daß das Blut einer Magd, wie theuer sie dem Freiherrn auch gewesen war, in den Adern eines Mannes mit dem Namen derer von Arten fließen könne, die auf die Reinheit ihres Geschlechtes [88] und auf die Bedeutung aller ihrer geschlossenen Verbindungen von jeher den höchsten Werth gelegt hatten. Paul's Anerkennung einzuleiten, so lange Renatus noch am Leben war, daran dachte der Freiherr natürlich nicht, aber wer konnte es ihm zusichern, daß er selbst noch leben und im Stande sein würde, Verfügungen zu treffen, wenn in den nächsten Monaten einmal die Nachricht von Renatus' Tode nach Richten anlangte? Und wie war es in diesem letzteren Falle zu verhindern, daß das von Arten'sche Erbe an Valerio, an den Sohn der Ehebrecherin fiel? Wie war es zu machen, daß sein Blut, sein Name nicht untergingen? – Tage und Tage verstrichen, und seine Qualen minderten sich nicht.

Rastlos wie ein irrer Geist wandelte der Freiherr in seinen Gemächern umher; angstvoll den Ereignissen des Krieges folgend, immer bange vor der Möglichkeit, den Tod seines Sohnes und Erben zu erfahren, und doch ohne die eigentliche Vaterliebe für diesen Sohn, auf dessen Erhaltung seine theuersten Hoffnungen gerichtet waren, und ohne alle freudige Theilnahme an den beginnenden Erfolgen und Siegen des Volkes, in dessen Mitte und für dessen Befreiung die beiden Erben seines Blutes ihr Leben in die Schanze schlugen.

Mit jedem Fortschritte, den die Waffen der Verbündeten erfochten, mit der aufjauchzenden Freude des Landes und des Volkes über die ersten Siege derselben wuchs die innere Vereinsamung des Greises. Er hatte nichts gemein mit den Gefühlen der Verbrüderung und der Erkenntniß der menschlichen Gleichheit, welche die Zeit der Noth in dem Volke begründet und die Gemeinsamkeit des Kampfes und der Gefahr in den Herzen der Edelsten wenigstens für diesen Augenblick festgestellt hatten. Er gehörte nicht zu denen, welche die Neuerungen gut hießen, die der König und seine Regierung vor dem Ausbruche des Krieges unternommen hatten und deren Ausdehnung und [89] Entwicklung verheißen worden und nach erfolgtem Siege erwartet wurden. Wie auch die Würfel des Krieges fallen mochten, er sah kein Heil in der Zukunft, und doch hing er am Leben, doch wollte er mit seinem Willen bestimmend in die Zukunft hinüberreichen.

Es war schon im Beginne des Sommers und die Spuren des furchtbaren französischen Rückzuges aus Rußland fingen in den preußischen Ostprovinzen sich zu vermindern an, als man in Rothenfeld endlich daran denken konnte, die Kirche, welche durch viele Monate zum Hospitale gedient hatte, zu reinigen und dem Gottesdienste wiederzugeben. Aber als die letzten Kranken sie verlassen hatten, wurde man erst recht gewahr, wie schwer sie gelitten hatte und daß man einer für die gegenwärtigen Verhältnisse nicht unbedeutenden Summe bedürfen würde, sie nur einigermaßen herzustellen. Es konnte nicht die Rede davon sein, die Silbergeräthschaften zu erneuern, welche von den ersten durchziehenden Franzosen mitgenommen worden waren, oder den schönen Beichtstuhl und die kunstreich geschnitzte Kanzel herstellen zu lassen, welche die durchmarschirenden Hessen zerschlagen und zur Feuerung benutzt hatten. Nur die Tünchung der Wände, nur die Ausbesserung des Fußbodens wünschte der Caplan, denn es hatten, als die Armee nach Rußland gegangen war, durch viele Tage die Pferde in dem Gotteshaufe gestanden, so daß der Boden zerstampft und überall, wo man die Krippen angebracht hatte, die Löcher von den eingeschlagenen Eisen in den Wänden und an den Pfeilern sichtbar waren.

Der Caplan war lange nicht im Schlosse gewesen, aber es war ihm nicht verborgen geblieben, was dort geschehen. Die Bekenntnisse Vittoria's hatten ihm Alles enthüllt. Er hatte vergebens danach gestrebt, den Freiherrn persönlich zu sprechen, um ihm die Hülfe zu leisten, welche ihm bieten zu können er sich fähig glaubte. Der Freiherr hatte seine Besorgniß vor der [90] Uebertragung des Lazarethfiebers zum Vorwande benutzt, den Besuch des Caplans abzulehnen, und als dieser es bei Anlaß der Kirchen-Reparatur unternommen, sich dem alten Lebensgenossen schriftlich zu nähern, um ihm, der sich sonst gern mündlich und brieflich mitzutheilen und auszusprechen geliebt hatte, eine Befreiung auf solchem Wege darzubieten, hatte derselbe sich nur an den geschäftlichen Theil des Briefes gehalten und die Fragen um sein Befinden und Ergehen völlig ohne Erwiederung gelassen.

In schwerer Bekümmerniß um den Freund und um das Schicksal des Geschlechtes, an das er sein eigenes Schicksal geknüpft hatte, verließ der Caplan an einem heißen Sommerabende sein Haus. Er wollte sich überzeugen, wie weit die Arbeiter an dem Tage in der Kirche mit ihrem Werke vorgeschritten wären. Die Sonne war schon im Sinken, der Himmel hing voll Wolken, und ihre Schwere erhöhte für die Phantasie den Druck, den die Schwüle der Luft auf alles, was lebte und athmete, ausübte. Kein Vogel sang, kein Grashalm und kein Blatt bewegten sich.

Langsamen Schrittes war er über den Kirchhof gegangen, hatte in der noch offenstehenden Kirche die Arbeiten in Augenschein genommen und trat eben wieder ins Freie hinaus, um nachzusehen, wie die weißen Rosenstöcke gediehen, die er nach Säuberung der Gruft aufs Neue mit eigenen Händen vor derselben angepflanzt hatte. Vorsorglich die Stämme untersuchend, nahm er von ihnen die Raupen und die Käfer ab, welche sich um die Stengel und zwischen den Blättern eingenistet hatten, und es war eine wehmüthige Freude, mit der er diese Rosen, die er aus Ablegern der hier zuerst gesetzten Stöcke in seinem Garten groß gezogen hatte, nun wieder vor der Grabstätte der ihm vorangegangenen geliebten Menschen Knospen tragen und erblühen sah.

[91] Das ewige Werden! sagte er zu sich selbst und bückte sich, um nachzufühlen, ob das Erdreich nicht zu trocken sei. Da er sich aufrichtete und sich umsah, ob er nicht Jemanden herbeiwinken könne, der ihm Wasser holen gehe, stand der Freiherr vor ihm. Der Caplan war auf das äußerste betroffen. Der Freiherr hatte von Jugend auf den Gedanken an den Tod gescheut, den Besuch der Kirchhöfe gemieden und seit der Beisetzung der Baronin Angelika die Familiengruft nie mehr besucht.

Sie hier, gnädiger Herr? rief er, und seine Freude, den alten Lebensgenossen wiederzusehen, war eben so lebhaft, als sein Erschrecken über den außerordentlichen Verfall, den er an seinem Freunde wahrnahm. Was führt Sie hieher, verehrter Freund? rief er noch einmal; und obenein in dieser heißen Schwüle, die Ihrem Befinden gewiß nicht heilsam ist?

Der Freiherr lächelte; aber es war nicht mehr der frühere gewinnende Ausdruck in diesem Lächeln. Seine Abspannung und seine Gebrochenheit sprachen aus jedem Zuge und aus jeder seiner Mienen.

Eben die heiße Schwüle, entgegnete der Freiherr, und eben mein Befinden, das viel zu wünschen übrig läßt. Ich schlafe schlecht, fühle mich niedergeschlagen, und das heutige Wetter lastet wie Blei auf mir. So wollte ich versuchen, mir mit einem weiteren Gange, als ich ihn in den letzten Monaten unternommen habe, über die Abspannung fortzuhelfen und mir Schlaf zu schaffen für die Nacht. Unterwegs kam mir der Gedanke, meine Schritte hieher zu lenken und Sie aufzusuchen. Wir haben uns lange nicht gesehen.

Sehr lange nicht, entgegnete der Geistliche, und seine Sorge um den Freiherrn wuchs, da er den gebrochenen Ton seiner Stimme vernahm.

Sie haben viel durchgemacht, viel durchgemacht! nahm der Freiherr wieder das Wort und hielt unentschlossen, ob er weiter [92] sprechen solle, inne, bis er mit einem Ausdrucke tiefer Schwermuth hinzufügte: Aber auch an mir, wenngleich ich Ihre Gefahren und Arbeiten nicht theilte, sind diese Zeiten nicht spurlos vorübergegangen. Er seufzte dabei und schritt, sich abwendend, dem Familienbegräbniß zu. Die Thüre der Gruft war geöffnet; als er hineingehen wollte, hielt der Caplan ihn davon zurück.

Es ist kalt in der Gruft, warnte er, Sie sind vom Gehen warm, und es ist alles in dem Gewölbe, wie es vorher gewesen ist.

Die Särge sind also wenigstens nicht angetastet worden? fragte der Freiherr.

Ganz und gar nicht; nur die Vorhalle war stark mitgenommen. Die Ruhe unserer Todten wurde nicht gestört.

Der Freiherr antwortete nicht. Der Gruft gegenüber lag ein starker, gefällter Baumstamm an der Erde, der hier auf dem Kirchhofe zu neuen Latten für die Umzäunung zerschnitten werden sollte. Auf diesen Baumstamm ließ der Freiherr sich nieder, und den Stock in seinen Händen, das Haupt auf die Hände gesenkt, blickte er lange schweigend nach der Gruft.

Niemand hatte es erlebt, daß er sich in solcher Weise auf offener Straße seinem Empfinden überließ, und vielerfahren, wie der Geistliche es war, konnte er sich doch des tiefsten Mitleidens mit dem Freiherrn nicht erwehren. Er trat an ihn heran und forderte ihn auf, sich zu erheben und den Schatten aufzusuchen, da die Wolken sich zertheilten und die sinkende Sonne ihre letzten Strahlen in voller Kraft über das Erdreich ausbreitete.

Aber der Freiherr verweigerte es. Lassen Sie mich hier verweilen, sagte er. Die Sonne ist mir erfreulich, und es thut mir wohl, zu denken, daß selbst solche Kriege, wie sie über uns hinweggegangen sind, die Ruhe der Todten nicht gestört haben. So weiß man doch, wo man Ruhe für sich zu erhoffen hat – [93] und es will mich oft bedünken, als würde ich sie bald hier suchen kommen. Denn wenn die Todtgeglaubten wiederkehren, müssen die Lebenden von dannen gehen, fügte er hinzu.

Sie haben Paul gesehen! rief der Caplan.

Der Freiherr neigte schweigend das Haupt. Was wissen Sie von ihm? fragte er darauf.

Der Caplan sagte, daß er durch Renatus die erste Kunde von dem so lange verschollen Gewesenen erhalten habe. Da Paul aber seinen Namen gewechselt und sich geflissentlich von dem freiherrlichen Hause fern gehalten habe, so habe auch er es für angemessen gehalten, des Wiedergekehrten gegen den Freiherrn nicht besonders zu erwähnen. Jetzt sei in den Dörfern durch den Bauer, der Paul zu dem Grabe seiner Mutter hingeleitet habe, die Kunde von seinem Leben und von seiner Heimkunft als ein Gerücht verbreitet, und er habe demselben nicht widersprochen, da ohnehin die Familie Steinert, in welcher Paul durch mehrere Wochen gewohnt habe, in das Geheimniß seines Namenswechsels eingeweiht und mit ihm und seinen Verhältnissen bekannt sei, weil Adam Steinert mit dem Hause Flies, dem Tremann angehöre, in beständiger Geschäftsverbindung stehe.

Der Freiherr hörte dem Berichte ohne eine unterbrechende Frage zu. Dann sprach er, als ob er mit sich selber rede: Wie das emporsteigt, wie sich das zusammenfindet: die Flies', die Steinert's und nun gar Paul! Wie die Flut eines Meeres erhebt er sich um uns, dieser Stand der Bürger, und man hat die Dämme freventlich zerstört, die uns vor seinem Andrange sicher stellten! Er schüttelte das Haupt und versank in seine Gedanken. Nach einer Weile richtete er sich auf und sagte: Ich sehe trübe, sehr trübe in die Zukunft unseres Vaterlandes, mein alter Freund, und ich werde mich nicht beklagen, wenn ich nicht mehr Zeuge der Entwicklung sein sollte, welche dieser Volkskrieg gegen Frankreich vorbereitet! Ich habe ohnehin nichts [94] mehr, was mich freut, nichts mehr, worauf ich zuversichtlich hoffe! Ich bin müde, wie Einer, der die eigene Zeit zu Grabe trägt; und oftmals möchte ich mich fragen: wofür habe ich gelebt? – Wer kann es sagen, ob diese weißen Rosen, die Sie hier mit stillem Sinne pflanzten, mit stiller Liebe pflegen, Ihnen nicht mehr Befriedigung gewähren und länger dauern, als alles, was ich zu meines Hauses Ehre plante, hoffte und erschuf!

Die Lippen bebten ihm, seine Stimme zitterte leise, als er, diese Worte sprechend, von dem Baumstamme aufstand.

Der Caplan war nicht weniger niedergeschlagen, als sein Freund. Der Trost, mit welchem sein gläubiger Sinn und sein gottvertrauendes Herz sich aufrecht hielten, war für den Freiherrn nicht vorhanden, denn er war keine religiöse Natur und sein Verhältniß zu der Kirche und zu ihren Lehren war immer nur ein äußerliches gewesen. Nur in Stunden höchster Rathlosigkeit hatte er sich ihr und seinem Beichtiger und Freunde in die Arme geworfen, und sein Zustand war in diesem Augenblicke von der Art, daß der Caplan vor allen Dingen daran denken mußte, ihm körperliche Hülfe zu leisten. Denn als der Freiherr sich erhoben hatte, schien ein Schwindel ihn zu befallen. Er schloß die Augen, griff mit der Hand tastend nach des Freundes Arm und sagte, während dieser ihn umschlang, um ihn zu unterstützen: Rufen Sie Jemanden herbei, ich befinde mich sehr übel!

Aber der Ruf des erschrockenen Greises verhallte ungehört. Die Feierstunde war angebrochen, die Handwerker hatten ihre Arbeit bereits verlassen, die Leute waren schon vom Felde nach ihren Wohnungen zurückgekehrt. Der Caplan und der Freiherr waren auf dem Kirchhofe ganz allein, und unfähig, den Zusammenbrechenden mit seinen Armen aufrecht zu erhalten, ließ der Caplan ihn langsam zur Erde niedergleiten, daß er mit [95] dem Rücken gegen das Standbild lehnte, welches einst Anlaß zu dem Tode der Kammerjungfer gegeben hatte.

Mein Freund, mein theurer Freund! rief der Caplan, indem er die Hände des mühsam Athmenden erfaßte und ihm die Halsbinde zu lösen versuchte. Aber der Freiherr antwortete dem Rufe nicht mehr. Sein Auge hob sich schwer und suchend zu der Kirche empor, als wolle er sich noch mit dem letzten Blicke an dem Denkmale halten, das er sich und seinem Geschlechte aufgerichtet hatte, dann streifte es an dem Antlitze des alten Freundes hin und senkte sich, um sich nicht wieder zu erheben.

So schnell seine wankenden Füße ihn trugen, eilte der Caplan nach seinem Hause, Beistand herbeizuholen; aber alle Mittel, die man anzuwenden wußte, erwiesen sich als unfruchtbar. Der Freiherr Franz von Arten-Richten hatte zu leben aufgehört.

Einsam, auf grünem Rasen, unter freiem Himmel war das stolze, müde Herz gebrochen, während das Kreuz auf dem Kirchthurme im Golde des Sonnenunterganges flammte und über der Margarethen-Höhe leicht und fröhlich die hellen, rosigen Sommerwölkchen, im Lichte schimmernd, vorüberzogen.

Auf die Nachricht von dem Unglücksfalle strömten aus allen Häusern die Leute herbei.

Es hat ihn hieher gezogen! sagte eine der Frauen. Es hat ihm schon lange keine Ruhe mehr gelassen! meinte eine andere. Niemand klagte um ihn.

Schrecken und Neugier, das waren die Empfindungen, mit denen sie die Leiche des Gutsherrn umstanden. Er war ihnen lange fremd geworden, sie hatten nicht mehr die Liebe zu ihm, wie ihre Eltern und Großeltern sie für die Herrschaft einst gefühlt hatten. Kein Auge weinte über ihn.

Nur von den greisen Wimpern des Caplans tropften die Thränen nieder, als er das Zeichen des Kreuzes über dem Entseelten [96] machte. Einst war er des Jünglings Führer auf dem Lebenswege gewesen, nun hatte er ihn auf seinem letzten Gange zu geleiten, und rückblickend auf das geendete Dasein seines Freundes, wie in sein eigenes Herz, betete er: Herr, gehe nicht ins Gericht mit uns und vergib uns unsere Schuld!

Der Justitiarius fuhr eilig in das Schloß, dort die Todesbotschaft zu verkünden. Es dunkelte schon, als man die Leiche des Freiherrn auf einer Bahre nach Richten trug, und leise verhallend riefen die letzten Klänge des Ave Maria auch dem Gestorbenen ihr: »Ruhe in Frieden!« nach.

[97]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Die Bestattung des Freiherrn fand in aller Stille und nur im Beisein der Edelleute Statt, welche sich von den benachbarten Gütern zu derselben eingestellt hatten. Da man in der Mitte des Sommers war, hatte man die Beerdigung nicht hinausschieben dürfen, bis man die nächsten Verwandten des Hauses herbeirufen können, und ihre Zahl war auch nicht eben groß.

Es lebte außer Renatus und dem kleinen Valerio jetzt Niemand mehr, der den Namen von Arten-Richten trug. Die beiden alten Vettern, welche einst der Grundsteinlegung zur Kirche und der Geburt von Renatus beigewohnt hatten, waren lange todt. Auch der Schwiegervater des Freiherrn, der Graf von Berka, war gestorben. Der jetzige Majoratsherr des gräflichen Hauses stand noch bei dem Regimente, in das er für die Befreiungskriege eingetreten war, und Graf Gerhard, mit dem der verstorbene Freiherr, wie die Berka'sche Familie selbst, in einem wenig vertrauten Verkehre gelebt hatte, befand sich immer noch in des Landes Hauptstadt, von wo man ihn der Entfernung wegen nicht zur Leichenfeier hatte einladen können.

Niemals war das Schloß dem Caplan größer und würdiger, niemals so einsam erschienen, als an dem Mittage, an welchem er, von der Beerdigung seines Herrn und Freundes kommend, es vor sich auf der Terrasse liegen sah. Er konnte sich deutlich des Tages erinnern, an dem er vor vollen fünfzig Jahren in Richten eingetroffen war. Damals hatte der Freiherr neunzehn [98] Jahre gezählt. In ihrer ganzen Schönheit hatte seine Schwester an des herrlichen Jünglings Seite gestanden, und vor ihnen allen hatte das Leben wie eine lachende Ebene sich in unendlicher Ferne ausgebreitet und ihnen Raum zu bieten geschienen für die kühnsten Hoffnungen, für den stolzesten Ehrgeiz. Nun waren sie alle dahin, die Eltern des Freiherrn und Fräulein Esther, die den jungen Geistlichen damals so vornehm freundlich willkommen geheißen hatte, der Freiherr und seine Schwester Amanda und die schöne Baronin Angelika. Sie alle hatte der Caplan zu Grabe geleitet, er war der einzig Uebrige von dem ganzen damaligen Geschlechte, und was hatte sich verwirklicht und erhalten von dem schönen und zuversichtlichen Erwarten und Wollen jener Jugendzeit?

Es stand noch da, das Schloß, aber die Selbstherrlichkeit seiner Bewohner war nicht mehr die alte. Die Zeit hatte sich gewandelt. Die Anerkennung der Menschenrechte, welche der Leibeigenschaft nothwendig früher oder später überall ein Ende machen mußte, hatte ihre Wirkung gegen die Vorrechte des Adels lange schon geübt. Er hatte manche derselben eingebüßt, er war in seinem Besitze angegriffen, seiner Reichsunmittelbarkeit, wo eine solche vorhanden gewesen war, fast überall beraubt, und wie er einerseits hauptsächlich noch durch den Glauben an sich selbst bestand, so mußte er sich stärker als zuvor an den Thron zu lehnen suchen, zu dessen vermeintlicher Stütze er sich machte, um sich mit jenem gemeinsam zu erhalten. Er mußte der Diener der Monarchen werden, weil er aufgehört hatte, der Herr seiner eigenen Leute und Unterthanen zu sein. Die Zeit seiner Freiheit, seiner Herrschaft war vorüber – und es verhielt sich nicht viel anders mit der Kirche.

In seine ernsten Betrachtungen vertieft, betrat der Geistliche die Eingangshalle des Schlosses und schritt nach dem Ahnensaale, in welchem die Leiche des Freiherrn, der alten Familiensitte [99] gemäß, aufgestellt gewesen war. Die Bilder sahen unter ihren Verzierungen von schwarzem Flor, die man in Trauerzeiten darüber anzubringen gewohnt war, schwermüthig auf den leeren Katafalk hernieder. Alle Thüren nach der Terrasse waren geöffnet, die Gärtnerburschen trugen die Pflanzen hinaus, welche man bei der feierlichen Ausschmückung des Saales verwendet hatte. Jeder war mit seiner Arbeit beschäftigt, man räumte emsig die Erinnerung an ein Menschendasein fort, das noch vor Kurzem, das so lange Jahre hindurch als bewegender Mittelpunkt alles Lebens in diesen Räumen gewaltet hatte! – Mit einem Seufzer wollte der Caplan das Gemach verlassen, als er in einer Ecke desselben Valerio gewahrte.

Die Schönheit des Knaben fiel ihm selbst in diesem Augenblicke wieder überraschend auf. Er saß in einem der alten Prachtsessel von vergoldetem Leder, hatte beide Füße auf den Stuhl gezogen, ein kleines Brett, das dem Sarge irgendwie zur Unterlage gedient haben mochte, gegen die Kniee gestützt und zeichnete, wie es seine Art war, ein Liedchen summend, mit einem Bleistifte auf das Holz.

Was machst Du hier? fragte ihn der Geistliche, indem er näher an ihn herantrat.

Valerio hob den Kopf empor. Er hatte die Augen seiner Mutter, aber nicht ihren ernsten Blick. Eine Fülle von Lebenslust war über sein ganzes Antlitz ausgegossen; seine vollen Lippen, seine offene Stirn waren der Sitz einer fortwährenden Heiterkeit. Die schwarzen Kleider, die man ihm angelegt hatte, bildeten für ihn nur einen Hintergrund, auf dem seine blühenden Farben sich noch glänzender hervorhoben.

Was machst Du hier? fragte der Caplan ihn noch einmal, da Valerio ihn anschaute, ohne ihm zu antworten.

Sie sehen's ja, Hochwürden, ich zeichne mir die Ahnen ab!

Und das mußt Du gerade heute thun? warf der Caplan, [100] der sich bei dem Anblicke dieses fröhlichen Knaben einer schmerzlichen Empfindung nicht entziehen konnte, ihm tadelnd ein.

Freilich, der Saal ist ja sonst stets zugeschlossen! antwortete der Knabe gleichmüthig, während er seinen Bleistift wieder in Bewegung setzte.

Er war schon gestern und vorgestern, als der gnädige Herr noch hier standen, gar nicht aus dem Saale fortzubringen, sagte der inzwischen herbeigekommene Diener. Der Junker ist kein Kind, wie andere Kinder. Nicht Eine Thräne hat er um den seligen gnädigen Herrn geweint. Wenn der Junker nur fingen und zeichnen kann, so kümmert ihn nichts weiter.

Valerio hatte das alles mit angehört, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen. Mit Einem Male sah er den Caplan mit seinen großen Augen zutraulich an und sagte: Hochwürden, wenn ich groß bin, werde ich den Vater malen, damit er auch ein Ahne wird! Ich übe mich schon ein! Sehen Sie, so werde ich ihn malen!

Er hielt dem Caplan die kleine Tafel hin; das Bild des ersten Freiherrn war auf derselben von dem Knaben ähnlich genug abgezeichnet worden und, die Tafel umwendend, erblickte der Greis eine unverkennbare Darstellung des Katafalks mit den ihn umgebenden Leuchtern, Blumen und sonstigen Verzierungen.

Valerio hing aufmerksam an dem Gesichte des Beschauers. Ist's so richtig? fragte er gespannt. Der Caplan nannte es gut genug, und Valerio sagte: Ich hätte auch die Mutter gern gezeichnet, wie sie da stand und am Sarge weinte! Es sah schön bei den Lichtern aus! Aber sie blieb nicht stehen, und wie sie fortgegangen war, brachte ich es nicht heraus!

Da hören Sie es, Hochwürden! rief der Diener, den Junker, den rührt nichts! Er hat nur seine Spielerei im Sinne! Da war der Freiherr Renatus doch ein anderes Kind!

Lassen Sie den Knaben gehen, bedeutete der Geistliche den [101] treuen Diener; Gott hat die Menschen nicht alle gleich gemacht, und wer will es sagen, was er mit diesem Kinde und mit dessen Zukunft vorhat. Lassen Sie ihn zeichnen und stören Sie ihn nicht, so lange er kein Unrecht thut. Es verlangt ja jede Kraft nach ihrer Uebung, und eine Kraft wohnt diesem Kinde inne. – Komm, mein Sohn, sprach er, indem er ihn bei der Hand nahm und mit sich fortführte, und die flüchtige Abneigung, die er gegen Valerio empfunden hatte, wich der Liebe, mit welcher der fromme Greis jetzt den längst geahnten göttlichen Funken einer künstlerischen Begabung in dem Kinde unverkennbar wahrnahm. Komm, mein Sohn, wiederholte er, Du sollst andere Bilder nachzumalen haben, komm. Dann zu sich selbst und in sich hineinsprechend, sagte er: Wie wenig auch aufgegangen ist von den Saaten, die ich streute, ich will des Säens und des Jätens doch nicht müde werden, damit ich vor Ihm bestehen kann, der mir so lange Zeit zur Arbeit gönnt. Komm, mein liebes Kind!

Valerio verstand weder die Rührung des Geistlichen, noch den Sinn seiner Worte, aber ihr freundlicher Ton that ihm wohl, und sich an ihn schmiegend, folgte er dem Caplan willig, der ihn aus dem Ahnensaale in das Freie hinausgeleitete, während er selber sich nach dem Arbeitszimmer des Freiherrn verfügte, in welchem er zur Eröffnung des freiherrlichen Testaments erwartet wurde.

Der Freiherr hatte nämlich bald nach seiner Verheirathung mit Vittoria durch seinen Justitiarius seinen letzten Willen aufsetzen lassen und das Dokument in dessen Hände niedergelegt. Indeß ein paar Wochen vor seinem Tode hatte er es zurückgefordert, es im Beisein des Justitiarius vernichtet und demselben ein neues, ganz von des Freiherrn eigener Hand geschriebenes Testament zur Aufbewahrung in dem Archive übergeben. Die Aufschrift bestimmte, daß es noch an seinem Begräbnißtage [102] in Gegenwart der Freifrau Vittoria von dem Hauscaplan und dem Justitiarius eröffnet werden und, falls der Freiherr Renatus von Arten-Richten nicht im Schlosse anwesend sei, demselben eine Abschrift des Testaments sofort zugesendet werden sollte.

Der Justitiarius war schon vor dem Caplan im Schlosse eingetroffen. Als der Letztere in das Arbeitszimmer des verstorbenen Freiherrn trat, fand er jenen bereits dort warten, und auf eine Benachrichtigung gesellte die verwittwete Freifrau sich zu ihnen.

Es war mit Vittoria in den letzten Wochen eine große Veränderung vorgegangen, eine Veränderung, welche heute selbst den beiden Männern auffiel, die sie doch eben jetzt zum Oefteren gesehen hatten. Sie erschien ihnen älter, aber noch schöner, als sonst. Die langen, schleppenden Trauerkleider machten sie größer aussehen, ihre Züge, welche bisher meist einen weichen, spielenden Ausdruck zur Schau getragen hatten, zeigten sich stolz zusammengefaßt; man meinte ihr anzumerken, daß sie auf einen Urtheilsspruch gefaßt sei, dem sie Stand zu halten denke.

Als ob sie sich vor einer großen Versammlung darzustellen habe, so gemessen trat sie in das Zimmer, ließ sich ohne ein Wort zu sprechen auf dem Sopha nieder und forderte den Justitiarius nur mit einer Bewegung des Hauptes und der Hand zur Entsiegelung des Testamentes auf. Der Freiherr hatte dasselbe in Form eines Briefes an seinen Sohn Renatus gerichtet. Mit einer Umsicht, welche er, wie er sich ausdrückte, leider zu spät gewonnen habe, setzte er dem Sohne die Vermögensverhältnisse auseinander und ermahnte ihn, alle seine Kraft zu ihrer Hebung aufzuwenden und, wie der Freiherr es gethan, seine Ehre in der Aufrechterhaltung ihres alten Namens und Ansehens zu suchen. Von Valerio, von Vittoria war in dem ganzen Testamente bis zu dem letzten Abschnitte keine Rede, und in diesem hieß es: »Wenn die Baronin Vittoria von [103] Arten mich überlebt, so sollen ihr die Zinsen von dem ihr gebührenden Pflichtantheile an meinem Vermögen durch Dich, meinen Sohn, den Freiherrn Renatus von Arten-Richten, in regelmäßigen Zahlungen zugewendet werden. Es soll ihr auch, falls es mit Deinen Wünschen und Absichten in Uebereinstimmung ist, der dauernde Aufenthalt in unserem Schlosse zu Richten nicht versagt werden, wenn sie es nicht ihrer Lage angemessener findet, in das Kloster zurückzukehren, in dem sie ihre erste Jugendzeit verlebte, um dort in Sammlung und in Einsamkeit für ihr Seelenheil zu sorgen. In jedem Falle aber wirst Du, mein Sohn, über die Erziehung ihres Sohnes Valerio zu wachen haben damit er dem Namen, den er führt, damit er unserem Namen keine Schande mache. Doch verpflichte ich Dich zu keiner Sorge für ihn, welche über die Zeit seiner Großjährigkeit hinausgeht, und vielleicht würde es auch für ihn das Entsprechendste sein, ihm in einem der oberitalienischen Klöster, in welchen die Giustiniani'sche Familie noch von Einfluß ist, seine Bildung geben zu lassen, um ihm, dem Vermögenslosen, die Neigung für eine Laufbahn in dem Dienste der Kirche einzuflößen. – Wenn, was ich je doch nicht erwarte, die Baronin Vittoria sich mit diesen meinen Anordnungen nicht einverstanden erklären und etwa für sich oder für ihren Sohn mehr beanspruchen sollte, als mein Wille ihnen zuerkennt, so ermächtige ich Dich, die Papiere, welche diesem Testamente beigefügt sind, zu eröffnen und von denselben gegen die Verlangnisse der Baronin den gebotenen Gebrauch zu machen. Im andern Falle sollen die Papiere uneröffnet und in ihrem Beisein sofort vernichtet werden.« Das Testament schloß danach mit einem Segenswunsche für den Sohn und für das Fortbestehen des Geschlechtes.

Die Baronin hatte während der Verlesung des Schriftstückes keine Miene verändert; aber sie war sehr blaß geworden, und es vergingen ein paar Minuten, ehe sie sich zum Sprechen [104] sammeln konnte. Dann schien sie ihren Entschluß gefaßt zu haben, denn sie sagte mit Ruhe und Sicherheit: Melden Sie dem Freiherrn Renatus, meinem Stiefsohne, daß ich mich den Anordnungen meines Gatten, seines Vaters, unterwerfe. Das ist alles, dünkt mich, was ich heute zu erklären nöthig habe. Was weiter zwischen ihm und mir über meine und Valerio's Zukunft festzusetzen ist, mag unentschieden bleiben, bis ich es mit meinem Stiefsohne selbst berathen kann.

Sie verneigte sich darauf vor dem Justitiarius und vor dem Caplan wie vor ihr völlig fremden Männern und verließ das Gemach in derselben feierlichen Weise, in welcher sie es betreten hatte.

Der Justitiarius und der Caplan blieben, weil ihre Geschäfte es erheischten, an dem Tage ganz im Schlosse; aber Vittoria kam nicht wieder zum Vorscheine. Erst spät am Abende ließ sie den Geistlichen zu sich entbieten.

Er fand sie auf ihrem Ruhebette; sie erhob sich jedoch bei seinem Eintritte, nöthigte ihn, Platz zu nehmen, und sagte: Es drängt mich, mit Ihnen zu sprechen, Hochwürden, aber ich benachrichtige Sie im voraus, daß ich von Ihnen keine Vermittlung zu meinen oder meines Sohnes Gunsten zu begehren denke. Ich habe meine weltlichen Angelegenheiten nur mit meinem Stiefsohne zu ordnen, – sie bezeichnete, was sie sonst stets vermieden hatte, Renatus heute immer nur mit diesem Namen, – und da ich die Bestimmungen des Freiherrn angenommen habe, ist eigentlich Alles gethan, denn meine Zusage ist mir heilig.

Der Caplan, welcher nicht voraussehen konnte, was diese befremdliche Einleitung bedeuten sollte, hielt sich an ihre letzten Worte, und ihr ernsthaft in das Auge blickend, sprach er: Wollte der Himmel, daß Sie damit die Wahrheit redeten, wollte der Himmel, Sie hätten Ihre Zusage stets so heilig gehalten, als es Ihre Pflicht gewesen wäre, so hätte es des Freiherrn ....

[105]

Sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Ich weiß, was Sie sagen wollen, rief sie lebhaft, und eben deshalb habe ich Sie gebeten, mich noch heute zu besuchen. Sie hielt einen kleinen Augenblick inne, dann hob sie wieder an: Ich habe die Demüthigung, die Buße, welche der Freiherr mir aufzulegen für gut befunden hat, gelassen hingenommen. Es war eine sehr bittere Stunde! Indeß ich hatte, wie ich den Freiherrn kannte, irgend etwas der Art erwarten müssen und mich darauf vorbereitet. Er hat mich schwer dafür bestraft, daß ich mit achtzehn Jahren, daß ich, aus dem Kloster kommend, nicht mehr Einsicht in meine eigene Natur, nicht mehr Lebenserfahrung besessen habe, als der welt- und herzenskundige Mann, der mich in sein herbstliches Leben wie ein Spielzeug aufnahm.

Sie sprach das so lebhaft, daß ihre Wangen sich rötheten und die Fülle ihrer schwarzen Locken ihr weit über die Stirn und die Wangen herabfiel. Mit schneller Handbewegung warf sie das Haar zurück und mit stolzem Tone sprach sie: Sie haben mir oftmals meine Sünde vorgehalten; aber haben Sie es auch dem Freiherrn eben so oft vorgehalten, Hochwürden, daß er ein Unrecht, ein schweres Unrecht an mir begangen hat, als er meine blinde Urtheilslosigkeit und mein noch völlig schlafendes Herz benutzte, um mich zu der Seinigen zu machen? Nicht eine Stunde, aber nicht eine Stunde bin ich glücklich gewesen in diesem Lande, in diesem Hause, bis zu dem Tage, an dem ich – wie Sie es nennen und wie das Gesetz es nennt – zur Sünderin geworden bin.

Frau Baronin, sagte der Caplan, es ist meines Amtes in der Beichte, Ihre Geständnisse ganz so anzuhören, wie Ihr Herz Sie zwingt, sie vor mir niederzulegen, und ich habe mich Ihrem Vertrauen, so schmerzlich es mir gewesen ist, nicht entzogen. Ich habe ihm nach meinem besten Wissen, nach meiner heiligsten Ueberzeugung zu begegnen und Sie immer wieder auf [106] den Pfad der Pflichterfüllung hinzuweisen gesucht. Zum Vertrauten Ihrer verbrecherischen Phantasieen fühle ich mich nicht berufen.

Er erhob sich bei den Worten und wollte sie verlassen. Indeß sein strenger Blick, seine abweisende Bewegung schreckten sie nicht zurück.

Nun denn, rief sie, ich stehe an einem Scheidewege meines Lebens; ich habe zu brechen mit einer langen Vergangenheit voll schmerzlicher Verstellung, voll martervoller Lüge; so hören Sie denn als Beichtiger meine Beichte, da Sie mir nicht als Berather zur Seite stehen wollen. Hören Sie meine Beichte, Herr Caplan!

Sie stand auf, trat an einen Seitentisch heran, trank, sich zu beruhigen, schnell ein Glas Wasser aus, und vor dem Geistlichen niederknieend, der sich in stillem Gebete zu sammeln getrachtet hatte, wollte sie selber ein Gebet beginnen; aber nur ihre Hände fanden sich in die altvertraute Form, ihr Sinn wollte sich nicht beugen; und sich eben so schnell emporrichtend, als sie sich niedergeworfen hatte, rief sie: Das ist's, das ist's, was ich Ihnen zu sagen habe und was früher oder später doch einmal ausgesprochen werden muß: ich glaube nicht mehr, ich glaube nichts, nichts, gar nichts mehr! Die Welt, der Himmel, Alles ist mir entgöttert, nur Eines ist mir heilig, Eines – und das ist dahin!

In Thränen aufgelöst, wie in einem Krampfe weinend, warf sie sich auf das Lager nieder; der Caplan stand sprachlos vor ihr. Er mußte dem wilden Anfalle Zeit lassen, vorüberzugehen; aber es waren wundersame Gedanken, die ihn bewegten, und noch vermochte er nicht völlig auf den Grund des Herzens zu sehen, das sich ihm in so gewaltsamer Weise enthüllen zu müssen meinte. Was hatte er in diesem Hause alles erleben sehen und mit erlebt! Die Sünde ihres Gatten tragen und büßen zu helfen, hatte das liebende Herz der im protestantischen Bekenntnisse und in voller religiöser Freiheit aufgewachsenen [107] Baronin Angelika sich der katholischen Kirche und ihrer Gnade in die Arme geworfen. Ihr zartes Gewissen hatte sich eine flüchtig aufwallende Empfindung zum Verbrechen gestempelt, und weil sie sich selber zu vergeben nicht den Muth gefühlt, hatte sie sich mit aller Inbrunst ihrer Seele zu der höheren Macht gewendet, von der sie Vergebung ihrer Sünden erflehen und erwarten konnte.

Und jetzt stand Vittoria vor ihm: Trotz bietend allen Ueberlieferungen ihres Vaterlandes, dem Glauben, in dem sie geboren und erzogen war, der klösterlichen Zucht, in der sie so lange gelebt hatte, ja allen Grundsätzen der Kirche und des Staates, und nichts anerkennend, als das blinde Müssen ihres von Leidenschaft hinweggerissenen Herzens.

Er konnte sie in diesem Zustande nicht sich selber überlassen, er durfte sie in diesem Herzenswahnsinne nicht Beichte hören. Er mußte sich zu ihrem Arzte machen, ehe er wieder ihr Seelsorger zu sein vermochte; aber es kam dem Greise schwer an, denn seine Kraft war sehr erschöpft und seine Seele zum Tode traurig. Ohne eine Sylbe zu sprechen, ihre Hand fest in der seinigen haltend, saß er an ihrer Seite. Sein Blick folgte dem unruhigen Zucken ihrer Mienen, sein Auge suchte das ihrige zu erfassen, um es festzuhalten; indeß es verging eine lange Zeit, ehe die Aufgeregte sich zu besänftigen begann, ehe er daran denken konnte, ihr mit seinem Zuspruche zu nahen, und erst mit der völligen Erschöpfung ihrer Kräfte kam endlich so viel Ruhe über sie, daß er sie der Pflege ihrer Dienerin anvertrauen konnte.

Morgen, morgen! sprach er, als Vittoria versuchen wollte, ihm die Erklärung ihres Zustandes zu geben; aber als er sie mit Hülfe ihrer Kammerfrau nach dem Schlafzimmer geleitete, mußte er ihr die Zusage geben, sie nicht zu verlassen, sondern die Nacht im Schlosse, in der Nähe ihrer Zimmer zuzubringen.

[108]
8. Capitel
Achtes Capitel

Vittoria hatte die kräftige Gesundheit des Volkes, dem sie angehörte. Der Gram vermochte sie nicht zu zerstören, nur die eigene Leidenschaft drohte ihr Gefahr und konnte sie überwältigen. Sie erwachte erst spät, aber sie war völlig von ihrem Anfalle hergestellt, und als der Caplan gegen den Mittag zu ihr kam, fand er sie hellen Aussehens und auch hellen Geistes.

Verzeihen Sie mir, Hochwürden, begann sie, daß ich Sie gestern erschreckte; man ist bisweilen nicht Meister über sich. Was ich Jahre hindurch gewaltsam in mir verschließen mußte, das stürmte, nachdem ich mir eine große Ueberwindung zugemuthet hatte, alles auf einmal über mich ein und durchbrach die Schranken meiner Kraft. Ich war außer mir; verzeihen Sie mir das!

Er sicherte ihr dieses zu; sie schien sich damit zu beruhigen und nicht wieder auf den Boden jener Unterredung zurückkehren zu wollen, aber der Caplan gestattete ihr dies nicht.

Sie haben mir gestern den Zustand Ihrer Seele zu enthüllen gewünscht, sprach er, und ich mußte es Ihnen versagen, sich diese Erleichterung zu gewähren, weil ich Sie nicht in der Verfassung fand, in welcher allein es dem Menschen vergönnt werden darf, sich dem Throne der höchsten Wahrheit zu nahen. Heute fordere ich Sie, im Namen des mir durch Gottes Gnade gewordenen Amtes und Berufes, heute fordere ich Sie mit dem Anrechte, das ich als Ihr Seelsorger an Sie habe, dazu auf, [109] Sich auszusprechen mit der vollen, ungetheilten Wahrheit, die Sie mir, die Sie Sich selber schulden, und ohne welche für den Menschen kein Heil, keine Selbsterkenntniß und keine Erlösung möglich sind.

Vittoria hörte ihm sehr gesammelt zu. Es lag in der starken Ueberzeugung des Greises, in dem mächtigen Gefühle seiner unantastbaren Würde eine Kraft, welcher sich Niemand leicht entzog, besonders wenn er, wie die Baronin, ihrem Einflusse einmal unterworfen gewesen war. Aber sie zögerte dennoch, seiner Mahnung nachzukommen, und erst nach einer längeren Ueberlegung sprach sie: Es wird nicht kurz sein, was ich Ihnen mitzutheilen habe, denn es umfaßt Jahre voll langer Leiden, voll schwerer Seelenkämpfe, und ich zweifle, daß Sie mir die Hülfe bieten können, die Sie mir zu leisten wünschen; denn, das ahne ich, ein verlorener Glaube findet sich nicht wieder. Aber hören sollen Sie mich, und jetzt gelobe ich Ihnen die ganze, volle Wahrheit, die Sie von mir erheischen, wennschon ich sicher bin, damit vor Ihnen keine Gnade zu gewinnen.

Sie schwieg eine Weile, stützte das Haupt auf ihren Arm, als suchte sie nach der Weise, in welcher sie beginnen könne, dann sagte sie: Ich habe nicht nöthig, Ihnen die Geschichte meines Herzens zu erzählen, Sie kennen sie. Sie wissen, wie meine Liebe verlangende Natur an meines greisen Gatten Seite einsam blieb, wie nahe, wie sehr nahe ich daran gewesen bin, für meinen Stiefsohn die Empfindungen zu hegen, die sein Vater in mir nicht mehr zu erwecken vermochte; und Sie selbst, Hochwürden, haben mir das Zeugniß gegeben, daß ich meinem Gatten zu leisten und zu sein bestrebt gewesen bin, was er von mir begehrte. Sie können mir auch das Zeugniß nicht versagen, daß ich meines Stiefsohnes jugendlich mir entgegenwallendes Gefühl mit Selbstverläugnung in Zügel und in Schranken gehalten habe und daß er von mir ohne eine Ahnung der Gefahr [110] an der Klippe vorübergeleitet worden ist, die mir und ihm den Untergang bereiten konnte.

Die Gutthat, die Pflichterfüllung, wendete der Caplan ein, hat Ihnen reichen Lohn getragen. Die Freundschaft, die Ergebenheit, welche Baron Renatus für Sie hegt, sind wahr und tief.

Ich weiß das, Herr Caplan; ich bin mir meines Einflusses auf ihn vollauf bewußt. Ich weiß es, daß ich auf ihn zählen kann, obschon er es in neuester Zeit und durch mich selbst erfahren hat, daß meine Liebe niemals seinem Vater angehörte, daß ich nur Einen, Einen Mann geliebt, und daß derselbe nicht mehr ist. O, rief sie, indem sie ihren schwarzen Trauerschleier mit beiden Händen an ihre Lippen drückte, o, wenn Sie ahnen könnten, wie frei und glücklich ich mich in diesen Trauerkleidern fühle, wie meine Seele nach den schwarzen Gewändern verlangt hat! Niemals, Niemals werde ich sie wieder von mir legen! Ich werde sie tragen bis zu meinem letzten Athemzuge, als Erinnerung an die große Liebe, die Sie mir zur Sünde machen und die vor Gott kein Verbrechen sein kann, weil mein schöner Valerio ihr sein fröhliches Dasein verdankt.

Sie hatte über den Gedanken an ihre Liebe, über die Wonne, von derselben jetzt in Freiheit sprechen zu dürfen, abermals die religiösen Bekenntnisse vergessen, welche sie dem Geistlichen zu machen entschlossen gewesen war, und der Caplan hatte große Mühe, sie auf dieselben zurückzuführen. Die Freisinnigkeit ihres verstorbenen Gatten, die völlige Glaubenslosigkeit ihres Geliebten hatten ihren eigenen Glauben erschüttert, und die unklaren religiösen Begriffe, die kindlichen Ueberlieferungen, welche aus ihrem Klosterleben in ihr haften geblieben waren, hatten nur dazu beigetragen, ihren Sinn vollends zum Zweifel und zum Unglauben hinzulenken.

Sie war in ihrem Kloster in der Lehre von der Vorherbestimmung [111] auferzogen worden, und ohne sich von den Einwendungen des Caplans im mindesten beirren zu lassen, hatte sie ihr Zusammentreffen mit Mariano von Anfang an als ein ihr von Gott vorherbestimmtes Schicksal, ihre Liebe für ihn als eine Naturnothwendigkeit angesehen, der sich zu entziehen nicht in ihrer Macht gelegen habe.

Sie selbst, sprach sie, Sie selbst, Hochwürden, haben mir oft genug wiederholt, daß kein Zufall in der Weltordnung eines allweisen Gottes möglich oder auch nur denkbar sei. Noch als ich ein Kind war, hat man mich gelehrt, daß kein Sperling vom Dache fällt, ohne daß der Allwissende es wolle; und ich sollte hierher gekommen sein, weit ab von den Meinigen und meiner Heimath, in dieses unwirthliche, kalte Land, ohne Gottes Fügung? Hierher, in den fernen, grauen Norden sollte Mariano von des Krieges Wogen geschleudert worden sein, ohne Gottes ausdrücklichen Rathschluß? Unmöglich, unmöglich! Entweder es lebt kein Gott, es ist Alles, Alles Zufall und wir des Zufalls blindes Spiel, oder was ich erlebte, litt und that, war mir von Gott bestimmt: ich that, was er mich thun lassen wollte – und was Sie mir als Sünde anrechnen, war mein vorherbestimmtes Müssen; ich mußte sündigen!

Mit jener grausamen und bis zur Selbstvernichtung rücksichtslosen Freiheitslust des Sclaven, dessen Fesseln gebrochen worden sind, bekannte sie sich zu ihrem Unglauben, zu ihrem Abfalle von allen Ueberzeugungen, die sie einst gehegt hatte. Der Caplan verhinderte sie nicht daran. Er wollte die Tiefe der Wunde untersuchen und sie ausbluten lassen, ehe er sie zu schließen und zu heilen unternahm. Er hörte sie schweigend an, als sie ihm eingestand, wie sie ihn in der Beichte getäuscht, wie sie kein Abmahnen dagegen, und keine Reue in sich empfunden habe über ihre Liebe und ihren Ehebruch, und wie sie auf diese Weise auch von dem ihr in dem Kloster eingeimpften Wahne zurückgekommen [112] sei, daß eine unvollständige, eine unwahre Beichte eine der schwersten aller Sünden, daß zeitliches und ewiges Verderben ihre sichere Folge sei.

Aehnlich wie es einst die Baronin Angelika gethan hatte und wie die überwältigende Leidenschaft es mit sich bringt, stützte sie sich immer wieder auf ihr inneres Müssen und Nichtanderskönnen als auf ein Zeichen der Vorherbestimmung; nur daß Angelika's sanfte Seele in Demuth und Zerschlagenheit vom Himmel Kraft und Trost begehrte, wo Vittoria's stolzer Sinn völlig in seinem Rechte zu sein behauptete. Selbst als der Caplan ihr zu bedenken gab, daß Gott innerhalb seiner Vorherbestimmung dem Menschen ein gemessenes Theil von Freiheit zugestehe, an welchem er seine Kraft und Tugend zu prüfen und zu üben habe, und daß er es ihm in seiner Gnade an Zeichen und Mahnungen nicht fehlen lasse, wenn er von dem rechten Wege abgeirrt sei, machte sie das in ihren Ueberzeugungen nicht wankend, in ihrem Selbstgefühle nicht ungewiß.

Ich habe viele Nächte durchwacht, sprach sie, viele Tage durchweint, und in Leid durchwachte Nächte und im Schmerze durchweinte Tage währen lange. Ich bin einsam gewesen in diesem Schlosse, ich hätte nicht einsamer mich fühlen können im Bergesgeklüft in verlassener Karthause. Es hat mir an Muße nicht gemangelt zum Denken und zum Prüfen. Was blieb mir denn auch übrig, wenn ich gelächelt und gesungen hatte, den Freiherrn zu vergnügen, was blieb mir übrig, als zu denken, immerfort zu denken und zu sinnen? Ich habe Zeiten gehabt, in denen ich mich überreden wollte, daß ich fehle, daß ich eine schlechte Gattin sei – meine innerste Empfindung hat dem widersprochen. Ich bin dem Freiherrn vollständig gewesen, was er in mir gesucht, von mir begehrt hat. Ich habe sein Vertrauen, seine Achtung nie besessen, er hat die Liebe, die ich noch nicht kannte, als ich mich ihm vermählte, und die er mich nicht kennen [113] lehrte, nie von mir verlangt. Nicht Einen Tag hat er an mir gezweifelt, nicht Eine Stunde habe ich ihm Anlaß gegeben, sich von mir versäumt zu glauben. Ja, als ich es fühlte, was die Liebe sei, als ich glücklich geworden war durch sie, habe ich das Bestreben gehabt, auch ihn noch glücklicher zu machen, da er es gewesen ist, der mich nach Gottes Vorbestimmung dem mir Auserwählten entgegenführen mußte. Und wie ich mich in dankbarer Glückseligkeit der mir zugedachten Liebe überließ, habe ich schweigend die Dornenkrone des Schmerzes mir in die Stirn gedrückt, und keine Thräne, kein Seufzer hat es dem Freiherrn je verrathen, was ich litt. Ich bin ihm eine gute Gattin gewesen, ich fühle mich nicht schuldig gegen ihn. Es war Gottes Wille, der ihm ohne all mein Zuthun mein Geheimniß offenbarte, um mir endlich meine Freiheit zu vergönnen und um vielleicht durch mich dem Freiherrn zu vergelten, was er einst an der Baronin Angelika gesündigt hat. Mein Herz ist völlig mit sich einig, meine Seele ist in vollem Frieden!

Und Sie haben nie gefürchtet, daß die Hand des Höchsten sich über Ihnen mächtig zeigen, daß er Ihr verirrtes, ihm verschlossenes Herz mit schweren Schlägen zu eröffnen wissen werde? fragte sie der Caplan, um sie zu weiterem Sprechen zu bewegen.

Ich würde irre werden an der göttlichen Gerechtigkeit, rief Vittoria, wenn mir mehr auferlegt würde, als ich getragen habe. Nein, fügte sie hinzu und ihre Züge wurden weich und mild, Gott wußte, was mir fehlte. Hatte ich doch der Eltern- und der Geschwisterliebe ganz entbehrt, hatte er selber mich doch in das freudenleere, abgeblühte Leben meines Gatten verpflanzt! Gott versagt der kleinsten Pflanze nicht den Sonnenstrahl, der sie erblühen und reifen macht, dem geringsten seiner Geschöpfe nicht die Nahrung, ohne die es nicht bestehen kann. Er hat auch mir in seiner Gnade meinen Sonnenstrahl gegönnt. Und wenn er ihn mir auch sehr bald, ach, so gar bald entzogen hat, [114] so weiß ich es jetzt doch, daß ich einmal lebte, und ich kann weiter leben, so lange es mir beschieden ist. Ich habe meinen Sonnenstrahl gehabt. – O, rief sie, indem sie ihre Hände inbrünstig in einander schlug und ihre Augen zuversichtlich zum Himmel emporhob, o, ich würde Gott zu lästern glauben, ich würde irre werden an seiner Gerechtigkeit und seiner Liebe, wenn ich als Schuld erkennen müßte, was mein zugewiesen Theil, mein Recht gewesen ist! Hüten Sie Sich, Hochwürden, mir diesen Glauben aufzudringen, Sie würden mich zur Gottesläugnung treiben!

Sie versank in ein Schweigen, und mit schmerzlichem Sinnen blickte der Caplan vor sich auf den Boden nieder. Vittoria fühlte sich in ihrem Gewissen frei, er aber fühlte sich gedemüthigt wie nie zuvor, denn er wurde irre an der Macht, welche des einen Menschen reines Wollen auf den anderen auszuüben vermag, er wurde irre an seiner Kraft und Befähigung für sein Amt, und zum ersten Male fragte er sich: welche Bedeutung seine Kirche, welche Bedeutung das Priesteramt in der Zukunft haben würden, haben könnten.

Freilich war die katholische Kirche in Richten auferbaut worden, aber man hatte sich in der Erwartung getäuscht, eine Gemeinde für sie heranbilden und in dem protestantischen Lande neue Anhänger für die alte katholische Lehre gewinnen zu können. Das Verlangen nach prüfungsloser Hingabe an eine leitende Hand war in der Menschheit kein allgemeines mehr. Nur in vereinzelten Gemüthern war noch das Bedürfniß rege, sich dem bestimmenden Willen einer Kirche zu unterwerfen, in ihrem Priester die Verkörperung des eigenen Gewissens zu verehren, in ihm einen Mittler zwischen sich und dem Himmel zu besitzen. Die Aufklärung, welche die Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts vorbereitet hatten, wirkte in immer weiteren Kreisen nach, und die Verbindung, welche das Oberhaupt der [115] katholischen Kirche mit dem aus dem Volke emporgestiegenen französischen Kaiser um der Selbsterhaltung willen eingehen müssen, hatte die päpstliche Krone ihres Anspruchs auf einen überirdischen Ursprung beraubt. Wie der Adel, so mußte auch die Kirche sich jetzt bereits an die Throne lehnen, deren Vertheilerin sie einst gewesen war, denn auch die Kirche, darüber hatte der Caplan sich nie verblenden können, hatte ihre freie, unangefochtene Herrschaft durch die Revolution und die ihr folgenden Jahrzehnde der napoleonischen Tyrannei für immerdar eingebüßt.

Man hatte in Frankreich Priester der katholischen Kirche sich von ihren alten Lehren und Gesetzen lossagen, neue Bekenntnisse verkünden, sie verlassen und die Abtrünnigen zu ihren ersten Lehrsätzen und Aemtern wieder zurückkehren sehen, und die Kirche hatte sie als Bereuende wieder in sich aufgenommen. Damit war die Revolution auch innerhalb der Kirche vollzogen worden, damit war das Amt des Priesters vor den Augen der Gläubigen seiner Unfehlbarkeit, seines göttlichen Ursprunges entkleidet worden. Der Priester war von seiner Höhe in die Reihen der irrenden Menschheit hinabgestiegen, er hatte sein Anrecht auf sein Mittleramt zwischen dem Höchsten und dem sündigen Menschen verscherzt. Nur ein persönliches Vertrauen konnte der Seelsorger, der Geistliche von seiner Gemeinde noch begehren, und dieses persönliche Vertrauen – der Caplan schlug voll Zerknirschung an seine Brust, und an seinen greisen Wimpern zitterte die Thräne – dieses persönliche Vertrauen verdiente er nicht mehr; denn er hatte die Sünde nicht abzuwehren vermocht von denen, die ihm übergeben worden waren, und den Zweifel mächtig werden lassen in den Seelen, die er hätte hüten sollen.

Er fühlte sich wie vernichtet, er sah auf sein ganzes langes Leben als auf ein verfehltes zurück, und aus seiner an sich selbst verzagenden Seele rangen sich wie ein Nothschrei die Worte hervor: Herr, Herr, gehe nicht mit mir in das Gericht! –

[116] Er wollte sich erheben und das Zimmer verlassen, aber er konnte es nicht. Er mußte sich niedersetzen, und durch die bebenden Hände, die er vor sein Antlitz schlug, flossen seine heißen Thränen nieder.

Da war es, als wenn ein Riß geschähe in dem stolzen Herzen der Trauernden. Was seine Worte nicht an ihr vermocht hatten, das wirkte sein Beispiel jetzt an ihr. Sein flehendes Gebet erzitterte in ihrem Innern. Sie wußte selber nicht, wie ihr geschah. Sie meinte sich an diesem Greise versündigt zu haben, sie sagte sich: ich bin es, um die er diese Thränen weint; mir, mir gilt sein flehender Ausruf: Herr, gehe nicht in das Gericht mit mir! – Denn wessen hätte er sich anzuklagen gehabt, dessen ganzes Leben Demuth und Reinheit und selbstverläugnende Liebe gewesen war? – Und von einer gewaltigen Empfindung, die sie sich selber nicht zu deuten wußte, hingerissen, warf sie sich vor dem Greise nieder und wiederholte, während auch ihre Augen überströmten: Herr, gehe nicht in das Gericht mit mir!

Langsam, aber mit einem Blicke himmlischer Verklärung, richtete der Caplan sein Antlitz empor und seine Hände falteten sich aufs Neue zum Gebete. Vergib uns unsere Schuld! sprach er leise und leise sagte Vittoria ihm die Worte nach; wie wir vergeben unseren Schuldigern! tönte es kaum hörbar von seinen Lippen.

Wie wir vergeben unseren Schuldigern! wiederholte die Erschütterte mit erhobener Stimme und barg ihr Antlitz auf des Greises Kniee, dessen Hände segnend niedersanken auf ihr Haupt.

So blieb sie eine Weile liegen. Die Sonne schien warm in das Zimmer hinein, ein leiser Lufthauch zog erfrischend vorüber. Es war Alles still um sie her, und still war es auch geworden in ihrer Brust. Da bedünkte sie es, als drücke die segnende Hand des Greises schwer und schwerer auf sie hernieder. [117] Sie hob ihr Haupt zu ihm in die Höhe, die Hände des Caplans sanken bewegungslos herab.

Herr Caplan! rief sie, Herr Caplan! – und die Stimme versagte der Erschrockenen ihren Dienst. Sie umfaßte ihn mit beiden Armen, er regte sich nicht; aber sein Antlitz lächelte in himmlischem Frieden, nur die Augenlider waren ihm zugesunken. Er war betend eingeschlummert.

Sanft, wie sein Leben gewesen war, hatte der Caplan sein letztes frommes Werk gethan – Vittoria hatte den Segen eines Sterbenden erhalten. Seine tiefe Demuth hatte die Empörung ihres stolzen Herzens überwunden, sein letzter Athemzug hatte dem Dienste seiner Kirche angehört.

[118]
9. Capitel
Neuntes Capitel

Die Schlachten an der Katzbach und von Großbeeren waren eben geschlagen worden. Renatus stand mit seinem Regimente unfern dem rechten Elbufer, als er die Nachricht von dem Tode seines Vaters erhielt, und weil er weichherzig war und im Ganzen der Schicksalsschläge ungewohnt, war sein Schmerz im ersten Augenblicke äußerst lebhaft. Er hatte allerdings bei den vorgerückten Jahren seines Vaters, und weil er ihn bei seiner letzten Anwesenheit in Richten sehr verändert gefunden hatte, wohl daran gedacht, daß er ihn möglicher Weise nicht wiedersehen, daß der Abschied, den er von ihm nahm, ein ewiger werden könne. Aber die Plötzlichkeit, die ganze Art, in welcher der Freiherr geendet, hatten für die Phantasie des Sohnes im ersten Augenblicke etwas Ueberwältigendes, etwas ganz besonders Schmerzliches, und Renatus konnte nicht müde werden, sich immer auf das Neue das Bild seines unter freiem Himmel auf dem Kirchhofe sterbenden Vaters vor die Seele zu halten.

Indeß gerade die beständige Wiederholung der gleichen Vorstellung stumpfte den Eindruck ab, und es bewährte sich an Renatus die alte Erfahrung, daß diejenigen, welche bei dem Erleben eines traurigen Ereignisses gar keines andern Gedankens fähig und immer nur mit dem einen Gegenstande beschäftigt sind, das Geschehene am leichtesten überwinden und verschmerzen. Es dauerte gar nicht lange, bis Renatus, wenn er an den Tod seines Vaters dachte, sich unwillkürlich aller der Tausende erinnerte, [119] die neben ihm und um ihn her auf blutgetränkter, von Rossen zerstampfter Erde, an ihren Wunden verblutend, ihr Leben ausgehaucht hatten, ohne daß eine liebende Hand ihr brechendes Auge geschlossen hätte, ohne daß ihr letzter Blick auf das Antlitz eines Freundes gefallen wäre. Was ihm in den ersten Stunden oder Tagen so schrecklich erschienen war, die Plötzlichkeit, mit welcher der Tod seinen Vater überrascht hatte, das fing er bald an, als eine Wohlthat der Natur und als ein Glück zu betrachten, und in seinem an den Caplan und an Vittoria gerichteten Antwortschreiben pries er das Loos seines Vaters, dem es vergönnt worden war, in den Armen seines treuesten Freundes, mit dem Hinblicke auf die von ihm geschaffene schöne Kirche, von der Erde Abschied zu nehmen.

Renatus hatte von seinem Vater nie jene Zärtlichkeit erfahren, welche das Leben der Kinder eng mit dem der Eltern verknüpft. Einen entscheidenden Einfluß auf die Erziehung seines Sohnes hatte der Freiherr ebenfalls nicht geübt, und in den letzten Jahren war Renatus nur selten und immer nur auf kurze Zeit in Richten gewesen. Es entstand daher in seinem Herzen durch seines Vaters Tod keine wesentliche Lücke, aber seine Verhältnisse erlitten durch denselben eine bedeutende Umgestaltung. Es traten mit Einem Male neue Anforderungen und Verpflichtungen an ihn heran, denen zu begegnen sein bisheriges Leben ihn in keiner Weise vorbereitet hatte, denen er persönlich zu genügen jetzt auch völlig außer Stande war. Er konnte nicht daran denken, inmitten dieses heiligen Krieges einen Urlaub zu begehren, und da ihm zuerst nur die Nachricht von dem Tode seines Vaters zugekommen war, beruhigte er sich mit der Ueberlegung, daß der Caplan und der Justitiarius doch am Orte wären und daß er sich ihres Eifers wie ihrer Einsicht versichert halten dürfe.

Er schrieb Vittorien, schrieb sofort auch seiner Braut und [120] machte dieser den Vorschlag, sich mit ihrer Mutter und Schwester baldmöglichst nach Schloß Richten zu begeben, um der vereinsamten Vittoria eine Gesellschaft zu sein. Er erwähnte dabei, daß es ihm wohlthun würde, die Gegenstände seiner Liebe in dieser unruhigen Zeit an einem und demselben Orte unter dem Schutze seines Hauses vereinigt zu wissen, und weil er entschlossen war, sich jetzt ernsthafter als bisher mit den Vermögens-Angelegenheiten seiner Familie zu beschäftigen, bemerkte er gegen die Gräfin, daß es, nach den Opfern, welche der Krieg auch ihr auferlegt habe, ihr vielleicht gerathen scheinen dürfte, ihre Häuslichkeit in der Hauptstadt aufzulösen und seine Gastfreundschaft anzunehmen, bis Hildegard selbst sie ihr in Richten anzubieten haben werde.

Bald darauf rückte sein Regiment vorwärts, es wechselte die Standquartiere oft, und erst am Tage vor der Leipziger Schlacht kam der zweite Brief aus Richten, welcher ihm mit dem Testamente seines Vaters zugleich die Kunde von dem Ableben des Caplans überbrachte, durch die Feldpost dem jungen Freiherrn in die Hände.

Der Dienst hatte ihn bis gegen den Abend hin in Anspruch genommen. Müde und erschöpft stieg er vor dem einsamen Bauernhofe, in welchem er im Quartiere lag, vom Pferde und trat in die niedrige Stube, welche er mit fünf anderen Offizieren theilte. Draußen war es herbstlich und feucht, aber trotz der geöffneten Fenster lag eine schwüle, heiße Luft über dem niederen Raume. Zwei seiner Kameraden hatten sich, die Tornister unter den Köpfen, auf den Estrich des Bodens niedergeworfen und waren, wie ihr tiefes, schnarchendes Athemholen verrieth, obschon es noch ganz hell war, vor Ermüdung eingeschlafen. Der Capitän, ein verheiratheter Mann, schrieb an der Ecke des Tisches, an welchem die Andern mit jugendlicher Eßlust ihr geringes Abendbrod verzehrten. Sie achteten [121] kaum auf das Eintreten ihres Kameraden, nur der Hauptmann wendete sich flüchtig nach ihm um und sagte: Herr von Arten, es sind auch für Sie ein Brief und ein Packet angekommen; sie liegen dort auf dem Simse. – Dann fuhr er still zu schreiben fort.

Es war kein Platz mehr an dem Tische und auch kein Platz zum Sitzen in der Stube. Renatus nahm seine Briefschaften und ging damit hinaus. Draußen vor dem Hause war ein Stückchen Erde eingehegt. Er und seine Kameraden hatten das Gärtchen in diesen Tagen vor der Zerstörung bewahrt. Es stand ein Kirschbaum darin, und aus dem noch grünen Grase wuchsen einige Stockrosen hervor, die noch in Blüthe standen. Die untergehende Sonne beschien sie matt. Er warf sich auf eine kleine Bank unter dem Baume nieder, steckte den Brief, auf dem er Hildegard's Handschrift erkannte, in die Brust und öffnete zunächst das von Richten kommende Packet; aber er suchte darin vergebens nach einem Worte seines greisen Lehrers oder nach einem Briefe Vittoria's. Nur der Justitiarius hatte geschrieben. Das fiel Renatus auf, denn noch nie war eine Sendung von Richten ohne ein begleitendes Blatt des Caplans an ihn gekommen, seit er im Felde stand, und er nahm daher das Schreiben des Justitiarius mit Besorgniß in die Hand. Indeß die Nachricht, welche ihm durch dasselbe wurde, hatte er doch nicht vermuthet.

In der gemessenen Weise eines Geschäftsmannes meldete der Beamte, daß der hochwürdige Herr Caplan ihm gleich nach dem Tode des verstorbenen Herrn Barons sehr angegriffen und verändert erschienen sei. Trotzdem habe derselbe es sich nicht nehmen lassen, seine Amtspflichten zu erfüllen und der von dem Verluste ihres Gemahls äußerst erschütterten Frau Baronin zur Seite zu stehen. Er habe dabei offenbar seine Kräfte erschöpft, und wenn man sich auch hätte denken mögen, daß er seinen [122] Herrn und Freund nicht lange überleben würde, da sie so eng in einander verwachsen gewesen wären und das Alter das Zerreißen solcher alten Lebensbande nicht wohl vertrage, so habe doch das plötzliche Hinscheiden des verehrten Greises sie Alle schwer betroffen und werde auch den Freiherrn sicherlich sehr überraschen. Er berichtete demselben danach, daß er den unbedeutenden Nachlaß des Caplans versiegelt, daß er die Meldung von seinem Ableben bei den betreffenden Behörden gemacht habe, und fragte an, wie der Freiherr es nun hinsichtlich der Verwaltung des Richtener Pfarramtes zu halten gewillt sei.

Renatus hielt das Schreiben eine Weile still in seinen Händen. Es war nichts Ungewöhnliches, was er erlebte, es lag im Laufe der Natur, daß der betagte Mann gestorben war; aber er hatte ihn so lieb gehabt. Wie der Schutzgeist von Richten, ja, wie sein eigener Schutzgeist war der Caplan ihm stets erschienen. Jetzt erst kam seine Heimath ihm verlassen und verwaist vor, und sein Gemüth besaß in diesem Augenblicke noch nicht die Kraft, sich Schloß und Herrschaft unter einer ganz veränderten Umgebung als sein Eigenthum zu denken und sie doch zu lieben. Ohne den Caplan war ihm Richten nicht mehr die alte, theure Heimath.

Indeß es war kein Tag, an welchem man sich seinen Empfindungen lange überlassen durfte. Jedermann wußte es, daß am nächsten Morgen eine große Schlacht bevorstand, und wer noch etwas für dieses Leben zu beschicken hatte, that dazu, es nicht hinauszuschieben. Renatus hatte sich auf die Vorsorge des Caplans mehr als auf sich selbst verlassen. Jetzt war er dieser Stütze beraubt, die kommende Tagesfrühe konnte über sein Leben entscheiden, und er hinterließ eine Stiefmutter, einen Bruder, eine Braut. Er hatte für das Wohlergehen dieser Lieben noch nicht Sorge getragen, wie er wünschte, und jetzt war es vielleicht zu spät dazu, wenn die Voraussicht seines [123] Vaters nicht in dem Testamente die Vorkehrungen auch auf den Fall getroffen hatte, daß Renatus nicht aus dem Felde wiederkehren sollte.

Er öffnete und las das Testament. Es war nicht dazu gemacht, ihn zu beruhigen und zu erheben. Sein Besitz war weit mehr verschuldet, als er es für möglich gehalten hatte. Obschon seine wirthschaftlichen Kenntnisse höchst unbedeutend waren, ahnte er doch, daß sich ihm große, fast unübersteigliche Hindernisse in der Verwaltung und Erhaltung der drei großen, noch zusammengehörenden Güter in den Weg stellen würden, und mehr noch als diese Erkenntniß erschütterte ihn der Theil des Testamentes, welcher Vittoria und ihren Sohn betraf. Es überflog ihn eine heiße Scham, das Herz preßte sich ihm zusammen. Seinem Vater war also das Geheimniß Vittoria's nicht verborgen geblieben. Der Greis hatte den Schmerz erduldet, sich verrathen zu wissen. Wie mußte ihn dies niedergeworfen, was mußte er davon gelitten haben! Die reine, wahrhafte Natur des Sohnes empörte sich gegen Vittoria, er dachte mit widerwilligem Zorn an sie und an Valerio, und Beides, Beides that ihm weh: denn er liebte Vittoria und er liebte auch den Knaben, den er, obschon er um Vittoria's Leidenschaft für einen Andern wußte, bis jetzt doch als seinen Bruder angesehen hatte.

Bricht denn Alles, Alles unter meiner Hand zusammen? fragte er sich schmerzlich, und der alte Gedanke, daß er nicht zum Glücke geboren sei, bemächtigte sich seiner wieder mit erneuter Macht. Er hatte bisher immer viel Mitleid mit Vittoria gehabt, ihr Leben an des alternden Gatten Seite war ihm stets als eine große Entsagung für sie erschienen. Jetzt beklagte er nur seinen Vater. Weil er nicht wußte, daß der Freiherr erst ganz kurze Zeit vor seinem Tode den Verrath Vittoria's erfahren hatte, bewunderte er dessen stolze Zurückhaltung und die [124] großmüthige Nachsicht, mit der er Vittoria behandelt hatte. Er machte sich selbst einen Vorwurf daraus, daß er der Verrätherin so viel von seiner Liebe, so viel Freundschaft zugewendet; er hätte seinen Vater wiederhaben mögen, um es ihm abzubitten, daß er nicht genug Zärtlichkeit für ihn gefühlt habe, um ihn auf's Neue und mehr und verständnißvoller als bisher zu lieben.

Er wußte in einzelnen Augenblicken nicht, was er thun, ja, nicht einmal, woran er zuerst denken solle. Man erwartete von ihm Bestimmungen über seine Angelegenheiten, aber er verstand von ihnen wenig, er hatte keine wirkliche Geschäftskenntniß. Der Freiherr hatte nach dem Abgange von Steinert mehrmals mit seinen Amtsleuten gewechselt; Renatus wußte aus des Vaters eigenem Munde, daß er auch dem gegenwärtigen Amtmanne nicht vertraue und daß er eben deshalb zum Oefteren an eine Verpachtung der Güter gedacht habe, nur daß er sich nicht entschließen können, damit einen Theil seiner persönlichen, unmittelbaren Einwirkung über sein Eigenthum aufzugeben. Der Justitiarius erwähnte in einer dem Testamente beiliegenden Auseinandersetzung dieser Absicht des Freiherrn, denn der Contract des Amtmanns ging mit dem nächsten Frühjahre zu Ende, und Renatus mußte jetzt entscheiden, ob der Contract, wie es festgesetzt war, dann auf drei neue Jahre verlängert werden sollte oder nicht. Der Justitiarius sprach von einem Pächter, der sich gemeldet habe und dessen Bedingungen, wenn man die Zeitverhältnisse in Erwägung zog, nicht ungünstig genannt werden konnten; aber es ward die Bedingung daran geknüpft, daß ihm das lebende Inventarium, welches durch den Krieg auf das Aeußerste heruntergebracht worden war, vollständig und ausreichend ersetzt werden und die Pachtung ihm auf zwölf Jahre zugesichert werden solle. Für die Beschaffung des Inventariums mußte man abermals Kapital aufnehmen, das jetzt schwer und nur zu hohen Zinsen zu haben war, und die jetzt während des [125] Krieges gebotenen Pachtpreise auf zwölf Jahre im voraus gelten zu lassen, fand selbst Renatus nicht für möglich. Er mußte also die Dinge gehen lassen, wie sie eben gingen, aber die Sorge um seinen Besitz wälzte sich wie eine Last auf ihn, und dazu fing er an, es schwer zu bereuen, daß er die Gräfin Rhoden zu der Uebersiedelung nach Richten aufgefordert hatte, denn es war ihm jetzt eine äußerst widerwärtige Vorstellung, sich seine Braut in der Nähe Vittoria's und in deren täglicher Gesellschaft vorzustellen.

Ohne daß er sich bestimmte Gründe dafür anzugeben wußte, hegte er, weil er es eben wünschte, die bestimmte Hoffnung, daß die Gräfin seinen Vorschlag nicht angenommen haben werde, und nachdem er mit einem Seufzer die Testaments-Abschrift und die Berichte seines Beamten wieder in ihren Umschlag geschoben hatte, nahm er zuerst den Brief der Gräfin aus dem zweiten Couverte hervor, weil er sich den Brief seiner Braut auf zuletzt versparen wollte, um den schweren Tag doch mindestens mit einem tröstlichen Eindrucke abzuschließen.

Aber seine Hoffnung und Voraussicht hatten ihn dieses Mal getäuscht. Die Gräfin schrieb ihm, daß sie Anfangs Bedenken gegen seine Plane gehegt habe. Sie sei zweifelhaft gewesen, ob es angemessen sei, gleich nach dem Tode des Freiherrn sich in dessen Hause einzurichten. Sie habe, da Renatus' Verlobung mit ihrer Tochter vor der Welt noch ein Geheimniß sei, die Besorgniß gefühlt, daß man ihr die Absicht zur Last legen werde, eben diese Verlobung herbeiführen zu wollen; indeß Hildegard sei anderer Ansicht gewesen, und da diese ohnehin einer Erholung bedürftig sei, weil sie sich in der Pflege der Verwundeten, deren Zahl nach der Schlacht von Großbeeren in den Berliner Hospitälern so furchtbar angewachsen, Anstrengungen zugemuthet habe, die weit über ihre Kräfte gegangen wären, so habe die Gräfin sich nach reiflicher Ueberlegung zum [126] Nachgeben entschlossen und die nöthigen Schritte zur Auflösung ihrer Verhältnisse in der Residenz gethan, wobei ihr Graf Gerhard mit gewohnter Zuvorkommenheit seine Dienste angeboten habe. Sie fügte dann noch hinzu, daß sie, wenn sie ihre ökonomischen Verhältnisse in das Auge fasse, Renatus für sein Anerbieten doppelt Dank zu sagen habe, da ihr die Zinsen ihres geringen Vermögens jetzt nicht regelmäßig eingingen; und die Zweifel, welche sie um die Sicherheit ihres kleinen Kapitals aussprach, waren auch nicht dazu angethan, dem neuen Besitzer der von Arten'schen Güter das Herz zu erleichtern. Noch hatte er nicht Frau, nicht Kind, und schon lag, er mochte es ansehen, wie er wollte, die Sorge für eine große Familie auf seinen Schultern. Denn an wen hatten sich Vittoria und Valerio zu halten, als an ihn? Auf wen, als auf ihn, fiel einmal die Sorge für Hildegard's Mutter und Schwester? Und diese Einsicht mußte er gewinnen an dem Vorabende einer großen Schlacht! – Sich zu trösten, sich die Seele zu befreien, eröffnete er Hildegard's Brief.

»Mein ewig Geliebter,« schrieb sie ihm, »es soll Ja und Amen heißen zu Allem, was Du wünschest und angeordnet hast für jetzt und für alle Zeit! Was könnte Deiner Braut in diesen Tagen, in denen sie Deine Seele von Trauer beladen weiß, ohne daß sie zu Dir eilen kann, sie Dir tragen zu helfen, Heilsameres begegnen, als an der Stelle zu weilen, an der Du geboren bist, als an dem Orte zu leben, der künftig auch ihre Heimath sein wird und an welcher sie mit Dir vereint das Andenken Deines edeln Vaters heilig in sich pflegen will.

O, mein Renatus, Lieben, Glauben, Hoffen, das ist alles, was uns übrig bleibt in den Tagen der Prüfung, in denen wir leben! Ich habe Stunden gehabt, in denen ich mich mit Zweifeln plagte, mit Zweifeln, ob Dein Vater mich jemals gern willkommen heißen würde; mit immer neuen Zweifeln [127] sogar an Dir, denn ich meinte, wäre Deine Liebe der meinigen gleich, so hätte keine Rücksicht der Welt Dich bewegen können, mich durch Verheimlichung unserer Liebe und unserer Verlobung fern von Dir zu halten. Und nun das überwunden ist, nun Du Herr bist über unser Schicksal, nun Dein Wille mich einführt in Deiner Väter Haus, auch jetzt noch darf ich die bräutliche Myrtenkrone nicht in meine Locken drücken, und jede, jede Stunde kann für ewig den Schleier nicht endender Trauer über meine ganze Zukunft werfen! Weiß ich es denn, ob es nicht schon geschehen ist? Weiß ich es denn, ob des Todes Pfeil Dich nicht bereits ereilte, ob Dein brechendes Auge sich nicht vergebens nach Deiner Geliebten sehnte, ob Dein letzter Seufzer nicht vergebens ihren Namen rief? – Ich habe so manches Sterbenden letztes Wort vernommen – Gott, Gott, wenn Du – aber ich kann, ich mag es nicht denken! Ich will hoffen, hoffen und beten, weil ich Dich liebe!

Du hast das Richtige für mich gewählt. Ich habe Ruhe und Stille nöthig und ich gehöre zu den Trauernden. Wie verlangt es mich, unsere schöne Signorina wiederzusehen, Deinen kleinen Bruder zu umarmen! Ich werde mit unserer Signorina von Dir sprechen, in Deines Bruders liebem Antlitz Deine Züge suchen; wir werden nur in Dir, nur für Dich leben, bis Du wiederkehrst; und was diese Jahre der Trübsal Jedem von uns auch auferlegen – Gott hat sie gesendet, um mit schweren Leiden an die Herzen derer zu klopfen, die sich abgewendet hatten von sich selber und von ihm. Denn wie Viele uns der Tod auch entrissen, das Leben hat uns manchen verloren Geglaubten wiedergegeben, und sollten wir nicht mit unserem Heilande sagen: Es wird mehr Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße thut, denn über hundert Gerechte?

Du weißt es, mein Geliebter, von wem ich rede. Es ist eine große, eine erhebende Wandlung mit ihm vorgegangen, und [128] laß es mich bekennen, ich meine oftmals, mein brünstig flehendes Gebet habe dazu mitgewirkt. Ich konnte, o, ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß der Deinen Einer, daß Deiner edeln Mutter Bruder der heiligen Sache des Vaterlandes und uns Allen für immerdar verloren sein sollte – nein, ich konnte es nicht!

Dein Oheim weiß es, wie Dein und mein Herz sich gefunden haben, er gönnt uns unser Glück, er segnet es, und ich glaube oftmals zu bemerken, daß seine Augen mit Rührung auf mir weilen. Ach, muß es ihn nicht schmerzen, daß er in einer Zeit herangewachsen ist, in der das heilige Feuer der Vaterterlandsliebe in den Seelen der Menschen erloschen war? Ist er denn nicht beklagenswerth, daß seinem Leben, wie er mir das einst gestanden, niemals der milde Stern einer reinen Liebe aufgegangen ist?

Er hat uns in diesen Tagen der Trauer um Deinen theuren Vater gütevoll zur Seite gestanden, er hat mir geholfen, die Mutter zur Uebersiedelung in unsere künftige Heimath zu bestimmen. Frei und unabhängig, wie er ist, bietet er Dir seine Dienste an, und es müßte mein ganzes Empfinden mich betrügen, oder Du könntest, was Du von weltlichen Dingen anzuordnen hast, keinem verläßlicheren Freunde anvertrauen.

Aber ich schreibe Dir von Hab und Gut, und Du, meine einzige Habe, mein höchstes Gut, bist mir fern, bist in täglicher Gefahr. O, denke, wo Du auch immer weilest, denke, daß ich an jedem Morgen und an jedem Abende vor Deinem Bilde, unter Deinen Augen meine Gebete für Dich zum Himmel sende, denke, daß mein Leben beschlossen ist, wenn es dem Herrn über Leben und Tod gefallen sollte, das Deinige als ein Opfer auf dem Altare des Vaterlandes zu begehren.«

Sie hatte ein paar Myrtenblätter auf den Rand des Briefes festgenäht und ein Herz darum gezeichnet. »Hier haben meine Lippen, Dein gedenkend, dieses Blatt berührt!« hatte sie [129] darunter geschrieben, und die Spur ihrer Thränen war auf dem Papier sichtbar, die Worte waren halb verlöscht. Aber der ganze Brief und vor Allem diese Weichheit des Schlusses brachten keine gute Wirkung auf ihren jungen Verlobten hervor.

Renatus hatte seine Braut nicht wiedergesehen, seit er vor seinem Abmarsche zu dem russischen Feldzuge Abschied von ihr genommen hatte. Die Heeresabtheilung, bei welcher er stand, hatte bei dem Ausbruch des Befreiungskrieges ihre Marschroute nach Deutschland im Norden von Berlin gehabt. Seit mehr als einem Jahre war er auf einen brieflichen Verkehr mit seiner Verlobten angewiesen gewesen, und ein solcher hat immer sein Bedenkliches, wo es sich nicht um völlig gefestete und klar bestimmte Verhältnisse handelt. Daß Renatus es nicht zulässig gefunden, seinen Vater von der Wahl in Kenntniß zu setzen, welche er getroffen hatte, war gleich Anfangs ein Anlaß zur Verstimmung zwischen ihm und seiner Verlobten geworden. Hildegard hatte ihn der Schwäche angeklagt, ihm vorgehalten, daß er seines Vaters Ruhe mehr als ihren Frieden liebe, und da sie wie die meisten Frauen mit einseitiger Beschränktheit nicht von sich selber abzusehen und keinen Anspruch außer dem ihrigen für berechtigt anzuerkennen vermochte, hatte Renatus ihr mit Grund den Vorwurf der Eigensucht gemacht. Von ihm, um dessen Leben sie sorgte, auf den alle ihre Gedanken gerichtet waren, getadelt zu werden, das hatte sie nicht ertragen können, und von den Anklagen gegen Renatus zu den schwersten Selbstbeschuldigungen übergehend, um ihn wieder zu versöhnen, war sie im Laufe der Zeit allmählich in eine Sprache der gefühlsseligen Leidenschaft gerathen, die sich noch gesteigert hatte, seit der Freiheitskrieg begonnen und die Anschauungs-, Empfindungs-und Ausdrucksweise gar vieler Menschen sich durch die großen Aufregungen bis zur Uebertreibung gesteigert hatte.

Renatus hatte sich von dieser Gefühlsrichtung seiner Braut [130] nie wohlthätig berührt gefunden. Er liebte ein frisches, kräftiges Wesen, vielleicht gerade weil er dessen selbst ermangelte, und das Leben des Soldaten auf dem Marsche und im Felde war wider sein eigenes Vermuthen sehr nach seinem Geschmack. Er hatte sich auf dem russischen Feldzuge in Entbehrungen und Anstrengungen erproben lernen, er hatte den großen Augenblick mit erlebt, in welchem sein General das ihm anvertraute Corps von der Bundesgenossenschaft mit dem Landesfeinde losgerissen hatte, und von dem erhabenen Schwunge der begeisterten Volksbewegung weit über sich selbst hinausgetragen, hatte auch Renatus endlich aus der Hoffnung auf die Befreiung seines Vaterlandes sein höchstes Ziel ge macht, ohne daß seine Liebe für Hildegard dadurch beeinträchtigt worden wäre; aber sie verstand es nicht, sich seinen Stimmungen und Zuständen, wie er es begehrte, anzupassen. Mitten in der stolzen Aufregung des Kampfes, von Tag zu Tag auf wildem Kriegspfade fortschreitend, immer nur des nächsten Augenblickes und oft selbst dieses nicht sicher, sehnte er sich nach dem freudigen Zuspruche eines tapferen Herzens. Wie jeder Jüngling zum Helden geworden war, so wollte er ein Heldenweilb in der Geliebten finden, und Hildegard war zu einem solchen nicht geschaffen.

Es half Renatus nicht, daß er sich vorhielt, wie muthig sie in den Reihen der anderen Frauen und Jungfrauen sich der Pflege der Kranken und Verwundeten unterzogen hatte. So oft er einen Brief von ihr erhielt, peinigten ihn die klagende Liebe, die fromme Verzagtheit, ja, selbst die entsagende Gottergebenheit ihres Wesens, die es doch allesammt nicht hinderten, daß sie feste Plane für ihre eheliche Zukunft entwarf und eine Art von Herrschaft über seine Empfindungen auszuüben strebte, welche ihn stets daran erinnerte, daß er sich doch eigentlich sehr früh gebunden habe.

Peinlicher aber als eben der heutige Brief war ihm noch [131] niemals ein anderer gewesen. Es lähmte ihm jeden Aufschwung, es verdüsterte ihm den ohnehin trübe genug gestimmten Sinn, von Hildegard, wie er es in seinem Innern nannte, im voraus die Todtenklage um sich anstimmen zu hören. Es schien ihm eine üble Vorbedeutung am Abende vor der Schlacht zu sein. Er hätte so viel lieber ein fröhliches Glückauf, einen siegesgewissen, zukunftssicheren Ruf von ihr vernommen; und vollends die enge Freundschaft, in welche die Frauen zu dem Grafen Gerhard getreten waren, und deren Entstehen und Wachsen er seit vielen Monaten bemerkt und immer ungern gesehen hatte, gereichte ihm heute zu besonderem Verdrusse.

Er konnte es in dem eingezäunten Gärtchen nicht mehr aushalten; er kam sich ohnehin wie an Händen und Füßen gebunden vor. Er stand auf und verließ den engen Raum.

Das ganze Dorf lag voll von Truppen. Es war viel Landwehr dabei, und der Dialekt seiner Heimath schlug mehrmals an sein Ohr. Er meinte, er müsse irgendwo bekannte Gesichter erblicken, eine Anrede erfahren: und sie wäre ihm willkommen gewesen. Aber Niemand achtete auf ihn, es hatte Jeder mit sich selbst genug zu thun.

An den abgeschirrten Batterien, an den Reihen aufgestellter Bayonnette vorüber schritt er zum Dorfe hinaus. Es war dort, wie hier! Ueberall Hast und Lärmen, überall Gehen und Kommen, überall das Dröhnen der Schritte von neu heranziehenden Truppen und das Rollen der Geschütze und der Munitionswagen. Dazwischen Gruppen von ermüdeten, am Boden liegenden Ankömmlingen, die schlafend fast mitten im Wege dalagen und jeden Augenblick von Pferdehufen getroffen werden konnten.

Die Sonne war schon untergegangen, der Himmel bewölkte sich mehr und mehr, es dunkelte früh. Aus den Wiesen und Wassern stiegen die Nebel auf und drückten den Rauch von den zahllosen Beiwachtfeuern nieder, an denen die Soldaten sich [132] ihr Abendbrod, und für wie viele unter ihnen mußte es das letzte Abendbrod sein, bereiteten.

In der Ferne ertönte Trommelwirbel, von verschiedenen Seiten erschallte in Zwischenräumen die Signaltrompete. Weit hinten am Horizonte stiegen zwei weiße Leuchtkugeln in die Höhe. Was bedeuteten sie?

Er ging zwecklos vorwärts; er hatte mitunter keinen festen Gedanken, so Vielerlei, so Schweres zog ihm durch den Sinn, und dazwischen fragte er sich immer wieder: was bedeuten die beiden weißen Leuchtkugeln?

Den Tod für Viele ganz gewiß! gab er sich endlich selbst zur Antwort, und wie er denn so einsam dahinzog auf der weiten, weiten, nachtbedeckten Ebene, einsam unter den Hunderttausenden, die morgen das blutige Spiel beginnen mußten, über die in wenig Stunden das Todesloos gezogen werden sollte, wie er hier an einem Schlafenden vorüberkam, dort fröhliches Lachen und Singen vernahm, dachte er: Wer von Euch wird morgen noch singen und scherzen? Wer von uns wird schlafen gehen für immer? – und es kam ihm gar nicht furchtbar vor, zu diesen Letzteren zu gehören.

Was blühte ihm denn in der Zukunft? Was hatte er von ihr zu erwarten? Quälende Verhältnisse, wohin er sich auch wendete, Verpflichtungen und Sorgen aller Art! Und wofür das? Hatte er den Verfall seines Familienbesitzes und Vermögens verschuldet? Hatte er Vittoria in das von Arten'sche Haus geführt? Er mochte gar nicht an sie denken. – Und Hildegard? Nun, Hildegard hatte sich in ihre künftige Trauer so hineingelebt, daß sie wohl vorbereitet sein mußte, ihr Schicksal zu tragen, wenn ihre Ahnungen sich verwirklichten.

Die Briefe hatten lange Zeit gebraucht, bis sie an ihn gelangt waren. Jetzt, dachte er sich, mußten sie Alle schon in Richten beisammen sein. Er sah sie deutlich vor sich: Vittoria [133] mit ihrem Sohne, der nicht mehr sein Bruder sein sollte, und die Gräfin und Hildegard und ihre Schwester. Er sehnte sich nicht dorthin. Ihm bangte vor dem verwaisten Schlosse, und je länger seine Gedanken dort verweilten, um so schmerzlicher drängte sich ihm der immer wiederkehrende Frageruf in die Seele: Vittoria, warum hast Du mir das angethan? – Er fühlte sich allem Anderen gewachsen, nur Vittoria verachten zu müssen, in Valerio nicht mehr einen Bruder zu besitzen, heimliche Unehre eingedrungen zu sehen in das würdige Haus seiner Väter, das zerriß ihm das Herz, und die Zornesthränen in den Augen zerdrückend, sagte er sich: Ich bin also der Letzte unseres Hauses, unseres Namens! Falle ich morgen, so ist unser altes Geschlecht erloschen und dahin!

Aus seiner Entmuthigung riß diese Vorstellung ihn empor. Er wollte nicht mehr untergehen! Er war es denen schuldig, die vor ihm gewesen waren, ihr Geschlecht und ihren Namen aufrecht zu erhalten für die Zukunft, er schuldete sich seinen Ahnen. Er wollte leben bleiben. Morgen wollte er die Frage an die geheimnißvollen Mächte thun, welche das Schicksal der Menschengeschlechter lenken. Verschonte ihn dieses Mal die Schlacht, so sollte ihm das ein Zeichen sein, daß Gott das Fortbestehen des Hauses und des Namens derer von Arten in seiner Weisheit angeordnet habe. Der morgende Tag sollte ihm zu einer Entscheidung auch für sich selber werden.

Gefaßter, als er es verlassen hatte, kehrte er in sein Quartier zurück. Er fand Platz an dem Tische und setzte sich nieder, um nach Hause zu schreiben, denn die Anfragen des Justitiarius bedurften einer Antwort; als er sich aber anschickte, sie zu geben, fiel es ihm erst ein, wie in seines Vaters letztwilligen Anordnungen gar keine Rücksicht auf den doch so möglichen Fall genommen war, daß Renatus bei seines Vaters Tode nicht mehr am Leben gewesen wäre, und obschon diese Zuversicht des Freiherrn [134] auf des Sohnes Stern für diesen eben so erhebend als rührend war, sagte er sich doch, daß es eine Gewissenssache für ihn sei, eine Entscheidung zu treffen, eine Entschließung zu fassen.

Der Freiherr hatte mit seinem Testamente den ihm untergeschobenen Sohn eines Fremden offenbar von dem Antheile an dem von Arten'schen Erbe ausschließen wollen, so weit er dies vermochte, ohne die ihm und seiner Ehre angethane Kränkung kundzugeben. Daß er seinem Sohne erster Ehe den möglichst vollständigen Besitz des Hauses zu erhalten suchte, da die Artenschen Güter kein Majorat waren, konnte an und für sich selbst in den Kreisen, in welchen die Familie lebte, keinen Verdacht gegen Vittoria und gegen die Abstammung Valerio's erregen, die trotz der freiherrlichen Verfügung noch immer günstiger zu stehen kamen, als es bei der Vererbung eines Majorates für sie der Fall gewesen sein würde. Der Freiherr hatte also, nach seines Sohnes Meinung, den Erbantritt Valerio's nicht völlig ausschließen wollen. Das Fortbestehen seines Namens und Geschlechtes hatte ihm höher gestanden, als die Befriedigung seiner beleidigten Ehre. Starb Renatus kinderlos, so fiel, wenn auf Valerio nicht Bedacht genommen wurde, was jedoch geschehen mußte, so lange seine unrechtmäßige Geburt nicht gerichtlich festgestellt worden war, der Arten'sche Besitz an die nächsten Erben und Anverwandten von Renatus, an die Brüder seiner Mutter, und mit Einem Male schoß es dem jungen Manne wie ein Strahl durch das Gehirn, was die Annäherung an ihn, die Graf Gerhard seit Jahren mit einer gewissen Beflissenheit betrieben hatte, was die Freundschaft, welche der Graf für die Braut seines Neffen gegenwärtig kundgab, zu bedeuten haben könnten. Dabei kam ihm, wie mit einem Zauberschlage, eine Aeußerung in das Gedächtniß, welche Graf Gerhard einmal gegen ihn gethan hatte, als er ihn zum Eintritte in die Dienste [135] des Königs von Westfalen überreden wollen. Er hatte Renatus damals, um ihn vom Kriegsdienste abzuhalten, den einzigen Erben seines Familiennamens genannt, und als dieser ihn an seinen Bruder Valerio erinnert, hatte der Graf mit einem bösen Lächeln ihm entgegnet: »Vittoria's Sohn wird einmal auf Deine Großmuth angewiesen sein!« Renatus hatte das lange nicht vergessen können; dann hatten die Ereignisse der letzten Jahre jene Aeußerung aus seiner Erinnerung verwischt, und jetzt trat sie wieder mit voller Klarheit in sein Bewußtsein zurück.

Es überlief ihn heiß und kalt. Graf Gerhard wußte also um Vittoria's Untreue und er rechnete auf sie; denn daß er, der seine eigene, wahre Ehre nicht geachtet hatte, kein Bedenken haben würde, fremde Ehre Preis zu geben, wo sein Vortheil es erheischte, darauf meinte der Freiherr seinen Oheim wohl zu kennen. Wie der flammensprühende Krater eines mit Vernichtung drohenden Vulkans that es sich vor seinen Blicken auf. Ihm graute davor, und doch konnte er sein Auge nicht davon losreißen. Je länger er darüber nachsann, desto weniger wußte er sich Rath.

Er dachte daran, sein Testament zu machen und Valerio ganz ausdrücklich zu seinem Erben zu ernennen, denn immer wieder fühlte er es, er liebte diesen Knaben brüderlich. Aber sein Vater hatte dies doch offenbar nicht eigentlich gewollt, und auch in Renatus sträubte sich das Arten'sche Blut dagegen, ganz abgesehen davon, daß die Einsetzung Valerio's ohne Frage einen Erbschaftsstreit und mit ihm die Enthüllung von Vittoria's Ehebruch heraufbeschwören konnte, den der Freiherr vor der Welt zu verbergen beabsichtigt hatte. Dann wieder fand Renatus sich geneigt, Hildegard zu seiner Erbin zu bestimmen. Indeß der Name seines Geschlechtes wurde damit nicht erhalten. Die Freundschaft, welche Graf Gerhard für die mittellose junge Gräfin hegte, konnte gegenüber der Erbin des Arten'schen Besitzes [136] leicht in eine wärmere Empfindung übergehen, und Renatus hielt es gar nicht für unmöglich, daß Hildegard, um ihr Werk der vermeintlichen Bekehrung an dem Grafen Gerhard zu vervollständigen, sich selbst zum Opfer bringen könne. Er hatte heute ein unaussprechlich bitteres Gefühl, so oft er an sie dachte. Er wußte nicht, war es Mißtrauen, war es Eifersucht, was ihn also quälte; aber er vermochte das letztere nicht recht zu glauben, denn heute konnte er es sich nicht verbergen: er liebte sie eigentlich nicht, er hatte sie niemals wahrhaft geliebt. Es war eine Aufwallung, eine Uebereilung gewesen, daß er sich ihr anverlobt hatte, ihr ganzes Wesen sagte ihm immer weniger zu, und wie ein Angstschrei rang sich, ohne daß er es wußte, aus seinem beklommenen, geänstigten Herzen der laute Ausruf: Freiheit, Freiheit! empor.

Er erschrak, als er ihn gethan hatte. Seine Kameraden, die noch plaudernd beisammen saßen – die beiden Schläfer waren während seines einsamen Ganges auch wieder munter geworden – wendeten sich nach ihm um.

Das wird in diesem Augenblicke noch Mancher außer Ihnen rufen, lieber Arten, sagte der Hauptmann; und frei werden wir werden auf die eine oder die andere Art, wenn Jeder von uns morgen Alles an Alles setzt! fügte er hinzu.

Die Unterhaltung der Anderen gerieth dadurch ins Stocken; sie waren sammt und sonders ernsthaft geworden. Der Hauptmann zog einen Brief aus der Brusttasche und sprach: Es wird morgen eine Schlacht geschlagen werden, wie die Weltgeschichte noch keine aufzuweisen hat. Wer sie von uns überleben wird, das steht in des Allmächtigen Hand. Lassen Sie uns einander das Versprechen leisten, daß die Ueberlebenden Kunde von den Todten in die Heimath senden.

Er hielt einen Augenblick inne, zeigte den Anderen den Brief, den er danach wieder in die Brusttasche steckte, und setzte [137] mit weicher Stimme hinzu: Ich habe eine Frau und zwei Kinder zu Hause. Falle ich und Sie können meiner Leiche habhaft werden, so schicken Sie diesen Brief an meine Frau. Gehe ich verloren in der Masse, nun, so meldet wohl Einer von Ihnen ihr das Geschehene, damit es ihr menschlicher und früher als durch die Todtenliste zukommt. Ich stehe, soweit es nöthig und mir möglich ist, Jedem von Ihnen zu dem traurigen Gegendienste bereit.

Man sagte einander das Begehrte mit ruhigem Worte zu. Die Lieutenants waren junge Edelleute und gleich Renatus unverheirathet. Der Hauptmann war bürgerlicher Herkunft. Er war bedeutend älter als die Anderen, und hatte in dem Regimente von der Pike auf gedient. Renatus wußte, daß er ohne Vermögen sei, daß er seiner Familie nichts weiter zu vererben habe, als seinen unbescholtenen Namen und die Erinnerung an seine Liebe und an seine Treue; aber wie schwer dem Hauptmanne das Herz auch sein mochte, Renatus beneidete ihn, weil so einfache, natürliche Verhältnisse ihn an das Leben fesselten. Denn wie er sich dagegen auch innerlich vertheidigte, es bemächtigte sich seiner auf's Neue der dumpfe Lebensüberdruß, der ihn heute schon zu verschiedenen Malen überfallen hatte, und unfähig, irgend einen festen Entschluß zu fassen, warf er sich mit den Anderen zum Schlafe auf den Boden nieder.

Der morgende Tag sollte entscheiden! Auch über ihn und seine persönlichen Angelegenheiten sollte er entscheiden!

[138]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Und sie war gefallen, diese Entscheidung: so erhaben und so glorreich für das deutsche Vaterland, als die kühnste Einbildungskraft es nur hatte erhoffen können.

Das Dorf, durch welches Renatus an dem Vorabende der Schlacht gegangen war, lag in rauchenden Trümmern. Es war der Schauplatz eines mörderischen Kampfes gewesen. Von den Offizieren, die in jenem Bauernhause bei einander gesessen hatten, waren nach den drei großen Tagen nur noch Renatus und ein noch jüngerer Edelmann am Leben. Es waren Wunder der Tapferkeit gethan worden.

Im Verein mit den Ostpreußen hatte das Regiment, in dem Renatus diente, Gehöft um Gehöft, nachdem der Feind Herr des Ortes geworden war, wie eben so viele Festungen, wiedererobern müssen, und, seiner Compagnie voranstürmend, war der Hauptmann an Renatus' Seite von einer Kartätschenkugel niedergeschmettert worden. Lautlos war er zusammengesunken, und trotz des Kampfes wilder Hast sich zu ihm niederbeugend, um sein Wort zu lösen, hatte der junge Freiherr die Papiere und das Schreiben seines Hauptmanns an sich genommen; aber diese Pflichterfüllung hatte ihm selber fast den Tod gebracht; denn wie Renatus sich emporrichten wollte, stolperte sein Fuß über die Leiche eines eben erstochenen Soldaten. Ein Kolbenschlag, dem der wankende Renatus nicht widerstehen konnte, verwundete ihn und warf ihn nieder; auch über seiner [139] Brust blitzten schon die Bayonnette der Franzosen, die sich aus einem der in Brand gerathenen Gehöfte in wildem Durcheinander den Stürmenden entgegenstürzten.

Da warf sich plötzlich eine hohe, kräftige Mannesgestalt, an der Spitze einiger ihr folgenden Landwehrmänner, mit raschem Entschlusse den Andringenden in den Weg.

Auf, auf, Herr von Arten! rief er, während er die Feinde, welche den Hingesunkenen bedrohten, mit ungewöhnlicher Kraft und höchster eigener Gefahr so lange aufzuhalten wußte, bis Renatus wieder Meister über sich geworden war und Zeit gefunden hatte, sich zu erheben, um sich in dem grausen Handgemenge, das wie die stürzenden Wellen des Meeres auf und nieder wogte, selber wieder zu behaupten.

Es waren nur flüchtige Secunden gewesen, die sein Erretter neben ihm verweilte. Auf! auf Herr von Arten! hatte er noch einmal gerufen, dann hatte die nächste Kampfeswelle sie weit von einander fortgerissen, und doch hatte Renatus ihn erkannt, doch war selbst in jener verhängnißvollen Minute das wundersam unheimliche Gefühl durch sein Inneres gezogen, das er stets empfunden hatte, so oft er in dieses Mannes Nähe gekommen war, so oft er seiner nur gedachte.

Durch seine Verwundung für die nächsten Tage dienstunfähig gemacht, in Folge der über seine Kräfte gehenden Anstrengungen erschöpft, lag Renatus neben andern Kranken und Verwundeten, leise fiebernd, in einem der Zimmer des Bürgerhospitals. Sein Gehirn war frei, nur bisweilen trübten sich seine Vorstellungen, und er wußte dann nicht zu unterscheiden, was wirklich geschehen war und was er in dem Halbschlafe des Fiebers träumend durchgemacht hatte. Ein paar Mal fuhr er in die Höhe. Er meinte dann, sich wieder im Kampfesgewühle zu befinden, er sah die Bayonnette wieder auf seine Brust gezückt, er hörte wieder das kräftig drängende: »Auf, auf, Herr [140] von Arten!« und wie in jenem Augenblicke ertönte es ihm als ein Mahnwort von seines Vaters Munde, der ihn zur Selbsterhaltung um des Hauses willen aufrief.

Wenn er dann aber in seinen Träumen in die Höhe schaute, um in seines Vaters Schatten seinen Schutzgeist zu erblicken, stand Paul Tremann wieder vor ihm, jede Sehne der prachtvollen Gestalt gespannt, das schöne Antlitz voll kaltblütiger Entschlossenheit – und ein eisiger Frostschauer beschlich des Kranken Herz. Er wachte unzufrieden und erschreckend auf. Er konnte seines Lebensretters nicht mit Liebe, nicht mit Freuden denken. Er glaubte sich sagen zu dürfen, daß er Paul den gleichen Dienst geleistet haben würde. Es war nur Menschenpflicht, einander im Kampfe beizustehen, und doch drückte, doch widerstrebte es ihm, daß Paul ihm mit eigener Gefahr zu Hülfe gekommen war, daß er eben ihm, eben diesem Manne sein Leben zu verdanken haben sollte.

Indeß Renatus hatte von seinem Vater mit dem fatalistischen Aberglauben desselben auch die Fähigkeit geerbt, sich die Dinge nach seinem inneren Bedürfen zurecht zu legen und zu deuten, und wie seine Kräfte ihm allmählich wiederkehrten, begann er das ihm beunruhigende und peinigende Erscheinen und Dazwischentreten seines Bastardbruders für jenes Zeichen anzusehen, das er in seiner Entmuthigung am Vorabende vor der Schlacht von dem Geschicke gefordert hatte.

Er zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß seinem Hause ein Fortbestehen sicher sei, und der schöne Erfolg, den er persönlich errungen hatte, als er noch am letzten Tage der Schlacht zum Stellvertreter und Nachfolger seines gefallenen Hauptmanns ernannt worden war, hatte sein Selbstvertrauen und die Zuversicht auf seinen eigenen Stern in ihm belebt und gehoben.

Ohne eigentliche kriegerische Neigung war er in das Heer getreten und widerstrebend in den russischen Krieg gezogen. [141] Aber wie wenig er der französischen Sache auch geneigt gewesen war, so hatte er doch die begeisterte Vaterlandsliebe nicht gehegt, die er bei dem Beginne der Freiheitskriege in sich hatte erwachen fühlen und die zu einer heiligen Flamme in ihm geworden war, seit er in ihrem Dienste Blut und Leben eingesetzt. Jetzt war mit seinem Erfolge auch sein Ehrgeiz angefacht, und wie sein Blick sich vorwärts auf neue Siege, neue Ehren, auf eine große militärische Laufbahn richtete, minderten sich die Sorgen, mit denen er nach der letzten Kunde von den Seinigen an die Heimath zurückgedacht hatte.

Er konnte, wie er sich richtig sagte, bei seiner bisherigen Unkenntniß von allem, was die Guts- und Vermögens-Verwaltung anbetraf, aus der Ferne keine großen, umgestaltenden Maßregeln treffen. Es war das Gerathenste, bis zur Beendigung des Krieges die Dinge gehen zu lassen, wie sie einmal eingeleitet waren. Er wies also, als er endlich wieder im Stande war, seine Angelegenheiten vorzunehmen, den Justitiarius an, den Contract mit dem Amtmanne zu erneuern, die Wirthschaft desselben, so weit es möglich sei, zu überwachen, die Inventarien, so gut es thunlich, allmählich herzustellen, die Ausgaben auf jede Weise einzuschränken und im Uebrigen wie bisher mit gewissenhafter Treue für ihn und seinen Besitz Sorge zu tragen.

Als er diesen Brief mit Selbstzufriedenheit durchlas, kam ihm, nach dem eben erst Erlebten, der Gedanke an die Möglichkeit seines eigenen Todes doch wieder mit verstärkter Macht, und er sagte sich, daß er nothwendig für diesen Fall, da sein Vater es nicht gethan hatte, in Bezug auf Vittoria und vor allen Dingen in Bezug auf Valerio seine Maßnahmen zu treffen habe. Es war nothwendig, einen Vormund für Valerio, einen männlichen Beistand für die Baronin, einen Curator für die ganze Vermögens- und Besitz-Verwaltung zu ernennen, und Renatus wußte lange keine ihn befriedigende Wahl zu treffen.

[142] Er kannte die Verwandten seiner Mutter wenig, aber er würde dem Majoratsherrn Grafen Berka mit vollem Vertrauen seine ganzen Angelegenheiten übergeben haben, denn die Ehrenhaftigkeit und Tüchtigkeit desselben war über jeden Zweifel erhaben; indeß Graf Felix stand, wie Renatus selbst, im Felde, und den Grafen Gerhard mit diesen Ehrenämtern zu betrauen, daran wagte Renatus nicht zu denken. Allerdings beurtheilte er, weil er überhaupt zu dauernder Strenge und Entschiedenheit im Urtheile seiner ganzen Natur nach nicht geneigt war, den Grafen jetzt in manchem Betrachte milder, als an dem Tage, da er den letzten Brief über ihn von Hildegard erhalten hatte. Er war sich während seines kurzen Krankenlagers der verhältnißmäßigen Wandlungen bewußt geworden, welche er selber in den letzten beiden Jahren in sich erfahren hatte, und es gab für ihn manche Stunden, in denen er es zu entschuldigen fand, daß Graf Gerhard sich früher der französischen Sache und der kaiserlichen Fahne angeschlossen hatte. Waren doch auch in seinem eigenen Vaterhause französische Sitte und Sprache lange genug alleinherrschend gewesen, und seiner großen Bewunderung für den Kaiser hatte sein Vater, der verstorbene Freiherr, selber niemals Hehl gehabt. Es war also denkbar, es war möglich, man konnte es vielleicht entschuldigen, wie Graf Gerhard es jetzt selber that, daß dieser sich als ein junger, lebhafter und dabei nicht eben reicher Mann einst für seine Thätigkeit in französischen Diensten ein Feld eröffnet hatte. Es war auch nicht unglaublich, daß die wachsende Tyrannei, die nicht endende Kriegslust des Kaisers dem deutschen Edelmanne endlich die Augen über seinen Irrthum geöffnet hatten, und daß er, in der Reue über seine Verblendung, sich mit doppeltem Eifer und doppelter Begeisterung an die Sache seines Vaterlandes hingegeben hatte. Aber wenn das, wie Graf Gerhard es von sich behauptete, der Fall war, weßhalb focht er jetzt nicht in den Reihen [143] seines Volkes, seiner Standesgenossen, seiner Brüder? – Weßhalb setzt er nicht, wie wir alle, sein Leben für die Sache des Vaterlandes ein? fragte sich Renatus mit richtiger Selbstschätzung, und sein persönliches Mißtrauen gegen seinen Oheim wurde dadurch immer wieder auf's Neue erweckt und verstärkt.

Indeß eine Wahl mußte er treffen, und wie er die Reihe der Edelleute durchdachte, die seinem Vater und seinem Hause verbunden gewesen waren, stieß er auf eine Schwierigkeit, die er bis dahin nicht in das Auge gefaßt hatte. Ein jeder Bevollmächtigte mußte, wenn er das Testament des Freiherrn sah, in welchem Valerio immer und ausdrücklich nur als der Sohn Vittoria's, nie als des Freiherrn Sohn bezeichnet war, die Verhältnisse des Hauses in einer Weise erkennen lernen, wie sie Andern, Fremden, bekannt werden zu lassen der verstorbene Freiherr eben zu vermeiden gewünscht hatte; und hin und her erwägend, wie es vielleicht auch nicht einmal rathsam sei, einem befreundeten Standesgenossen die volle Einsicht in seine verwickelte und schwierige Lage zu vergönnen, bedauerte Renatus es in tiefster Seele, daß es nicht mehr Adam Steinert sei, der an der Spitze der freiherrlichen Güter stehe.

Er hatte Adam wenig gekannt, aber alles, was er jemals von dem verstorbenen Caplan und andern Personen über ihn vernommen, hatte entschieden zu des Mannes Gunsten gelautet. Wäre Adam noch als oberster Verwalter auf den Gütern und im Dienste des freiherrlichen Hauses, oder wäre er nur auf Marienfelde und nicht im Heere gewesen, so würde Renatus, allem Familien-Herkommen entgegen, ihn zu dem Vormunde von Valerio und überhaupt zu seinem Vertrauensmanne ausersehen haben; und daß Adam sich trotz alles Vorgefallenen hätte geehrt fühlen müssen, von einem Freiherrn von Arten ein solches Amt zu übernehmen, daran zu zweifeln fiel dem jungen, in standesmäßigem Hochmuthe auferzogenen Manne gar nicht [144] ein. Er erinnerte sich, daß selbst der alte Flies, der mit seinem Lobe zu kargen gewohnt war, den Adam Steinert als einen der ausgezeichnetsten Landwirthe und als einen höchst umsichtigen Geschäftsmann bezeichnet hatte, und während Renatus diesen Ausspruch noch in sich erwog, fiel es ihm ein, wie der alte Flies seit länger als einem Menschenalter mit allen Unternehmungen und auch mit den wachsenden Verlegenheiten des verstorbenen Freiherrn wohl bekannt gewesen sei und wie es also vielleicht das Gerathenste sein dürfte, ihn, auf dessen Verschwiegenheit der Freiherr Franz sich von jeher fest verlassen hatte und an dessen Meinung dem jungen Edelmanne im Grunde nicht viel gelegen war, dem Justitiarius beizugesellen und ihnen gemeinsam die Vorsorge für die väterliche Verlassenschaft wie für die in Richten Hinterbliebenen zu überantworten.

Eine abschlägige Antwort fürchtete Renatus von Herrn Flies noch weniger, als er sie von Steinert er wartet haben würde; denn einerseits hatte der Banquier bedeutende Hypotheken auf Neudorf und auf Rothenfelde, anderseits hatte er aber auch Wechsel von dem verstorbenen Freiherrn in Händen, die für dessen Erben in jedem Augenblicke unbequem und gefährlich werden konnten, wenn Herr Flies sich einmal versucht fühlen sollte, sie nicht mehr zu verlängern. Es lag also in dem beiderseitigen Vortheile, in gutem Einvernehmen zu verbleiben. Dem Herrn Flies mußte es nothwendig gerade darum zu thun sein, die Sachverhältnisse genau zu kennen, und – Renatus schämte sich halbwegs vor sich selber, als er sich dieses Bestimmungsgrundes bediente – wenn Herr Flies auf solche Weise auch tiefer, als Jener es begehrte, in das von Arten'sche Familienleben hineinsah, nun, so konnte man sich immer noch auf Seba's Freundschaft für die verstorbene Baronin Angelika verlassen, und schlimmsten Falles, nach den vertraulichen Mittheilungen [145] des Grafen Gerhard, von Herrn Flies um Seba's willen Verschwiegenheit gegen Verschwiegenheit beanspruchen.

Es war dem jungen Freiherrn nicht ganz wohl bei diesen letzten Erwägungen und Betrachtungen zu Muthe. Er würde nie darauf gekommen sein, sie gegenüber einer adeligen Familie anzustellen; aber mit einer bürgerlichen und vollends mit einer Juden-Familie war das etwas ganz Verschiedenes. Er stand mit ihnen, welche Rechte die neuere Zeit und die neue Gesetzgebung ihnen auch einräumten, durchaus nicht auf demselben Boden; sie waren in keinem Betrachte seines Gleichen. Ihre und seine Ehrbegriffe konnten gar nicht dieselben sein, ihre Welt war nicht die seine, und es blieb ja immer seinem Ermessen überlassen, sobald die Zeitverhältnisse es ihm gestatteten, eine Verbindung zu lösen, einen Zusammenhang aufzugeben, die eben nur durch die zwingende Gewalt der Umstände für ihn zu einer augenblicklichen Nothwendigkeit geworden waren.

Dazu drängten ihn seine Marschordre wie sein eigenes Verlangen, so bald als möglich seinem Regimente zu folgen, dem Befehl über die Compagnie, den er in den beiden letzten Tagen der Schlacht aus eigner Machtvollkommenheit geführt hatte, nun als ihr ernannter Hauptmann in aller Form zu übernehmen, und selbst die Rücksicht, daß Paul ein Theilnehmer des Flies'schen Handlungshauses sei, änderte schließlich in des jungen Freiherrn Vorhaben nichts, sie bestärkte ihn nur noch in demselben. Eine persönliche Berührung mit jenem wurde für Renatus vorläufig dadurch keineswegs nothwendig. Bei Geschäften, wie das Haus Flies sie seit langen Jahren mit seiner Familie gemacht hatte, fielen aber dem Kaufmanne immer wesentliche Vortheile zu, und, sagte Renatus sich mit selbstgefälliger Herablassung, Paul war doch einmal seines Vaters Sohn. Es stand also, wie der junge Freiherr meinte, den Erben seines Vaters gar wohl an, dem nicht rechtmäßigen Sohne desselben, wenn es [146] sich so fügte, einen Vortheil zuzuwenden und ihn verdienen zu lassen, was sonst einem Fremden zufiel. Er war mit dieser Schlußfolgerung, von großer Niedergeschlagenheit ausgehend, doch schnell wieder dahin gelangt, sich und seine Verhältnisse zu überschätzen, weil es ihm zu quälend war, sie lange in ihrem richtigen Lichte zu betrachten, und wie er sich nun auf's Neue nach seinem selbstgeschaffenen Maßstabe auferbaut hatte, legte er denselben auch an die Andern an, so daß er sich bald in gutem Glauben zu der Ausführung seiner Absichten entschloß.

Er schrieb dem Justitiarius also, wie er es gehalten haben wolle, er schrieb auch an Herrn Flies, wie jenes Vertrauen, welches die Freiherren von Arten, sein Großvater wie der verstorbene Freiherr Franz, zu Herrn Flies und zu dessen Einsicht und Rechtschaffenheit stets gehegt hätten, es ihm sehr wünschenswerth machten, wenn Herr Flies sich der einstweiligen Vormundschaft über den jungen Freiherrn Valerio unterziehe, wenn er der verwittweten Freifrau von Arten wie dem Justitiarius zur Seite stehe, und Renatus berief sich dabei ausdrücklich auf die früheren persönlichen Beziehungen, welche zwischen ihm selbst und dem Flies'schen Hause obgewaltet hätten. Er meldete es, daß er Hauptmann geworden sei, erwähnte, daß er in der Schlacht von Möckern in Todesgefahr geschwebt habe; aber er unterließ es, hinzuzufügen, wem er seine Rettung zu verdanken habe. Daß er vor seinem Ausmarsche von Berlin die Gräfin Rhoden aufgefordert, jeden Umgang mit Seba abzubrechen, daß das bloße Wort des Grafen Gerhard, dem er in seinen persönlichen Beziehungen ganz und gar mißtraute, hingereicht hatte, ihn den Stab über Seba, über die Freundin seiner Mutter, brechen zu lassen, das alles erwähnte er freilich nicht. Er hegte die feste Ansicht, daß es einem Manne wie ihm anstehe und erlaubt sei, sich der ihm nicht ebenbürtigen Menschen wie der Werkzeuge zu bedienen, die man aufnehme und liegen lasse, je [147] nachdem man sich ihrer benöthigt finde. Es war das keine Sache der Ueberlegung bei ihm, es lag ihm im Blute, war ihm ein angezeugter, angeerbter Glaube, und er hatte über dasjenige, was ihn nicht selbst betraf, niemals ernsthaft nachgedacht, obschon es ihm, wo er ihn anzuwenden für gut befand, an Scharfsinn nicht gebrach.

Der verstorbene Freiherr hatte sich, wie Renatus wußte, des Herrn Flies bedient, als es sich um die Unterbringung und Erziehung Paul's gehandelt, man hatte die Baronin im Flies'schen Hause ihr Krankenlager halten lassen, ohne dadurch sich irgendwie zu besonderem Zusammenhange mit der Familie verpflichtet zu glauben, und Renatus war überzeugt, daß auch für ihn angemessen und auch jetzt noch möglich sei, was seine Eltern einst für sich angemessen und möglich gefunden hatten. Er haftete überhaupt, und wie sollte und konnte es anders sein, mit seinem ganzen Sinne auf dem Boden der Ueberlieferungen. Die Ehre, wie er sie verstand, erschien ihm immer noch als ein Vorrecht, als ein ganz ausschließlicher Besitz des Adels. Nur der Rückblick auf eine Ahnenreihe konnte den Begriff der wahren Ehre, wie er meinte, in dem Menschen entwickeln. Nur wer sein Thun und Handeln in jedem Augenblicke der Würde aller derjenigen anzupassen hatte, die vor ihm den Familienschatz der Familienehre angesammelt hatten, konnte die verantwortlich machende Selbstachtung besitzen, ohne welche die wahre Ehre nicht bestehen kann: jene Ehre und jene Ehren, die den mittellosesten und geistig geringsten Edelmann, als Mitglied einer besonderen Kaste und einer besonderen Race, über alle Nichtadeligen erheben, welcher geistigen oder äußerlichen Mittel und Vorzüge diese sich auch zu rühmen haben mögen.

Es war nicht allein der Tod seines Vaters, es war mehr noch das Bewußtsein der eigenen im Felde bewiesenen Tapferkeit, welche in Renatus den alten Adelsstolz seines Hauses jetzt auf's [148] Neue und stärker als je zuvor belebte. Daß um ihn her Tausende und aber Tausende von Nichtadeligen das Gleiche wie er gethan hatten und thaten, das verminderte seine Selbstzufriedenheit nicht im geringsten. Wie es Sitte unter denen von Arten war, den Familienschmuck der Frauen bei der Verheirathung des Stammhauptes zu vergrößern, so gehörte es sich, daß jeder Herr von Arten den Stammesschatz der Familienehren zu erhöhen suchte. Der Freiherr Franz hatte in Friedensjahren die Kirche in Richten gebaut; Renatus dachte dem Hause in seinem Namen neue Ehren, kriegerische Ehren zuzuführen, da die Bahn des Krieges vor ihm ausgebreitet lag; und nun er sich durch seine neuliche Erhaltung des Fortbestehens seines Hauses überhaupt versichert glaubte, waren eine Heiterkeit und eine Zuversicht über ihn gekommen, die ihm sonst nicht eigen gewesen waren.

Nur an Hildegard konnte er nicht mit freiem Herzen denken, und es kam ihm schwer an, ihr zu schreiben. Als er sich aber dazu erst überwunden hatte, beschloß er, es mit aller der Wahrhaftigkeit zu thun, die einem Edelmanne seiner künftigen Gattin gegenüber zieme.

Er sagte ihr, daß er sich mit ihrer Gefühlsweise oftmals gar nicht in Uebereinstimmung finde, daß er sich jetzt, wo er dem Tode nur mit genauer Noth, nur wie durch ein Wunder entgangen sei, in seinem Innern reiflich geprüft, und es erkannt habe, wie seinem Verlöbniß mit ihr nicht jene Alles umfassende Liebe zum Grunde gelegen habe, welche die Verbindung zwischen Mann und Weib zu einer Naturnothwendigkeit mache; aber daß er sie werth halte, daß er entschlossen sei, sein Wort, wie es einem Edelmanne gebühre, einzulösen, ja, wie er sich überzeugt fühle, daß Hildegard ihn beglücken, daß er sie auf das wärmste lieben werde, wenn sie aus dem Bereiche der Schwärmerei in die Wirklichkeit hinabsteigen und die fröhliche Zuversicht zum Leben fassen wolle, die ihm gerade mitten in Todesnoth [149] und Gefahren gekommen sei. Er rieth ihr dann, gegen den Grafen Gerhard trotz seiner endlichen Bekehrung auf ihrer Hut zu sein, theilte ihr mit, daß er Herrn Flies und nicht seinem Oheim die Familien-Angelegenheiten übergeben habe, und bat Hildegard danach, sich es mit den Ihrigen in seinem Schlosse gefallen zu lassen und sich von jetzt ab als die Herrin desselben betrachten zu wollen, an deren Seite er in nicht zu ferner Zeit von seinem Kriegerleben auszuruhen hoffe. Um sich aber ihren Anschauungen und Empfindungen doch auch wieder gefällig anzupassen, kam er dann noch einmal auf die Schlacht zurück, deren Begebnisse er ihr ausführlich schilderte; und seine späteren Träume mit den Erlebnissen und Eindrücken der Wirklichkeit willkürlich und ganz bewußt vermischend, stellte er es ihr mit allem poetischen Schwunge, über den er verfügte, ausführlich dar, wie er seines Vaters Stimme plötzlich mitten im Gewühle des Kampfes zu vernehmen geglaubt habe, wie er, die Augen emporhebend, die Augen seines Vaters über sich leuchten gesehen, und wie er sich überzeugt halte, daß Gott selbst ihm diesen Beistand, diesen Schutzgeist in Gestalt seines Vaters zugesendet habe, um ihm damit Muth und Hoffnung in seiner Trauer um den Vater und ein Zeichen für das lange, dauernde Fortbestehen des Hauses derer von Arten zu gewähren.

»Zünde die geweihten Kerzen zum Danke in unserer Kirche an und denke meiner, so oft Du Dich in unserem Gotteshause betend niederwirfst!« so schloß er. – Wer aber der Muthige gewesen war, der ihn gerettet hatte, das schrieb er auch Hildegarden nicht.

Er besorgte, für ihr Herz das ganze Ereigniß seines geweihten Eindrucks und seines dichterischen Zaubers zu entkleiden, wenn er ihr sagte, daß es ein gewöhnlicher Sterblicher, daß es Paul Tremann sei, dem er sein Leben zu verdanken habe.

[150]
Drittes Buch
1. Capitel
[151] [153]Erstes Capitel

Europa zitterte noch unter dem Nachdröhnen der Ereignisse, welche über den Welttheil hingegangen waren. Zwei blutige Kriege hatten die Herrschaft Napoleon's vernichtet. Kometengleich, wie er Alles überstrahlend am Horizonte der Zeit emporgestiegen, war er von demselben verschwunden. Zum zweiten Male war das zum Herrschen unfähig gewordene Geschlecht der Bourbonen in seine Heimath zurückgeführt worden, zum zweiten Male standen die vereinigten Heere in der Hauptstadt Frankreichs, während Napoleon Bonaparte, der dieses Frankreich durch ein halbes Menschenleben zur Beherrscherin der Welt gemacht hatte, als ein Verbannter auf dem Rücken des »Bellerophon« einsam durch die Fluten des Weltmeeres zog, das ihn für immer von dem Schauplatze seiner Thaten trennen sollte.

Es war in der Mitte des Sommers; Paris war nie glänzender erschienen, als eben jetzt, wo die vertrieben gewesene Königsfamilie, wo die zurückgekehrten Edelleute der alten Geschlechter und alle die Tausende von sieggekrönten Fremden sich für schwere Entbehrungen und Leiden, für blutige Kämpfe und für Wunden, in den Genüssen entschädigen wollten, die keine andere Stadt der Welt in so verführerischer Anmuth darzubieten versteht, als das immer wieder jugendliche, das glänzende, bei all seiner Majestät und Pracht so liebliche Paris.

Der Tuileriengarten war voll Menschen. Von dem mittleren Pavillon des Schlosses, vom Pavillon de L'Horloge, hing [153] die weiße Fahne schlaff hernieder. Ueber den Rasenplätzen, über den im altfranzösischen Geschmacke angelegten Blumenbeeten, über den alten Kastanienbäumen brütete die heiße Sommersonne. In den weiten Wasserbehältern, aus denen die Springbrunnen so hoch gegen den blauen Himmel aufstiegen, daß die fallenden Tropfen in der Höhe wie flüssige Diamanten erglänzten, zogen die Schwäne langsam umher. Soldaten aller Grade, Soldaten aus aller Herren Ländern gingen in den breiten mit großem Sinne angelegten Wegen auf und nieder, während Schaaren von Kindern überall ihr Wesen trieben und die Schönen aller Stände ihren Spaziergang in den Alleen machten oder in Gruppen auf den zur Miethe feil gebotenen Stühlen saßen, um der Militärmusik zuzuhören, welche hier um Sonnenuntergang das Publikum alltäglich eine Stunde unterhielt.

Weiter ab, nach dem Ausgange des Gartens hin, wo die umschließende Terrasse sich nach dem großen Platze öffnet, daß man fern hinaussieht über die elysäischen Felder hinweg, bis zu dem gigantischen marmornen Triumphbogen, den der gefallene Titan sich und seinen Siegen zum stolzen Gedächtniß aufzurichten begonnen hatte, saßen auf einer der steinernen Bänke vier preußische Offiziere bei einander. Drei von ihnen, der junge Lieutenant, der Hauptmann, ein kräftiger Fünfziger, und der schöne Major, der den linken Arm in einer leichten Binde trug, gehörten der Landwehr an. Der Oberst war von den Linientruppen.

Er und der Lieutenant, über dessen Lippe der blonde Schnurrbart sich eben erst zu kräuseln begann, schienen viel Gefallen an dem bewegten Leben zu finden, das sie umgab. Der Hauptmann und der Major, auf dessen breiter Brust das Eiserne Kreuz und der russische Annen-Orden sich würdig ausnahmen, beachteten es nicht sonderlich, und der Letztere hatte schon eine geraume Zeit gedankenvoll in die Ferne geblickt, als der Oberst die Beiden mit der Frage anrief: Sagen Sie mir, meine [154] Freunde, worüber denken Sie so ernsthaft nach, daß Sie darüber diese liebe, lustige Welt, die sich hier so vergnüglich sonnt und sich ihres Lebens freut, wie der Fisch im Wasser und wie der Vogel in der Luft, fast zu vergessen scheinen? Es bleibt mir nichts als die plumpe Frage übrig, wenn ich Sie nicht ganz und gar in sich selber versinken lassen will.

Der Hauptmann hob sein kluges, treuherziges Auge zu dem Fragenden empor und sagte: Ich dachte darüber nach, ob sie bei mir zu Hause auch so gutes, trockenes Wetter haben mögen; die Weizenernte muß jetzt im vollen Gange sein. Es ist jetzt das dritte Jahr, fügte er mit unterdrücktem Seufzer hinzu, daß ich nicht mehr daheim bin! Ich fange an, mich sehr nach Weib und Kind, nach Haus und Hof zu sehnen, und obschon meine Frau und mein Verwalter tapfer durchgeschlagen haben, ist's doch Zeit, daß ich nach Hause komme. Es ist keine Kleinigkeit um eine Wirthschaft, der des Herrn Auge fehlt! Ich habe hier keine Ruhe mehr.

Da geht's Dir wie mir, mein Freund, rief der Major; seit ich aus dem Lazareth bin, läßt's auch mich hier nicht mehr rasten. Die Ruhe macht mich unruhig, und da der Friede jetzt eine ausgemachte Sache ist, bin ich gestern um meinen Abschied eingekommen.

Um Ihren Abschied? fragten der Oberst und der Lieutenant wie aus Einem Munde. Das ist nicht Ihr Ernst.

Haben Sie denn vergessen, meine Freunde, daß ich Kaufmann bin, daß mein greiser Freund und Compagnon jetzt seit mehr als vier Jahren alle Sorgen des Geschäftes allein getragen hat und daß es eine Ehrensache für mich ist, ihm so bald als möglich die schwere Last von seinen Schultern zu nehmen?

Aber nach den Erfolgen, die Sie gehabt haben, lieber Tremann, nach dem militärischen Range, den Sie einnehmen, nach den Auszeichnungen, die Sie erworben haben – er wies auf [155] die Orden, welche Paul auf seiner Brust trug – und vor Allem nach der Tapferkeit und dem militärischen Talente, welche Sie bewiesen, sind Sie für Ihren jetzigen Stand wie geschaffen! meinte der Oberst. Ich fürchte, das ruhige Leben des Geschäftsmannes wird Ihnen jetzt nicht mehr wie sonst behagen, ganz abgesehen davon, daß sich Ihnen in dem Heere doch eine andere, eine vortheilhaftere und schönere Laufbahn dargeboten hat.

Paul lächelte. Kennen Sie mich so wenig, lieber Werben? sagte er. Ich bin zu sehr auf Thätigkeit gestellt, um jemals im Frieden einen guten Soldaten abzugeben, und viel zu sehr an Unabhängigkeit gewöhnt, um ohne zwingende Nothwendigkeit auf dieselbe zu verzichten. Im Kriege war das etwas Anderes. Da verlangte jeder Tag den ganzen Menschen, da brachte jeder Tag neue Aufregungen, forderte rasche, selbstständige Entscheidung; man gelangte immer und immer wieder, wie der Kaufmann das gewohnt wird, zu dem Bewußtwerden aller seiner Kräfte und seines Einflusses auf Andere; man genoß in jedem Augenblicke die Genugthuung irgend eines Erfolges, wie wir deren in unseren wohlberechneten und darum wohlgelingenden Geschäften haben. Jetzt, seit den drei Wochen, seit denen man mich aus dem Hospitale entlassen hat, werde ich meiner nicht mehr froh. Ja, ich war in der That im Lazarethe, fügte er scherzend hinzu, für mein Gefühl weit besser daran, als jetzt, da ich wieder zu den Geheilten und Gesunden zähle; denn das Kranksein, das Schmerzertragenmüssen war doch immer noch eine Art von Arbeit, eine Art von Leistung. Und was die vortheilhafte Laufbahn anbetrifft, so wüßte ich keinen Rang und keine Stellung in der Welt, die mich wünschenswerther dünkte, als die eines völlig freien, unabhängigen Mannes.

Es entstand eine kleine Pause. Der schlanke Lieutenant, der seit seinem Ausmarsche aus der Heimath noch ein tüchtig Stück gewachsen war und dem das Leben in den großen Städten [156] eben so wohl gefiel, als er sich selber in der Uniform, sah verlegen vor sich hin. Er hatte von seinem Vater in den letzten Tagen sehr ähnliche Einwendungen hören müssen, als er seinen Wunsch geäußert hatte, ganz im Kriegsdienste zu bleiben, während es Adam Steinert nicht zu Sinne wollte, daß sein Aeltester ein anderes Gewerbe treiben sollte, als den Landbau, bei dem die Familie hergekommen und gediehen war seit lieber, langer Zeit. Auch der Oberst von Werben fand kein besonderes Behagen an seines Freundes Aeußerungen. Er hatte allerdings nach dem ersten unglücklichen Kriege durch eine Reihe von Jahren das bürgerliche Kleid getragen und zu der Zeit, in welcher der Kampf gegen Napoleon sich vorbereitete, es oft genug ausgesprochen, wie die Kraft eines Volkes nicht in einem stehenden Heere, sondern in dem Selbstgefühle und in dem Freiheitsbedürfnisse jedes Einzelnen im Volke beruhe; aber er war ein geborener Edelmann, sein Vater und seine Voreltern hatten den Königen gedient, auch er war mit sechszehn Jahren in das Heer getreten, und die erfochtenen Siege, wie groß die Mitwirkung der Landwehr an ihnen auch gewesen war, hatten dem Berufssoldaten doch einen neuen Einfluß und eine neue Macht gesichert. Der Oberst konnte sich also in das Selbstgefühl seines Freundes nicht mehr so völlig finden, als in den Tagen, in denen er, ein aus dem Dienste entlassener Offizier, in dem zerschlagenen Vaterlande vergebens nach Rettung für dasselbe ausgespäht hatte.

Ueber eines Menschen Neigung und Beruf ist nicht mit ihm zu streiten! sagte er, und man konnte ihm die Empfindlichkeit anhören, mit der er Paul den Stand des Kaufmanns gegen den seinigen erheben hörte. Ich bin auch weit entfernt, die Macht des Geldes zu unterschätzen; nur glaube ich, daß es noch ein Höheres gibt, als den Besitz, und Sie selbst, lieber Tremann, waren dieser Ansicht ebenfalls, als Sie Hab und Gut[157] im Stiche ließen, um dem Vaterlande Ihre Kraft zu weihen, um sich, wie Sie es damals nannten, Ihr Bürgerrecht in der früh verlassenen Heimath zu erwerben.

Nun, mich dünkt, das habe ich gethan! entgegnete Paul und maß den Obersten mit einem so festen, stolzen Blicke, daß Steinert und dessen Sohn, so genau sie ihn zu kennen glaubten, von seiner Haltung sich betroffen fühlten, und der Oberst, der im Grunde durchaus nicht die Absicht gehabt hatte, ihn zu verletzen, sich in seine Aufwallung nicht finden konnte.

Paul wurde auch schnell wieder Herr über sich, und einlenkend sprach er: Wohl uns, daß jeder von uns mit seinem eigentlichen Berufe so wohl zufrieden ist und groß von ihm denkt. Die Gesammtheit kann es besser nicht verlangen. Indeß, damit Sie über mich in keinem Zweifel bleiben können, gestehe ich Ihnen, daß ich den Besitz als Mittel zum Zwecke, als bewegende Kraft, als Grundlage aller Civilisation und Freiheit über Alles schätze und daß es mir für Jeden, dessen Anwesenheit im Heere jetzt nicht mehr eine Nothwendigkeit ist, geboten scheint, nach Hause zu gehen und, so viel an ihm ist, an der Wiederbelebung unseres Wohlstandes zu arbeiten. Der Boden lechzt nach den Armen und Händen, die ihn pflügen und bauen, und das Capital, so weit es vorhanden ist, nach den Kräften, die es in Bewegung setzen, um es zu vermehren; denn reicher geworden sind in diesen letzten Zeiten gewiß nur Wenige von uns. Aber wo Handel und Gewerbe so lange gestört worden sind, ist dafür in den nächsten Jahren ohne Frage auch eine erfolgreiche Thätigkeit für denjenigen zu finden, der es begreift, wo sie zu suchen ist.

Er erhob sich bei den Worten; auch die Anderen standen auf, denn es traten Bekannte hinzu, welche die Unterhaltung unterbrachen, und man trennte sich bald danach.

Paul und der Hauptmann schlugen den Weg nach dem [158] jenseitigen Seineufer ein, um noch einen ruhigen Abendspaziergang zu machen; die Anderen gingen in größerer Gesellschaft nach dem Palais Royal, in welchem sich in jener Zeit gegen den Abend hin vor den Kaffeehäusern und in den Speisehäusern die Fremden zusammenfanden.

Du hast vorhin eine Aeußerung gethan, sagte Steinert, nachdem er schweigend eine Strecke neben Tremann einhergegangen war, mit dem die Waffenbrüderschaft und die gemeinsam getheilten Gefahren ihn eng verbunden hatten, die mich beunruhigt. Ich fürchte, Ihr gehört zu denen, welche durch die Kriegsjahre Verluste erlitten haben.

Paul stellte das nicht in Abrede. Er gestand dem Freunde vielmehr, daß der Fall großer russischer Häuser, mit denen er und sein Compagnon gemeinsam gearbeitet und für die sie demgemäß Verpflichtungen übernommen hätten, sie stark angegriffen habe. Es blieb uns in dem Augenblicke, da der Krieg ausbrach, eben nur die Wahl, uns selbst gleichfalls für zahlungsunfähig zu erklären, sagte er, oder mit Hintansetzung jeder anderen Rücksicht unsern Gläubigern gerecht zu werden. Das Letztere ist geschehen. Unser Vermögen ist dabei aber in dem Grade zusammengeschmolzen, in welchem unser Credit gewachsen ist.

Er sprach das mit großer Gelassenheit, obschon seine freie Stirn sich etwas verdüsterte. Der Hauptmann wollte wissen, wann Tremann die Nachricht erhalten und warum er nie davon gesprochen habe.

Ich erhielt die Nachricht am Tage vor der Schlacht an der Katzbach, entgegnete Paul, und den Arm in seines Freundes Arm legend, sagte er: Wir standen einander damals noch nicht so nahe, daß ich Dir es hätte sagen mögen, und ich bin es auch gewohnt, dergleichen mit mir selber abzumachen. Ich versichere Dich aber, ich habe oft mitten im Gewühle des Kampfes, mitten in den blutigen Gefechten mit Sorge, ja, mit [159] Angst an die Möglichkeit meines Todes gedacht, und es wird Dir eben so gewesen sein; denn den Tod nicht fürchten, den Tod verachten kann nur derjenige, dessen Leben für keinen anderen Menschen Werth hat.

Wem sagst Du das? rief Steinert aus, und seine Augen feuchteten sich bei der Erinnerung, wie oft seine Gedanken im Gefechte sich zu Weib und Kind gewendet hatten.

Paul ließ sich jedoch nicht unterbrechen. Das Prahlen mit der Todesverachtung ist mir immer als eine elende Lüge oder als das unwillkürliche Zugeständniß großer Unfähigkeit und großer Selbstsucht erschienen, fuhr er fort. Wir sind jetzt hier Alle in der Lage gewesen, unser Leben für die Befreiung unseres Vaterlandes in die Schanze zu schlagen; das hat mich aber nicht gehindert, es stets zu wünschen, daß das meinige aufgespart bleiben möge; denn es liegt viel auf mir und ich habe Pflichten gegen geliebte Menschen zu erfüllen. Die russischen Geschäfte sind von unserm Hause auf meinen Antrieb unternommen worden und haben große Vortheile gebracht, bis sie dann plötzlich weit mehr als die Hälfte unseres Vermögens verschlungen haben. Seba ist an Reichthum gewöhnt, Davide in demselben, ohne daß sie eigenes Vermögen hätte, aufgewachsen, und der alte Flies hat ein langes Leben damit zugebracht, seinen Besitz und seine kaufmännische Stellung zu begründen. Sie sind sammt und sonders wohlthätig und mittheilsam; sich zu beschränken, würde ihnen allen schwer fallen, und es war auch bis jetzt noch keine Veranlassung dazu. Wo Credit, Arbeitskraft und Einsicht in die Verhältnisse der Zeit vorhanden sind, braucht man nicht ängstlich zu sein: sie sind Vermögen und übertragen oder verwandeln sich mehr oder weniger schnell auch wieder in greifbaren Besitz. Unser Credit hat sich, weil wir alle diese Krisen überstanden haben, wie gesagt, erhalten; aber mit siebenzig Jahren hat man die rasche Entschlossenheit, [160] den sicheren, schnellen Ueberblick nicht mehr, deren der Kaufmann nicht entrathen kann, und ein Kaufmann im großen Style war mein alter Wohlthäter niemals. – Er machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu: Du siehst also, daß ich nach Hause gehen muß, und es scheint mir nicht, als ob man uns Freiwilligen dabei große Schwierigkeiten in den Weg zu legen denke.

Steinert wollte wissen, auf welche Weise Jener um seinen Abschied eingekommen sei. Paul sagte, er habe vorläufig nur einen Urlaub auf drei Monate begehrt; nach Verlauf derselben werde man voraussichtlich so weit mit den Friedensverhandlungen vorgeschritten sein, daß man die Landwehr in die Heimath entlassen werde, und dann gehöre ohnehin Jeder wieder sich und seinem bürgerlichen Berufe. Steinert sah das als richtig ein und beschloß, das gleiche Verfahren für sich einzuschlagen; nur wegen seines Sohnes konnte er zu keinem Entschlusse kommen. Aber auch hier gab Paul den Ausschlag. Er rieth, den Jüngling vorläufig noch im Heere zu lassen, namentlich wenn das Regiment, wie es den Anschein hatte, in Paris verbleiben sollte. Dein Sohn, sagte er, wird hier des Französischen vollständig mächtig, lernt die Welt, die Menschen kennen und sieht und hört, was ihm später auf Eurem Dorfe nie geboten werden kann. Laß ihn bis zum völligen Frieden im Regimente und dann übergieb ihn mir.

Meinst Du, daß er Kaufmann werden soll? fragte Steinert mit einer gewissen Aengstlichkeit.

Paul lachte trotz des Ernstes ihrer Unterhaltung hell auf. Und Du willst Dich über die Vorurtheile des Adels beklagen, rief er, während Dir selbst der Kastengeist so tief im Blute steckt, daß der bloße Gedanke, ein Adam Steinert könne etwas Anderes werden, als ein Landwirth, oder etwas Anderes thun, als in Eurer Provinz den Boden bauen, Dich schon unheimlich berührt? Ihr kommt noch dahin, Euch Adam Steinert der [161] Vierundvierzigste zu nennen, wie unsere kleinen Fürsten, wenn Ihr so fortfahrt, wie bisher. Aber sei unbesorgt, er soll den Acker bauen, wie Du selbst, nur vorläufig nicht den Eurigen.

Steinert antwortete nicht gleich; denn kein älterer Mann erträgt es willig, sich von der besseren Einsicht eines jüngeren zurecht gewiesen zu sehen. Indeß Paul besaß die auf Erfahrung und auf verständiges Selbstvertrauen gegründete Kraft, die Menschen leicht von dem Richtigen zu überzeugen und, weil er immer Herr über sich selber war, auch ohne daß er es suchte und wollte, Herrschaft über Andere zu gewinnen. So währte es denn nicht lange, bis Steinert, den kleinen Unmuth überwindend, die Frage aufwarf: Und was willst Du mit ihm machen?

Ihn nach Amerika hinüberwerfen.

Zu welchem Zwecke?

Damit er vor allen Dingen das Gehorchen verlernt!

Steinert verstand nicht, was Tremann damit sagen wolle; dieser war also genöthigt, sich deutlicher zu erklären.

Es ist mir an Deinem Sohne aufgefallen, sagte er, daß er bei unverkennbar guten Anlagen unselbständig ist, und das ist nicht seine, sondern seines Lebensweges Schuld. Du bist ihm ein wackerer Vater gewesen, hast ihn streng zum Gehorsam erzogen, und das erste Kindesalter hat das nöthig, denn in ihm muß der vernünftige fremde Wille die eigene mangelnde Vernunft ersetzen. Aber Eure Schulen, wie sie jetzt sind, fordern ebenfalls unbedingten Gehorsam von dem Knaben; Alles ist vorausbestimmte Regel, Alles vorausgesehen, der ganze Weg von der Kindheit bis zum reiferen Jünglingsalter für Alle derselbe, für Alle unwandelbar festgestellt; das schadet der freien Entwicklung der Persönlichkeit. Nun ist er aus der Vormundschaft des Vaterhauses und der Schule noch in das Heer getreten, wo abermals fremder Wille seine Schritte vorgezeichnet [162] hat und Gehorsam seine erste Pflicht gewesen ist. Er kennt also noch gar nichts Besseres, als pünktliches Unterordnen unter einen fremden Willen, und eben darum fühlt er auch die Neigung, in einer lebenslänglichen Unfreiheit und Dienstbarkeit zu bleiben, wo diese, wie im Heere, mit einem gewissen äußern Glanze und in die Augen fallenden Auszeichnungen verbunden sind. Gönne ihm denn die Zeit, einmal gelegentlich den Druck der Abhängigkeit zu empfinden, gönne seiner Jugend auch den Triumph, mit unsern Truppen den feierlichen Siegeseinzug in die Heimath zu theilen, und dann wollen wir weiter von der Sache sprechen und sehen, ob wir ihm die Lust am Dienen nicht abgewöhnen können.

Wir Steinert's haben so lange gedient, meinte der Vater, daß ..

Daß es endlich Zeit war, sich frei zu machen, fiel ihm der Andere in die Rede, weil er befürchtete, daß Adam's Empfindlichkeit noch nicht völlig überwunden sei, und daß Dein Sohn sehr unrecht thun würde, freiwillig auf die Vortheile zu verzichten, die Deine rüstige Entschlossenheit ihm bereitet hat. Er weiß, daß ich im Vereine mit dem englisch-amerikanischen Hause, in dem ich früher gearbeitet habe, Landankäufe in Amerika gemacht habe und noch zu machen denke, die verwerthet werden sollen. Dabei können wir junge Leute, die, wie Dein Sohn, in der Landwirthschaft aufgewachsen und bei ihr hergekommen sind, verwenden, und er kann, indem er unseren Absichten dient, sich die Grundlagen eines selbständigen Vermögens erschaffen, mit dem er sich dann später in der neuen oder in der alten Welt auf die eigenen Füße stellen mag, auf denen jeder Mann denn doch am besten steht. Diese Aussicht will ich ihm eröffnen, ehe ich gehe, vorausgesetzt, daß sie Deinen Ansichten nicht widerspricht, und ich müßte mich in dem braven Burschen irren, wenn nicht endlich in ihm das Verlangen nach Selbständigkeit den Sieg über die Freude an den blanken Epaulettes davontragen sollte.

[163] Steinert drückte dem Freunde die Hand. Du bist sehr gut, sagte er, denn selbst mit Sorgen beladen, sorgst Du Dich um Andere, und während Du eigene, schwere Vermögensverluste zu ersetzen hast, denkst Du daran, das Vermögen Dritter zu begründen. Wie soll ich Dir das danken?

Danken? wiederholte Paul; davon kann ja in dieser einfachen Angelegenheit gar nicht die Rede sein. Sieh', fuhr er dann, nachdem sie eine Weile schweigend neben einander hergegangen waren, in seiner Rede fort, sieh', das dünkt mich so schön am Leben, daß für denjenigen, der geneigt ist, die Verhältnisse einfach zu nehmen, sich Alles einfach macht oder doch mit leichter Mühe zurechtlegen läßt, wenn der Mensch nur erst begriffen hat, daß sein Vortheil und der Vortheil aller Anderen gleichbedeutend sind. Zu dieser Einsicht gelangt aber Niemand so leicht und so sicher, als der Kaufmann, der durch tägliche Erfahrung darüber belehrt wird, wie sein Wohlstand auf den Wohlstand Anderer begründet ist, und wie er den seinen nicht vermehren kann, wenn er das allgemeine Capital des auf der Erde vorhandenen Besitzes nicht vergrößern hilft. Es ist für mich schon lange eine Ueberzeugungssache, daß klug und gut in gewissem Sinne gleichbedeutend sind, und daß man immer das Gute thut, wenn man das von den praktischen Verhältnissen Gebotene befördert. Im großen Sinne ein Kaufmann zu sein, ohne seinen sittlichen Werth dadurch zu erheben, scheint mir fast unmöglich.

Man sollte an die Richtigkeit dieses Satzes glauben, meinte der Andere, wenn man Dich vor Augen hat, und doch, daß ich Dir es ehrlich gestehe, haben der Glückswechsel und die Unsicherheit der Zustände, wie sie sich im Handel kundgeben und wie Du sie an Dir selber jetzt erfahren müssen, etwas, das mich gegen den Handel einnimmt und mich, wie ich einmal geartet bin, unfähig gemacht haben würde, ihn zu betreiben. [164] Von einem Tage zum andern neue Plane zu schmieden, beständig über Erfolg und Mißlingen im Ungewissen, fortwährend mit seinem Sinne auf die Verhältnisse der ganzen Welt gerichtet zu sein, wäre meine Sache nicht. Ich muß den festen Grund und Boden unter meinen Füßen fühlen, ich will es nur mit ihm und mit den natürlichen Ereignissen, die Gott uns schickt, zu thun haben, will der Erde abgewinnen, was sie mir zu bieten hat, und mit langsamer Beharrlichkeit die Hindernisse überwinden, die sich mir entgegenstellen, die Wunden heilen, die mir, wie Dir und Andern, durch diesen Krieg geschlagen worden sind. Zum Kaufmanne muß man geboren sein; in unserem Blute liegt es nicht!

Als ob es in dem Blute läge, aus dem ich stamme, als ob ich von dem Freiherrn von Arten oder von meiner armen Mutter die Einsicht und die Ueberzeugungen vererbt erhalten hätte, aus denen ich lebe! hätte Paul entgegnen mögen. Aber er hielt den Ausruf vorsichtig zurück. Er wußte, daß er hier an der Grenze stehe, über welche hinaus der Andere ihm nicht zu folgen vermochte, weil er, aufgewachsen in den Ueberlieferungen eines alten Familiengeistes und nicht vollständig gebildet, nicht fähig war, aus dem Kreise herauszutreten, in dem er sich rüstig zu bewegen gewohnt war, und eben so unfähig, sich über sich selber zu erheben und, von sich absehend, sich in der Allgemeinheit wiederzuerkennen.

Sie hatten während dessen Paul's Quartier erreicht, und Adam verließ den Freund, weil dieser, wie er es nannte, noch seine Post zu besorgen, das heißt die Briefe zu schreiben hatte, mit denen er, seit er nach dem zweiten Einzuge der Alliirten in Paris wieder zu einer gewissen Ruhe gelangt war, die Verbindung zwischen sich und seinem Handelshause und seinen Geschäftsfreunden unterhielt, um auch aus der Ferne den Betrieb der von ihm eingeleiteten neuen Unternehmungen zu fördern.

[165]
2. Capitel
Zweites Capitel

Es war spät am Abende, als Paul das Siegel auf den letzten seiner Briefe drückte. Ein Courier, welchen der Feldmarschall in der Frühe des nächsten Morgens in die Heimath entsenden wollte, hatte die Beförderung dieser Briefe zugesagt, und Paul hatte eben seine Feldmütze aufgesetzt, um das Packet, der Sicherheit wegen, selbst in die Kanzlei des Feldmarschalls zu tragen, als ihm unten vor der Thüre seiner Behausung der Postbote ein Schreiben aushändigte, das durch eine Estafette für ihn aus Berlin angekommen war.

Er trat in das Haus zurück, um den Brief zu lesen. Er war von Seba geschrieben und enthielt nichts als die Worte: »Unser theurer Vater ist von einem Schlaganfalle getroffen, man gibt wenig Hoffnung für seine Erhaltung. Er äußert, so weit er sich verständlich machen kann, das Verlangen, Dich zu sehen. Ist es möglich, so kehre heim, wenn auch nur, um wieder fortzugehen. Davide und ich sind wohl.«

Paul las den Brief noch einmal durch, dann steckte er ihn ein, warf sich in den ersten Wagen, dessen er habhaft werden konnte, und befahl, ihn zu dem Commandirenden seines Regiments zu fahren. Aber weder sein General noch sein Adjutant waren in ihrer Behausung anzutreffen, und Paul wollte abreisen, gleich abreisen, und doch nicht ohne Urlaub seine Fahne verlassen. Einen Augenblick stand er unentschlossen da; dann hieß er den [166] Kutscher, ihn nach dem Schlosse hinzufahren, in welchem der König von Preußen Quartier genommen hatte.

Es war, wie er wußte, ein großer Empfang bei dem Könige angesagt, alle anwesenden Fürsten waren eingeladen, der Feldmarschall konnte dort nicht fehlen. Seine Uniform und sein Rang bahnten Paul den Weg. Er wendete sich an einen der dienstthuenden Offiziere und verlangte in dringenden Geschäften mit dem Fürsten Feldmarschall persönlich zu sprechen. Man führte ihn durch verschiedene Galerieen und Säle und hieß ihn warten.

Der ganze vordere Flügel des Schlosses schimmerte in dem Lichtglanze des Festes. Er sah durch die geöffneten Thüren in der Ferne eine große Gesellschaft sich bewegen, reiche Uniformen, prächtig geschmückte Frauen gingen hin und wieder, fröhliche Musik schlug in grellem Gegensatze zu seiner Stimmung an sein Ohr. Die Secunden, die Minuten dehnten sich ihm furchtbar aus, und doch war es nichts Unerwartetes, was er erfahren hatte, nichts, was ihn unvorbereitet fand.

Er hatte sich es oft gesagt, daß sein alter Freund dem Ziele des Daseins nahe sei, ja, er hatte bei den neuen Unternehmungen, in welche er sich eingelassen, stets darauf gerechnet, daß er allein sie durchzuführen haben werde. In mancher einsamen Stunde, an manchem Bivouakfeuer hatte die Sorge ihn beunruhigt, wie die Geschäftsführung möglich sein würde, sollte Herr Flies vom Tode fortgerafft werden, ehe der Krieg beendet und er selber seiner eigentlichen Thätigkeit zurückgegeben sein werde. Und doch war es nicht das, was ihn so ängstlich den Zeiger der Uhr verfolgen ließ. Nicht um Geld und Gut, nicht um Handel und Erwerb war es ihm zu thun in diesem Augenblicke: er wollte sein Theil haben an Seba's Schmerz, an Daviden's Kummer, er wollte sie mit ihnen gemein haben, den letzten Blick und das letzte Wort des Mannes, den auch er wie einen Vater liebte.

[167] Mitternacht war vorüber, als der Feldmarschall rasch und mit festem Schritte, gefolgt von einem Adjutanten, in den Saal trat. Er hatte beim Spiele gesessen, als man gekommen war, ihn abzurufen, und seine zusammengezogenen buschigen Brauen zeigten den Unmuth über die unwillkommene Störung. Wer sind Sie, was wollen Sie? fuhr er den Wartenden an, während er ihn mit dem scharfen Blicke seiner grauen Augen musterte.

Mein Name ist Tremann, ich bin Theilnehmer des Eurer Durchlaucht wahrscheinlich bekannten Handlungshauses Flies und habe seit dem Frühjahre achtzehnhundertdreizehn als Freiwilliger unsere Feldzüge mitgemacht.

Ich weiß, ich weiß! unterbrach ihn, sich erinnernd, der Fürst, und durch den Anblick des Eisernen Kreuzes günstiger für den Sprechenden gestimmt, fügte er hinzu: Sie haben Ihr Kreuz bei Bar sur Aube erhalten, Sie waren verwundet! Was haben Sie zu melden?

Nichts, als daß ich mir den Zutritt zu Eurer Durchlaucht mit einer Unwahrheit verschaffte, weil ich eine Vergünstigung zu fordern habe.

Herr! Reitet Sie denn der Teufel, daß Sie mich dazu um Mitternacht aus des Königs Sälen rufen lassen? fuhr der Alte auf und wollte sich mit einem neuen und noch derberen Fluche entfernen, aber Paul's Anruf hielt ihn zurück.

Ich muß Eure Durchlaucht bitten, mich zu hören, sagte er mit solcher Festigkeit, daß der Feldmarschall sich auf's Neue zu ihm wendete. Nothwendige Geschäfte in der Heimath hatten mich schon vor einigen Tagen bestimmt, um einen dreimonatlichen Urlaub nachzusuchen! Er ist mir noch nicht ertheilt worden, und ich erhalte in diesem Augenblicke die Nachricht von der tödtlichen Erkrankung meines Compagnons! Meinen Regiments-Chef habe ich nicht finden können, und ich muß fort, noch in dieser Nacht fort, denn man verlangt meine Rückkehr und ich [168] erkenne sie als dringend nöthig! Geben Sie mir den Urlaub, dessen ich bedarf!

Ist nicht meine Sache! rief der Fürst. Sehen Sie zu, wie Sie Sich selber helfen! – und abermals wollte er sich entfernen.

Das wird schnell gethan sein, entgegnete Paul, sich leicht verneigend; nur werden Eure Durchlaucht morgen den Namen des preußischen Majors, der aus Ihrer eigenen Hand sein Eisernes Kreuz als Ehrenzeichen empfangen hat, als den Namen eines Deserteurs am Schandpfahle lesen können, denn ich gehe noch vor Tagesanbruch fort!

Der Feldmarschall wendete sich zu ihm zurück. Er war der Mann, jede Art von Entschlossenheit zu schätzen. Und wenn ich Sie verhaften lasse? fragte er, indem er Paul, wie es seine Weise war, mit seiner starkknochigen Hand am Rockknopfe faßte und nahe an ihn herantrat.

So werden Durchlaucht schuld daran sein, wenn ich meinen persönlichen Verpflichtungen nicht eben so wie meinen Pflichten gegen den König und das Vaterland genügen kann! entgegnete er, und ohne dem Feldmarschall Zeit zu einer Antwort zu lassen, fügte er hinzu: Der Lieutenant von der Marwell geht in drei Stunden als Eurer Durchlaucht Courier von hier ab! Geben Sie mir den Urlaub, den ich brauche, und dem Lieutenant die Weisung, mich mit sich zu nehmen. Ich bin des Courier-Reisens aus früheren Zeiten wohl gewohnt!

Der Feldmarschall schien in seinen Erinnerungen nachzuspähen. Tremann, Tremann? wiederholte er, ich habe den Namen schon vorher gehört! Sind Sie der Tremann, durch dessen Hände vor dem Kriege ein Theil unserer Briefe nach Rußland gegangen ist?

Derselbe, Eure Durchlaucht.

Da muß man ihm das Desertiren doch unmöglich machen, [169] sagte der Fürst, sich lächelnd zu seinem Adjutanten wendend, denn der wäre capabel und beginge solchen Streich! Ist ein Stück Papier zur Hand?

Der Adjutant zog seine Brieftasche hervor und riß ein Blatt aus derselben. Der Fürst setzte in die unterste Ecke desselben mit Bleistift seinen Namen und reichte es dem Adjutanten. Schreiben Sie ihm darüber, was er haben will, und der Marwell soll ihn mir vom Halse schaffen, damit er mir nicht wieder die Partie verdirbt!

Er ging mit freundlichem Gruße an Paul vorüber. Drei Stunden später hatte dieser das glänzende Paris verlassen und fuhr an der Seite des preußischen Couriers durch die warme Sommernacht der deutschen Grenze zu.

Er hatte Berlin nicht wiedergesehen, seit er heimlich mit Herrn von Werben aus der Stadt geflohen war. Der Truppentheil, welchem er angehörte, hatte im ersten Feldzuge die Hauptstadt nicht berührt und war achtzehnhundertvierzehn noch am Rheine gewesen, als man die Landwehren auf das Neue zu den Fahnen gerufen hatte, weil Napoleon von Elba zurückgekehrt war und noch einmal die Brandfackel des Krieges über dem kaum beruhigten Welttheile angezündet hatte.

Je näher Paul der Heimath kam, um so banger bewegten Furcht und Hoffnung ihm das Herz. Werde ich ihn noch finden? fragte er sich immer wieder, wenn seine Gedanken eine Weile eine andere Richtung genommen hatten, und es kamen Augenblicke, in denen er dem Schicksal grollte, daß es ihn so, eben so, zu den Seinigen wiederkehren lasse. Er war noch jung genug, um ungern und schwer von seinen Hoffnungen zu scheiden, und er hatte an den Tag, an welchem er inmitten der Landwehr, an der Spitze des Zuges, den er in mancher Schlacht geführt, in die Hauptstadt einziehen würde, oft mit freudigem Vorgefühle gedacht. Dann hatte er sich beschieden, darauf Verzicht [170] zu leisten; aber daß er in solcher Sorge, unter der Pein einer solchen Ungewißheit aus dem Felde wiederkehren solle, dünkte ihn doch hart.

Es war früh am Morgen, als der Feldjäger den leichten Reisewagen vor der Thüre des Flies'schen Hauses halten ließ. Das Schlafzimmer des Hausherrn lag nach der Straße hinaus – die Vorhänge waren heruntergelassen, die Fenster offen. Was bedeutete das? War Alles vorüber, oder war der Kranke so weit genesen, daß man ihm wieder die Wohlthat der sommerlichen Luft und Wärme zukommen lassen durfte, während man ihn vor dem grellen Lichte noch zu hüten hatte? – Das Herz klopfte ihm, als stände er wieder vor dem Feinde, und er stand ja auch vor ihm, vor dem Feinde alles Lebens, vor dem Tode!

Mit raschem Griffe nahm er das wenige Gepäck, welches er mit sich führte, von dem Wagen herunter und eilte in das Haus. Die schwarze Kleidung des Dieners sagte ihm Alles. Er fragte nach den Frauen. Man wies ihn nach dem Gartensaale.

Seba und Davide saßen bei dem Frühstücke. Als Paul in die Thüre trat, fuhren sie beide erschreckend auf. Man hatte ihn so früh nicht zurückerwarten können. Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit sie einander nicht gesehen hatten. Mitten in der Lust eines Festes war er von ihnen gegangen, nun fand er sie im Hause des Todes in tiefer Trauerkleidung wieder.

Ich komme zu spät! – das war alles, was er sagte. Seba gab ihm nur mit leiser Neigung des Hauptes Antwort. Ihr fehlte die Kraft zum ruhigen Worte, und sie wollte ihren Schmerz durch lauten Aufschrei nicht entweihen. Er nahm sie an sein Herz, er küßte ihre Stirn, ihren Mund, er ließ sie weinen, und sie weinte so sanft, so still, als wisse sie sich nun sicher und geborgen vor allem Unheil. Als sie sich, seine beiden Hände zuversichtlich drückend, emporrichtete, trat er an Davide heran, und jetzt erst, da er aus Daviden's hellen Augen die Thränen [171] auf die Wangen niederrollen sah, fingen auch die seinigen zu fließen an.

Liebe Davide! rief er leise, aber es bebte eine unaussprechliche Bewegung durch sein Herz und ein beseligendes Feuer durchströmte sein ganzes Wesen. Er hatte ihre Hände ergriffen und blieb schweigend, in ihren Anblick versunken, vor ihr stehen. Wie oft, wie oft hatte er an sie gedacht, wie oft hatte er sie vor sich gesehen wie an dem Abende, an dem er sich auf dem Balle von ihr getrennt hatte! Nun war er wieder da, und sie stand vor ihm – dieselbe wie sonst, und doch so anders und so viel schöner, als er sie je gedacht!

Liebe Davide! wiederholte er noch einmal, und sie lehnte sich freiwillig an seine Brust, und er fühlte, wie ihre Lippen leise das Eiserne Kreuz berührten, das er auf derselben trug. Mit einer Glücksempfindung, deren er das Menschenherz nicht für fähig gehalten hatte, schaute er in ihr Antlitz, in die Augen, die sich voll sehnsüchtiger Liebe zu ihm erhoben; aber war es die Achtung vor dem Schmerze Seba's, war es ein Zartgefühl, welches ihn hinderte, sich in dem Hause der Trauer einer Freude hinzugeben, oder war es das Bewußtsein, daß dieses schöne Wesen aufhören werde, für sich selber zu bestehen, sobald er es sich angeeignet habe, er vermochte nicht, es in seine Arme zu schließen. Er war befriedigt durch Daviden's bloßen Anblick, beruhigt durch ihre lang entbehrte Nähe und voll großer Freude durch die feste Ueberzeugung, daß zwischen ihr und ihm gar nichts zu sagen sei, daß lautere Klarheit zwischen ihnen herrsche und Einer sich der Liebe des Andern, obschon nie ein Wort davon gesprochen worden, so völlig sicher fühle, wie der unzerstörbaren Gemeinsamkeit ihrer ganzen Zukunft. Er drückte und küßte ihre Hand, dann gehörte er wieder Seba an, und Davide verstand ihn ohne Worte.

Es verging eine geraume Zeit, ehe sie zum rechten Sprechen [172] kommen konnten. Sie mußten sich erst darein finden, daß sie nicht mehr zu Vieren, daß sie nur ihrer Drei in diesem Saale, an diesem Tische bei einander waren. Die verheerendsten Kriege, der Tod von Millionen Menschen, der Sturz der Mächtigen und der Sieg der Gebeugten hatten nichts geändert in diesem stillen Raume. Die chinesischen Blumen auf der Tapete hatten ihre Farben voll bewahrt, die fremdartigen, gemalten Vögel guckten mit ihren starren Augen noch gerade so wie vor dem Kriege von der Decke des Gartensaales herab. Das silberne Theegeräth, die Tassen von sächsischem Porzellan, sie waren für Paul wie für Davide mit ihren schönen Frucht- und Blumen-Zierrathen in ihrer Kindheit Gegenstände der höchsten Bewunderung gewesen, standen wie seit Jahren und Jahren auf der weißen Damastdecke, und doch war das alles nicht mehr dasselbe. Denn des Vaters große Tasse nahm nicht mehr die alte Stelle in der Mitte der Geräthschaften ein, man hatte sie fortgetragen, wohl verwahrt, weil der Vater sie nicht mehr brauchte, weil der Vater nicht mehr da war, weil zwei gute Augen sich geschlossen hatten für immerdar.

Kommt, rief Seba endlich, sich zum Frühstückstische wendend, kommt, Paul hat es nöthig, etwas zu genießen! – Aber es fehlte das Gedeck für ihn. Gib ihm des Vaters Tasse! sagte Seba.

Davide holte sie aus dem Eckschranke herbei. Dem Hausherrn! stand darauf.

Dem Hausherrn! sagte Seba kaum hörbar, während sie mit bebender Hand die Tasse vor dem Heimgekehrten niedersetzte, und allen Dreien stürzten bei dem Anblicke dieses unscheinbaren Geräthes die Thränen aus den Augen, und in allen Dreien stieg sie noch einmal empor, die uralte Klage, daß des Menschen Dasein dahinfährt wie ein Traum und ein Schlaf, daß des Menschen Leben vergänglicher ist, als die vergänglichen Dinge [173] und die zerbrechlichen Geräthschaften, die er geschaffen und deren er sich bediente.

Es kam Paul vor, als sei erst jetzt sein alter Freund gestorben, da man für ihn die Tasse reichte, aus welcher, so lange Jener gelebt, nie ein Anderer getrunken hatte. Er fühlte es in diesem kleinen Zeichen sinnlicher, deutlicher, als in all den Tagen, daß er jetzt das Haupt der Familie sei, in welcher er Schutz und Liebe gefunden, seit er denken konnte, und mit einem schmerzlichen, aber ihn doch erhebenden Gefühle schloß er die beiden Frauen noch einmal an sein Herz.

Er war kein Heimathloser mehr, er stand nicht mehr einsam in der Welt. Sein Leben ward ihm noch wichtiger, er ward sich selbst mehr werth, weil er sich für das Glück der Menschen, die ihm die Theuersten waren, als nothwendig fühlte.

Die drei Jahre waren an Seba nicht spurlos vorübergegangen. Sie hatte sich viel gesorgt, viel durchgemacht, denn es hatte der Arbeit und der Anstrengungen für sie, wie für alle die Frauen der Hauptstadt und des Landes, mehr als genug gegeben, welche die Pflege der verwundeten und kranken Krieger in den überfüllten Hospitälern über sich genommen hatten. Die Fältchen an den Augenwinkeln, die leisen Furchen auf ihrer schönen Stirn hatte Paul früher nicht an ihr bemerkt, und wie das Sonnenlicht nun von der Seite über ihren Scheitel fiel, sah er, daß hier und da ein silberweißer Faden auf ihrem schwarzen Haar erglänzte. Er konnte sich des Erschreckens nicht erwehren. Wie lange war es denn her, daß er Seba an jenem Ball-Abende, an dem des Grafen Gerhard Worte ihn zuerst wieder an seine Mutter und an seine Abstammung gemahnt hatten, in aller Schönheit ihrer Jugend vor sich gesehen hatte? Und nun ergraute schon ihr Haar, nun kam die Reihe bald an sie!

Es that ihm in der Seele weh, denn wo der Tod in einen [174] eng verbundenen Menschenkreis getreten ist, wird man so ängstlich. Jeder möchte in dem Antlitze des Andern lesen können, auf wie lange er ihm noch gegönnt ist, man möchte zusammenrücken, um sich selber die entstandene Lücke zu verbergen, man möchte sich fester, man möchte sich für immer an einander schließen, und man kann sich es bei allem besten Willen nicht vergessen machen, daß kein menschliches Verhältniß unzerstörbar, daß Alles dem Vergehen unterworfen, Alles nur im Augenblicke unser ist, und daß unser sicherer Besitz einzig in der Benutzung dieses Augenblickes und in dem Gedanken der durchlebten Vergangenheit beruht.

Dieses Augenblickes wollte man genießen, man wollte sich gemeinsam der gehabten Ereignisse erinnern. Hatte man doch so tausendfältig oft gewünscht: O, daß er hier wäre! daß ich sie jetzt bei mir hätte! Und wie man nun beisammen saß, hatte man sich nichts zu sagen, weil Jeder nur das Nothwendige und Rechte gethan zu haben meinte, und das Nothwendige und Rechte sich einfach und unauffällig in das allgemeine Thun einfügt.

Paul hatte die Feldzüge mitgemacht, aber das hatten Hunderttausende gethan; er hatte sich tapfer und muthig erwiesen, Andere waren darin nicht hinter ihm zurückgeblieben. Seba hatte mit Selbstverläugnung pflegend und helfend in den Hospitälern gearbeitet, das war nur natürlich gewesen. Ihr Vater war gestorben, ihr Vermögen theilweise verloren gegangen: indeß es weinten unzählige Familien in wahrer Noth um ihre Väter und Versorger, und die kleinen Begegnungen, die wechselnden Ereignisse, deren man sich zu erinnern hatte, kamen in diesen ernsten Stunden des Wiedersehens neben den großen Erschütterungen und Erfahrungen, welche man durchgemacht hatte und in sich nachzittern fühlte, einem Jeden zu geringfügig vor, um ihrer zu gedenken und ihrer zu erwähnen.

Man war stiller als jemals bei einander, bis Paul sich [175] erhob, um sich, wie er sagte, umkleiden und im Comptoir seine Ankunft melden zu gehen.

Es war ein eigenes Gefühl, mit dem er aus dem Gartensaale in die Zimmer eintrat, welche er neben demselben früher bewohnt hatte. Alles lag und stand, wie er es verlassen hatte. Damals freilich war es winterliche Nacht gewesen und das Vaterland hatte unter der Knechtschaft fremder Tyrannei geseufzt, und jetzt leuchtete die helle Sommersonne durch die im Lufthauche spielenden Blätter und Deutschland war frei und sich selber wiedergegeben worden. Aber so warm Paul's Herz auch schlug, wenn er Daviden's und der Zukunft an ihrer Seite dachte, kam er sich doch plötzlich viel älter geworden vor.

Er hatte den Krieg immer als ein Unglück, als ein furchtbares, wenn auch in diesem Falle unvermeidliches Uebel betrachtet und den Frieden oft sehnlich herbeigewünscht, der ihn seinem Berufe und seinem Geschäfte wiedergeben sollte. Jetzt aber war es ihm unheimlich in den stillen, nach dem Hofe hin gelegenen Räumen des Comptoirs, es erschreckte ihn, als er den Geschäftsführer mit seiner unerschütterlichen Gleichmüthigkeit genau auf demselben Platze und in derselben gebückten Stellung wie vor drei Jahren, die eingegangenen Briefe durchsehend, vor sich erblickte, als er den alten Kassirer gerade so, wie er es vor drei Jahren und vor jenen zwanzig Jahren gethan, die Geldrollen über den Zahltisch werfend und die Banknoten musternd wiederfand.

Ein Chronometer, den Seba ihm bald nach seiner Rückkunft aus Amerika geschenkt hatte, stand auf seinem Tische. Er war, wie der Datumzeiger es auswies, wenig Tage, nachdem Paul Berlin verlassen hatte, abgelaufen. Damals war er achtundzwanzig Jahre alt gewesen, jetzt stand er im einunddreißigsten.

Er trat an den Spiegel und betrachtete sich. Das war sonst nicht seine Sache, obschon er wußte, daß er ein schöner Mann sei. Die Uniform dünkte ihm etwas sehr Bequemes zu [176] sein. Er fand sie einfach, zweckmäßig und kleidsam. Sie gefiel ihm heute sehr, und er gefiel sich auch in ihr.

Der treue, ehrliche Rock! sagte er zu sich selber, während er das Eiserne Kreuz von demselben losmachte, um es zu verschließen, und den Rock ablegte, um ihn nicht wieder anzuziehen. Noch vor wenig Tagen hatte er gegen Werben die Freiheit seines kaufmännischen Standes, im Gegensatze zu der Abhängigkeit des militärischen Dienstes, hoch erhoben und Steinert es zugesagt, daß er dessen Sohn in die Bahn des bürgerlichen Lebens zurückführen werde, und jetzt überfiel ihn selber eine Angst vor der Ruhe und Stille, eine Scheu vor der Gleichmäßigkeit der täglich sich wiederholenden bürgerlichen Arbeit.

Vorhin, als Davide sich ihm an das Herz gelegt, hatte ihn die Ahnung ergriffen, wie das Weib sich selber in der Liebe verloren gehe, nun schreckte sein dem Menschen eingeborenes Verlangen, sich in seiner Eigenheit und Freiheit zu erhalten, vor der Aussicht und vor der Nothwendigkeit zurück, sich künftig nicht mehr als nur für sich selber bestehend betrachten zu dürfen, künftig leisten und thun zu müssen, was er im Grunde bisher nur freiwillig gethan hatte, künftig keine Freiheit des Wollens und des Dürfens mehr vor sich zu haben, wenn er einmal aus einem allein stehenden Manne sich zum Gatten einer Frau, zum Begründer und Beschützer einer Familie gemacht haben werde.

Als hätte ein Zauber sie heraufbeschworen, so deutlich traten urplötzlich alle die anmuthigen Begegnungen, alle die hübschen, kleinen Abenteuer und artigen Erlebnisse ihm vor die Seele, welche er als Junggeselle auf seinen vielen Reisen und während seiner Feldzüge gehabt hatte, und er konnte sich eines Seufzers nicht erwehren, wenn er dachte, daß dies nun für ihn zu Ende sein, daß für ihn zum Unrecht werden solle, was ihm bisher eine so reizende Unterhaltung gewesen war. Freilich, er liebte Davide, aber es war keine jener heftigen, unwiderstehlichen Leidenschaften, [177] die er für sie fühlte. Er hegte für sie die zuversichtliche Neigung, die sich nur durch ein langes Beisammensein und durch die Erkenntniß bildet, daß man in allen Fällen auf einander zählen könne. Jung, wie er Davide verlassen, hatte er doch schon ihre Selbstbeherrschung, ihre Festigkeit und ihre Güte bei den verschiedensten Anlässen erprobt, und die Wahrhaftigkeit ihres Herzens, die Unschuld, mit der sie ihm ihre Liebe kund gab, ohne daß er ihr jemals von der seinigen gesprochen hatte, machten sie ihm eben so theuer, als ihre Schönheit sie ihm begehrenswerth erscheinen ließ. Seit Jahren hatte er sich gesagt, daß Davide einst seine Gattin werden müsse, er hatte sich darauf gefreut wie auf den Preis am Ende des errungenen Zieles, wie auf eine letzte Lebenserfüllung. Nun er sich derselben nahe glauben durfte, bangte ihm vor der schwersten aller Aufgaben, vor dem Ausharrenmüssen; und er konnte des beklemmenden Gefühles nicht gleich Meister werden, das ein Jeglicher empfindet, wenn er nach einem viel bewegten, wechselvollen Dasein plötzlich in alte, fest begründete Lebensverhältnisse einzugehen und zurückzutreten hat.

Die Tage der Jugend und der Ungebundenheit sind nun vorüber! rief er, und es war, als ob das unwillkürlich ausgesprochene Wort ihn auch von der augenblicklichen Verwirrung befreie, die ihn befangen hielt. Denn er richtete sich in seiner schönen Kräftigkeit empor und fügte mit plötzlich erheiterter Stirn und gewandeltem Sinne hinzu: So lange hat man für sich selbst gelebt; es ist Zeit, nun für die Andern zu leben! Laß uns sehen, was man für sie werth ist und vermag!

Er hatte inzwischen seine bürgerliche Kleidung angelegt und trat an das Fenster. Heißer Sonnenschein, warmer Blumenduft strömten ihm entgegen. Er blieb einen Augenblick am Fenster stehen und sah in den Garten hinaus. In der Ferne gingen die beiden Frauen vorüber.

[178] Sie tragen den Kranz nach dem Monumente, dachte Paul, und er, der sich so eben noch vor dem Gleichmaße der Tage und vor allem, was sich mit unausgesetzter Regelmäßigkeit zu wiederholen hatte, gescheut, fühlte sich von der beharrlichen Treue gerührt, mit welcher Seba die freiwillig übernommene Liebespflicht erfüllte. Es ist eine geringfügige Handlung, sagte er sich, einmal einen Blumenstrauß auf einen Denkstein niederzulegen; aber durch ein halbes Menschenleben dem Andenken der Hingegangenen die gleiche Erinnerung zu weihen, während man den Pflichten gegen die Lebenden eben so treulich genügt, an jedem Tage den gleichen Weg zu gehen, immer dieselbe kleine Sorge zu tragen, das macht die an sich geringfügige That zu einem das Herz befriedigenden Cultus. Und es sollte nicht dasselbe mit aller unserer Arbeit sein, wenn wir sie, von ihrer Nothwendigkeit wie von ihrem Nutzen überzeugt, mit Liebe und für geliebte Menschen thun?

Er schaute den beiden schönen Gestalten mit Vergnügen nach, wie sie langsam durch die Wege gingen. Es freute ihn, daß er sie wieder sehen konnte, daß er sie heute, morgen, immer wieder sehen würde. Selbst als die Gebüsche unter den Tannen die Frauen seinem Auge entzogen hatten, verweilte er noch an dem Fenster. Die Stille, die über dem Garten ausgebreitet lag, war ihm etwas Neues geworden und erquickte ihn. Er hatte auf so vielen Schlachtfeldern gestanden und sie tönten noch unvergessen in sein Ohr: der Donner des Geschützes, der Weheruf der Verwundeten, das Röcheln all der Sterbenden, die in fremder Erde unter ungeschmückten Gräbern ruhten.

Friede, Friede! rief er und schlug die Hände unwillkürlich, wie beim Gebet in seinen Kindertagen, in einander, Friede und Beharren und Bleiben hier bei den geliebten Menschen, und leben und schaffen mit ihnen und für sie!

Freien und gehobenen Sinnes verließ er seine Zimmer, [179] um gleich an diesem Morgen, gleich in dieser Stunde seine Arbeit zu beginnen. An der Thüre des Comptoirs wendete er sich noch einmal um und blickte durch die Seitenfenster nach dem Garten hinaus. Seba und Davide saßen vor dem Gartensaale, mit Nähterei beschäftigt, bei einander. Aber Paul ging nicht zu ihnen. Er konnte es ja später thun, denn er blieb jetzt hier, und sie waren ihm zu eigen.

Was war gegen eine solche Gewißheit aller überraschende Reiz des Zufalles? Er wiegte sich in dem beglückenden Gefühle dieser Sicherheit, und ihrer wie seiner selbst gewiß, kehrte er, ein reifer Mann, aus dem Felde zu seinem bürgerlichen Berufe zurück.

[180]
3. Capitel
Drittes Capitel

Arbeit, unausgesetzte, ernste Arbeit, das war es, was es jetzt galt, aber Paul war des Arbeitens von Jugend auf zu sehr gewöhnt, um sich in der Arbeit, sobald er ihr nur wiedergegeben wurde, nicht schnell wieder einzuleben und heimisch zu fühlen.

Er fand die Verhältnisse des Handlungshauses, dessen alleiniger Inhaber er jetzt war, besser und schlechter, als er es erwartet hatte. Das Flies'sche Vermögen, obschon es durch die während der letzten Krisen gebrachten Opfer bedeutend zusammengeschmolzen war, blieb noch immer beträchtlich genug, um Seba über jede Nahrungssorge zu erheben und ihr, der Alleinstehenden, die gewohnte breite und reichliche Lebensweise zu gestatten; aber die Erfahrungen der letzten Jahre hatten den Vater ängstlich gemacht, und sein Testament setzte also fest: Erstens, daß Seba's Vermögen ganz und gar aus dem Geschäfte gezogen und in Hypotheken angelegt werden sollte; zweitens, daß es, falls Seba sich nicht etwa noch zur Eingehung einer Ehe entschließe, nach ihrem Tode an mildthätige Stiftungen übergehen solle, damit in ihnen des Vaters Name und sein Andenken erhalten bliebe, wenn sie nicht durch die Erben seines Blutes in die Zukunft übertragen und fortgepflanzt würden.

Es war gegen diese letztwilligen Verfügungen nichts zu sagen. Sie entsprachen dem vorsichtigen und vorsorglichen Charakter des Gestorbenen, und sie waren durchaus im Sinne des Judenthums, [181] das Fortpflanzung des Namens durch die Nachkommenschaft für eine der größten Segnungen erkennt. Nichts desto weniger trafen diese Bestimmungen alle Betheiligten recht schwer. Seba sah sich durch dieselben in der freien Verfügung über das Vermögen beschränkt. Sie konnte es nicht verschmerzen, daß ihr die Möglichkeit entzogen worden, Davide, die sie als ihr Kind betrachtete und liebte, einst auch zu ihrer Erbin einzusetzen, und für Paul wurde die Fortführung eines auf große eigene Hülfsquellen begründeten Geschäftes äußerst schwierig, da diese ihm eben in einer Zeit entzogen wurden, in welcher, bei der Seltenheit des Geldes, eben mit Geld, wie Paul es seinem Freunde auseinander gesetzt hatte, mehr als sonst zu machen und zu leisten war. Auch schwankte er einen Augenblick, was er beginnen sollte.

Wollte er sich das Leben erleichtern und sich bescheiden, so mußte er auf seine großen Plane für lange, ja, wahrscheinlich für immerdar verzichten; denn was jetzt noch möglich war, konnte nach wenig Monaten schon weit schwerer, nach Jahren völlig unausführbar sein. Er mußte sich damit begnügen, langsamer für sich und die Seinigen ein mehr oder weniger ausreichendes Einkommen zu schaffen und, im engeren Handelsverkehre ein nützliches Mitglied, sich nur in kleinerem Kreise bewegen; oder er mußte, was er von eigenem Vermögen noch besaß, darangeben, seine Zahlungsfähigkeit in auffälliger Weise bei der Regulirung des Flies'schen Vermögens darzuthun und, den daraus entspringenden Credit benutzend, seine ganze Kraft aufbieten, um mit den fremden Capitalien so viel zu erwerben, daß er den Darleihern ihr Darlehen wohl verzinsen, durch den Gewinn-Ueberschuß sich ein neues, eigenes Vermögen schaffen und sich wieder in die Höhe bringen konnte; und er stand nicht lange an, welchen Weg er einzuschlagen habe.

Er hatte mit seinem väterlichen Blute die Neigung zu [182] herrschen ererbt, aber auch von dem dienstbaren Sinne seines mütterlichen Geschlechtes war viel auf ihn übergegangen, und eben deßhalb fand er in dem von ihm gewählten Berufe auch jetzt wieder seine vollkommenste Befriedigung. Denn keinem anderen Stande ist es wie dem Kaufmanne gegeben, eine große Herrschaft auszuüben und weithin in die Ferne und in die Zukunft wirksam und bestimmend einzugreifen, während er sich für Andere nützlich macht. Paul hatte sich in dem großen amerikanischen Hause, in welchem er gearbeitet hatte, früh daran gewöhnt, die Bedürfnisse und Aussichten der ganzen Welt in das Auge zu fassen; die Jahre vor dem Kriege hatten ihn in Europa mit verschiedenen Männern bekannt gemacht, welche als Diplomaten die Vermittlung und Ausgleichung zwischen den verschiedenen Völkern und den verschiedenen Fürsten zu ihrer Aufgabe hatten, und sein von Natur auf das Große gerichteter Sinn hatte dadurch den Ueberblick und die Verbindungskraft gewonnen, die zu durchschauen vermochten, wie und wo der Vortheil Aller Vortheil für den Einzelnen verspricht, und wie der Einzelne es anzufangen habe, der Gesammtheit zu dienen, indem er seinen eigenen Vortheil und Nutzen wahrnimmt.

Ueberall war in Europa Geld nothwendig. Man brauchte Geld, um die aus Mangel an Bestellungen wie aus Mangel an Arbeitskräften während des Krieges in's Stocken gerathenen Fabriken wieder in Gang zu bringen; man brauchte Geld, um das Inventarium auf den zum Theil völlig ausgeraubten Gütern zu erneuern, man brauchte Geld an allen Ecken und Enden; und Geld zu schaffen, den Regierungen wie den Privatpersonen Geld zu schaffen, ihnen die Unterbringung ihrer Anleihen möglich zu machen, war eine der unerläßlichsten Nothwendigkeiten, wenn der Friede die Mittel haben sollte, herzustellen, was der Krieg vernichtet hatte. Die großen Bankhäuser, die unternehmenden Kaufleute mußten ihre Hände dazu bieten, das Geld in den [183] fernsten Gegenden flüssig zu machen und es dahin zu leiten, wo es in diesem Augenblicke am dringendsten gebraucht ward, und weil das Geld sich in dieser Weise am höchsten verwerthen ließ, wurden in anderen Gegenden mancherlei Unternehmungen unterlassen oder eingestellt, für deren Fortführung später das Geld wieder nach seinen Ausgangspunkten zurückgeleitet werden mußte. Darauf hatte Paul sein Auge gerichtet und seine Plane angelegt, und darauf hin hatte er schon seinen Freund Steinert verwiesen, als dieser ihn über die Zukunft seines Sohnes zu Rathe gezogen hatte.

Niemals hatte Paul von seinem Berufe größer gedacht, als jetzt, und niemals hatte er die schweren Sorgen und Aufregungen desselben lebhafter zu empfinden gehabt, als in dem nächsten Winter, in dem er Seba's Vermögen aus dem Geschäfte herauszuziehen und nach dem Willen ihres Vaters, der Paul mit dieser Aufgabe betraut hatte, festzustellen hatte, während er seinen Credit bis auf das Aeußerste anspannen mußte, um die Unternehmungen möglich zu machen, die er nach den verschiedensten Seiten hin in Angriff nahm. Die Tage vergingen ihm in Arbeit, die Nächte oft in Sinnen und in Sorgen. Er bemerkte es nicht, daß seine Stirne ihre Heiterkeit, daß seine Augen ihren hellen Glanz verloren, er hatte nicht Zeit, an sich zu denken und auf sich zu achten; nur Seba sah es und Davide sah es, und ihr ängstlich liebevoller Blick war der Lohn seiner Arbeit, sein Trost und seine Freude, wenn er nach des Tages Last und Plage sich am späten Abende ein Ausruhen bei den Seinen gönnte.

Als der Herbst und der Winter herangekommen waren, bewegte sich in der Hauptstadt überall, wo man nicht um Gefallene zu trauern hatte, eine glänzende Geselligkeit. Man schien sich des für Europa wiedergekehrten Friedens erfreuen, der ausgestandenen Leidensjahre in Zerstreuungen vergessen zu wollen, aber in dem Flies'schen Hause gingen die Tage ihren stillen, [184] regelmäßigen Gang. Seba, die mit ihren vierzig Jahren noch immer schön zu nennen war, weil ihre Schönheit nicht nur in dem Reize der Jugend und der Farben, sondern in dem Adel der Formen und dem durchgeisteten Ausdrucke ihres Antlitzes bestanden hatte, war um ihres Vaters willen immer nur wenig in Gesellschaften gegangen, und während des Krieges hatte auch Daviden nicht danach verlangt, da sie mit ihrer stillen Liebe und mit den Sorgen um den entfernten Geliebten beschäftigt gewesen war. Jetzt vollends trugen beide Frauen nach zerstreuendem Menschenverkehre noch weit weniger Verlangen. Es kam aber dadurch in dem häuslichen Beisammensein bald ein Friede über die drei eng verbundenen Mensachen, daß es ihnen war, als hätten sie von Anbeginn so mit einander gelebt, ja, daß selbst die gewaltigen Ereignisse, die an ihnen vorübergegangen waren und in denen sie, so viel an Jedem von ihnen gewesen, mitgewirkt hatten, davor weit in die Ferne zurücktraten. Sie erfuhren, was man nach großen Eindrücken immer an sich wahrnimmt, daß unser Verhältniß zu den Außendingen und Ereignissen, man möchte sagen, unser perspectivisches Verhältniß zu ihnen, ein wunderbar wechselndes ist. Die ersten Tage nach einem großen Erlebnisse, nach einem großen Verluste dehnen sich für uns in unbegreiflicher Weise aus; die Wochen und Monate, welche diesen ersten Tagen folgen, verschwinden uns in eben so unbegreiflicher Weise.

Erst vierzehn Tage ist es her? hatten die Zurückgebliebenen nach des Vaters Tode sich gefragt. – Schon acht Monate ist es her, seit wir in Paris einzogen? Schon vier Monate, seit der Vater todt ist und ich wieder zu Euch heimgekommen bin? rief Paul oft mit Verwunderung aus, als der Herbst mit seinen Regentagen angebrochen war und die ersten Schneestürme von dem Garten her um die Fenster des Zimmers sausten, in welchem sie die letzten Abendstunden bei einander zu sitzen pflegten.

[185] Davide hatte sich Paul bald nach seiner Rückkehr anverlobt, aber auch dieses Erlebniß war ohne besondere Scenen, ohne besondere Aufregungen an den Dreien vorübergegangen. Seba hatte, seit Paul wieder in Europa lebte, immer den heimlichen Wunsch gehegt, diese beiden ihr theuren Menschen verbunden zu sehen, und ihre Herzen hatten sich denn auch in ruhiger Liebe, in sicherstem Vertrauen zu einander gefunden. Selbst daß Davide noch Jüdin war, kam nicht störend in Betracht. Von der Abneigung, von dem angestammten oder vielmehr anerzogenen Widerwillen, welche die meisten anderen Völker gegen die Juden hegen, konnte bei Paul gar nicht die Rede sein, denn er war frei von dem Ballast angeerbter Vorurtheile. Wahre Güte und Liebe waren ihm in seiner Kindheit von Niemandem als von einer Judenfamilie zu Theil geworden. Ihr dankte er seine erste Erziehung, ihr jene Aufklärung seiner Gedanken, die bei jedem Menschen in der ersten Jugend vorgenommen werden muß, um nachhaltig wirksam zu sein. Das Haus dieser Judenfamilie hatte der Heimathlose durch sein ganzes Leben als den Hafen vor Augen gehabt, zu dem er wünschend und hoffend seine Blicke hingewendet hatte. Sein langer Aufenthalt in Amerika war dann zu einer Schule der Duldsamkeit für jede Art von religiöser Ueberzeugung für ihn geworden, und er hatte um so weniger ein religiöses Bedenken irgend einer Art in seinem Innern zu bekämpfen, da er ohne jedes kirchliche Bekenntniß aufgewachsen war. Was er vor seiner Flucht aus Europa in der Schule von der biblischen Geschichte erlernt, was er damals von den Dogmen des Christenthums und von den Erzählungen der Evangelisten gewußt hatte, war für ihn nicht weniger mythisch, wenn auch weniger lebendig gewesen, als die Erinnerungen an die alte Götterwelt der Griechen und der Römer.

Da er zur Zeit, in welcher er aus Europa entfloh, über [186] seine Jahre groß und kräftig gewesen war, hatte man ihn für älter gehalten, als er war, und Niemand hatte sich jemals die Mühe genommen, daran zu denken, ob er in irgend einer Religion unterrichtet worden sei und ob er ein kirchliches Glaubensbekenntniß abgelegt habe oder nicht. Mit der Neugier der Jugend war er, wenn man ihm in Amerika am Sonntage seine Stunden für den Kirchenbesuch frei gegeben hatte, bald in diese, bald in jene Kirche gegangen, hatte dem Gottesdienste der verschiedensten Culte zugesehen, bis er, dieses Anschauens müde, den Kirchenbesuch, zu dem er im Weißenbach'schen Hause ohnehin nicht angehalten worden war, und den er Seba niemals üben sehen, endlich ganz und gar aufgegeben hatte. Er war nicht confirmirt worden, er hatte nie das Abendmahl genossen, er hätte nicht zu sagen vermocht, welchem Bekenntnisse er angehöre, hätte sein Taufschein es nicht ausgewiesen, daß er in die christlich evangelische Kirchengemeinschaft aufgenommen sei; und mit Davide war es ziemlich derselbe Fall. Denn wie die religiösen Verhältnisse sich in unsern Zeiten ausgebildet haben, wählt der Mensch seine Religion nur in den seltensten Fällen frei und selbstständig: er wird in ihr geboren und nimmt sie als Famili en-Ueberlieferung in sein eigenes Leben mit hinüber.

Davide hatte mit dem Judenthume nicht mehr Zusammenhang, als ihr Verlobter mit dem Christenthume; aber ihre Begriffe von Recht und Unrecht, ihr Streben nach dem Guten, ihre Verehrung vor dem Großen und Erhabenen, ja, alle ihre moralischen Anschauungen und sittlichen Ueberzeugungen waren ihnen Beiden frühzeitig von derselben Hand und aus derselben lautern Quelle zugekommen, und das öftere und längere Zusammenleben in den Jahren, welche dem Kriege vorausgegangen waren, hatten dazu gedient, den Einklang zwischen Seba und ihren beiden Pflegekindern, wie sie Paul und Davide zu nennen liebte, vollständig herauszubilden. Sie waren durch und mit [187] einander unablässig in ihrer Entwicklung vorgeschritten. Die weitreichenden socialen Ansichten, welche Paul erworben, hatten Seba vielfach aufgeklärt, ihre inneren Erfahrungen waren ihm, so weit ein Mensch dem anderen mit seinen Erfahrungen nützen kann, zu Gute gekommen, und zwischen ihnen Beiden war Davide in einer Atmosphäre der Wahrheit und der Verständigkeit so unangefochten aufgewachsen, daß sie die Möglichkeit besessen hatte, sich zu dem Gleichmaß und zu der ruhigen Seelenschönheit zu entfalten, welche Seba einst an der Baronin Angelika bewundert und für sich selbst in jenen Tagen so unnachahmlich gefunden hatte.

Weil Seba noch um ihren Vater trauerte, verzichtete das junge Paar darauf, seine Verlobung den Freunden bekannt zu machen, und man benutzte diese Zeit, Davidens Uebertritt zur christlichen Kirche, ohne welchen ihre Ehe mit Paul eine Unmöglichkeit gewesen sein würde, einzuleiten. Die Zeit war aufgeklärt, denn die Freiheitskriege, in denen Männer und Jünglinge aller Bekenntnisse einmüthig in Reih und Glied gestanden hatten, um das Joch der Fremdherrschaft von dem Vaterlande abzuwerfen, hatte selbst den Beschränkten und Kurzsichtigen, wenigstens für den Augenblick, die Erkenntniß gegeben, daß man die gleiche Vaterlandsliebe hegen, die gleiche Ansicht über die Ziele der Menschen haben könne, ohne den Glauben an die kirchlichen Lehrsätze mit einander zu theilen, und es hatte also in der Stadt, in welcher ein Fichte seine Reden an das deutsche Volk und Schleiermacher seine moralphilosophischen Predigten gehalten hatte, keine Schwierigkeit, einen Geistlichen zu finden, der sich willig zeigte, der jungen, in den Grundsätzen einer reinen Moral und einer liebevollen Hingebung an das Ideale auferzogenen Jüdin die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft zu bewilligen, wenngleich sie Manches, das die protestantischevangelische Kirche zum Glaubenssatz erhoben hat, nur als geschichtlichen Mythus anzusehen vermochte.

[188] Weder Davide, noch einer der beiden ihr verbundenen Menschen hatten dabei Kämpfe in sich zu bestehen oder große äußere Hindernisse zu überwinden; denn wo die Grundanlage in der Natur eines Menschen gesund ist, wo die Verhältnisse, in denen er sich bewegt, auf Wahrheit gegründet sind, und wo sein Thun und Streben sich im richtigen Zusammenhange mit der Zeit befinden, der er angehört, da vollziehen alle Wandlungen sich sehr einfach und unmerklich, da geschehen seine eigene Entwicklung und das Wachsen seiner äußeren Glücksumstände meist so allmählich und so still wie die Entfaltung eines Keimes zu seiner Blüthe und zu seiner Frucht. Nicht das täglich Werdende, nur das Gewordene stellt in solchen gesunden und natur- und zeitgemäßen Verhältnissen sich dem beobachtenden Blicke dar, und es hat immer seine Bedenklichkeiten, wenn das Leben eines Menschen oder einer Familie viel von sich sprechen macht, oder die Aufmerksamkeit der Außenwelt durch ungewöhnliche Vorgänge auf sich zieht.

Es war nicht zum Verwundern, daß Seba sich in diesem Jahre so einsam hielt, nicht zum Verwundern, daß Paul früher als die Anderen alle aus dem Feldzuge heim kam und zu seinen Geschäften wiederkehrte. Man hatte immer erwartet, daß Davide Christin, daß sie die Gattin Tremann's werden würde. Daß dieser, an einen größeren, weiteren Handelsverkehr gewöhnt, die Geschäfte des Hauses ausdehnen und in neue Bahnen leiten würde, das hatte man mit derselben Sicherheit vorausgesehen. Wie schwer er aber arbeitete, mit welchen Sorgen er zu kämpfen hatte, darüber sich zu äußern oder gar sich zu beklagen, das war nicht seine Sache. Man sah ihn immer gleichmäßig ruhig in selbstgewisser Zusammengefaßtheit, und das gemessene Vertrauen, das er in sich selber setzte, gab auch Anderen das Zutrauen zu ihm und seinen Unternehmungen, ohne welches diese letzteren eine Unmöglichkeit geworden wären.

[189]
4. Capitel
Viertes Capitel

Paul Tremann war schon lange seinen Geschäften wiedergegeben und der Friede war längst geschlossen, als der Justitiarius des freiherrlich von Arten'schen Hauses noch immer vergebens die Rückkehr des jungen Freiherrn forderte, für den es unter den obwaltenden Umständen nicht schwer gewesen sein würde, sich einen Urlaub zu verschaffen oder, da er bei einem der Regimenter stand, die zur Sicherung des neu aufgerichteten Königsthrones der Bourbonen und zur Eintreibung der Kriegs-Contribution in Frankreich zurückgelassen wurden, seine Versetzung zu einem der heimkehrenden Regimenter zu erlangen. Aber das Glück, dessen die Freiherren von Arten sich in früheren Zeiten sprüchwörtlich zu rühmen geliebt hatten, war während dieser Kriege auch dem jungen Freiherrn treu geblieben.

Strahlend in Siegesfreude, durch die Anstrengungen des Krieges abgehärtet und gekräftigt, hatte Renatus inmitten der vereinigten Heere, an der Spitze seiner Compagnie an dem zweiten Einzuge der Verbündeten in Frankreichs Hauptstadt Theil genommen, und die Reize dieser anmuthsvollsten unter allen Städten, welche er zum ersten Male kennen lernte, hatten auf den jungen Hauptmann, der mit seinen vierundzwanzig Jahren noch ein Neuling in dem Leben einer solchen Weltstadt war und dem die Gelegenheit, sie zu genießen, auf jede Art geboten wurde, ihre bezaubernde Wirkung nicht verfehlt.

Allerdings sah die große Menge der Franzosen widerwillig [190] und mit schweigender Empörung auf die fremden Krieger hin, welche ihnen die unwillkommene Herrschaft der Bourbonen aufgezwungen und, was dem Volke vielleicht noch verhaßter war, auch die alten, ausgewanderten Adelsgeschlechter und das ganze Priesterregiment wieder in das Land zurückgeführt hatten. Aber dafür standen den deutschen, russischen und englischen Offizieren in dem neu belebten Faubourg Saint Germain, in welchem die alte französische Aristokratie die in ihren stillen Höfen und Gärten gelegenen Paläste wieder bezogen hatte, Thor und Thüre offen; und das Hotel der Herzogin von Duras war eines der ersten, das gleich nach der ersten Rückkehr der Bourbonen die alte, gute Sitte regelmäßigen Empfanges wieder aufnahm, denn die Herzogin wollte sich in ihrem Greisenalter endlich für alle die mannigfachen Entbehrungen schadlos halten, denen sie durch lange Jahre unterworfen gewesen war. Wie sie eine der Ersten Frankreich verlassen hatte, so war sie nun als der Ersten eine mit der wiedereingesetzten Königsfamilie in die Hauptstadt zurückgekehrt, und die unbegrenzte Freigebigkeit, welche die Bourbonen von jeher ihren Anhängern angedeihen lassen, war natürlich der Herzogin, die sich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts immer in der Nähe und im Dienste des Hofes befunden hatte, vor allen Anderen zugewendet worden.

Die Wiedererlangung ihres durch seine Gastlichkeit früher so berühmten Schlosses Vaudricourt war nicht mehr ihr Wunsch gewesen. Man wird die Greisin nicht besuchen kommen, wie die junge Schloßherrin, hatte sie sich gesagt, und der König, der an dem Hofe seines Schwiegervaters ihrer Gesellschaft gewohnt geworden war, hatte dieselbe auch in der wiedergewonnenen Heimath nicht entbehren mögen.

Die Herzogin war nicht mehr im Dienste, aber sie lebte im engsten Vertrauen des Hofes, und sie verstand den Einfluß, den sie besaß, eben so wohl zu nutzen, als die Unterordnung [191] und die Zuvorkommenheit aller derjenigen Personen, welche durch Vermittlung der Herzogin von dem neuen Hofe Gewährung ihrer alten Ansprüche und Forderungen zu erlangen wünschten.

Es war nur wenig Tage nach seiner Ankunft in Paris, als der junge Freiherr in einer der eben ausgegebenen Zeitungen in den Hofberichten die Mittheilung las, daß die Frau Herzogin von Duras am verwichenen Abende ein Fest gegeben habe, welches von dem Könige und der ganzen königlichen Familie mit ihrem Besuche beehrt worden sei.

Sie ist also hier, sie ist in Paris! rief Renatus unwillkürlich aus, und eben so plötzlich, als ihm diese Kunde geworden war, beschloß er, die alte Freundin seines Vaters aufzusuchen. Er dachte freilich daran, welch einen unheilvollen Einfluß die Herzogin Margarethe auf das Schicksal seiner Mutter ausgeübt hatte; aber diese Vergangenheit lag weit hinter der Gegenwart zurück und er wußte auch wenig Bestimmtes über alle jene Vorgänge. Seine Neugier, die Herzogin wiederzusehen, deren Bild ihm auch nur schattenhaft in der Erinnerung geblieben war, trug daher ohne große Mühe über die flüchtigen Bedenken seiner Kindesliebe den Sieg davon, und er hatte obenein eine schwere, doppelte Versäumniß nachzuholen. Er hatte der Herzogin in der Unruhe seines damaligen Lebens den Tod seines Vaters nicht gemeldet. Er schuldete es ihr daher, sowohl wie dem Andenken seines Vaters, die Unterlassung gut zu machen, und gerades Weges aus dem Kaffeehause in sein Quartier zurückkehrend, schrieb er der Herzogin, daß sein Vater gestorben, daß er selber in Paris sei und daß er sie um die Erlaubniß bitte, sich ihr vorstellen zu dürfen.

Noch an dem nämlichen Abende fand er, von einem Gange wiederkehrend, eine Antwort der Herzogin vor.

»Sie sind in Paris, lieber René,« schrieb sie ihm, »und nicht in meinem Hause? – Wie ist das möglich? – Ein Sohn, [192] der einen Vater wie den Freiherrn verloren hat, ist immer beklagenswerth und hat des Trostes nöthig, welches auch seine Aussichten im Leben sein mögen. Wenn Sie mich nicht wissen lassen, daß es mit Ihren Verhältnissen und Wünschen unvereinbar ist, mein Gast zu sein, so wird morgen Mittag mein Wagen vor Ihrer Thüre stehen, um Ihre Uebersiedlung in mein Haus zu bewerkstelligen. Kommen Sie, wenn es Ihre Dienstpflichten nicht unmöglich machen, mein junger Freund! Bereiten Sie mir die Genugthuung, mit Ihnen von Ihrem Vater, meinem unvergeßlichen Freunde, zu reden und Ihnen einen geringen Theil der großen Dankesschuld zu entrichten, die nur seine Freundschaft mir leicht zu tragen machen konnte. Auch ich habe einen theuren Todten zu beklagen; aber Sie sind jung, das Leben liegt vor Ihnen, und auch neben mir blüht ein junges Leben auf. Sie sollen von dem Trübsinne des Alters nicht bei mir zu leiden haben. Somit auf Wiedersehen, mein junger Freund!«

Es war die alte Anmuth, welche allen Briefen der Herzogin von jeher eigen gewesen war, und Renatus wurde es nicht müde, die Zeilen immer auf's Neue zu lesen. Die Schrift, das Papier, der Duft desselben hatten etwas Reizendes für ihn. Er mußte sich förmlich daran erinnern, daß es eine Greisin sei, von welcher diese Zeilen ihm gekommen waren, denn er fühlte sich von ihnen erheitert und aufgeregt. Sie hatten ihn trotz der Mahnung an seines Vaters Tod, über den nun freilich schon zwei Jahre hingegangen waren, in eine so fröhliche Spannung versetzt, als stände er an der Schwelle eines Abenteuers, als erwarte ihn irgend ein ganz unverhofftes Glück.

Er eilte zu seinem Chef, mit dem er auf dem besten Fuße stand, ihm von dem Anerbieten der Herzogin und von seinem Wunsche, es zu benutzen, Anzeige zu machen, und er fand von Seiten des Obersten, da das ganze Regiment an dem linken [193] Seineufer untergebracht war, keine Schwierigkeiten für seine Absicht.

Da er von seinem Chef es zufällig erfuhr, daß eben an diesem Tage ein Offizier des Stabes auf Urlaub in die Heimath gehe, nahm Renatus die Gelegenheit wahr, seiner Braut die Anzeige seines Wohnungswechsels zu machen. Er legte, um sich einen Theil des Briefschreibens zu ersparen, das Billet der Herzogin für Hildegard bei. Er dachte, es könne nebenher nicht schaden, wenn diese sehe, daß eine Greisin noch solcher bezaubernden Anmuth fähig sei, und wenn sie selbst sich daran ein Beispiel für sich und ihre eigenen Briefe nähme, deren schwärmerischer Ernst, ja, selbst deren feste, große Handschrift ihn eigentlich je länger desto unschöner bedünkten.

Hildegard wird allerdings verdrießlich darüber sein! sagte er sich. Aber mochte sie es auch einmal empfinden, wie es thue, von einem Briefe aus der Ferne keine Freude zu empfangen. Er hielt es für die höchste Zeit, an Hildegards Erziehung zu gehen, eben da nun ein dauernder Friede vor der Thüre stand und er an seine Heimkehr und an seine Heirath denken durfte.

Aus dem Geräusche der volksbelebten Straßen, aus der Gluth der Mittagshitze brachte am nächsten Tage der Wagen der Herzogin den jungen Freiherrn in das alte Hotel der Herzoge von Duras. Hohe Mauern schlossen es nach Landessitte von der Straße ab; ein weiter Garten dehnte sich hinter dem im edelsten Style des siebenzehnten Jahrhunderts errichteten Gebäude aus. Durch das geöffnete Portal des Hauses zeigten sich frische Rasenplätze, von großen Bäumen überschattet.

Die Frau Herzogin lassen den Herrn Baron ersuchen, sich in seinen Zimmern einzurichten, sagte der Haushofmeister; sie erwarten ihn danach im Gartensaale.

Renatus war in den Gewohnheiten des Reichthums in einer würdigen Heimath aufgewachsen; aber die letzten Eindrücke, [194] welche er empfangen hatte, als er mit seinem Regimente vor dem russischen Feldzuge zum letzten Male in Richten gewesen war, hatten eine traurige Erinnerung in ihm zurückgelassen, und seit vollen drei Jahren war er im Felde, in den wechselnden und oft widerwärtigsten Umgebungen gewesen. Das erhöhte das Wohlgefallen, welches er bei dem Anblicke dieses Palastes, dieser edeln Räume, ja, selbst bei den Hülfsleistungen genoß, deren er von seinem Kammerdiener gewohnt gewesen war und mit denen jetzt die Dienerschaft der Herzogin sich sorgfältig um ihn bemühte.

Man hatte ihn auf einer der Seitentreppen nach dem linken Flügel des Hauses geführt, in dessen erstem Stocke man ihm seine Wohnung eingerichtet hatte. Nachdem er sich umgekleidet, geleitete der Kammerdiener der Herzogin ihn die breite, marmorne Prachttreppe hinab nach dem Saale, in welchem er die Herzogin wiedersehen sollte.

Es war ein großer, hoher Raum, dessen Thüren nach dem Garten zu geöffnet waren. Dunkelrothe Vorhänge brachen das Licht der Sonne an den Fenstern; die Thüren waren von außen mit Marquisen verschattet. Nahe an dem einen Fenster lag in einem Lehnstuhle, die Füße mit einem weichen Polster unterstützt, die Herzogin; an dem Schreibtische, der nicht fern von ihr stand, saß eine jugendliche Frauengestalt.

Als Renatus eintrat, richtete die Herzogin sich mit lebhafter Bewegung in die Höhe, und ihm die Hand entgegenreichend, die heute noch, wie vor jenen Jahren, mit dem zierlichen Handschuh von schwarzer Seide halb bedeckt war, rief sie: Willkommen in Frankreich, mein junger, lieber Freund, und doppelt willkommen in meinem Hause, mein lieber René! Ich danke es Ihnen, daß Sie gekommen sind, eine alte Freundin Ihres Vaters aufzusuchen. Der arme Baron, daß er so zeitig von uns gehen mußte! Aber das Leben ist nur ein Darlehen des launenhaften Schicksals und nichts mehr. Sie wissen es, auch mein theurer [195] Bruder ist schon längst gestorben, jung gestorben, und wir betrauern ihn noch heute, ich und seine Tochter!

Indeß von dieser Trauer war weder in den feinen Zügen der Greisin, noch in dem strahlenden Antlitze ihrer Nichte eine Spur zu finden, als diese auf ein Wort ihrer Tante sich zu ihnen wendete, um die Vorstellung des Freiherrn von Arten-Richten zu empfangen.

Renatus konnte während dessen mit sich nicht darüber einig werden, ob er gar kein Bild von der Herzogin in seinem Gedächtnisse bewahrt gehabt, oder ob sie sich wirklich so wenig verändert hatte, daß nichts an ihr ihm störend oder fremd, sondern Alles vertraut und angenehm erschien. Ihre weiße Morgenkleidung, das Spitzentuch, welches sie über die zierliche Haube gebunden trug, die zahlreichen schneeweißen Löckchen, die ihre Stirn und ihre Wangen umgaben, machten ein so feines, in sich abgeschlossenes Bild, daß man meinte, es müsse eben so, es könne niemals anders gewesen sein, und daß man eben deshalb auch bereitwillig an die frische Farbe des Gesichtes glaubte, besonders da die allerdings tief eingesunkenen Augen der Greisin ihren einschmeichelnden Blick und ihr beredter Mund, trotz der schmal gewordenen Lippen, sein feines Lächeln noch nicht verloren hatten.

Renatus war noch nicht lange bei der Herzogin, als verschiedene Besuche angemeldet wurden. Es waren jüngere und ältere Männer, zwei Geistliche unter ihnen. Alle aber trugen sie große Namen, alle waren sie unter einander bekannt und im Besitze jener leichten und doch feststehenden Umgangsformen, deren in solcher Vollendung nicht Herr zu sein, Renatus sich heute zum ersten Male bewußt ward.

Wohin er bis dahin auch gekommen war, überall hatten sein Name, sein gutes Aeußeres und später selbst seine Uniform ihm eine Beachtung zugesichert. Hier trugen alle Männer das [196] bürgerliche Kleid, und die Nennung seines Familiennamens glitt an den Anwesenden spurlos vorüber. Erst als die Herzogin erwähnte, daß sie in den Tagen der Verbannung eine sehr liebenswürdige Aufnahme bei dem Vater des jungen Barons gefunden habe, wurden ihre Freunde auf Renatus aufmerksam; aber es war, als ob die Zeit der Auswanderung seit langen, langen Jahren hinter ihnen läge. Sie schienen es fast vergessen zu haben, daß sie Frankreich jemals verlassen hatten. Paris, der Hof, die Verhältnisse, in welche sie zurückgekehrt, waren für sie so ausschließlich die Welt, daß alles, was nicht in diese Welt hinein gehörte, kaum für sie vorhanden war.

Freilich erboten sich die jüngeren Männer, den jungen Freiherrn mit dem Pariser Leben bekannt zu machen, man besprach auch seine Vorstellung bei Hofe; Renatus konnte es sich indessen nicht verbergen, daß er unter diesen Marquis, Grafen und Prinzen eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen haben werde, und während ihn dieses verdroß, fühlte er sich doch von der ihn umgebenden Gesellschaft wie nie zuvor angezogen und gefesselt.

Alle diese Männer waren an den meisten Höfen von Europa heimisch. Man redete von den fürstlichen Familien von England, von Sardinien, von Rußland und von Holland, und von den Beherrschern der deutschen Länder mit einer Art von Vertraulichkeit, welche für Renatus etwas Ueberraschendes hatte. Nur wenn sich das Gespräch auf den Hof und die königliche Familie von Frankreich wendete, änderte und steigerte sich der Ton bis zu einer fanatischen Ergebenheit, und die Herzogin, die immer noch Meisterin darin war, die Unterhaltung auf die Gegenstände zu lenken, von denen sie gesprochen haben wollte, wußte an dem Ohre ihres jungen Gastes auf diese Weise eine Reihe von Thatsachen vorüber zu führen, die ihn beschäftigten, ohne sich zu einem zusammenhängenden Ganzen verbinden zu lassen, und die ihm unablässig und immer wieder das unbehagliche [197] Gefühl aufnöthigten, daß er nur ein zufälliges und nur ein unbedeutendes Mitglied in diesem Kreise sei.

Will sich die Herzogin an mir für die Dienste rächen, welche mein Vater ihr und ihrem Bruder geleistet hat? fragte Renatus sich einmal unwillkürlich. Aber sein guter Sinn stieß diesen Gedanken mit einem Tadel gegen sich selber als eine Unwürdigkeit von sich, und doch lag diese Voraussetzung der Wahrheit näher, als er es zu glauben vermochte.

Renatus wußte es noch nicht, daß man edeln Herzens und liebevollen Gemüthes sein muß, um die Dankbarkeit nicht als eine schwere Last zu empfinden: indeß der stolze Sinn der Herzogin hatte die Stunde nie vergessen, in welcher sie sich genöthigt gefunden hatte, von dem Freiherrn für sich und ihren Bruder unter Hinweis auf eine kaum bestehende Verwandtschaft eine Zuflucht und Hülfe zu begehren. In wie großmüthiger Weise der Freiherr sie auch empfangen und unterhalten hatte, das Brod der Fremde, das Gnadenbrod, wie sie es oft mit herbem Ausdrucke in ihrem Innern genannt, hatte nie aufgehört, ihr hart und bitter zu bedünken. Sie mochte sich der Zeiten nicht gern erinnern, in denen sie in Richten gelebt hatte, sie dachte auch an den Freiherrn weder oft noch gern, und doch hatte sie eine lebhafte Freude empfunden, als sie den Brief seines Sohnes empfangen, eine Freude, wie sie der mehr als siebenzigjährigen Frau nicht mehr oft zu Theil ward: sie konnte abbezahlen, was ihr geleistet worden war, sie konnte sich dem jungen Freiherrn in dem Glanze und in dem Ansehen ihrer wiedergewonnen Würden und Ehren zeigen und es ihn fühlen lehren, daß es eine Ehre für seinen Vater gewesen sei, die Herzogin von Duras, die Freundin und Vertraute der königlichen Familie von Frankreich, seinen Gast zu nennen. Sie konnte den jungen Freiherrn einsehen lassen, daß, was man auch für sie und für ihren Bruder gethan haben mochte, sie immerdar die Gunsterzeigende gewesen sei.

[198] Ihre Güte, ihre Freundlichkeit für Renatus trugen in jedem Worte den Stempel jener freiwilligen Herablassung, die, so schmeichelhaft sie sich im Augenblicke demjenigen, dem sie zu Theil wird, auch erweisen mag, ihn doch herunterdrückt und ihn seiner Freiheit mehr oder weniger verlustig macht. Renatus empfand es, daß er sich nicht geben konnte, geben durfte, wie er war; aber die völlige Zusammengehörigkeit der Personen, welchen er an diesem ersten Morgen in dem Saale der Herzogin begegnete, die Uebereinstimmung zwischen ihnen und allem, was sie hier umgab, hinderten ihn, zu erkennen, worin jener ihn befangende Zauber bestehe, oder wer es sei, der denselben über ihn ausübe.

Mitunter, wenn sein Auge eine Weile mit entzücktem Erstaunen auf der Nichte der Herzogin haften geblieben war, meinte er, daß es ihre Schönheit sei, welche ihn so seltsam beherrsche, ihn so wunderbar sich selbst entfremde, und die junge Gräfin war ganz dazu gemacht, einem Manne die Empfindung anbetenden Staunens aufzudringen. Renatus gestand sich, niemals eine so vollkommene Schönheit gesehen zu haben; denn Eleonorens auffallend große und üppige Gestalt, die siegesgewisse Ruhe auf ihrer weißen Stirn, von welcher das goldig schimmernde Haar sich wie bei den antiken Statuen in welliger Fülle weit zurückbog, um sich in dickem Knoten an ihrem Hinterkopfe zu vereinen, gaben ihr trotz ihrer großen Jugend etwas Gebietendes und Mächtiges.

Ihr Vater, der Marquis von Lauzun, welcher der Herzogin gleich gefolgt war, nachdem diese in Turin in die Dienste der königlichen Familie getreten war, hatte durch seine Wohlgestalt und durch die geschickte Vermittlung seiner vorsorglichen Schwester die Hand einer der reichsten englischen Erbinnen gewonnen, welche sich eben damals unter dem Schutze ihrer mütterlichen Verwandten am sardinischen Hofe aufgehalten hatte. Eleonore Haughton [199] war, wie der englische Sprachgebrauch es bezeichnet, eine Erbin durch ihr eigenes Recht gewesen. Die großen Besitzungen, der Name und die Pairie ihres Hauses waren nach dem Tode ihrer Eltern und ihres Bruders auf sie übergegangen, aber sie hatte sich dieser Vorzüge nur kurze Zeit erfreuen können. Die Geburt ihres ersten Kindes hatte ihr das Leben gekostet, und mit dem Tauf- und Familiennamen ihrer Mutter waren der Tochter des Marquis die Adelstitel, die Pairswürde und der Reichthum der Grafen von Haughton von der Stunde ihrer Geburt an, als ausschließliches Erbe zugefallen.

Nach der ausdrücklichen letztwilligen Verordnung ihrer Mutter war eine Freundin derselben zur Erzieherin des verwaisten Kindes von ihr bestimmt worden. Bei dem Einflusse, welchen die Herzogin aber von jeher über ihren Bruder ausgeübt, hatte sie es durchzusetzen gewußt, daß ihr die Oberaufsicht über dessen Tochter zugewiesen worden, als der Marquis ebenfalls frühzeitig vom Leben geschieden war, und Fräulein Arabella Warwell hatte also mit ihrer Pflegebefohlenen unter dem Schutze und in dem Hause der Herzogin gelebt, bis diese die Erziehung der jungen Gräfin für vollendet erklärt, und Fräulein Arabella von ihrem Zöglinge entfernt hatte. Die besten Lehrer hatten Eleonore vielseitig unterrichtet, und wie man ihr in der Taufe, zur Erinnerung an das Meisterwerk einer großen Dichterin, neben dem Namen ihrer Mutter den Namen Corinna beigelegt hatte, war ihre Bildung auch darauf hingeleitet worden, sie diesem bedeutungsvollen Namen anzupassen.

Eleonore war mit ihren siebenzehn Jahren der Sprachen ihrer beiden Eltern wie des Italienischen völlig mächtig. Sie drückte sich in ihnen mit einer Sicherheit und Entschiedenheit aus, die ihr einen frauenhaften Anstrich gaben und sie älter erscheinen ließen, als sie war. Wer sie in diesem Kreise von Männern sich unter den Augen der Herzogin bewegen sah, sie [200] ihre kurzen Fragen stellen, jede Anrede schnell erwidern, jedem ihrer Gedanken lebhaft und rückhaltlos Aeußerung geben hörte, der mußte sich eingestehen, daß er hier ein ungewöhnliches Wesen vor sich habe, wenn es ihm auch zweifelhaft bleiben mochte, ob man dieses Mädchen lieben könne oder nicht. Was aber dem flüchtigsten Beobachter nicht entgehen konnte, war die Vorsicht, mit welcher die Herzogin ihre Nichte behandelte, und die geflissentliche Weise, mit welcher diese ihre stolze Unabhängigkeit zur Schau trug. Sie trat fortwährend wie ein strahlendes Licht, wie ein mächtiger Ton aus der gleichmäßigen Stimmung dieser in feinen Formen abgeschliffenen Gesellschaft hervor, und Renatus fragte sich schon in der ersten halben Stunde: Wie kommt sie hierher, wie konnte sie in dieser Welt sich so entfalten, wie konnte sie ihre stolze Naturwüchsigkeit in dieser Luft bewahren?

Man hatte eine geraume Zeit hindurch die Vorkommnisse des Hoflebens bis in ihre kleinsten Einzelheiten abgehandelt und alle Anwesenden hatten sich in den Ausdrücken ihrer Verehrung und Ergebenheit für das zum zweiten Male wiedergekehrte bourbonische Königshaus überboten, als Eleonore, sich zu Renatus wendend, plötzlich ausrief: Und Sie, Herr Baron, Sie schweigen? Sie sagen nichts zum Lobe der heimgekehrten Dynastie, für die Sie doch bei Ligny und bei Waterloo mit Ihren und meinen Landsleuten gefochten haben, während diese Herren friedlich in der Nähe ihres Königs weilten?

Eleonore, rief tadelnd die Herzogin, was soll hier diese Frage?

Mich aufklären, liebe Tante, weiter nichts! entgegnete die Gräfin, ohne sich durch die Mißbilligung der Herzogin im geringsten beirren zu lassen.

Man war es gewohnt, der Gräfin viel nachzusehen, und man hatte auch keine andere Wahl, wenn man das Haus der Herzogin, das man zum Theil um Eleonoren's willen suchte, [201] nicht eben ihretwegen meiden wollte; indeß der ernste Ton, mit welchem sie die dreiste Frage gethan hatte, ließ diesmal eine scherzhafte Deutung nicht wohl zu.

Es war daher Allen sehr erwünscht, als der alte und vertraute Freund der Herzogin, der Prinz von Chimay, dessen grauem Haare die gemessene Ruhe seiner Sprache und Bewegungen sehr wohl anstand, sich in das Mittel legte und, den Kampf auf das Gebiet seiner schönen Gegnerin hinüberspielend, die Bemerkung machte: Sie sprechen von unserem Königshause, Gräfin, und von Ihren Landsleuten, als ob Sie nicht Französin, als ob Sie nicht unsere Landsmännin wären! Bedenken Sie, daß wir auf eine solche Landsmannschaft in keinem Falle verzichten wollen! So lange ein Fremder Sie uns nicht entführt, sind Sie die Unsere, und wir werden Alles thun, Sie in der Heimath und in Ihrem Vaterlande festzuhalten!

Vaterland und Heimath! wiederholte die Gräfin, Sie nennen das zusammen, mein Fürst, als ob es nicht verschiedene Dinge wären! Frankreich ist allerdings meines Vaters Geburtsland, ist mein Vaterland, aber meine Heimath ist es nicht. Meine Heimath ist jenseit des Kanals in Haughton Castle, wo ich so glücklich war, Sie bereits zu sehen, und wo ich Sie wieder zu begrüßen hoffe, wenn ich erst ganz dort leben werde, fügte sie mit einer Verneigung hinzu, die verbindlich, die versöhnend wirken sollte, während die stolze Siegesgewißheit abermals über ihre Mienen glitt. Und als wolle sie diese Unterhaltung nicht fortgesetzt sehen, wendete sie sich zu Renatus, um auch ihn für die Zukunft nach ihrem Schlosse einzuladen. Sie werde stolz und glücklich sein, sagte sie ihm, wenn er ihr Gast zu sein verspreche, nachdem ihr Vater durch so viele Jahre seines Hauses Gast gewesen sei. Dabei reichte sie ihm, nach Art ihrer englischen Landsleute, die Rechte hin, daß er einschlagen und ihr sein Versprechen geben solle, und ihm die Hand mit festem Drucke schüttelnd, [202] während sie ihm frei und aufrecht in das Auge sah, rief sie: Wir wollen gute Freunde werden, nicht wahr, recht gute Freunde, Herr von Arten!

Renatus wußte sich nicht zu erklären, welcher Stimmung des schönen Mädchens er diese unerwartete und auffallende Gunstbezeigung zu verdanken habe, welche ihm sehr leicht die Abneigung der andern jungen Edelleute zuziehen konnte; aber er fühlte sich deshalb nicht weniger von Eleonoren's sonnigem Auge erwärmt, er vermochte ihrer kräftigen und frischen Stimme den Zugang zu seinem Herzen nicht zu verschließen, und im Innersten seines Wesens geschmeichelt, sprach er: Sie eröffnen mir eine Aussicht, gnädige Gräfin, die mich hoch erhebt, und zeigen mir ein Ziel, nach dem zu streben mir um so mehr ein Glück sein wird, da ich die Freundschaft, die Sie mich hoffen lassen, zunächst doch nur meinem Vater zu verdanken habe.

Wie er seinem Vater ähnlich sieht! rief die Herzogin, sich an den alten Fürsten wendend, nicht wahr, mein Fürst? Sie waren in Vaudricourt, als der Freiherr von Arten mich zum ersten Male besuchte, und Sie erinnern Sich des Freiherrn noch!

Aber der Fürst versicherte, daß er den Freiherrn nie gesehen habe, und die Herzogin wußte das eben so genau, als daß Renatus seinem Vater ganz und gar nicht glich. Sie hatte nur der Unterhaltung eine andere Richtung geben, nur Eleonoren's Launen in den Weg treten, einer unangenehmen Scene ein Ende machen wollen, und von allen Seiten war man sofort bereit, über die kleine Störung leicht hinweg zu gehen, um der Herzogin, über deren Absicht Niemand in Zweifel war, geschickten Beistand zu gewähren.

Der Fürst rühmte die Reize von Haughton Castle, während die Herzogin das Klima des hoch gelegenen Ortes tadelte; man sprach von der Jagd, die dort ergiebig sei, von dem Besuche, welchen der Prinz-Regent im vorigen Jahre, als die Herzogin [203] es während der Sommermonate mit ihrer Nichte bewohnte, in dem Schlosse gemacht hatte, und Eleonore hörte der ganzen Unterhaltung schweigend zu. Als habe sie sich jetzt genug gethan, ließ sie ihre dunkeln Augen langsam von Einem zu dem Andern gleiten, und nur wenn ihr Blick auf den Fürsten oder auf die Herzogin fiel, meinte Renatus zu bemerken, daß ein spöttisches Lächeln um den Mund der jungen Schönen spiele und daß ein Gefühl des Triumphes ihre kräftigen Nasenflügel schwelle.

Niemand machte ihn empfinden, daß er, wenn auch ohne sein Verschulden, den Anlaß zu der Kränkung geboten hatte, welche die Gräfin den Gästen und Freunden ihrer Tante zugefügt hatte. Renatus ließ es sich also doppelt angelegen sein, sich durch anspruchslose Freundlichkeit mit dem Menschenkreise, in den er eingetreten war, in ein günstiges Verhältniß zu setzen, und es gelang ihm dieses auch nach Wunsch; denn als die Besucher sich empfahlen, weil die Stunde gekommen war, in welcher die Herzogin ihre tägliche Ausfahrt in das Gehölz von Boulogne zu machen pflegte, schied man in einer so heiteren Weise, als ob gar nichts Störendes vorgefallen wäre oder als ob überhaupt niemals etwas Störendes zwischen die Glieder dieses Kreises treten könnte.

[204]
5. Capitel
Fünftes Capitel

Der Gartensaal der Herzogin lag, wie bei all den Schlössern, welche dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ihre Entstehung verdanken, an einer mächtigen Terrasse. Am Abende des Tages, an welchem sie Renatus bei sich aufgenommen hatte, waren die Thüren des Gartensaales weit geöffnet. Das helle Licht der Kerzen mischte sich mit dem sanften Glanze des Mondes und ließ innen wie außen alle Gegenstände klar erkennen.

Mitten im Saale saß die Herzogin mit ihrem Freunde, dem Prinzen, und noch zwei andern Personen beim Kartenspiele; draußen ging Renatus an der Gräfin Seite auf und nieder, während ein Mann von reifem Alter und ein junger, schlanker Geistlicher, die am andern Ende des Zimmers Platz genommen hatten, in eifriger Unterhaltung begriffen zu sein schienen, obschon keiner von beiden die auf der Terrasse Lustwandelnden aus dem Auge verlor.

Von Zeit zu Zeit warf auch die Gräfin ihre Blicke in den Saal, dann aber wendete sie sich gleich wieder dem Freiherrn zu, und obschon ihre Unterhaltung sich ausschließlich in jenen Fragen und Mittheilungen bewegte, mit denen man sich der äußerlichen Verhältnisse eines neuen Bekannten zu bemächtigen und ihn in der fremden Umgebung heimisch zu machen versucht, fühlte Renatus sich doch von einer Unruhe ergriffen, für welche er sich keine Ursache anzugeben wußte.

Ohne es zu wollen, mußte er den Blicken Eleonorens folgen, [205] ohne zu wissen, weßhalb, betrachtete er die Gesellschaft, die er in dem Zimmer vor sich sah, mit einer mißtrauischen Besorgniß. Er hörte achtsam auf alles, was Eleonore zu ihm sprach, und er fühlte sich trotzdem überzeugt, daß sie an etwas Anderes denke; ja, es kam ihm endlich vor, als sei sie mit ihm unzufrieden, als werde sie ungeduldig; aber er konnte es sich nicht erklären, wie er ihr Anlaß zu irgend einer Unzufriedenheit gegeben haben könne. Nie zuvor war ihm so sonderbar zu Sinne gewesen. Die Empfindung, daß die Gräfin ihn geflissentlich auf die Terrasse hinausgeführt habe, daß jetzt etwas geschehen, etwas gethan werden müsse, wurde immer lebhafter und unabweislicher in ihm. Das Herz klopfte ihm in der Brust, er hatte eine Art von Furcht vor seiner schönen Gefährtin, und wie das dämmernde Mondlicht sie mit seinem webenden Schimmer hell und heller umgoß, kam sie ihm zwar wie eine Armide verführerisch und schön, aber so oft der strenge Blick ihres großen Auges ihn berührte, auch wie eine solche unheimlich und dämonisch vor.

Sie hatte seit einer Weile zu sprechen aufgehört; das konnte er nicht ertragen, und um sich aus der Befangenheit und Verwirrung, deren er sich schämte, herauszureißen, sagte er plötzlich: Sie haben mir heute, gnädige Gräfin, im Andenken an Ihren und meinen Vater, Ihre Freundschaft angeboten, und ich glaube, daß es Ihnen Ernst damit gewesen ist. Darf ich diese Freundschaft heute schon zu einem Dienste für mich in Anspruch nehmen?

Eleonore blieb stehen; Renatus hörte, daß sie tief aufathmete, als werde eine Spannung von ihr genommen, und ohne sich zu besinnen, entgegnete sie ihm: Unbedenklich, wenn Sie mir vorher gestattet haben werden, Ihnen zu erklären, was mich bewogen hat, Ihnen diese Freundschaft so schnell und so gewaltsam aufzudrängen.

Renatus wollte ihr entgegnen, daß sie ihn mit ihrem Vertrauen [206] glücklich mache, aber sie ließ ihn dieses nicht vollenden. Keine Worte, Herr von Arten! rief sie mit ihrer stolzen, gebieterischen Weise. Sie müssen es heute schon gesehen haben, es fehlt mir nicht an Männern, die mir schmeicheln, weil sie glauben, daß auch ich nichts Höheres kenne, als mich durch die Schmeicheleien eines Mannes gefangen nehmen und der Freiheit berauben zu lassen, die man mir mißgönnt! Aber eben deßhalb bin ich in der Lage, meine Tante täglich daran zu erinnern, daß ich, Dank dem Testamente meiner Mutter, freier Herr über alle meine Entschließungen bin, und eben deßhalb bot ich Ihnen heute so unberufen meine Freundschaft an, um es meiner Tante darzuthun, daß ich's nicht liebe, wenn man selbst die heiligste aller Pflichten, die Dankbarkeit, nur zu einem Piedestal für sich, und zu einer Last für denjenigen zu machen sucht, dem man sie zu entrichten hat! Nun, die Herzogin hat ja lange Jahre in Ihres Vaters Hause gelebt – Sie werden sie also kennen, so gut wie ich!

Der Zorn, der aus jedem ihrer Worte sprach, gab ihrer tiefen Stimme nur einen höheren Reiz, und doch erschreckte ihr Wesen den jungen Freiherrn auch in diesem Augenblicke wieder, weil es völlig von allen den Vorstellungen abwich, unter denen er bisher das Bild eines jungen Mädchens zu denken gewohnt gewesen war. Selbst die rückhaltlose Härte, mit welcher Eleonore über ihre greise Tante gegen einen Fremden ihr Urtheil aussprach, beleidigte sein Schicklichkeitsgefühl, und immer geneigt, sich desjenigen anzunehmen, dem nach seiner Meinung ein Unrecht zugefügt wurde, sagte er, daß er von der Herzogin zwar ein lebhaftes Bild in seiner Erinnerung bewahrt habe, daß er aber zur Zeit ihres Aufenthaltes in Richten zu jung gewesen sei, irgend ein selbständiges Urtheil über sie zu besitzen.

Und abermals blieb Eleonore stehen, während sie, trotz des Halblichtes, in seinem Antlitze zu lesen versuchte. Sonderbar, [207] sprach sie; Ihnen fehlte also jener Instinkt, den das Kind doch mit dem Thiere gemein hat? Sie hatten also kein inneres Widerstreben gegen die Herzogin? Sie hatten kein Abmahnen gegen die selbstische, die tyrannische Feindseligkeit ihrer ganzen Natur?

Nein, versetzte Renatus nach einigem Besinnen. Ich glaubte nur, daß sie die Kinder nicht eben gern habe, und da meine theure Mutter ihr weniger als mein Vater nahe stand, so hatte ich damals, so viel ich mich entsinne, allerdings keine besondere Liebe für die Frau Herzogin; aber ich könnte eben so wenig sagen, daß ich sie gefürchtet hätte.

Ich habe sie gefürchtet, seit ich zu denken vermochte, fuhr Eleonore heraus, und jetzt – jetzt kenne ich sie! fügte sie mit schneidender Bitterkeit leise hinzu, als der Edelmann, welcher bis dahin mit dem Geistlichen gesprochen hatte, man nannte ihn, um ihn von seinem Vater, dem Fürsten von Chimay, zu unterscheiden, mit seinem Taufnamen den Prinzen Polydor, zu den Beiden heraustrat und der besonderen Unterhaltung des jungen Paares damit ein Ende machte.

Eleonore verließ die Terrasse, und Renatus, der dem Prinzen schon am Mittage bei der Fahrt im Gehölze vorgestellt worden war, blieb allein mit ihm zurück. Der Prinz mochte über fünfzig Jahre alt sein, aber sein hellblondes Haar, seine schlanke Gestalt und seine schöne Haltung machten ihn, bei der großen Sorgfalt, mit welcher er gekleidet war, noch vortrefflich aussehen. Renatus wußte, daß er des alten Fürsten einziger Sohn und Erbe sei und daß er mit seinem Vater während der ganzen Zeit der Verbannung am Hofe zu Petersburg gelebt habe. Bei der Herzogin stand er offenbar in großer Gunst. Sie hatte, nachdem man ihm am Morgen begegnet war, den jungen Freiherrn aufmerksam darauf gemacht, wie er in dem Prinzen Polydor das Muster eines französischen Edelmannes vor sich sehe, und dann, [208] gleichsam im Selbstgespräche, hinzugefügt: Und doch war seiner Mutter Blut dem seines Vaters nicht an Reinheit gleich.

Als Renatus sie darauf fragend angesehen, hatte sie sich in ihren Mittheilungen plötzlich unterbrochen und nur flüchtig die Bemerkung hingeworfen, daß es sich dabei um ein sehr romantisches Ereigniß handle, von welchem man nicht eben spreche, obschon es dem alten Fürsten eigentlich zur höchsten Ehre angerechnet werden müsse, wie der König dies denn auch durch sein Verhalten gegen den Vater und den Sohn gethan habe. Und es war danach der Einbildungskraft des jungen Freiherrn vorläufig noch überlassen geblieben, unter welcher Gestalt er sich die romantischen Erlebnisse des alten Fürsten vorstellen mochte und konnte.

Nach einigen Tagen aber kam die Herzogin, als sich am Abende ihre gewohnten Gäste bereits entfernt hatten, unter dem Vorgeben, daß sie Renatus recht bald und recht schnell unter ihren Umgangsgenossen bekannt zu machen wünsche, abermals auf den Fürsten und seinen Sohn zurück, und bei diesem Anlasse erfuhr Renatus, was die Herzogin ihm am ersten Morgen nur anzudeuten für gut befunden hatte.

Der alte Fürst von Chimay, so erzählte die Herzogin, war in seiner Jugend ohne alle Frage der schönste Mann, der vollendetste Cavalier des Hofes, und wir lebten damals noch in einer Zeit, in welcher man es einem Manne weit mehr als jetzt zum Verdienste anzurechnen verstand, wenn er der Welt in sich selbst ein vollkommenes Bild edelmännischer oder fürstlicher Würdigkeit darzubieten wußte. Er hatte in früher Jugend bedeutende Reisen gemacht, überall war ihm der ehrenvollste Empfang zu Theil geworden, der Ruf seines Geistes und seiner Liebenswürdigkeit stand über jeden Zweifel fest, die Gunst der Frauen kam ihm bereitwillig entgegen; aber der Fürst war nicht nur schön wie ein Adonis, er war auch spröde wie ein solcher, und das Gerücht, [209] das ihn unbesieglich nannte, steigerte nur das Verlangen der Frauen, ihn zu überwinden und zu fesseln.

Die Herzogin lehnte sich, in ihrer Erzählung innehaltend, in ihren Polsterstuhl zurück. Es ist die alte Eva-Natur, sagte sie lächelnd, alles, was ihnen versagt ist, was sich ihnen entzieht, das reizt die Frauen. Machen Sie sich daraus Ihren Schluß, mein junger Freund; und sich langsam mit einem der kleinen dunkelrothen Fächer, deren Renatus sich noch aus seiner Kindheit zu erinnern meinte, Kühlung zuwehend, fuhr sie nach einer kurzen Pause also in ihrer Erzählung fort: Ich lebte damals fern vom Hofe, an meines verehrten Gatten Seite, in unserem Schlosse. Wir sahen den Fürsten, der uns sehr befreundet war, immer nur für einzelne Wochen und in Zwischenräumen bei uns, da die Gesellschaft des Hofes ihn uns streitig machte. Es war oftmals von seiner Verheirathung die Rede gewesen, öfter noch von Herzensverhältnissen, in die er verstrickt sein sollte; aber alle diese Gerüchte erwiesen sich stets als unbegründet, und man gewöhnte sich bereits daran, den Fürsten als einen Weiberfeind zu betrachten, als sich ganz unerwartet und zum höchsten Erstaunen aller Welt die Nachricht verbreitete, der Fürst habe sich mit einem jungen, im Kloster erzogenen, einer geringen und armen Adelsfamilie angehörenden Mädchen verehelicht, das ihm einen Sohn geboren habe, und sei, da die junge Mutter von einem unheilbaren Brustleiden ergriffen worden, zu ihrer Erhaltung mit Frau und Sohn in's Ausland, in den Süden, ich meine, nach Sicilien, gegangen.

Die Kunde setzte den Hof, die Stadt, den ganzen Adel des Landes in Bewegung. Niemand wollte es glauben, Niemand hatte dem Fürsten eine so phantastische Leidenschaft zugetraut, Niemand es für möglich gehalten, daß eben der Fürst von Chimay es vergessen könne, was er sich selber schuldig sei. Man fragte sich: Wer ist die Zauberin, die den bisher Unbesiegten nicht [210] nur zu besiegen, sondern sich selber abwendig zu machen verstanden hat? Man forschte nach ihrem Namen, man war begierig, sie zu sehen, man glaubte an jedem Tage, irgend eine Lösung dieses Räthsels zu erhalten, die wo möglich noch geheimnißvoller und auffallender als das Ereigniß selber sein sollte; indeß man erfuhr nichts, gar nichts über den Gegenstand dieser unbegreiflichen Leidenschaft. Der Fürst kehrte denn auch nicht, wie man es doch erwartet hatte, mit der schönen Jahreszeit nach Frankreich und an den Hof zurück; er legte vielmehr das Amt eines Kammerherrn, das er bekleidet hatte, nieder, und alles, was man ermitteln konnte, war, daß die Trauung in der kleinen Kirche des Klosters vollzogen worden war, in welchem die Braut bis dahin gelebt hatte, und daß sie an ihrem Hochzeitstage eben so schön als krank ausgesehen habe.

Ich befand mich im Auslande, auf einer Badereise, als dieser Roman die Gesellschaft in Aufruhr setzte, und alle Briefe, welche ich erhielt, sprachen mir nur von unserem Freunde. Indeß er selber gab mir keine Kunde von sich, und nachdem man des Verwunderns von allen Seiten müde geworden war, fingen die Einen den Prinzen zu vergessen, die Andern auf ihn zu verzichten an. Man sagte sich, daß er wiederkehren und seine alte Stelle unter uns einnehmen werde, wenn er seiner romanhaften Grille genug gethan habe oder wenn die fabelhafte Prinzessin gestorben sein würde. Aber als handele es sich wirklich um ein Märchen, so geschahen auch hier jetzt Wunder, und zwar gerade diejenigen, welche man am wenigsten erwartet hatte.

Die Herzogin unterbrach sich abermals, und Renatus, den die Thatsachen dieser Erzählung eben so anzogen, als ihn die meisterhafte Weise fesselte, in welcher die Greisin sie berichtete, bemerkte, daß Eleonore das Buch, in welchem sie bis dahin gelesen hatte, zur Seite legte und, die Arme über die Brust gekreuzt, ebenfalls auf die Fortsetzung der Erzählung achten zu[211] wollen schien. Auch der Herzogin entging die plötzliche Aufmerksamkeit keineswegs. Sie fragte, ob Eleonore ihr Buch beendet habe.

Nein, versetzte diese; Ihre Erzählung ist mir aber weit wichtiger, als das Buch, und ich bin begierig, liebe Tante, den Ausgang derselben, über den ich sonst schon sprechen hörte, gerade aus Ihrem Munde zu vernehmen. Nicht wahr, die Fürstin bewies sich den schönen Frauen des Hofes nicht so gefällig, als sie es wünschten und erwartet hatten, die Fürstin blieb am Leben; und, was noch schlimmer war, der Fürst, weit davon entfernt, ihr dieses zu verargen, gewöhnte sich an sie und liebte sie, so daß er darüber des Hofes und seiner schönen Frauen ganz und gar vergaß?

Es schoß ein scharfer, schneidender Blick aus den eingesunkenen Augen der Herzogin zu ihrer Nichte herüber, als diese ihre Fragen im Tone der Unwiderleglichkeit spöttisch über ihre Lippen gleiten ließ, und Renatus wußte nicht, welche von den Beiden, ob die Greisin oder das junge Mädchen, ihm in diesem Augenblicke mehr mißfiel. Aber das Antlitz der Herzogin gewann gleich wieder seine Ruhe, und mit der freundlichen Gelassenheit, die sie äußerlich fast immer zu bewahren wußte, fragte sie: Und wer ist es, dem Du diese Mittheilungen dankst?

Dem Herrn Abbé von Montmerie! entgegnete die junge Gräfin mit einer so geflissentlichen Deutlichkeit und Langsamkeit, als wolle sie damit etwas Besonderes sagen oder errathen lassen. Die Herzogin ging jedoch, während ihr Gast sich von dem ihm unverständlichen Vorgange wie von der unverkennbaren Feindseligkeit, welche zwischen den beiden Frauen herrschte, unheimlich berührt fand, leicht darüber fort.

Da sehen Sie die Ungeduld und auch den Unbedacht der Jugend, mein lieber René, sagte sie. Wir alten Leute sind nicht schnell, wie sie. Wir müssen uns langsam in unsere Erinnerungen [212] versenken, wir spinnen sie mühsam zu einem Ganzen zusammen, und wenn wir unser kleines Kunstwerk zu vollenden denken, fährt irgend eine unvorsichtige junge Hand dazwischen und zerreißt und verwirrt uns unsern Faden, daß wir ihn nicht wiederfinden können.

Sie legte ihren Fächer aus der Hand, zog die kleine, mit Brillanten besetzte Tabacksdose aus der Tasche, nahm mit gespitztem Finger eine Prise und schellte, damit der Diener ihr zu ihrem Zimmer leuchte.

Es war vergebens, daß Renatus sie ersuchte, ihm den Schluß der Erzählung nicht zu entziehen. Sie vertröstete ihn auf einen anderen Tag, wiederholte, daß sie nicht mehr in der Fülle ihrer geistigen Mittel lebe, daß sie Rücksicht und Schonung nöthig habe, und forderte, obgleich sie sich noch immer mit voller Freiheit bewegte, den Arm Eleonorens, sich darauf zu stützen, als sie, ihrem jungen Gaste unter ihres Hauses Dach eine angenehme Ruhe und gute Träume wünschend, den Saal verließ.

Es währte jedoch lange, ehe der Freiherr die ihm gewünschte Ruhe finden konnte. Die Menge der Eindrücke, welche er heute in seiner nächsten Umgebung erhalten hatte, hielt ihn wach. Er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie in einem Mädchen von Eleonorens Alter, bei einer so bevorzugten Lebenslage, sich eine solche Herbigkeit habe entwickeln können und wodurch in das Verhältniß zwischen ihr und ihrer Tante jene Bitterkeit gekommen sei, die Eleonore selbst vor dem fremden Manne entweder nicht verbergen wollte oder nicht zu verbergen vermochte. Aber der rechte Aufschluß bot sich ihm nicht dar, und in jener Aufregung, welche uns immer befällt, wenn wir nicht wissen, ob wir die Personen, die uns anziehen, lieben oder hassen sollen, schlief er endlich überreizt und sehr ermüdet ein, auch im Traume noch von wirren, unzusammenhängenden Vorstellungen und Gebilden hin und her geworfen.

[213] Am folgenden Morgen sah er die Frauen des Hauses nicht, da der Dienst ihn auswärts beschäftigt hielt. Später, als er sie aufzusuchen kam, vermied die Gräfin ihn eben so absichtlich, als sie ihm Anfangs entgegengekommen war. Nicht einmal die Möglichkeit vergönnte sie ihm, sie um die Gründe ihrer veränderten Haltung zu befragen. Sie schien überhaupt wenig Gefallen an der Geselligkeit zu haben, denn sie zog sich, wenn die Empfangsstunde der Herzogin gekommen war, häufig aus dem Saale in ihre eigenen Zimmer zurück, und ihre Tante versuchte es dann auch nicht, sie neben sich und in der Gesellschaft festzuhalten.

Renatus wußte nicht, was er thun sollte. Bisweilen fühlte er das Bedürfniß, der Gräfin zu schreiben und sich zu erkundigen, womit er ihre gute Meinung verscherzt habe, dann wieder schalt er sich eitel und thöricht, daß er Eleonorens Fortbleiben überhaupt in irgend eine Verbindung mit sich zu bringen wagte. Wenn er sich schuldig glaubte, dachte er mit Bewunderung, ja, mit Entzücken an die Gräfin; wenn er die Kälte, welche sie ihm bewies, auf Rechnung ihrer launenhaften Selbstwilligkeit stellte, zürnte und grollte er ihr, aber immer blieb sein Sinn mit ihr beschäftigt, wie das neue Leben, das er führte, seit er in das Haus der Herzogin gekommen war, ihn auch gefangen nahm und von allen seinen bisherigen Erinnerungen und Wünschen abzuziehen geeignet war.

Renatus hatte noch nie an einem Hofe gelebt und noch kein weibliches Wesen gekannt, das mit der Gräfin Haughton zu vergleichen gewesen wäre. Das Erfahren und Erleben wurde für ihn fast überwältigend, und doch sagte er sich an jedem Tage, daß er jetzt erst zu leben anfange, daß ihm jetzt erst eine Jugend aufgehe, wie sein Vater sie genossen habe, wie sie eines Mannes von seinem Stande würdig und wie sie ihm durch die Ungunst der Verhältnisse viel zu lange vorenthalten worden sei.

[214] Da er in den Stürmen der Revolutionszeit geboren und erwachsen war, hatte man ihn, mit dem Hinweise auf die Unbeständigkeit aller irdischen Macht und Güter, zu einer gewissen Selbstbeschränkung erzogen und es waren, ohne daß man es beabsichtigt oder er selbst es gemerkt hätte, doch viele der Anschauungen an ihn herangekommen, welche als ein neues Menschheits-Evangelium die Welt umzugestalten begonnen hatten. Nun befand er sich mit Einem Male auf einem Boden und inmitten einer Nation, in welchen die Lehren von der Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen tiefer als irgendwo sonst in das Volksbewußtsein eingedrungen, und von Wirkungen und Thaten so zerstörender und durchgreifender Art gefolgt gewesen waren, daß man die erneute Herrschaft der früheren Weltanschauung und die Wiederkehr der alten Staatsverhältnisse und Zustände für immer unmöglich hätte halten müssen. Trotzdem thronte der achtzehnte Ludwig wieder in den Tuilerieen, doch waren den vertriebenen und wieder heimgekehrten Adelsgeschlechtern, doch waren der katholischen Geistlichkeit ihre Titel und Würden und Besitzthümer zurückerstattet worden, und von den Beamten des Kaiserthums wie von den einstigen Republikanern drängten sich große Massen an die neue Gnadensonne heran, und gar viele von den Bekennern der Vernunft-Religion füllten jetzt wieder die Kirchen, in denen man die Dankes-Hymnen für die Niederwerfung der Revolution und für die Besiegung des Bonapartismus ertönen ließ.

Konnte es da befremden, wenn ein werdender, ein in sich noch in keiner Weise gefestigter Charakter sich der, seinen eigenen Anschauungen nahe verwandten Meinung der Gesellschaft anschloß, in der er sich bewegte? Und was hatte Renatus aus seinem eigenen Geiste oder seiner eigenen Erfahrung dagegen einzuwenden, wenn die Herzogin und ihre Freunde den Ausspruch des Kaisers Alexander auch zu dem ihrigen machten, [215] wenn sie die ganzen Ereignisse der letzten dreißig Jahre als einen wilden Strom betrachteten, dessen Wassern man nur die Zeit zum Verlaufen habe gönnen müssen, damit das Dauernde, das allein Würdige, die Herrschaft des Adels und der Kirche in ungetrübter Ruhe wieder zur Erscheinung und zu ihrer Geltung habe kommen können.

Der junge Freiherr hatte bisher mit Stolz daran gedacht, daß auch er, so viel an ihm gewesen sei, zum Sturze Napoleon's und der Napoleoniden, zur Wiederherstellung der alten, legitimen Herrscher beigetragen habe; aber der Ton, die Art und Weise, in welcher man in der französischen Hofgesellschaft von dem Ueberwundenen sprach, verleidete ihm allmählich seine Siegesfreude. Nicht die Niederwerfung des Eroberers war das Verdienst, das man hier schätzte, sondern die zuversichtliche Treue, mit welcher man auf den endlichen Untergang Bonaparte's und auf den Sieg des angestammten Königshauses wie auf eine Naturnothwendigkeit gerechnet und gewartet hatte. Nicht die That war es, die man hier ehrte, sondern der Glaube und das Erdulden, und für dieses Letztere sich zu entschädigen, war alles, worauf man jetzt noch dachte.

Feste folgten den Festen, die Verbindungen des jungen Freiherrn dehnten sich bei denselben immer weiter aus, und seine Bewunderung der französischen Gesellschaft, sein Geschmack an dem Hofleben wuchsen, je mehr er in demselben heimisch wurde. Weil er von frühester Kindheit an zu einer strengen Unterwürfigkeit unter den Willen der Kirche und unter den Willen seines Vaters und Erziehers angehalten worden war, hatte er sich gewöhnt, sich selbst und seinen Werth nach dem Maßstabe zu messen, der ihm von Andern, gleichsam von außen her, dargeboten wurde. Er fand sich also sehr leicht darein, ja, es dünkte ihn eigentlich nur natürlich, daß die Gesellschaft, in die er jetzt eingetreten war, einander nach der Bedeutung[216] schätzte, welche der König und die königliche Familie den einzelnen Personen zuerkannten, und er stand sich gar wohl bei dieser neuen Ansicht, denn man nahm ihn um seiner Beschützerin willen am königlichen Hofe günstig auf.

Er war ein schöner Mann geworden, er tanzte den Walzer, den die Fremden in Frankreich eingeführt hatten, mit Meisterschaft, seine jugendliche Genußfähigkeit, selbst seine Schüchternheit empfahlen ihn den Frauen. Dazu war er ein trefflicher Reiter, wußte die Waffen wohl zu brauchen, und weil er sich der ihn umgebenden Meinung gefügig zeigte, gewann er sich auch die Gunst der Männer. Es währte also gar nicht lange, bis man der Herzogin von vielen Seiten das Lob ihres jungen Schützlings wiederholte, und diese blieb nur sich selbst getreu, wenn sie Renatus, den sie in ganz eigensüchtiger Absicht bei sich aufgenommen hatte, werth zu halten und auszuzeichnen anfing, sobald er eine vortheilhafte Erwerbung für ihre besondere Hofhaltung zu werden versprach.

Kein Tag verstrich, an welchem sie sich nicht eine Weile in einsamem Zwiegespräche mit ihm beschäftigte. Sie machte sich eine Pflicht daraus, seine Ausdrucksweise in der fremden Sprache zu verbessern, sie wies ihn an, wie er sich gegen die verschiedenen Personen, mit welchen sie ihn in Berührung brachte, zu verhalten habe, und wenn er sich ihr dankbar und allen ihren Anordnungen gehorsam erwies, rief die Herzogin oft seufzend aus: Ach, warum hat der Himmel mir es versagt, in meiner Nichte ein so weiches Herz zu finden! Warum ist es mir auferlegt, kaltem Starrsinne zu begegnen, wo ich so viel Liebe säete und für die letzten Tage meines Lebens Liebe zu ernten hoffte!

Sie hielt ihrem neuen Schützlinge dann ihre Hände hin, sie drückte einmal sogar einen Kuß auf sein schönes, blondes [217] Haar, da er sich neigte, ihre Hand an seine Lippen zu ziehen, und gerade, daß er sich sagen mußte, wie hart und ungerecht er, von Eleonoren dazu verleitet, an dem ersten Tage die Herzogin zu beurtheilen geneigt gewesen war, gerade das befestigte seine Ergebenheit für die Greisin und wendete seine Empfindung von Eleonoren ab, so oft er die eisige Zurückweisung bemerkte, mit welcher die Gräfin die Freundlichkeit der Herzogin vergalt.

[218]
6. Capitel
Sechstes Capitel

Tage reihten sich an Tage, Wochen wurden zu Wochen, und vieles, was Renatus in seiner neuen Umgebung im Anfange nicht verständlich gewesen war, klärte sich ihm von selber auf. Er sah, daß die Freundschaft und Huldigung, welche der alte Fürst der Gräfin Eleonore entgegenbrachte, ihren Ursprung nicht nur in seiner vieljährigen Verbindung mit ihrer Tante hatten, sondern auf Rechnung der Bewerbung zu setzen waren, mit welcher der Prinz, sein Sohn, sich um die schöne Erbin bemühte. Auch über die Absichten der beiden Geistlichen, welche zu den täglichen Gästen der Herzogin gehörten, konnte Renatus auf die Länge nicht in Zweifel bleiben.

Er fand es jedoch sehr natürlich, daß ein Mann von den Vorzügen des Prinzen sich noch die Fähigkeit zutraue, die Liebe eines jungen Weibes zu erwerben; es däuchte ihm durchaus berechtigt, daß die katholische Kirche sich die in jedem Betrachte ausgezeichnete Gräfin, die nach dem Glauben ihrer Mutter der englisch-protestantischen Kirche angehörte, anzueignen strebte; denn für Beides hatte er die Beispiele in seinem eigenen Hause vorgefunden. Allerdings waren die Ehen, welche der verstorbene Freiherr in reifem und in vorgerücktem Alter mit bedeutend jüngeren Frauen eingegangen war, nicht glücklich ausgefallen. Aber seine protestantische Mutter hatte doch Glück und Frieden im Schooße der römischen Kirche gefunden, und obschon sich bei Renatus die Gewohnheit der kirchlichen Unterordnung wie [219] das Bedürfniß nach religiösem Anhalte, seit er das Vaterhaus verlassen und namentlich jetzt in den Jahren des Krieges, sehr vermindert hatten, hegte er doch den Glauben, daß für ein so stolzes Herz, wie das der Gräfin, die Sorge und Pflege durch einen ihr überlegenen geistlichen Berather nur heilsam sein könne. Niemand aber mußte zu einer solchen Aufgabe geeigneter erscheinen, als der Abbé von Montmerie, als der jüngere der beiden geistlichen Herren, welche in dem Hause der Herzogin fast an keinem Tage fehlten.

Die Herzogin hatte den Abbé schon in Italien gekannt. Seine Hingebung an die Kirche und seine umfassende Gelehrsamkeit hatten ihn früh zu einem Gegenstande der Aufmerksamkeit für seine Vorgesetzten gemacht, seine weltmännischen Manieren empfahlen ihn der vornehmen Gesellschaft, welcher er durch seine Geburt angehörte. Von Jugend auf kannte er aus den Erzählungen seiner Anverwandten alle die geheimen Fäden, durch welche diese schöne Welt unter einander zusammenhing, und da er das scharfe Auge eines Beobachters hatte, war es ihm, als der Hof und mit ihm auch der Adel und der Abbé selber in ihre französische Heimath zurückkehrten, nicht schwer gefallen, in den Reihen dieses Hofes den Platz für sich zu finden, welchen er als den angemessensten für sich erachtete. Er hatte sich nicht, wie viele Andere, in den Beichtstuhl gedrängt, denn es hatte ihn nicht danach gelüstet, die Bekenntnisse dieses oder jenes beängstigten Herzens zu vernehmen, und hier eingreifend, dort berathend in kleinen Verhältnissen einen Einfluß zu gewinnen, der sich nur allmählich ausdehnen, nur langsam von Bedeutung werden konnte. Man hätte sagen mögen, er weise das Vertrauen zurück, das man ihm entgegenbrachte, so wenig zeigte er sich geneigt, sich um fremde Angelegenheiten zu bekümmern, und was ihn selber und seine Zukunft anging, das schien ihm vollends keine große Sorge zu erregen.

[220] Seine gründlichen Studien in den klassischen Sprachen, die ihn zu einem der hervorragendsten Lehrer an dem Kollegium gemacht, dem er angehörte, hatten ihn auch der Beachtung des Königs empfohlen. Ließ man ihm von gewisser Seite merken, daß seine andauernde Beschäftigung mit dem heidnischen Alterthume seiner Hingebung an das Christenthum Abbruch zu thun drohe, so versicherte er, daß er ein eben so orthodoxer Christ sei, als Seine Majestät, wennschon er sich nicht rühmen dürfe, in der heidnischen Vorzeit so völlig heimisch zu sein, als sein König und Herr; und der Abbé von Montmerie wußte es sehr genau, daß eine solche Wendung alle Aussicht hatte, an rechter Stelle wiederholt und von Ludwig dem Achtzehnten mit geneigtem Ohre aufgenommen zu werden.

Seine Amtsbrüder nannten den Abbé mit schlecht verhehltem Spotte einen schönen Geist, der König hatte ihn als einen feinen Geist bezeichnet und die Frauen ihn nach dem Beispiele der Herzogin als einen liebenswürdigen Geist und als einen jener Männer anerkannt, die überall vermittelnd wirken, weil sie für sich selber nichts zu erstreben scheinen. Es gab Niemanden, der wie der Abbé ein Mißverständniß unter Freunden behutsam auszugleichen wußte, Niemanden, der sich mit größerer Freude dazu erbot, der Ueberbringer einer willkommenen Botschaft zu sein, und der wie er, eine unangenehme Eröffnung in milde Formen einzukleiden sich geschickt erwies. Wollte man ihm danken, so nannte er sich als den Verpflichteten, weil man ihm die Gelegenheit gegeben habe, seinem innersten Wesen zu genügen und im Sinne seines Amtes zu handeln; und der König war noch nicht lange in sein Reich zurückgekehrt, als man bereits mit Sicherheit behauptete, daß in den langen, besonderen Gesprächen, mit welchen Seine Majestät den jungen gelehrten Geistlichen begnadigte, auch von anderen als von jenen philologischen Gegenständen, die der König als sein besonderes [221] Fach ansah, die Rede sei, und daß die Verbindungen des Geistlichen eben so weit verzweigt als mächtig wären.

Die Freundschaft, deren die Herzogin sich von des Königs Seite zu erfreuen hatte, fesselte den Abbé an sie. Auch zwischen der Gräfin Haughton und ihrer Tante hatte er Anfangs seine Kunst im Vermitteln geltend zu machen versucht, aber es war ihm nicht gelungen, Eleonore den Planen der Herzogin geneigt zu machen, ja, er hatte das Mißtrauen nicht besiegen können, mit dem die Gräfin, ihrer Mutterkirche treu, jeden katholischen Geistlichen betrachtete.

Nur wenige Tage vor der Ankunft des jungen Freiherrn hatte der Abbé sich in dem Saale der Herzogin im Beisein Eleonorens mit großer Wärme und mit der schwunghaften Weise, die ihm sehr wohl anstand, über das erhebende Gefühl ausgesprochen, welches für den Einzelnen aus der Zusammengehörigkeit mit einer großen Gemeinde erwachse. Man hatte seit Jahren wieder zum ersten Male den Tag von Mariä Himmelfahrt mit einer Procession gefeiert, bei welcher die Prinzen und Prinzessinnen des Königshauses selber die Kerze getragen, und die Herzogin hatte es sich trotz ihrer hohen Jahre nicht nehmen lassen, sich dem Zuge, so weit ihre Kräfte es ihr gestatteten, anzuschließen.

Die ganze alte legitimistische Gesellschaft fühlte sich wie verjüngt durch diesen Akt, weil er ihr die Tage ihrer frühesten Jugend in das Gedächtniß rief, und man gefiel sich darin, die politische Genugthuung, welche man sich und der Kirche bereitet hatte, und die Freude, die man über diesen Sieg empfand, als eine innere Beseligung und Erhebung zu bezeichnen, von welcher die Gräfin Haughton ausgeschlossen zu sehen der Abbé beklagte.

Er stand, während er ihr dieses mit seiner gewohnten edeln Weise aussprach, mit Eleonoren in der tiefen Brüstung eines Fensters ganz allein. Das Licht fiel hell auf ihn nieder, jede [222] Miene seines Antlitzes bestätigte die Wahrheit und den Ernst seiner Worte. Die Gräfin ließ ihr Auge nicht von ihm. Sie liebte es, ihn sprechen zu hören, ihn zu beobachten, denn er zog sie an, obschon sie ihm mißtraute; und ohne von seinen Schilderungen irgendwie ergriffen zu sein, sagte sie: Ich zweifle nicht an dem Glücke, dessen Sie alle heute theilhaftig geworden sind, und ich sehe es ja, wie völlig die große Gemeinschaft, deren Sie gedenken, den Einzelnen in sich aufnimmt und mit sich fortträgt. Aber bemühen Sie Sich nicht um mich, ich bin der Anstrengung nicht werth. Ich kann weder glauben noch lieben auf eines Anderen Geheiß, weder beten noch mich verheirathen, wo es mich selber nicht dazu drängt; und was kümmert es Sie, woran ich jenseit des Kanales glauben, oder meine Tante, an wessen Seite ich dort leben werde? Denn daß ich Frankreich und dieses Haus verlasse, sobald ich die mir zustehende Freiheit dazu erlange, daran, Herr Abbé, zweifeln Sie wohl selber nicht!

Und wer sagt Ihnen, Gräfin, fragte er sie, daß ich es ersehne, Sie als die Gattin des Prinzen Polydor zu sehen, wennschon ich Ihnen nie verhehlte, daß ich mich glücklich schätzen würde, eine so mächtige und freie Seele wie die Ihrige zu den Unsrigen zählen zu dürfen?

Die Gräfin war überrascht. Nie zuvor hatte der Abbé mit ihr über die Plane des Prinzen Polydor gesprochen; aber sie faßte sich schnell, und jene Andeutung ganz unbeachtet lassend, sagte sie: Sie nennen meine Seele mächtig und frei! Was kann die Macht und die Freiheit einer Seele ihrer Kirche nutzen, die blinden Gehorsam gegenüber ihrer unumschränkten Herrschaft fordert?

Wer herrschen will, bedarf der Menschen, die zum Herrschen fähig sind! gab er ihr zur Antwort. Zum Gehorchen sind Viele berufen, zum Herrschen werden einige Wenige erwählt.

[223] Und Sie gehören zu diesen Letzteren, nicht so, Herr Abbé? meinte Eleonore mit gewohnter Keckheit.

Der Abbé folgte jetzt dem Beispiele, das sie selber ihm gegeben hatte. Er überhörte geflissentlich den Ton, mit welchem sie diese Frage an ihn richtete. Ich hoffe mich durch Unterordnung unter die Weisheit der Herrschenden zum Herrschen geschickt zu machen, Gräfin! gab er ihr zur Antwort.

Sie halten also Herrschaft für ein Glück?

Ich halte die Herrschaft für die höchste Befriedigung, die dem Menschen zu genießen verliehen ist, und ich erachte es als die höchste Tugend, wenn ein zum Herrschen geborener Mann durch die Schule der Selbstbeherrschung und der Unterordnung sich dazu befähigt, für gute und edle Zwecke, für die höchsten Ziele, die Herrschaft über jene ungeheure und ungeschulte Masse zu gewinnen, die, sich selber überlassen, zu jedem Irrthume, zu jeder Ausschweifung, zu jeglichem Verbrechen zu verführen ist. Oder ersehnt Ihr Herz die Vorgänge und die Zeiten wieder, welche vor unserer endlichen Rückkehr dieses arme Frankreich heimgesucht haben?

Der Abbé wußte, wem er die Reize der Herrschaft anpries. Auch hatte die Gräfin ihm mit tiefem Ernste zugehört.

Sie sprechen von Zielen, wie sie dem Manne winken. Wo ist uns Frauen die Möglichkeit zu jenem Thun eröffnet, das Sie als die höchste irdische Befriedigung bezeichnen? versetzte sie darauf.

Der Abbé schwieg, als ob er sich scheue, ihr seine Meinung auszusprechen; endlich sagte er: Ihre Kirche, gnädige Gräfin, erkennt auch der hochbegabtesten Frau, wenn sie nicht zufällig auf einem Thron geboren ist, freilich kein anderes Regiment, als das in ihrem engen Hause zu. Die katholische Kirche, in der die jungfräuliche Mutter Gottes der Gegenstand der heiligsten Verehrung ist, hat aber zu allen Zeiten die hervorragenden [224] Frauen auszuzeichnen, an ihren Platz zu stellen und große Gewalt in ihre Hände zu legen getrachtet und verstanden. Ich weiß es, Sie kennen die Frau Aebtissin der heiligen Schwestern zum Herzen Jesu. Glauben Sie, daß diese fürstliche Frau sich entschließen könnte, die Würde, die sie in unserer erhabenen Kirche einnimmt, die Macht, welche in ihre Hände gelegt ist, den Einfluß und die hohe Verehrung, deren sie genießt, mit irgend einem Verhältnisse, wie die weltliche Gesellschaft ihr es bieten möchte, zu vertauschen?

Selbst wenn ich Katholikin wäre, würde das Kloster mich nicht locken; würde die Macht innerhalb der höchsten Beschränkung, die Herrschaft in den Banden des Zwanges und der Abhängigkeit mir keine Genugthuung bereiten! versicherte die Gräfin. Herr zu sein über mich selbst, Herr zu sein in jeder Stunde über jede meiner Entschließungen, das allein ist es, wonach ich trachte, und ...

Und was Sie sicher nicht erreichen werden, gnädige Gräfin, fiel der Geistliche ihr in das Wort, wenn Sie, Sich dem Willen der Frau Herzogin fügend, den Prinzen Polydor zu Ihrem Gatten wählen.

Er war mit dieser Wendung wieder auf den Ausgangspunkt ihrer Unterredung zurückgekehrt, und ihn mit fragendem Erstaunen anblickend, zögerte die Gräfin, ihm eine Antwort zu geben.

Der Abbé störte sie in ihrem Ueberlegen nicht. Er wußte, daß von der Fürstentochter bis herab zur niedrig geborenen Magd nicht leicht eine Frau der Versuchung widersteht, sich über ihre Herzensangelegenheiten und Ehestandsaussichten mit einem bedeutenden Manne zu besprechen, wenn dieser in denselben nicht betheiligt ist, und er hatte mit Sicherheit Eleonorens Frage erwartet, womit sie den Antheil verdiene, den er ihr beweise.

Aber auch er ließ sie seine Antwort jetzt erwarten, und [225] erst nach längerer Zeit, in der er mit sich zu Rathe gegangen zu sein schien, sagte er: Sie sind so jung, gnädige Gräfin, daß man sich immer wieder auf dem Fehler ertappt, an Sie die Maßstäbe anzulegen, nach welchen man die Mehrzahl der Frauen, die gewöhnlichen Jungfrauen in Ihrem Alter zu messen gewohnt ist. Diesen Fehler habe ich lange Zeit begangen, und Sie haben ihn mir mit einem Mißtrauen vergolten, das ich mit Beschämung als ein verdientes anerkennen muß. Wollen Sie mir diesen Fehler verzeihen, wollen Sie mir vergönnen, Ihnen ruhig auseinander zu setzen, in welcher Lage ich mich Ihnen gegenüber befinde, so werde ich Ihnen für das Erstere von Herzen danken und bin ich zu dem Letzteren bereit.

Der Abbé hatte bis dahin vor Eleonoren gestanden. Jetzt, als sei er ihrer Zustimmung gewiß, rückte er einen Lehnstuhl für sie herbei, nahm einen Sessel ihr gegenüber ein, und er sah dabei mit besonderer Genugthuung, wie die Mienen der Gräfin sich geändert hatten, wie sie mit Spannung in seinem Antlitze zu lesen strebte, was er ihr zu sagen haben könne.

Es würde mir und meinem Amte übel anstehen, hob er nach kurzem Ueberlegen an, wenn ich Ihnen aussprechen wollte, was die Gesellschaft der Sie umgebenden Männer Ihnen täglich und unablässig wiederholt, daß Sie an Schönheit die anderen Frauen überragen, daß der Mann glücklich zu preisen sein würde, dem es gelänge, Ihre Liebe und mit dieser den Besitz Ihrer Person zu gewinnen. Aber ich trage daneben kein Bedenken, Ihnen zuzugeben, was Ihnen, ich weiß es, von Seiten Ihrer früheren Erzieherin und Ihres geistlichen Berathers ebenfalls oft genug wiederholt werden mag, daß eine junge Frau von Ihrer ungewöhnlichen Begabung, von Ihrer Selbständigkeit und von Ihrem großen und unabhängigen Vermögen der Beachtung unserer Kirche nicht entgehen konnte. Wer überzeugt ist, die Wahrheit zu kennen und zu besitzen, muß, wenn er kein Elender [226] ist, sie mitzutheilen und vor Allem diejenigen derselben theilhaftig zu machen wünschen, von denen er erwarten darf, daß sie starke Zeugen für die Wahrheit werden können. Wer die Herrschaft als ein ihm von Gott verliehenes Recht ansieht, muß nach den Mitteln trachten, welche ihm das Herrschen möglich machen, und ich bin viel zu sehr von dem heiligen Rechte unserer Kirche überzeugt, viel zu sehr von ihrer alleinseligmachenden Kraft durchdrungen und von der erhabenen Aufgabe beglückt, die mein Amt mir auferlegt, als daß ich anstehen sollte, Ihnen zu bekennen, wie es mein heißer Wunsch, mein heißer Wunsch gewesen ist, eine Frau von Ihrer hohen und eigenartigen Begabung, von Ihrem fürstlichen Vermögen – denn weltlicher Besitz giebt Macht – in die Reihen unserer Bekenner eintreten, und Sie wo irgend möglich früher oder später Sich zu der kleinen Schar der Auserwählten gesellen zu sehen, welche die Welt regieren, weil sie wissen, was der menschlichen Schwäche angemessen ist und wohlthut.

Er hielt inne und sagte dann mit einem leisen Seufzer, der seiner männlichen Schönheit sehr wohl anstand: Ich habe, wie ich mit Beschämung erkenne, denn eines Irrthums hat der reife Mann sich stets zu schämen, mich mit einer falschen Hoffnung getragen, ich habe Sie nicht richtig beurtheilt. Ihr Sinn ist weniger groß, als ich mir's vorgestellt hatte; er verlangt nicht nach Herrschaft, er scheut nur vor persönlicher Abhängigkeit zurück, und einer solchen würden Sie in der Ehe mit dem Prinzen nicht entgehen, denn der Prinz hat trotz seiner gewinnenden Umgangsformen die ganze Herrschsucht seiner Mutter.

Es entstand eine Pause; der Abbé war anscheinend von dem Gegenstande seiner letzten Erörterungen abgekommen, als er die Rede noch einmal auf Eleonorens Verbindung mit dem Prinzen lenkte. Aber sie beachtete das nicht. Man konnte sehen, daß ihre Gedanken mit irgend einem Gegenstande lebhaft beschäftigt[227] waren, denn sie schaute schweigend vor sich hin, ohne ihre Blicke auf ihrer Umgebung haften zu lassen, und erst nach einer Weile, während welcher der Abbé sie sich selber überlassen hatte, fragte sie, als komme sie auf diesen Punkt nur zufällig zurück oder als benutze sie die Frage nur, um den eigentlichen Boden der Unterhaltung zu vermeiden: Sie haben also die Mutter des Prinzen auch gekannt?

Welche Frage, Gräfin! entgegnete der Geistliche, indem er sie mit forschendem Blicke ansah.

Eleonore besann sich. Freilich, freilich, rief sie, der Prinz ist älter, sehr viel älter, als Sie, und die Fürstin von Chimay ist noch jung gestorben!

Der frühe Tod der Frau Fürstin, meinte der Abbé bedeutsam, hinderte mich nicht, die Mutter des Prinzen Polydor zu kennen, und Sie selber, Gräfin ....

Er hielt inne; Eleonore sah ihn forschend an. – Ich verstehe Sie nicht, Herr Abbé, sagte sie, aber ich bemerke, daß Sie mir eine Mittheilung zu machen den ken, auf die Sie mich langsam vorzubereiten suchen, oder daß Sie Sich überzeugen möchten, ob ich von irgend welchen Verhältnissen unterrichtet bin, die Sie, vielleicht als ein Geheimniß, kennen gelernt haben. In beiden Fällen muß ich Sie bitten, Sich bestimmter auszusprechen, denn ich wiederhole es Ihnen, ich verstehe Sie nicht.

Der Abbé lächelte. Sie wollen mich glauben machen, Gräfin, sprach er, daß Ihnen, Ihnen allein die Beziehungen verborgen geblieben sein sollten, in welchen Prinz Polydor zu diesem Hause und dadurch auch zu Ihnen steht; und doch konnte nur Ihre Kenntniß dieser Umstände mir es bisher erklären, was Sie bewog, der Bewerbung des Prinzen, wenn Sie überhaupt gewillt sind, Sich zu vermählen, kein Gehör zu schenken.

Eleonore hatte die Farbe gewechselt; sie preßte die Lippen fest zusammen, wollte eine Frage thun, unterdrückte sie aber [228] und sagte dann: Ich befinde mich in diesem Augenblicke Ihnen gegenüber in einer Lage, die mich demüthigt und beschämt. Ich habe es Ihnen nie verborgen, Herr Abbé, daß Ihr Amt, daß die Tracht des Ordens, die Sie tragen, mir ein Vorurtheil, ein Mißtrauen gegen Sie gegeben haben, wie mir dieselben seit meiner frühesten Jugend eingeflößt worden sind. Jetzt beweisen Sie mir einen Antheil, den ich mir erklären könnte, hätte ich Ihnen nicht meine entschiedene Abneigung gegen Ihre Kirche ausgesprochen; und ohne daß diese Abneigung oder jenes Mißtrauen im geringsten nur verändert wären, bin ich genöthigt, Sie mit einer Bitte anzugehen und von Ihnen Aufschlüsse zu begehren. Wollen Sie mir, damit ich dieses thun kann, eine Frage aufrichtig beantworten?

Der Abbé erwiederte, daß sie zu befehlen habe und daß sie auf seine Wahrhaftigkeit vertrauen könne.

Nun denn, sprach sie, so sagen Sie mir unumwunden: was veranlaßt Sie, Sich um mein Schicksal zu bekümmern, da und nachdem ich Ihnen ausgesprochen habe, daß Sie nicht darauf rechnen dürfen, mich zu Ihrer Kirche zu bekehren? Was liegt Ihnen daran, was aus mir wird oder wem ich mich verbinde, sofern ich nicht katholisch werde und mich Ihren Ansichten und Hoffnungen nicht füge? Was bin ich Ihnen, Herr Abbé?

Der Abbé richtete seine dunkeln Augen, deren schönen Glanz die langen Wimpern nur erhöhten, ruhig auf die ihrigen und sagte: Ihre Frage erheischt von mir eine Antwort, die ich Ihnen nicht geben dürfte, wenn ich meiner nicht so völlig sicher wäre. Was Sie mir sind? – Er schwieg und betrachtete sie unverwandt; dann sagte er: Fragen Sie jeden Mann, der sich Ihnen naht, was Sie ihm sind? – Und abermals hielt er inne. Sie wollten mich herausfordern, Gräfin, sprach er dann, indem er sich hoch und stolzer hob, und sein mitleidiges Lächeln glitt strafend über sie hinweg, Sie wollten mich herausfordern, [229] Gräfin! Sie wollten Sich die Genugthuung bereiten, einen Geistlichen der von Ihnen mißachteten Kirche sich und seinem Eide untreu und zu Ihrem Sclaven werden zu sehen; schade nur, daß ich Ihnen diese Genugthuung nicht zu bereiten vermag!

Eleonore zuckte zusammen, ihre Wangen erglühten in der dunkeln Röthe der Scham; sie versuchte ihre Blicke, seinem Worte trotzend, zu dem Geistlichen zu erheben, aber sie vermochte es nicht. Er ließ sie eine geraume Zeit unter dem Drucke der ersten Demüthigung, die sie erfuhr. Als er sah, wie tief sein Vorwurf und diese Erfahrung sie getroffen hatten, nahm er ihre Hand und sagte wie in erbarmendem Vertrauen: Ich habe Ihnen die Wahrheit, eine volle Wahrheit verheißen, und ich habe keinen Grund, Ihnen irgend etwas von demjenigen vorzuenthalten, was Sie zu wissen begehren. Ich wiederhole es Ihnen also ohne jegliches Bedenken, Ihre vollkommene Schönheit, Ihre stolze Unabhängigkeit haben auch auf mich ihres Eindruckes nicht verfehlt. Der Eid, der uns von allem Begehrendürfen und Verlangen abtrennt, verbietet und verhindert das Sehen, das Erstaunen, das Bewundern nicht; aber wer aus voller Ueberzeugung sich einem großen Gedanken, einem die Welt umfassenden und über das Leben hinausgehenden Zwecke hingegeben hat, der findet keinen Raum in sich für persönliches Wünschen, der erlernt es, auch das Schönste und Begehrenswertheste nur als ein Mittel für den einen großen Zweck zu betrachten, und alles, was ich meiner Phantasie verstattet, was ich meinem Herzen zugestanden habe, als ich Sie in Ihrer von Gott begnadigten Erscheinung mit Ihrem für das Große geschaffenen Sinne vor meinen Augen Sich entfalten sah, war der Wunsch, der heiße Wunsch, Sie diese großen Gaben nicht auf kleinliche und Ihrer selber unwürdige Weise verwenden und verschwenden zu sehen. Eine Eleonore Haughton ist für die Gewöhnlichkeit des Frauenlooses nicht geschaffen!

[230] Er hatte ihre Hand nach festem, männlichem Drucke freigegeben, als habe er ihr nun alles gesagt, was ihr zu wissen nöthig sei. Er sah sich nach seinem Hute um; auch Eleonore hatte sich erhoben. Als der Abbé sich von ihr wendete, ließ sie ihr Auge über seine Gestalt hingleiten, und sie gestand sich, daß er schön, ja, daß er unter den Männern, die sie kannte, vielleicht der schönste sei. Wie ein Lichtstrahl, hell und flüchtig, zuckte der Gedanke durch ihren Geist: warum ist er nicht frei? warum trennt der Glaube ihn von mir? – Und in dieses Bedauern mischte sich zum ersten Male in ihrem Leben ein Mitleid mit sich selbst. Sie fühlte es, daß sie schon lange ihrer Erzieherin überlegen, daß sie stets sich selber überlassen gewesen sei. Sie kam sich plötzlich einsam und des Rathes sehr bedürftig vor und als der Abbé sich von ihr entfernen wollte, sagte sie sich, daß sie diesen Augenblick nicht vorübergehen, den Geistlichen nicht mit dem Glauben scheiden lassen dürfe, daß sie kleiner und geringer sei, als er sie geschätzt habe.

Herr Abbé, hob sie an, eine Unterredung wie die, welche wir eben gehabt haben, ist sicherlich keine gewöhnliche zwischen einem Geistlichen Ihres Alters und einem Mädchen von meinen Jahren, das Sie als eine Ketzerin betrachten. – Sie versuchte zu lächeln, aber sie war viel zu erschüttert, irgend etwas scheinen oder darstellen zu können, was sie nicht empfand. Dem Abbé entging das nicht, er behielt den Hut in der Hand und stützte sich auf die Lehne des Sessels, der sie von einander trennte, während er sein Haupt leise neigte, um sie mit seinem Blicke in ihren Mittheilungen nicht zu hindern.

Sie wartete auf irgend eine Entgegnung von seiner Seite; da er eine solche unterließ, sprach sie: Ich will Ihre Voraussetzungen gelten lassen, will nach Ihrem Worte von mir annehmen, was ich oft in mir gefühlt zu haben glaube, daß mein Sinn nicht unwerth wäre, sich auf ein großes Ziel zu richten. [231] Sind Sie überzeugt, daß mir eine große, eine wirksame Thätigkeit, daß mir Macht und Einfluß und Befriedigung in dem Bereiche des Lebens nicht geboten werden können, in welchen meine Geburt und mein Besitz mich stellen?

Das wird, wie ich Ihnen, theure Gräfin, schon vorhin bemerkte, einzig und allein von Ihrer einstigen Entscheidung über Sich selbst abhangen! entgegnete er ihr bestimmt, und wieder entstand eine Pause, die zu beenden der Abbé sich weislich hütete. Er kannte den heftigen Charakter, die leidenschaftliche Natur der Gräfin und wußte, daß Niemand von einem fremden Willen so schnell vorwärts, so über sein eigentliches Ziel hinausgetrieben wird, als von der Ungeduld des eigenen, an Warten und Ertragen nicht gewöhnten Herzens, und er hatte sich auch diesmal in seinen Voraussetzungen nicht getäuscht. Denn mit einer Miene, in welcher ihre Selbstüberwindung und ihre feste Entschlossenheit sich verriethen, sprach sie plötzlich: Sie haben mir eine Aufrichtigkeit gegönnt, die mich stolz macht und mich Ihnen zu Dank verpflichtet, Herr Abbé! Ich räume Ihnen ein, daß Sie meine Natur besser erkannt haben, als die Andern alle; aber die Straße, die Sie mich führen möchten, werde ich nicht gehen! Hindert Sie das, mir die Hand zu bieten und mir beizustehen auf dem Wege, den ich mir erwähle? Ich habe der Verehrer, seit ich in die Gesellschaft eintrat, nicht entbehrt; einen Mann, der sich beschieden hätte, mir ein Freund zu sein, habe ich nicht gefunden! Können, wollen Sie mir ein Freund, ein Berather werden? Ich brauche einen solchen, und – ich vertraue Ihnen! fügte sie mit einer Miene und einem Tone hinzu, die selbst auf den Abbé, so ruhig und mit so viel Selbstbefriedigung er sie betrachtete, ihre Wirkung nicht verfehlten, weil die ganze Ueberwindung, die sie in sich vollzogen hatte, sich in ihnen kund gab.

Sie hielt ihm die Hand hin, er ergriff sie auf's Neue mit einem festen Drucke, als habe er es mit einem Manne zu thun. [232] Ich danke Ihnen, Gräfin! befehlen Sie über mich! – Das war alles, was er ihr zur Antwort gab. Aber Eleonore ward von seinen Worten tief erschüttert. Sie konnte sich nicht erklären, was sie so bewegte, sie mußte sich sammeln, sich zusammennehmen, und es war endlich nur das Bestreben, von sich selber loszukommen und Herr über ihre innere Aufregung zu werden, welches sie bestimmte, die Frage nach der Mutter des Prinzen zu wiederholen.

Sie setzen mich gleich auf eine schwere Probe, meine junge Freundin, sagte der Abbé, denn ich laufe Gefahr, das eben von Ihnen erlangte Zutrauen zu verlieren, wenn ich Ihnen mittheile, was ich allerdings nicht als ein Geheimniß, sondern aus der Mitwissenschaft der Zeitgenossen über jene Verhältnisse erfahren habe. Prinz Polydor steht Ihnen näher, als Sie wissen oder ahnen, meine theure Gräfin, und eben das ließ mich nach den Begriffen unserer Kirche vor dem Gedanken, daß Sie ihm verbunden werden könnten, Bedenken tragen, ja erschrecken.

Sie verhießen mir die Wahrheit und sprechen in Räthseln zu mir! beklagte sich Eleonore, wie soll ich Sie verstehen?

Der Abbé sah auf den breiträndigen, zusammengeschlagenen Hut hernieder, den er in seinen Händen hielt. Es sind traurige Ereignisse, es ist eine schwere Sünde, von denen Sie Kunde begehren, sagte er, und doch müssen Sie erfahren, was Sie nur zu nahe angeht und was außer Ihnen kaum für Jemanden ein Geheimniß ist. Es hat durch lange Jahre, noch bei Lebzeiten des Herrn Herzogs von Duras, ein Liebesverhältniß, eine heftige Leidenschaft zwischen der Herzogin und dem Fürsten von Chimay bestanden, welche eine stillschweigende Trennung der herzoglichen Ehe veranlaßt hatte, lange ehe die Frau Herzogin ihres ersten und einzigen Kindes genas. Der Herzog hatte also vollen Grund, dieses Kind nicht als das seinige anzuerkennen; der Fürst hingegen wünschte, sich den Sohn der [233] geliebten Frau anzueignen, und diese verlangte für ihren Sohn nach einer Stellung, wie seine Abstammung sie ihm gesichert hätte, wäre seine Geburt eine rechtmäßige gewesen. Man kam also auf das Auskunftsmittel, den Neugeborenen einer Anderen, einer Fremden unterzuschieben. Freunde der Frau Herzogin und des Fürsten fanden in der schönen, brustkranken Tochter einer herabgekommenen Familie die Person und die Willfährigkeit, deren man bedurfte. Die Herzogin gebar in einer kleinen schweizerischen Stadt den Prinzen Polydor, Fräulein von Merrieux wurde dem Fürsten von Chimay hier in der Carmeliter-Kirche angetraut, der Fürst sicherte ihren Eltern ein namhaftes Vermögen zu, das fürstliche Ehepaar begab sich nach der Schweiz, den Sohn der Herzogin persönlich in Empfang zu nehmen, und diese mochte sich darauf Rechnung gemacht haben, nach dem voraussichtlichen Tode der jungen Fürstin sich ihren Sohn als Pflegesohn aneignen zu können. – Der Abbé hatte diese Thatsachen nackt und trocken hingestellt. Jetzt machte er eine kleine Pause, und ruhig und nachdenklich hob er dann auf's Neue zu erzählen an. Des Menschen Gedanken und des Herrn Wege sind gar oft verschieden, sagte er, und auch in diesem Falle bewährte sich die allwaltende Gerechtigkeit des Herrn. Wider alles menschliche Voraussehen stellte Gott die Gesundheit der Fürstin, die sich für die Ihrigen geopfert hatte, völlig wieder her, und er wendete ihr auch die ganze Neigung ihres Gatten, die volle Liebe ihres Pflegesohnes zu. Der Fürst vergaß in den Armen seiner edeln Gemahlin, auf welche Weise er sie erwählt hatte. Ihre Frömmigkeit suchte durch Buße sein Vergehen zu sühnen, und als wenig Jahre danach der Herzog von Duras das Zeitliche verließ, fand die Frau Herzogin sich von dem Genossen ihrer Sünde, wenn nicht vergessen, so doch aufgegeben. Erst nach dem Tode der gottergebenen Frau Fürstin stellte die alte Freundschaft zwischen Ihrer Frau Tante und [234] dem Fürsten von Chimay sich allmählich wieder her, und Sie werden es, da Sie die Frau Herzogin ja kennen, nur begreiflich finden, wie viel ihr daran gelegen sein muß, Sie, die Sie ihre rechtmäßige und einzige Erbin sind, mit dem Prinzen Polydor, mit ihrem Sohne, zu verbinden.

Eleonore war dem Berichte des Geistlichen mit höchster Spannung, mit großer Aufregung gefolgt. Nun, da er seine Erzählung beendet hatte, leuchtete eine unheimliche Freude aus ihren Augen.

Ja, Sie sind mein Freund! rief sie triumphirend aus, Sie sind mein wahrer, mein einziger Freund, und Sie sollen es sehen, daß ich Ihres Vertrauens nicht unwerth bin, Herr Abbé! Aber mich brauchen lassen wie Fräulein von Merrieux? Mich brauchen lassen, um Ihren Fehltritt gut zu machen und Ihrem Sohne sein Erbe zuzuwenden? – nimmermehr, Frau Herzogin, nimmermehr! Dazu ist Eleonore Haughton nicht gemacht! – Noch einmal meinen Dank, mein Freund, mein edler, mein großmüthiger Freund! wiederholte sie dem Abbé, und sich dann plötzlich von ihm wendend, verließ sie das Gemach.

Der Abbé sah ihr schweigend nach. Er war mit sich zufrieden, und wie ein sieggewohnter Mann das Gelungene erwägend, dasjenige, was jetzt zu leisten war, bedenkend, ging auch er von dannen, um ruhig und in sich gefaßt, wie immer, der Frau Herzogin seine gewohnte Aufwartung zu machen.

[235]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Renatus hatte, seit er der Gast der Herzogin und am Hofe empfangen worden war, nur selten und nur flüchtige Briefe in die Heimath gesendet, und er schlug sich die Nachrichten, welche ihm von dort mit Regelmäßigkeit gegeben wurden, gern aus dem Sinne.

Hildegard kam in jedem ihrer Briefe darauf zurück, daß die Signorina, wie sie Vittoria noch immer zu nennen liebte, sich in unbegreiflicher Weise verändert habe. Sie sei heftig und herrisch geworden, könne sich nicht darein finden, nicht mehr die ausschließliche Neigung ihres Stiefsohnes zu besitzen; sie mißgönne Hildegarden die Liebe ihres Verlobten, und an den Gedanken, künftig nicht mehr die Herrin des Hauses zu sein, könne oder wolle sie sich entschieden nicht gewöhnen.

Die Schreiberin versicherte dabei, daß sowohl sie als ihre Mutter alles Mögliche thäten, das gute, alte Verhältniß zwischen ihnen und der Signorina aufrecht zu erhalten. Dies sei aber gar nicht leicht, und es gelinge eigentlich nur Cäcilien, die noch immer dasselbe harmlose Kind geblieben sei, Vittorien zu gefallen und zufrieden zu stellen.

Dazu bemerkte Hildegard, es falle ihr auf, wie die gleichen Ereignisse auf die verschiedenen Charaktere verschieden wirkten. Was sie beträfe, so habe der Ernst der Zeiten sie gereift und ihren Sinn mehr und mehr dem äußeren Scheine abgewendet. Sie preise sich deßhalb glücklich, daß sie berufen sei, künftig an [236] ihres geliebten Renatus Seite auf dem Lande in edler und ernster Zurückgezogenheit ihre Tage hinzubringen. Sie habe in diesem Betrachte durchaus den Sinn und die Anschauungsweise ihrer Mutter geerbt. Cäcilie hingegen trage ein Verlangen nach der Welt, in dem sie von der Signorina, welche die Welt freilich noch weniger als ihre Schwester kenne, bestärkt werde, und die Mutter sei der Meinung, daß man den Beiden keine Hindernisse in den Weg legen dürfe, sondern ihnen so bald als möglich die Gelegenheit eröffnen müsse, sich selber durch die Gehaltlosigkeit der sogenannten Zerstreuungen von dem Werthe einer ernsten Lebensführung zu überzeugen. Sie habe eben deßhalb einen Plan entworfen, den sie Renatus bei seiner Rückkehr vorzulegen denke und dessen Ausführung hoffentlich das Wohlbehagen Aller sichern werde, während er zugleich die Mittel für eine zweckmäßige Erziehung Valerio's darzubieten verspreche, der hier im Schlosse, unter der schwachen Hand und bei dem launenhaften Sinne seiner Mutter, völlig sich selber und seiner eigenen Phantastik überlassen sei.

Sie erwähnte dann noch, daß man ab und zu Besuche aus der Nachbarschaft empfange, daß sie und die Mutter sich darin um des lieben Friedens willen den beiden lebenslustigen Freundinnen gern fügten und daß neulich auch Graf Gerhard wieder für einige Tage, von Berka kommend, im Schlosse ihr Gast gewesen sei. Da Renatus keine Zuversicht zu der Sinnesänderung seines Oheims besitze und ihrem und ihrer Mutter Auge nicht vertraue, enthalte sie sich, ihrem Verlobten zu berichten, wie wohlthuend des Grafen männliche Haltung auf Vittoria eingewirkt habe und wie eine einzige geheime Unterredung, die er mit derselben gehabt habe, die Baronin zu einem Nachdenken, ja, zu einem Ernste gebracht hätte, welchen der jetzige Geistliche in Vittoria hervorzurufen leider nicht verstehe. Auch mit dem Amtmann und mit dem Justitiarius habe der Graf, der sich [237] in den letzten Jahren in Berka vielfach mit der Landwirthschaft beschäftigt, gelegentliche Rücksprache genommen und danach ihr und der Mutter es an das Herz gelegt, Renatus zur Ernennung eines der Gutsverwaltung und der Landwirthschaft kundigen Generalbevollmächtigten zu bestimmen, falls er nicht bald zurückkommen und die allerdings schwierige Verwaltung seiner Güter wie die eben so wenig leichte Ordnung seiner Vermögensverhältnisse selber zu übernehmen entschlossen sein sollte.

Je weniger der Inhalt dieser Briefe mit dem fröhlichen Leben zusammenstimmte, in welchem Renatus sich bewegte, um so unangenehmer wirkten sie auf ihn, und auch die Briefe, welche er, seit Herr Flies gestorben und Paul der Inhaber des Flies'schen Geschäftes geworden war, aus der Residenz erhielt, waren nicht erfreulich.

Als ihm die Anzeige von dem Ableben des Kaufmanns Flies durch das allgemeine Rundschreiben der Firma auf dem Umwege über Richten zugegangen war, hatte Renatus mit einem gewissen Erschrecken aus demselben Briefe ersehen, daß der jetzige Inhaber des Geschäftes aus dem Heere in sein Haus zurückgekehrt sei und den Angelegenheiten desselben nunmehr wieder in Person seine Thätigkeit widme.

Dem Sohne seines Vaters mittelbar, wenn es sich so fügte, einen Vortheil zuzuwenden, hatte dem jungen Freiherrn angemessen und wohlanständig gedünkt; aber er mochte sich dagegen sträuben und sich dagegen vorhalten, wie und was er wollte, dieser Bastardbruder, der ihm, als sei es das Recht seiner Erstgeburt, die Züge seines Vaters, der ihm das Antlitz und die Haltung der Herren von Arten entwendet zu haben schien, war ihm immer eine unheimliche Gestalt gewesen. Seit nun vollends Renatus es den Seinigen verschwiegen, daß es eben Paul gewesen sei, dem er die Errettung aus Todesgefahr zu danken habe, hatte das Bewußtsein, eine Undankbarkeit begangen zu [238] haben, seine unbestimmte Abneigung gegen seinen Halbbruder noch gesteigert; denn es liegt in der Natur der meisten Menschen, daß sie demjenigen zürnen, dem sie ein Unrecht zugefügt haben.

Er bereute es jetzt, die Verbindung mit dem alten Flies nicht gleich nach dem Tode des Freiherrn abgebrochen zu haben, er ging mit sich zu Rathe, ob und wie er diese Versäumniß jetzt unschädlich machen könne; aber die Sache hatte, besonders da er in Paris zu bleiben wünschte, ihre großen Schwierigkeiten, ja, sie dünkte ihn in den gegenwärtigen Zeitläuften und Umständen, ohne Gefahr für seine Angelegenheiten, gar nicht ausführbar. Wenn er dem neuen Geschäftsinhaber des Flies'schen Hauses ein kränkendes Mißtrauen zeigte, konnte derselbe sich leicht versucht fühlen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und die Flies'schen Capitalien zu kündigen, die, seit langen Jahren auf Neudorf und Rothenfeld eingetragen, jetzt ohne Frage höher zu verwerthen waren, als in jenen Hypotheken. Dazu wußte Renatus, der sich bisher in der Heimath nur unter seinen Kameraden und inmitten der seiner Familie befreundeten adeligen Gesellschaft bewegt hatte, ganz und gar nicht, wie und in wem er einen Ersatz für die alten Geschäftsfreunde seines Hauses zu suchen habe oder wen er an Stelle des alten Flies zum Curator Vittoria's und Valerio's ernennen lassen solle. Und nachdem er im Geiste lange suchend um sich her gesehen hatte, meinte er plötzlich, doch eben in Paul den Mann gefunden zu haben, dessen er bedurfte.

Der Mann, der mich mit eigener Lebensgefahr beschützte, der also meinen Untergang nicht wünschte, kann nicht im Stande sein, so sagte er sich, mich irgendwie geflissentlich zu schädigen. Und dieser auf das menschliche, natürliche Gefühl richtig gebaute Schluß fand, nachdem er ihn einmal gezogen hatte, in dem Adelsstolze des jungen Freiherrn sofort noch eine unvorhergesehene Bekräftigung; denn obschon Renatus dies nur anerkannte, wenn es ihm eben für seine Zwecke paßte, es floß doch immer Arten'sches Blut in [239] Tremann's Adern, und dieses konnte sich nicht in Paul verläugnen, mit solchem Blute war man keiner niederen, keiner schlechten Handlung fähig.

Er war einen Augenblick nahe daran, es Tremann unumwunden auszusprechen, wie er in der Beziehung, in welcher sie zu einander ständen, und in der Selbstaufopferung, mit welcher Paul ihm vor Möckern beigestanden habe, die beste Bürgschaft dafür zu besitzen glaube, daß er die Familien- und Geschäfts-Angelegenheiten des Hauses von Arten-Richten keiner zuverlässigeren Kontrole, als der seinigen übergeben könne. Indeß Renatus war von früh auf dazu angehalten worden, bei allem seinem Thun es reiflich zu überlegen, ob er sich und seinem Stande damit auch nichts vergebe, und dieses ewige Erwägen hatte ihm allmählich die Fähigkeit eines schnellen Entschlusses und jede Möglichkeit eines Handelns nach freien, plötzlichen Eingebungen ein für alle Mal genommen. Seine Erziehung hatte ihn, wie einen Fürsten, ängstlich und scheu, hatte ihn mißtrauisch gegen Andere und gegen seine eigenen besten Empfindungen gemacht.

Er bedachte also auch in diesem Falle wieder, daß ein solches Aussprechen seines Vertrauens ihm für spätere Zeiten unbequeme, bindende Verpflichtungen auferlegen könne; daß es den scharfsichtigen Kaufmann leicht auf ein vorhergegangenes Mißtrauen schließen lassen dürfte, und als er dann endlich die Feder in die Hand nahm, um Paul mit nöthiger Behutsamkeit seine Zugeständnisse und Vorschläge zu machen, deutete er es ihm also, ganz gegen seine erste Absicht, in keiner Weise an, daß er wisse, in welchem Verhältnisse Paul zu seinem Vater gestanden habe. Er erwähnte es auch mit keinem Worte, daß er seinen Erretter in der Schlacht erkannt. Er erklärte ihm nur ohne Weiteres, wie er ihn, als den Nachfolger des Herrn Flies, mit welchem die Familie von Arten seit langen Jahren alle ihre Geschäfte zu machen gewohnt gewesen sei, auch ferner mit denselben ganz und gar zu [240] betrauen wünsche. Sollte Paul jedoch aus irgend einem Grunde zu der Uebernahme dieses Auftrages nicht geneigt sein, so müsse er ihn trotzdem jedenfalls ersuchen, sich der bisherigen Mühewaltung wenigstens so lange zu unterziehen, bis Renatus in die Heimath zurückkehren und sich, sofern dies nöthig würde, nach einem andern Handlungshause für seine Zwecke umsehen könne. Er sprach danach in guter Form die Hoffnung aus, daß die alte Geschäftsverbindung keine Störung zu erleiden brauche, knüpfte daran den Wunsch, daß sie beiden Theilen ersprießlich werden oder bleiben möge, und als er den Brief dann noch einmal gelesen und gesiegelt hatte, hielt er sich überzeugt, als ein sich selbst achtender Mann, nach reiflicher Ueberlegung und mit einem Vertrauen gehandelt zu haben, das mancher Andere in ähnlicher Lage Paul nicht bewiesen haben würde und das anzuerkennen derselbe sicherlich nicht ermangeln könne. Ja, er machte sich endlich geradezu darauf gefaßt, sich von dem geschmeichelten Ehrgefühle seines Bastardbruders jetzt für alle Zeit jedes Besten versehen zu dürfen. Er rechnete sich, wie gar Mancher, seine Aufwallungen von guter Empfindung, auch wenn er es, wie eben jetzt, für recht befunden hatte, sie schnell wieder zu unterdrücken, als gute Thaten an, deren Anerkennung und Belohnung ihm von dem Leben nicht vorenthalten werden dürfe, und er gewann damit nichts als die Möglichkeit, sich über das Leben und über die Menschen zu beklagen, wenn sie ihm für das Nichtgeschehene nicht zu danken vermochten und ihn nicht schätzten, wie er selbst sich beurtheilte und hochhielt. –

Es verging eine geraume Zeit, ehe Paul von dem jungen Freiherrn die lange ausgebliebene Antwort auf die Todesanzeige des Herrn Flies erhielt. Da Renatus dieselbe nicht, wie es sich eigentlich gebührte, an die Firma, sondern im Style und Tone eines halben Vertrauens an Paul persönlich gerichtet hatte, ließ dieser den Brief sofort verzeichnen, aber er behielt ihn auf seinem [241] Pulte liegen, denn er war nicht mit sich einig, was er thun und wofür er sich entscheiden sollte. Ein paar Tage lang erwog er diese Angelegenheit still mit sich allein, dann trug er sie, als er sich in einer ruhigen Abendstunde mit Seba und Daviden zusammenfand, gegen seine Gewohnheit den beiden Frauen vor.

Es begegnet mir selten, sagte er mit seinem schlichten Ernste, nachdem er ihnen das Schreiben von Renatus vorgelesen hatte, daß ich mir über meine Gedanken und Empfindungen keine rechte klare Rechenschaft zu geben vermag, und wo dieses der Fall ist, zögere ich mit meinen Entschlüssen. Ich hatte Anfangs die Absicht, das sogenannte Vertrauen des Freiherrn ohne Weiteres zurückzuweisen, weil er mit der geflissentlichen Rückhaltigkeit der Kaste, welcher er angehört, sich Dank von mir verdienen möchte, wo er mir viel Mühe und mannichfache Verantwortungen auferlegt. Ich wollte seiner halben Wahrheit mit dem ganzen Geständnisse entgegentreten, daß es mir nicht wünschenswerth sei, in das Vertrauen eben seines Hauses gezogen zu werden, weil ich selbst in dessen geheime Geschichte verwickelt bin. Damit ich dann aber auch völlig des äußeren Zusammenhanges mit der freiherrlichen Familie ledig würde, beabsichtigte ich Deine Capitalien, liebe Seba, von Rothenfeld und Neudorf zurückzuziehen und sie hier unter meinen Augen anderweit unterzubringen. Aber ...

Hältst Du sie auf den Gütern irgendwie gefährdet? unterbrach ihn Seba.

Paul verneinte dies, da es erste Hypotheken wären und der bloße Bodenwerth der Güter sehr bedeutend sei.

So laß das Geld dort stehen, bat die Freundin. Renatus ist der Sohn meiner theuersten Freundin, meiner unvergeßlichen Angelika! Man soll nicht glauben ...

Sie hielt inne, und da Paul sie darauf fragend ansah, sprach sie: Es lebt doch eine Anzahl von Personen, die um Deine Herkunft wissen. Ich möchte nicht, daß irgend Jemand Dir [242] den Vorwurf machen könnte, Du habest aus persönlichem Uebelwollen die ohnehin nicht günstige Lage der Arten'schen Familie noch verschlimmert. Und wenn Du in Dir selber ungewiß gewesen bist, wie Du handeln solltest, so bitte ich Dich, da mir obenein nach Deiner Meinung kein Nachtheil daraus erwächst, ändere nichts in den bis jetzt bestandenen Verhältnissen!

Paul gab ihr darin Recht. Ich hatte mich in Bezug auf die Hypothek, sagte er, bereits in Deinem Sinne entschieden; denn wenn es überall thöricht ist, sich unnöthig einer übeln Nachrede auszusetzen, so hat der Kaufmann doppelt Ursache, sich vor einer solchen zu bewahren. Seine Unternehmungen wie seine Erfolge sind vielfach auf das Vertrauen begründet, dessen er genießt, und es ist nicht der Nachtheil, sondern der Vortheil, den wir unseren Geschäftsverbündeten bereiten, welcher uns den eigenen, dauernden Gewinn verbürgt. Darüber also, daß Dein Capital auf Rothenfeld verbleiben soll, war ich selbst nicht mehr in Zweifel; nur ob ich wohl daran thun würde, das Amt zu übernehmen, welches Renatus Deinem Vater übertragen hatte und das er nun auf meine Schultern legen möchte, das habe ich mir noch nicht klar gemacht.

Du meinst, hob Seba an, es stehe Dir nicht zu, Dich zum Berather und Vertrauten eben der Arten'schen Familie herzugeben, weil man vermuthen könnte, Du seiest in ihren Angelegenheiten nicht völlig unparteiisch? Aber wenn Du wirklich Theil an ihnen nimmst und Renatus die Zuversicht zu Dir hat, daß Du ihm helfen könntest, so weiß ich nicht, warum Du dieser nicht entsprechen solltest? Du pflegtest doch vor dem Urtheile der Unverständigen nicht leicht Scheu zu tragen!

Paul hatte sie ruhig sprechen lassen. Als sie geendet hatte, sagte er: Ich mache, da ich Dich, Liebe, reden hörte, eine Erfahrung, die sich mir oft bestätigt hat und die sich mir jetzt eben deutlich wiederholt. Man braucht mitunter einen unrichtigen [243] Gedanken, den man selbst gehegt hat, nur von einem Andern aussprechen zu hören, um seine Unrichtigkeit sofort zu erkennen und auch die trübe Quelle zu entdecken, aus der er stammt. Ich habe mich, wie ich eben merke, bisher wirklich mit den Vorstellungen herumgeschlagen, deren Du gedenkst. Nun sehe ich, daß es lauter leere Schemen sind, die man nur fest in's Auge zu fassen braucht, damit sie in ihr Nichts verschwinden, und ich frage mich mit Erstaunen, wie ich mich also an falsche Begriffe verlieren konnte! Denn legte ich auf die Verwandtschaft, auf die Zusammengehörigkeit mit dem Arten'schen Hause irgend einen Werth, nun, so thäte ich vielleicht recht und klug daran, die mir gebotene Handhabe zu ergreifen! Gebe ich aber, wie dies der Fall ist, nichts auf meine Abstammung von ihnen, so ist, wie Du mit Recht behauptest, vollends kein Grund vorhanden, weßhalb ich ein an und für sich gutes Zutrauen von mir weisen sollte! Und wenn ich daneben mein inneres Widerstreben immer wieder fühle, so frage ich mich mit Fug und Recht: Was habe ich mit diesen Artens denn gemein, daß ich befürchten müßte, für oder wider sie in einem Grade eingenommen zu sein, der mein Thun und Lassen bis zu einer ungerechtfertigten Handlungsweise beeinflussen könnte?

Seba blickte ihn mit Ueberraschung an, und auch Davide hob ihre sanften, klugen Augen fragend zu ihm empor, als die Erstere die Worte aussprach: Was Du gemein mit ihnen hast? – Der Freiherr von Arten war Dein Vater!

Der Freiherr von Arten war mein Erzeuger, weiter nichts! Ein Vater hat er mir nicht sein wollen, ist er mir nicht gewesen! entgegnete Paul bestimmt. Und, fügte er hinzu, die Zeit, die Knabenzeit, in welcher ich dieses Letztere als ein Unglück für mich empfand, liegt sehr fern hinter mir! Der Baron von Arten lebte und handelte nach sehr falschen, sehr verwerflichen Begriffen, als er das verwaiste, nicht zu seiner Kaste gehörende [244] Mädchen je nach seiner Laune und nach seinem Bedürfen an sich kettete und von sich stieß, als er es zu dem Opfer seiner Wollust machte und es dann später seiner Ehe auch zum Opfer brachte. Aber er handelte darin nicht besser und nicht schlechter, wie unzählige Andere auch! Mein Dasein hat ihn sicherlich nur bis zu dem Augenblicke gefreut, in welchem er meine Mutter von sich zu entfernen wünschte – ich habe ihm für dasselbe also keinen besonderen Dank zu zollen, denn die höchsten Vaterrechte und die wahre Kindesliebe werden für den denkenden Menschen nicht angeboren, sondern durch die dem Kinde gespendete Liebe erworben! Der Freiherr hat meine Liebe nicht begehrt, und als ich nach der seinigen Verlangen trug, ist sie mir nicht zu Theil geworden! Den Tod meiner Mutter hat er, deß bin ich gewiß, eben so wenig gewollt, als ich die kranke Baronin zu erschrecken und zu gefährden beabsichtigte, da ich in Deines Vaters Laden vor sie hintrat! Mit seinem kalten Blicke hat er mich in die Welt hinausgetrieben, weil mein früh erwachtes und von Dir gepflegtes Selbstgefühl es nicht ertragen konnte, Wohlthaten von demjenigen anzunehmen, der uns zu verläugnen nöthig findet! Und ich bin dann in einer Anwandlung von Empfindsamkeit, der nachzugeben ich nicht wohlgethan habe, ihm vor dem Kriege einmal in Richten in einer Weise gegenüber getreten, die ihn quälte und mich nicht erfreute! Der Freiherr Franz von Arten und ich, wir waren also völlig mit einander quitt!

Seba schüttelte leise verneinend das Haupt. Wissentlich oder nicht – ich glaube, Du täuschest Dich über Dich selbst, bemerkte sie – Du grollst dem Freiherrn noch!

Nein! betheuerte er, wie könnte ich das, da ich meine Flucht aus Europa schon zeitig als ein Glück für mich erkennen lernte? Hat sie allein mich doch zu der inneren und äußeren Selbständigkeit geführt, die ich im Weißenbach'schen Hause und [245] in der Abhängigkeit von des Freiherrn Willen schwerlich oder doch weit später erst errungen haben würde! Muß ich Dir heute noch versichern, daß ich mit meinem Lebensgange und Lebensloose ganz und gar zufrieden bin, weil sie mir für alle meine Fähigkeiten die Möglichkeit einer vollständigen Entwicklung, für all mein Wollen und Thun eine völlige Freiheit gewähren! Was hat das Leben mir denn versagt? Was könnte ich wünschen, das ich mir nicht zu erringen vermöchte? Oder was besitzt Renatus, des Freiherrn Erbe, um das ich ihn zu beneiden hätte? – Und vollends seit Du mir gewiß bist, seit Dir, Du Geliebte, zu Gute kommen soll, was ich schaffe und bin, fügte er zärtlich hinzu, Davide in seine Arme schließend – was könnte ich noch verlangen?

Aber Seba gab sich so leichten Kaufs nicht für überwunden. Der Unterschied, den Du zwischen einem Erzeuger und einem Vater machst, widerstrebt meinem ganzen Empfinden, sagte sie. Der Mensch hängt, wie ich es fühle, unzertrennbar mit denen zusammen, denen er sein Dasein schuldet. Er kann sich nicht denken, ohne an sie zu denken – sie sind seine Voraussetzung. Und war es denn nicht ein Gefühl der brüderlichen Zusammengehörigkeit, mit welchem Du, Renatus erkennend, ihm trotz eigener Gefahr zu Hülfe eiltest?

Du irrst, Liebe! In jenem Augenblicke dachte ich gewiß an nichts und an Niemanden weniger, als an irgend eine Verwandtschaft mit dem Herrn von Arten! Ich eilte einem Angegriffenen, einem Kameraden zu Hülfe und erkannte in ihm den jungen Freiherrn! Welchem Bedrängten hätte ich, hätte jeder Andere nicht das Nämliche gethan?

Was aber kann Dich also zögern machen, den Auftrag von Renatus anzunehmen und seinem bittenden Wunsche zu entsprechen? Du würdest keinem Andern an seiner Stelle diesen Dienst verweigern, wie mich dünkt!

[246] Nein, gewiß nicht, entgegnete ihr Paul, und das eben ist es, was mich die Tage hier innerlich belästigt hat! Ich wiederhole es mir, daß ich keinen ausreichenden Grund habe, mich dieses Dienstes zu weigern, daß ich ihn dem Freiherrn wenigstens bis zu seiner Heimkehr zu leisten nicht wohl umhin kann, ohne ihm zu Vermuthungen über mich Ursache zu geben, die jedes Anhaltes entbehren; und doch wollte ich, ich fände einen Anlaß, mich von dem Anspruche wie von der Leistung zu befreien!

Paul stand auf, ging an das Fenster und blickte eine Weile schweigend hinaus. Da trat Davide zu ihm, legte ihren Arm in den seinigen und fragte: Besorgst Du denn irgend welche Unannehmlichkeiten für Dich, wenn Du das Verlangen des Barons erfüllst?

Paul besann sich. Einen eigentlichen Nachtheil für mich befürchte ich nicht, gab er ihr zur Antwort. Aber, fügte er hinzu, und die Frauen erkannten an seinem Tone, daß der Unmuth in ihm rege wurde, aber an Unannehmlichkeiten würde es dabei für mich nicht fehlen; denn Ihr kennt meine Unlust an allem halben Thun und meine Abneigung, mich mit den Angelegenheiten einer Kaste zu befassen, welche sich schon durch ihre bloße Geburt von der Allgemeinheit abgesondert und über sie erhaben glaubt. Ihr wißt, ich habe die im Ganzen stets kleinlichen Geschäfte, welche der Vater mit dem Adel des Landes zu machen pflegte, nach und nach völlig von uns abgewiesen. Sie sagten mir nicht zu, und ich ziehe es ohnehin vor, mit meines Gleichen in Geschäftsverkehr zu stehen!

Seba schwieg noch einen Augenblick, um seiner Stimmung zum Ausklingen die Zeit lassen, dann sagte sie: Du tadelst uns, und stets mit Recht, wenn Du uns in einem Vorurtheile befangen findest. Ist Deine Abneigung gegen den Adel im Allgemeinen denn nicht auch ein Vorurtheil, wie jedes im Allgemeinen über einen ganzen Stand gefällte Urtheil?

[247] Nein, versetzte Paul, und es überrascht mich, in Dir einen heimlichen Bundesgenossen des jungen Freiherrn, ja, eine Art von Vorliebe für den Adel zu entdecken, die ich, ich möchte sagen, in Deinem Tone mehr noch als in Deinen Worten höre. Deine bittende, entschuldigende Stimme spricht für sie, und ... Er hielt inne und sprach dann mit unverkennbarer Bitterkeit: Du weißt es, dünkt mich, es waren nicht die Herren von Arten, die zuerst den Widerwillen gegen die Adelskaste in mein Herz gedrückt haben!

Es entstand eine Pause; Seba war bleich geworden. Paul, der sich nur selten zu einer Härte hinreißen ließ, besonders wo diese einem geliebten Menschen schmerzlich werden konnte, bereute seine Uebereilung auch sofort. Und wie er eben jetzt von dem Allgemeinen zu einem Persönlichen übergegangen war, versuchte er nun, von diesem zu jenem seinen Rückweg zu finden.

Von einem wirklichen Vorurtheile, hob er an, kann, wie mich dünkt, überhaupt nur da die Rede sein, wo es sich um bloße Meinungen, um Vermuthungen, um unbestimmte Abneigungen, nicht aber, wo es sich um ganz entschiedene Thatsachen und um sehr wesentliche Vorrechte handelt, welche noch in jedem Augenblicke von einem bis jetzt vielfach bevorzugten Theile der Staatsangehörigen gegen alle übrigen Staatsbürger geltend gemacht werden können. So lange es noch Gesellschaften gibt, die sich einem Bürgerlichen blos um seines Blutes willen verschließen, Würden und Aemter, die man ihm aus gleichem Grunde vorenthält, so lange die Heirath eines Edelmannes mit der edelsten Tochter einer ehrenhaften bürgerlichen Familie, mag des Adeligen Charakter noch so elend, sein Ruf noch so zweifelhaft sein, von seines Gleichen als eine Mißheirath angesehen wird, die in gewissen Fällen der Staat als eine solche gesetzlich anzuerkennen nicht Bedenken trägt, ja, so lange selbst die Arbeit, die ich thue, der Handel, auf dem mein Wohlstand und mein [248] Stolz, wie der ganze große Weltverkehr beruhen, als ein dem Adeligen nicht anstehendes Thun erachtet wird, so lange fühle ich mich nicht berufen, die Hand dazu zu bieten, daß diesen alten Geschlechtern neben ihren ererbten Vorrechten auch noch ihr ererbter Besitz trotz ihres oft hochmüthigen und müßiggängerischen Leichtsinnes erhalten bleibe.

Der Stolz auf ihr Blut, vergiß das nicht, ist in ihnen völlig unabhängig von ihrem Besitze, wendete Seba ein.

Aber die Besitzlosigkeit zwingt sie, sich in Arbeit und Gewerbe aller Art zu uns zu gesellen und damit ihren Ansprüchen auf eine Ausnahmestellung so nothwendig zu entsagen, als sie genöthigt gewesen sind, aus ihren einsamen Burgen und Raubnestern in die Städte und in das flache Land hinunter zu ziehen. Ausnahmestellungen verschlechtern den, der sie inne hat, wie sie auch jenem zu nahe treten, gegen den sie sich richten.

Willst Du es geflissentlich verkennen, fragte Seba, deren hoher Sinn es sich zur Aufgabe gemacht hatte, selbst da gerecht und mild zu sein, wo sie am meisten Anlaß zur Strenge und zur Verdammung hatte, willst Du es verkennen, daß die letzten Jahrzehnde viel, sehr viel in jenen Zuständen geändert haben, deren Du gedenkst? Haben wir uns nicht lange vor den Freiheitskriegen in dem gemeinsamen Bestreben, für die Erhebung des Vaterlandes zu wirken, mit Personen aller Stände, mit den Mitgliedern des ältesten Adels in nie zu vergessender Begeisterung und Einigkeit zusammengefunden? Habt ihr nicht Mann an Mann in Reihe und Glied gestanden, der Bürger wie der Edelmann?

Ja, entgegnete Paul, und es ging ein düsterer Schatten über seine festen, ernsten Züge, ja, so lange Noth am Manne war, so lange der Mann seinen Mann zu stehen hatte und man die Landwehr brauchte, sich des Feindes zu erwehren! – Er hielt wie im Nachdenken eine kleine Weile inne. Dann sprach er mit ernstem Gewichte: Die Spanne Zeit, die seitdem verflossen, [249] ist kurz genug; aber blicke um Dich und frage heute nach, und Du wirst erfahren, was Dich nicht erfreut! Wo ist die Freundschaft der Gräfin Rhoden geblieben, die zur Zeit des Tugendbundes ohne Dich kaum leben zu können behauptete? Wo zeigt sich noch die große Verehrung, welche Hildegard für Dich hatte? Seit der Freiherr von Arten ihnen ein Asyl in seinem Schlosse angeboten hat, seit die alte Ordnung der Dinge wieder hergestellt, ist jene Freundschaft sehr schweigsam geworden, und von Hildegard's Verehrung ist auch nichts mehr zu hören. Und vollends nun im Heere! Wir Landwehrmänner sind, wie es sich gebührt, zu unserem Herde, zu unserer Arbeit, zu einer schaffenden Thätigkeit zurückgekehrt. Die Wunden, welche der Krieg dem Lande geschlagen, verlangen ihre Heilung. Die Junker aber stehen und bleiben in der Armee nach wie vor, auch im tiefsten Frieden, in Reihe und Glied beisammen, und schon jetzt wieder fühlen sie sich als die alte Kaste. Nur noch eine kleine Geduld, und sie werden es vergessen haben, daß es nicht eine, daß es sicherlich nicht ihre Kaste allein gewesen ist, welche das Joch der Fremdherrschaft von uns genommen hat, sondern daß der König seinen Thron und wir unsere Befreiung der großen, ganzen Masse des Bürgerstandes zu verdanken haben, der sich mit seiner überwiegenden Zahl und Kraft in den Kampf gestürzt und geholfen hat, ihn glorreich auszufechten.

Er stand auf und ging ein paar Mal im Zimmer auf und nieder. Da gesellte sich Davide abermals zu ihm, und ihren Arm wieder in den seinigen legend, fragte sie: Du bist also entschlossen, das Verlangen des Freiherrn nicht zu erfüllen?

Ja, denn es ist sicherlich das Klügste, was ich thun kann.

Die beiden Frauen schwiegen; aber Paul konnte bemerken, daß es ihm dieses Mal nicht gelungen war, sie zu seiner Meinung hinüberzuziehen, und er wollte eben das Gemach verlassen, um dem Freiherrn zu melden, daß er dessen Wünschen nicht entsprechen könne, als Seba ihn mit der Bitte anging, ihr zu [250] Liebe von seinem Vorsatze abzustehen. Sie behauptete, man dürfe im besonderen Falle, und er dürfe gerade in diesem besonderen Falle es den Einzelnen nicht entgelten lassen, was man gegen die Gesammtheit, welcher jener zufällig angehöre, einzuwenden habe. Wer sich geistiger Freiheit rühmen könne, habe vielmehr die sittliche Aufgabe, die weniger Freien so viel als möglich an sich heranzuziehen, um ihnen den Weg zu richtigeren Anschauungen zu eröffnen; und als Paul darauf den Einwand machte, daß ihre Güte sie zu falschen Schlüssen und Urtheilen verleite, erklärte sie, daß, wie sie auch irren möge, sie sich doch von dem guten Herzen und der guten Sinnesart des jungen Freiherrn völlig überzeugt halte. Schon daß Renatus sich eben an Paul wende, verbürge ihr, wie die Erfahrungen der letzten Jahre für Renatus Frucht getragen hätten. Es könne ihm ja in seiner Familie, unter seiner Bekanntschaft nicht an Personen fehlen, die ein solches Vertrauensamt zu übernehmen nicht anstehen würden. Wenn er trotzdem es eben Paul zu übertragen wünsche, dessen Abstammung von dem verstorbenen Freiherrn Franz für Renatus kein Geheimniß sei, wenn er einen Bürgerlichen, dessen auf Freiheit gegründete Gesinnungen er kenne, wenn er endlich einen Kaufmann zum Berather und Vertrauensmanne der Familie zu machen sich entschließe, von dessen weitgreifender Thätigkeit, von dessen energischer Handlungsweise er vielfach durch sie selber habe sprechen hören, so leiste dieses alles dafür Bürgschaft, daß Renatus von der gegenwärtigen Zeit und von dem, was ihm selber Noth thue, mehr, weit mehr begriffen habe, als Paul anzunehmen scheine. Sie wiederholte darauf ihre Bitte mit dem Zusatze, daß Paul nach ihrem Empfinden ein entschiedenes Unrecht thun würde, einen Rath- und Beistandsuchenden, der, Paul möge sagen, was er wolle, doch immer seines Vaters Sohn, sein Halbbruder sei, ohne alle bestimmten Gründe von sich zu stoßen; und als hätte sie in des jungen Edelmannes Seele gelesen, bemerkte sie, wie es vielleicht gerade [251] diese Zusammengehörigkeit, wie es wohl das Zutrauen zu dem Sohne seines Vaters sein möge, welches Renatus zu Paul hingeführt habe und ihn seine Hoffnung auf denselben setzen lasse.

Aber gerade diese letzte Muthmaßung fand vor dem Verstande Paul's nicht Gnade. Ich begehre eines solchen ererbten und auf keine vernünftigen Gründe zurückzuleitenden Vertrauens nicht, am wenigsten, wo ich's nicht theile! versetzte er kurz.

Als dann aber auch Davide in ihn drang, den Bitten der Cousine nachzugeben, als sie ihm versicherte, daß es sie glücklich machen und daß sie stolz darauf sein würde, wenn er der Arten'schen Familie mit großmüthiger Freiheit des Sinnes beistehen wolle, wenn sie ihn auch bei diesem wie bei jedem anderen Anlasse um seiner hülfreichen Selbstlosigkeit willen verehren dürfe, sagte er: Alle Eure Vorstellungen beweisen mir nur, daß auch in Euch die in Europa leider noch so verbreitete Voreingenommenheit für die alten Familien und die alten Namen tiefer wurzelt, als ich nach meinen und Euren Erfahrungen zu vermuthen Ursache hatte. Aber sei es drum; vielleicht erhaltet Ihr einen neuen Beitrag zur Menschenkenntniß und zur Kenntniß des Adels, der Euch aufklärt! Ihr sollt Euren Willen haben! Und es wird nicht an mir liegen, wenn sich Dein Begehren, liebe Seba, daß ich dem Sohne Deiner Freundin nützlich werden möchte, nicht erfüllt, wie Du es wünschest!

Ohne ihre Antwort abzuwarten, verließ er sie. Aber noch in derselben Stunde schrieb er dem jungen Freiherrn, daß er bereit sei, sich der Oberaufsicht über seine Angelegenheiten und, wenn die gerichtlichen Schritte deshalb gethan sein würden, auch der Vormundschaft über den Knaben Valerio bis zu Renatus' Rückkehr zu unterziehen. Doch werde es ihm, im Hinblicke auf die eigenen, ihn vollauf in Anspruch nehmenden Geschäfte, sehr erwünscht sein, die Heim kehr des Freiherrn nicht in zu ferne Zeit hinausgeschoben zu sehen.

[252]
8. Capitel
Achtes Capitel

Der Herbst, welcher im Norden sich nur selten und nie auf lange Zeit als ein freundlicher Vermittler zwischen dem Sommer und dem Winter zeigt, entlehnt in den glücklicheren Himmelsstrichen dem Sommer seine Wärme, dem Winter seine Klarheit, und niemals hatte er schöner und beständiger auf die Erde und auf das ohnehin so freundliche Paris hinabgeblickt, als in dem warmen, schönen Jahre von achtzehnhundert und siebzehn.

Die Blätter waren bereits lange von den Bäumen abgefallen, die Sonne ging schon früh zur Ruhe, aber die Mittage waren noch hell und warm wie in der besten Jahreszeit, und die Herzogin machte noch alltäglich ihre Fahrten in das Freie, obschon eine gewisse Veränderung mit ihr vorgegangen war. Nicht daß ihre Körperkräfte abgenommen hätten. Sie war immer noch um die gewohnten Stunden sichtbar, schrieb Briefe, empfing Besuche, fuhr zu den kleinen Zirkeln des Königs an den Hof; aber wer wie Renatus Gelegenheit hatte, sie genauer zu beobachten, dem konnte es nicht entgehen, daß sie nicht mehr die volle Herrschaft über sich besaß, daß es ihr oft schwer fiel, den Anschein der gleichmäßigen Ruhe zu behaupten, die sonst nie von ihr gewichen war, und daß irgend etwas sie innerlich aufrege und ungeduldig mache.

Trotz der schmeichlerischen Nachgiebigkeit, mit welcher sie Eleonoren begegnete, deren zurückweisende Kälte sich beständig [253] gleich blieb, sah Renatus es, wie unablässig die Herzogin ihre Nichte beobachtete, und so oft die Letztere mit ihm im Besonderen gesprochen hatte, mußte er sich auf irgend welche Erörterungen und Fragen gefaßt halten, die sich stets auf Eleonoren bezogen und denen zu stehen seinem Ehrgefühle allmählich so lästig ward, daß er trotz des Wohlgefallens, welches er an der Gesellschaft der Herzogin hegte, sich oftmals versucht fühlte, auf ihre Gastfreundschaft Verzicht zu leisten. So oft er es jedoch am Abende unerfreulich gefunden hatte, zwischen den beiden einander mißtrauenden Frauenzimmern zu leben, und so oft er es sich vorgenommen hatte, am andern Morgen der Herzogin zu sagen, daß sein Dienst ihn nöthige, ihr Haus zu verlassen und eine Wohnung in der Nähe seines Chefs zu suchen, so fehlte ihm, wenn er das Wort aussprechen sollte, der Muth dazu.

Volle zwei Jahre hatte er jetzt im Hause seiner Beschützerin gelebt, und es lag in den äußerlich ruhigen und glatten Lebensgewohnheiten dieses Hauses etwas Verführerisches, etwas, das ihm die Seele einspann und gefangen nahm. Er konnte sich es gar nicht mehr denken, daß er nicht morgen oder übermorgen und heute eben so wie gestern diese breite und gelinde Treppe hinabsteigen, daß er morgen die Herzogin nicht bei guter Zeit in ihrem Zimmer aufsuchen und sie in ihrer anmuthigen Weise die Vorgänge des Tages und die Ereignisse am Hofe besprechen oder sie von den Zeiten erzählen hören werde, in denen man seines Lebens anders und besser froh zu werden verstanden habe, als jetzt.

Wenn er erwachte, fragte er sich: Wie wird die Gräfin heute aussehen? Was wird sie heute vorhaben und unternehmen? Wenn er in die Gemächer der Herzogin trat, suchte sein Auge Eleonoren, und es kam ihm vor, als beginne sein eigentliches Tagewerk mit der Minute, in welcher er ihrer ansichtig ward, in welcher seine Blicke sich auf der vollendeten Schönheit ihrer [254] Gestalt und ihres Antlitzes ergingen. Sein militärischer Dienst ward ihm jetzt lästig. Der Umgang mit seinen männlichen Altersgenossen, alles, was ihn bei dem ersten Eintritte in Paris und in diese Gesellschaft gefesselt hatte, dünkte ihm nicht mehr wichtig, nicht mehr reizend, wenn es ihn von Hause fern hielt. Eleonore zu betrachten, zu sehen, wie die verschiedenen Gemüthsbewegungen sich in ihrem Angesichte malten, zu errathen, was sie denke, sich vorzustellen, was sie sagen werde, sich zu freuen, wenn seine Voraussicht ihn nicht betrogen hatte und er sich also rühmen durfte, daß er sich in Uebereinstimmung mit ihr befunden habe, das waren ihm Genüsse und Freuden, gegen welche alles Andere für ihn verblaßte.

Er merkte es nicht, daß wieder ein Sommer entschwunden war, daß wieder ein Herbst vorüberging und der Winter seine Herrschaft geltend machte. Er lebte wie in einer besonderen Welt, wie unter dem Einflusse eines Zaubers; und so groß war die Gewalt desselben, daß er sich über den Zustand gar nicht wunderte, in welchem er sich befand, sondern, daß er ihm als der natürliche, als der einzig mögliche erschien. Er war heiter und es war ihm wohl. Das war alles, was er fühlte, was er dachte, wenn nicht Briefe aus der Heimath ihn in seinem Frieden stören kamen.

Eleonorens Herbigkeit hörte allmählich auf, ihn zu verletzen. Er war es gewohnt worden, daß sie ihrer Tante kalt begegnete. Der Stolz, die Herbigkeit paßten so vollkommen zu ihrer eigenartigen Schönheit, und er selber hatte ja seit der Stunde ihres ersten Begegnens sich niemals über sie beklagen dürfen. Wie ihm ihre Weise, so war auch der Gräfin seine Gesellschaft mit der Zeit lieb und vertraut geworden. Sie fragte ihn um die Stunden, welche sein Dienst beanspruchte, sie ließ sich von ihm berichten, was er erlebt hatte, wenn er außer dem Hause gewesen war; er konnte darauf rechnen, daß [255] sie ihn immer, auch in der bewegtesten Gesellschaft, mit Vergnügen in ihre Nähe kommen sah, und wie eine Fürstin gestand sie sich das Recht zu, stets über ihn zu verfügen, sei es, daß sie ihn aufforderte, sie zu Pferde bei ihren Spazierritten zu begleiten, oder daß sie sich ihm im voraus für die Tänze zusagte, für welche sie ihn bei einem bevorstehenden Feste zu ihrem Partner zu haben wünschte. Selbst über seine Anhänglichkeit an ihre Tante rechtete sie nicht mehr mit ihm, weil seine Aufmerksamkeit für die Greisin sie mancher Verpflichtungen und jener kindlichen Dienstleistungen enthob, denen sie sich immer nur widerstrebend unterzogen hatte.

Aber nicht allein Eleonore hatte dem deutschen Edelmanne ihre Gunst zugewendet, der Abbé war ihr darin zuvorgekommen, und es hatte sich zwischen diesen drei, einander durch ihre Lebenslage so unähnlichen Personen eine Freundschaft herausgebildet, welche Niemandem entging und welche die ungeduldige Aufregung der Herzogin veranlaßte. Denn diese Freundschaft konnte ihr, darüber täuschte sie sich nicht, so gefährlich als nützlich werden, konnte ihren Planen dienen oder sie durchkreuzen, und die Fäden, durch welche diese drei Menschen zusammenhingen, waren so eigenthümlich verschlungen, berührten die Wünsche der Herzogin so mannigfach, daß sie Anstand nahm, Hand daran zu legen, während sie es für nöthig hielt, beständig ihr Auge auf dieselben gerichtet zu halten.

Seit ihre Nichte herangewachsen, war die Verbindung derselben mit dem Prinzen Polydor der vorherrschende Gedanke der Herzogin gewesen, und seit man nach Frankreich zurückgekehrt, hatte sie selber den Abbè mit der gegen diesen offen ausgesprochenen Absicht in ihr Haus gezogen, daß er die Bekehrung Eleonorens, welche ohnehin dem strenggläubigen und äußerst kirchlichen Hofe ein wohlgefälliges Ereigniß sein mußte, unternehmen möge. Sie hatte sich dabei sorgfältig gehütet, es dem [256] Abbé zu vertrauen, welche Hoffnungen sie auf Eleonorens Uebertritt zur katholischen Kirche baue, und der gewandte Weltmann hatte zu viel Umsicht und zu viel gute Erziehung besessen, um errathen zu lassen, daß ihm klar sei, was man ihm zu verbergen noch für angemessen fand. Nur von Eleonorens Seelenheil war zwischen ihm und der Herzogin die Rede gewesen, nur im Hinblick auf dieses hatte die Herzogin die Besorgniß ausgesprochen, daß ihr und des Abbé's Einfluß auf Eleonore sich nothwendig jetzt verringern dürfte, da Eleonore mit ihrem letzten Geburtststage ihre gesetzliche Volljährigkeit erreicht habe, nach welcher es allein von ihrem Ermessen abhing, ob sie noch in Frankreich, ob sie in dem Hause ihrer Tante bleiben, oder dasselbe verlassen wolle, um ihren Wohnsitz in ihrem englischen Stammschlosse oder wo sonst immer aufzuschlagen.

Indeß der Tag ihrer Volljährigkeit war zu Ende des Jahres achtzehnhundert und siebzehn vorübergegangen, und die Gräfin, welche diesen Tag sonst so lebhaft herbeigesehnt hatte, verweilte noch in Frankreich, verweilte noch im Palast Duras. Sie schien jetzt den Aufenthalt in demselben nicht mehr so drückend zu finden, als sonst. Aber wie sehr die Herzogin auch gewünscht hätte, vermochte sie dennoch nicht, diese Sinnesänderung auf ihre Rechnung zu schreiben oder als eine ihren Absichten günstige zu deuten. Selbst ein weniger scharfes Auge und eine Frau, die weniger herzenskundig gewesen wäre, als sie, konnte sich nicht darüber täuschen, was Eleonore in ihrem Hause festhielt, und doch konnte sie trotz der Besorgnisse, welche sie erfüllten, gar nichts thun, dieselben zu vermindern. Sie hatte sich selbst die Hände gebunden und sich mit gebundenen Händen an eine Kraft und an eine Energie überantwortet, welche die ihrige um ein Großes übertrafen.

Wenn die Herzogin ihre Nichte darauf aufmerksam zu machen versuchte, daß deren Gesinnungen in Bezug auf die [257] katholische Kirche und ihr Mißtrauen gegen den katholischen Klerus sich wesentlich geändert hätten, so entgegnete Eleonore ihr, daß sie mit ganzem Herzen an ihrem alten Bekenntnisse festhalte. Sie versicherte, daß zwischen ihr und dem Abbé von religiösen oder gar von kirchlichen Fragen äußerst selten die Rede sei und daß sie keinen Anlaß habe, von dem Klerus, dessen Thun und Treiben ihr verdächtig und unheilvoll erscheine, eine bessere Meinung zu fassen, weil ihr das seltene Glück zu Theil geworden sei, unter demselben einem Manne zu begegnen, dessen tiefe Bildung und Gelehrsamkeit sie fördere, und dessen weiter, freier Blick sich über die engen Schranken zu erheben wisse, in welche der Beruf, den er vielleicht zu frühzeitig und ohne genaue Kenntniß seiner eigenen Begabung und Natur erwählt habe, ihn zu bannen strebe. Rühmte man in Eleonorens Beisein, wie man es überhaupt zu thun gewohnt war, die strengen Gesinnungen und den kirchlichen Eifer des Abbé, so schien seine junge Anhängerin dies nicht zu hören, und die Herzogin, der nichts entging, hatte es bei den mannigfachsten Anlässen wahrgenommen, wie der schnelle und leuchtende Blick ihrer Nichte dann das Auge des Geistlichen suchte und von ihm mit einem verständnißvollen Lächeln begrüßt und aufgenommen wurde.

Eleonore hatte es auch durchaus kein Hehl, wie sie den Abbé hochschätze und verehre. Sie rühmte es von ihm und auch von sich, daß die völlige Verschiedenheit ihrer religiösen Ueberzeugungen, daß die Ungleichheit ihres Alters und ihrer Lebensverhältnisse sie nicht gehindert habe, Freunde zu werden, weil sie beide selbstgewisse und ein Ziel verfolgende Charaktere seien; und wenn die Herzogin ihr warnend zu überlegen gab, wie eine solche Freundschaft ihre Gefahren für beide Theile habe, so antwortete die Gräfin mit der Entschiedenheit, welche ihr angeboren und in den letzten Jahren unter der Leitung ihres neuen Freundes noch sehr gewachsen war: sie zweifle nicht, daß [258] eine solche Erinnerung für die meisten Fälle sehr berechtigt wäre; sie aber kenne den Abbé, und dieser kenne sie. Man möge sie gewähren lassen, wenn man sie nicht zwingen wolle, sich durch eine Uebersiedelung in ihre Heimath jeder lästigen Beeinflussung für immer zu entziehen und ihre Freunde, denn auch Herr von Arten sei ihr ein werther Freund geworden, in der ihr wünschenswerthen Unabhängigkeit und Freiheit in Haughton Castle zu empfangen.

Je länger diese Verhältnisse bestanden, um so beunruhigender wurden sie für die Herzogin. Sie mußte sich sagen, daß ihre Nichte nur deshalb noch in ihrem Hause lebe, weil sie voraussehe, daß der Abbé sich nicht leicht entschließen würde, den Hof zu verlassen und auf die Vortheile zu verzichten, welche die stets wachsende Gunst des Königs ihn und durch ihn seine Kirche hoffen ließ. Wollte die Herzogin ihre alten Plane noch zur Ausführung bringen, so mußte sie jetzt mehr als jemals darauf denken, den Abbé selber zu ihrem Werkzeuge zu machen. Dieses zu ermöglichen, gab es aber nur noch Einen Weg, und sie beschloß, ihn einzuschlagen.

[259]
9. Capitel
Neuntes Capitel

Das Leben am Hofe hatte seit der Rückkehr der Bourbonen eine völlige Umwandlung erlitten. Die körperliche Unbehülflichkeit des Königs und die mannigfachen Beschwerden, welche ihn im Winter heimzusuchen pflegten, hatten ihn einer spät dauernden Geselligkeit abhold und die großen Feste in seiner persönlichen Hofhaltung allmählich seltener gemacht.

Wir sind eine Gesellschaft alt gewordener junger Leute, welche versäumte Freuden nachzuholen haben! konnte man den König, wenn er sich leidlich wohl und in guter Stimmung befand, bisweilen gegen seine Zeitgenossen und Günstlinge äußern hören; aber es schienen vorzüglich die Freuden der Tafel zu sein, welche der König damit meinte, und wer Gelegenheit hatte, ihn bei denselben zu beobachten, konnte sich versucht fühlen, seine Behauptung wahr zu finden, obschon es fast lauter Greise und Matronen waren, welche die Tafelrunde des alten Königs bildeten.

Eines Abends, als man sich im kleinen Speisesaale von der Mahlzeit erhoben und sich in das angrenzende Gemach begeben hatte, in welchem man den Kaffee einzunehmen pflegte, schien der König, der eben in der letzten Zeit viel von der Gicht zu leiden gehabt hatte, sich schmerzensfrei zu fühlen und deßhalb besonders gut gestimmt zu sein. Die Lakaien, welche ihn in seinem Rollsessel aus dem Speisesaale an den Kamin des Nebenzimmers gefahren hatten, waren zurückgetreten und die dienstthuenden [260] Kammerherren hielten sich in seiner Nähe, um diejenigen Personen, denen der König die Gnade seiner Unterhaltung angedeihen lassen wollte, sofort herbeizurufen.

Schon hatte der König Diesen und Jenen zu sich entboten, und noch immer stand die Herzogin, der Anstrengung solches Dienstes von frühe her gewohnt, fest und aufrecht da, als ob die Last der Jahre sie nicht beugen, als ob keine körperliche Schwäche sie anfechten könne, wenn die Gnadensonne der Majestät sie anstrahle und erwärme. Sie kannte die Weise des Königs, sich zuerst diejenigen Personen vorführen zu lassen, welche er mit wenig Worten abzufertigen gedachte, um sich dann in behaglichem Geplauder mit den bevorzugteren Gästen und mit seinen Günstlingen zu ergehen. Einen nach dem Andern sah die Herzogin vortreten und entlassen, ohne daß ihr feines Lächeln von ihren schmalen Lippen wich, ohne daß ihre welke Hand den Fächer auch nur in einem Augenblicke lebhafter bewegte, als die schöne Form es erheischte, oder ihre Haltung ermüdeter geworden wäre.

Endlich ertheilte der König selber mit einer auffordernden Frage ihr die Erlaubniß, sich ihm zu nahen, und auf ein leises Zeichen schob der dienstthuende Edelmann ihr das Tabouret herbei, das am Hofe der Bourbonen zu allen Zeiten der Ehrgeiz und das Vorrecht der Herzoginnen gewesen war.

Würdevoll, wie es ihrem Range, wie es ihrem Alter ziemte, und doch mit einer Leichtigkeit, welche es kund gab, daß es hier nicht auf ein langes Verweilen abgesehen sei, hatte die Herzogin das ihr zustehende Tabouret eingenommen. Der König fragte gnädig nach ihrem Ergehen, aber noch ehe sie ihm darauf die Antwort geben können, nannte er jene Frage selber eine müßige.

Man braucht Sie nur zu sehen, sagte er, um sich zu überzeugen, wie sehr Sie Sich getreu geblieben sind. Immer noch unwiderstehlich in Ihrer Liebenswürdigkeit, wissen Sie der Zeit zu widerstehen, wie Sie einst den Huldigungen der Männer [261] widerstanden haben. Die Unwiderstehlichkeit ist erblich unter den Frauen Ihres Hauses, das thut uns Ihre schöne Nichte dar.

Die Herzogin nahm die Gnade des Königs, wie es sich gebührte, auf, und sie war selbst zu sehr eine Künstlerin in der Unterhaltung, um nicht wirklich eine Freude an der epigrammatischen Form zu haben, in welcher der König sich ausgedrückt hatte. Aber während sie sich in warmen Dankesbezeigungen erging, vergaß sie es nicht, seufzend hinzuzufügen, daß es Familien-Eigenthümlichkeiten gebe, die man nicht wünschen dürfe, fortgeerbt zu sehen.

Ich hoffe, daß Sie zu diesen Gaben nicht die Schönheit, nicht die ewig jugendliche Anmuth des Geistes zählen, warnte sie der König. Bedenken Sie, daß es nicht süßer ist, die Schönheit zu besiegen, als sich von ihrer Macht besiegt zu fühlen!

Wie schön! rief die Herzogin, indem sie beistimmend ihr Haupt neigte. Man muß, wie Eure Majestät, die klassische Bildung mit französischem Geiste einen, um diese Wendungen zu finden! Aber, fügte sie seufzend hinzu, wenn Schönheit ohne Gnade ist, so hört sie auf, ein Gegenstand der Liebe, der Verehrung zu sein, und sie wird furchtbar!

Oh, rief der König, den diese Weise der Unterhaltung, wie sie in den Tagen seiner Jugend Mode gewesen war, immer noch erheiterte, weil er sich in ihr jung erschien und sich seiner mannigfachen geselligen Vorzüge angenehm bewußt ward, eine solche Schönheit ohne Gnade würde auch vor unseren Augen keine Gnade finden! Aber ich fürchte, es ist mehr als ein allgemeiner Satz, den Sie hier ausgesprochen haben, und ich errathe, wer die schöne Unerbittliche ist, an die Sie dabei dachten.

Niemand als der König konnte die Antwort der Herzogin vernehmen, Niemand hörte, was er ihr entgegnete; aber Aller Augen waren auf sie gerichtet, denn die Unterredung währte [262] noch eine Weile fort, und keinem von allen seinen Gästen hatte der König ein so langes Zwiegespräch gegönnt.

Wovon konnten sie sprechen? Weßhalb lächelte der König so anmuthig? Woher glänzten die Augen der Herzogin in einem Feuer, das ihrer Jahre spottete, als sie sich endlich von ihrem Sitze erhob und dem Könige mit tiefer Verbeugung, welche kunstreich zu machen Niemand besser als sie verstand, ihren heißen Dank aussprach? –

Der König ließ sich langsam durch den Saal fahren, um jedem der Anwesenden, die jetzt, wie es sich gebührte, wieder im Kreise umherstanden, ein Wort zu sagen. Als die Reihe an die Herzogin kam, lächelte er wieder eben so freundlich, als vorhin, und so laut, daß es Keinem entgehen konnte, sprach er: Verlassen Sie Sich auf mich! Ich mache Ihre Sache zu der meinigen; verlassen Sie Sich auf mich!

Dann trat der Ober-Ceremonien-Meister vor, der König winkte den Anwesenden mit einer Neigung des Hauptes und der Hand seinen Abschiedsgruß zu, und langsam den Rollsessel fortbewegend, fuhren die Kammerdiener den Monarchen durch die lange Reihe der Gemächer nach seinen Wohnzimmern, während die besondere Gnade, deren die Herzogin genoß, und die geheimnißvollen Worte, welche er ihr zugerufen hatte und die auf ein völliges Einverständniß schließen ließen, die Hofleute sammt und sonders in Aufregung und Verwirrung setzten.

Die wundersamsten Vermuthungen wurden ausgesprochen und fanden Glauben. Daß die Herzogin durch die Gnade des Königs, ohne all ihr Zuthun, wieder in den Besitz von Vaudricourt gekommen war, und daß der König ihr zugesagt hatte, sobald er im Stande sein werde, die Reise durch die Provinzen anzutreten, in Vaudricourt bei ihr zu rasten, das hatte schon lange festgestanden; aber man hatte kein sonderliches Gewicht darauf gelegt, da man wußte, daß der König zwar von Reisen [263] sprach, daß er aber ihre Unbequemlichkeit scheute. Was also hatte er ihr verheißen? Was hatte sie begehren können? Was konnte ihr so sehr am Herzen liegen, daß sie Seine Majestät damit zu behelligen wagte?

Persönlicher Ehrgeiz konnte die hochbetagte Frau nicht antreiben, dem Könige beschwerlich zu fallen; wo jedoch Viele sich zu gleichem Zwecke vereinen, braucht man an dem Erfolge nicht zu verzweifeln, und noch hatten die letzten Gäste des Königs das Schloß der Tuilerieen nicht verlassen, als der dienstthuende Kammerherr sich erinnerte, wie Seine Majestät zu Anfang jener Unterredung von einer unbesieglichen Schönheit gesprochen habe; und man kannte den unternehmenden Geist der Herzogin genugsam, um ihr ein Wagniß zuzutrauen, wenn sie nur durch ein solches an ihr Ziel gelangen konnte. Von Mund zu Mund sprach sich die Ueberzeugung aus, daß der König es der Herzogin zugesagt habe, den Freiwerber des Prinzen Polydor bei der Gräfin Haughton zu machen, und als an einem der folgenden Tage der König einen jener Tagbälle ansagen ließ, welche unter seiner Herrschaft am Hofe bisweilen abgehalten wurden, brachte man denselben mit dem Ereignisse in Verbindung, das den ganzen Hof beschäftigte und von dem man selbst in den stillen Sälen des erzbischöflichen Palastes reden hören konnte.

Es war gegen den Abend hin, als der Abbé im Vorsaale des Erzbischofs auf den Augenblick wartete, in welchem er den Zutritt zu demselben erhalten konnte. Ein eigenes Handbillet des Kirchenfürsten hatte ihn aufgefordert, sich bei ihm einzustellen, und ruhig, wie seine ganze Haltung es immer war, saß der Abbé an einem der hohen Fenster und las bei dem letzten Scheine des Tages in seinem Brevier.

Eine Viertelstunde mochte so hingegangen sein, als ein Ordensgeistlicher das Empfangszimmer Seiner Eminenz verließ [264] und der Kammerdiener dem Abbé die Kunde brachte, daß er jetzt erwartet werde.

Es ist lange her, Herr Abbé, redete der Erzbischof ihn an, daß ich Sie nicht bei mir gesehen habe, und ich hatte Ihren Besuch seit einiger Zeit erwartet, weil ich eine Nachricht von Ihnen zu erhalten hoffte, an welcher man nicht allein von unserer Seite Theil nimmt. Sie haben, ich weiß es, gestern wieder die Gnade genossen, von Seiner Majestät im Besonderen empfangen zu werden. Wovon hat Seine Majestät zu Ihnen gesprochen?

Der Erzbischof war schon ein Mann bei Jahren. Das Licht einer von der Decke herabhängenden doppelarmigen Lampe beleuchtete seine hohe Stirn und ließ jeden seiner feinen und scharfen Züge erkennen, wie er in seinem hochlehnigen Sessel fest und aufrecht da saß, während seine Hand, an welcher der Fischerring erglänzte, auf der breiten Seitenlehne ruhte. Auf dem Tische vor ihm lagen Briefschaften, Papiere, Akten, Druckschriften und Bücher aller Art, theils in Päcken sorgfältig gesondert, theils zur Unterzeichnung vorgelegt und ausgebreitet. Es war ein edler Raum, einfach und doch fürstlich ausgestattet. Der Abbé war in demselben wohl zu Hause.

Als sein Auge über den Schreibtisch des Erzbischofs hinglitt, entdeckte sein sicherer Blick trotz dieser Schnelle auf einem der Briefe, die zur Rechten des Erzbischofs lagen, eine schöne, freie weibliche Handschrift, die ihm sehr genau bekannt war und die hier zu sehen ihn, wie gut er sich auch zu beherrschen gelernt hatte, doch erschreckte.

Da Eurer Eminenz nicht daran gelegen sein kann, hob er, sich schnell fassend, an, von mir Auskunft über die philologischen Fragen zu erhalten, mit denen Seine Majestät sich zu beschäftigen geruhten, so darf ich wohl ohne Weiteres berichten, daß Seine Majestät sich über dieselbe Angelegenheit geäußert haben, die mir, [265] wie ich vermuthe, die Ehre zugewendet hat, heute von Eurer Eminenz hierher beschieden und empfangen zu werden.

Sie haben das Richtige gefunden, Herr Abbé, sprach der Erzbischof mit einer kaum merklichen Neigung seines Hauptes. Dann wies er den Abbé an, sich zu setzen, und sagte: Es sind jetzt drei Jahre her, daß die Frau Herzogin von Duras gegen mich das natürliche und fromme Verlangen äußerte, ihre Nichte, die einzige ihr lebende Blutsverwandte, zu unserer Kirche zurückgeführt zu sehen; und wenn ihr auch der Vorwurf nicht zu ersparen war, daß sie ihrer Zeit sehr übel daran gethan hatte, die Verbindung ihres verstorbenen Bruders mit einer Nichtkatholikin zu betreiben, so war ich es doch wohl zufrieden, als sie das fromme Werk in Ihre Hand gelegt zu wissen begehrte, zu dem wir selber uns des Besten versehen zu können meinten. Woran liegt es, daß die Gräfin Haughton sich noch immer den ihr zugedachten Segnungen entzieht?

Der Abbé schwieg einen Augenblick, dann sagte er: Die Frage, welche Eure Eminenz mir vorlegen, und die Art, in welcher Sie mir dieselbe vorlegen, beweist mir, daß Sie nicht an meinem Eifer zweifeln, und macht es mir möglich, mich einfach zu erkären. Wie die Frau Herzogin durch ihre Neigung, Ehen zu stiften, einst den Marquis von Lauzun zu der Ehe mit einer Protestantin hintrieb, so hindert ihr Verlangen, die Gräfin Haughton mit dem Prinzen von Chimay zu vermählen, den Uebertritt derselben. Hätte die Frau Herzogin die Klugheit und die Mäßigung besessen, ihrer Nichte die Plane, welche sie hegte, zu verbergen, so würde sicherlich schon lange geschehen sein, was wir wünschen und für das Seelenheil der Gräfin hoffen müssen.

Der Erzbischof ließ die Antwort gelten.

Sie wissen, daß Seine Majestät sich für die gedachte Heirath ausgesprochen hat? sagte er.

Seine Majestät haben, wie ich vorhin die Ehre hatte Eurer [266] Eminenz zu sagen, die Gnade gehabt, sich auch gegen mich dahin zu äußern.

Was haben Sie darauf geantwortet?

Der Abbé richtete sich hoch auf, und mit einem Tone, dessen Festigkeit sehr gegen die Unterordnung abstach, die er bis dahin gegen seinen Vorgesetzten kund gegeben hatte, sprach er: Ich habe geantwortet, was meine Pflicht und mein Gewissen mir geboten. Ich habe geantwortet, daß ich die Bekehrung der hochbegabten jungen Gräfin als eine mir von Gott zugewiesene heilige Aufgabe betrachte, daß ich mit allen meinen Kräften danach strebe, ihrem Auge das Licht der Wahrheit, ihrer Seele die Gnade zuzuführen, aber daß ich meine Hand nicht dazu bieten könne, die Gräfin in ein Eheband zu verstricken, das durch die Nähe ihrer Blutsverwandtschaft mit dem Prinzen ein verbotenes, das in den Augen unserer Kirche ein Incest ist.

Es entstand eine Pause; der Erzbischof befand sich in einer unangenehmen Verlegenheit, und er wußte, daß sein Untergebener klug und umsichtig genug war, die schwierige Lage vollauf ermessen zu haben, in welche er ihn mit dieser Wendung der Angelegenheit versetzt hatte.

Als Fürst und Diener der Kirche hatte der Erzbischof es zu loben, wenn ein Diener der Kirche das Gebot derselben über den Willen des Staatsoberhauptes stellte. Er sah es auch nicht ungern, wenn der König dieser Glaubenstreue oder diesem hierarchischen Gehorsam in seiner Nähe begegnete, und doch hatte man zugleich allen Grund, die besonderen Wünsche und Meinungen des Königs zu schonen und sie zu fördern, weil er seinerseits sich der Kirche in jedem Punkte großmüthig und ergeben zeigte.

Wer nöthigte Sie, zu wissen, was man der Welt geflissentlich verborgen hat? fragte endlich der Erzbischof, die mildeste Form erwählend, in welcher er seine Ansicht von der [267] Sache und zugleich seine Unzufriedenheit mit der Handlungsweise des Abbé's zu äußern vermochte.

Ich kannte diese Verhältnisse von Jugend auf, und mein Gewissen ließ mein Gedächtniß nicht zum Schweigen bringen, entgegnete der Abbé.

Der Erzbischof hatte sich erhoben, der Abbé war seinem Beispiele gefolgt. Sie standen einander gegenüber, beide hoch aufgerichtet, beide voll festen Willens, voll verschwiegener Entschlossenheit sich gegenseitig beobachtend, und beide mit dem Bewußtsein, wie sie, bei der wundervoll berechneten Gliederung und Einrichtung der hierarchischen Herrschaft, Einer in des Andern Schicksal einzugreifen, Einer des Andern Zukunft zu fördern oder zu beeinträchtigen vermochten.

Genießen Sie das Vertrauen der Gräfin? erkundigte sich der Greis.

Im ausgedehntesten Maße, gab der Abbé zur Antwort, und sein Ton und seine Haltung nahmen wieder die frühere Unterwürfigkeit an.

Hoffen Sie, die Gräfin von ihrem Irrglauben überzeugen zu können?

Mit Gottes Hülfe zuversichtlich.

Welchen Weg denken Sie dabei einzuschlagen?

Der Abbé schien nachzudenken, dann sagte er: Es steht bei Eurer Eminenz, mich von der Aufgabe abzuberufen, zu der Sie mich auf den ausdrücklichen Wunsch der Frau Herzogin erwählten. Sprechen Sie das Wort aus, und ich werde ohne Murren gehen, und ohne mich zu beklagen einen Anderen ernten sehen, was ich mit Vorsicht säete, mit Ausdauer zeitigte. Fehlt mir die Gewißheit, daß das Vertrauen Eurer Eminenz mit meinem Werke ist, so geht mir auch die Kraft verloren, welche der Einzelne aus dem Gedanken an die große, heilige Gemeinschaft zieht, der er angehört und der er dient. Mein Thun wird fortan ohne [268] Segen sein und ich werde Eure Eminenz dann nur um die Vergünstigung zu bitten haben, mich mit einer anderen Aufgabe, fern von hier, betrauen zu wollen.

Der Erzbischof blickte den jüngeren Geistlichen mit festem Auge an. Er wußte, daß der Abbé Paris nicht zu verlassen wünschen konnte. Eben deßhalb aber fragte er sich, was denselben bewegen könne, ein so gewagtes Spiel zu spielen; und die gleiche Taktik befolgend, sagte er: Die junge Gräfin Haughton ist schön und Sie sind jung, Herr Abbé! Sind Sie Ihrer selbst gewiß? Sind Sie sicher, daß sich in Ihnen keine Abneigung irgend welcher Art gegen eine Verheirathung der Gräfin regt?

Ich war um ein paar Jahre jünger und die Schönheit der Gräfin stand schon in ihrer vollen Blüthe, als Eminenz keiner solchen Frage, keiner solchen Warnung mir gegenüber nöthig zu haben glaubten. Ich bin gezwungen, Sie um Aufschluß darüber zu bitten, wer oder was mich einem solchen Verdachte unterwerfen könnte, erwiderte der Abbé, während der ganze Stolz des Priesters und des Edelmannes in seinem Antlitze sichtbar ward.

Der Erzbischof ließ sein Auge unverwandt auf dem vor ihm Stehenden haften. Die Frau Herzogin, sagte er nachdrücklich, lebt des Glaubens, daß die – die Freundschaft, welche die Gräfin Ihnen entgegenbringt, sie hindere, den Bewerbungen des Prinzen ihr Gehör zu leihen, und daß es diese Freundschaft sei, die Sie, Herr Abbé, gegen die Verbindung eingenommen habe, welcher nicht nur die Frau Herzogin, sondern Seine Majestät der König selber günstig ist.

Zum ersten Male rötheten sich des jüngeren Priesters Stirn und Wangen, aber es wäre nicht leicht gewesen, zu sagen, welche Bewegung sein Blut in Wallung brachte, und sich schnell bemeisternd, sprach er: Des Menschen Schlüsse stammen und bemessen sich aus seinem eigenen Charakter und seinen eigenen [269] Erfahrungen; ich habe mich also über die Frau Herzogin nicht zu beschweren, wennschon ich sie beklage. Aber wäre und empfände ich, wie sie voraussetzt, so könnte ich nichts Besseres verlangen, als die Gräfin eine Ehe schließen zu machen, in der sie, weil sie die Jüngere und an Kraft wie an Begabung in jedem Betrachte dem Prinzen überlegen ist, bald Herr und Meister sein und bleiben würde, eine Ehe, bei der ich nicht zu fürchten hätte, auf – er zögerte bei dem Worte gerade so geflissentlich, wie der Erzbischof es vorhin gethan hatte – auf die Freundschaft verzichten zu müssen, deren der trübe Sinn der Herzogin mich zeiht. Und, fügte er hinzu, ist der Prinz denn der Mann, der, wenn die religiösen Bedenken der Gräfin überwunden sind, die religiösen Ueberzeugungen in ihr zu würdigen und zu erhalten verstehen würde? Eine Natur wie die der Gräfin Haughton wird durch einen Mann wie Prinz Polydor nicht überwunden, nicht von ihrem stolzen Selbstgefühle geheilt. Sie wird, so weit ich sie beurtheilen kann, überhaupt nicht leicht zur Liebe hingerissen und durch die Liebe auch nicht gewandelt werden. Sie muß in ihrer jetzigen Wesenheit vernichtet werden, wenn sie neugeboren werden soll.

Er hatte diese letzten Worte kalt und unerbittlich wie ein Verdammungsurtheil ausgesprochen, aber sie beschwichtigten das Mißtrauen des Erzbischofs keineswegs; sie halfen ihm auch nicht aus der Verlegenheit heraus, in welcher er sich befand. Indeß der Abbé war jetzt gewarnt. Der Erzbischof hatte ihn daran erinnert, daß das wachsame Auge seiner Vorgesetzten, daß ihre gewaltige Hand über ihm sei, und mit der weisen Umsicht der weltklugen katholischen Kirche, welche es versteht, die nutzbaren Kräfte zusammenzuhalten und sich dieselben dienstbar zu machen, beschloß er, den kühnen und eigenwilligen jungen Geistlichen vorläufig gewähren und ihn selber den Weg und die Weise suchen zu lassen, auf denen er die Zwecke der Kirche, die Wünsche [270] des Königs und seine eigenen Absichten gleichzeitig zu fördern für möglich erachten würde. Er wendete sich von ihm und trat an seinen Schreibtisch zurück, von dem er, als komme es ihm zufällig in die Hand, ein Blatt Papier aufnahm, das er zuerst mit den Augen überflog und dann sorgfältig zu lesen schien.

Der Abbé stand ruhig wartend da, bis der Erzbischof das Papier zusammengefaltet und an seine alte Stelle gelegt hatte. Dann verneigte er sich kaum merklich und fragte, ob Eminenz ihm noch weitere Befehle zu geben habe.

Dem Erzbischof war diese Frage willkommen, und weil er dies erwartet, hatte der Abbé sie gethan. Auch war der Ausdruck des Erzbischofs plötzlich ein veränderter.

Sie haben Sich auf das Vertrauen berufen, sagte er, das man Ihnen vor vielen Anderen und schon in jungen Jahren angedeihen lassen, weil man Ihnen die Gelegenheit bereiten wollte, die Menschen kennen und Ihre eigenen Kräfte ermessen zu lernen. Sie glauben offenbar auch jetzt noch, der Aufgabe, der Sie Sich unterzogen haben, gewachsen zu sein, und Sie scheinen nach einem vorbedachten Plane zu Werke zu gehen.

Der Abbé wollte eine Erklärung, eine Bemerkung machen; der Erzbischof ließ es nicht dazu kommen. Ich verlange von Ihnen vorläufig keine Auskunft über den Weg, welchen Sie zur Bekehrung der Gräfin Haughton bis jetzt genommen haben und weiterhin zu nehmen denken. Der Erfolg oder das Mißlingen soll Ihnen, Ihnen allein, Herr Abbé, zugeschrieben werden, merken Sie es wohl, Ihnen ganz allein! Doch gebe ich Ihnen zu bedenken, daß man dem milden und uns geneigten Sinne Seiner Majestät des Königs, sofern es mit dem Seelenheile der Gräfin zu vereinen ist, nicht entgegentreten darf, und Seine Majestät haben es, wie ich erfahren, der Frau Herzogin zugesagt, bei der Gräfin Eleonore des Prinzen Freiwerber zu sein.

Das war auch mir bekannt, bestätigte der Abbé, und ich [271] war Willens, die Gräfin noch heute darauf vorzubereiten, als Eurer Eminenz Befehl mich hierher rief.

Der Erzbischof wollte offenbar eine Bemerkung machen; er unterdrückte sie jedoch, und nach einigen auf die allgemeinen Ereignisse innerhalb der Kirche bezüglichen Worten war die Unterredung beendet. Als der Abbé sich bereits entfernen wollte, fragte der Erzbischof plötzlich: Und der junge deutsche Edelmann, der Freiherr von Arten, welcher seit dem Einzuge der Fremden in dem Hotel der Frau Herzogin verweilt und den die Gräfin ebenfalls ihrer Freundschaft würdigt – sollte er es vielleicht sein, der den Ansprüchen des Prinzen entgegensteht?

Der Freiherr von Arten ist seit Jahren heimlich verlobt, antwortete der Abbé.

Heimlich verlobt? wiederholte der Erzbischof. Davon besitzt die Frau Herzogin keine Kunde. Ist die Gräfin davon unterrichtet?

Der Abbé verneinte es. Der Erzbischof fragte, wie Jener die Kenntniß dieses Umstandes gewonnen habe, ob er der Beichtiger des Freiherrn sei.

Nein, Eminenz, ich habe es abgelehnt, ihn Beichte zu hören, als er mir sein Vertrauen zuzuwenden wünschte. Ich wollte mir die Freiheit des Handelns nicht beschränken, mir nicht eine Mitwissenschaft und damit zugleich die Pflicht aufdrängen lassen, es nöthigenfalls zu verschweigen, was der Freiherr seinen Freunden bis jetzt vorenthalten hat, daß er noch bei dem Leben seines Vaters einer ihm ebenbürtigen Dame ein Eheversprechen geleistet hat.

Und welche Gründe können ihn bewegen, das Verhältniß auch jetzt, auch nach dem Tode seines Vaters, noch nicht zu einem bindenden zu machen?

Ich glaube nicht zu irren, wenn ich voraussetze, daß die Neigung des Herrn von Arten für die Entfernte erkaltet und [272] daß sein tägliches Beisammensein mit der Gräfin auf diese Aenderung seines Sinnes nicht ohne Einfluß gewesen ist.

Woher haben Sie die Auskunft über das Verlöbniß des jungen Edelmannes?

Von dem Pfarrer der Kirche, die des Freiherrn Vater auf seinem Stammgute gegründet hat. Die Verlobte des Barons lebt mit ihrer Schwester und mit ihrer Mutter in dem freiherrlichen Schlosse.

Als der Erzbischof den Abbé so wohl unterrichtet fand, erkundigte er sich, wo die Erzieherin der Gräfin geblieben sei, welche er früher mit ihr bei der Herzogin gesehen habe.

Die Gräfin ist es müde geworden, die täglichen Vorstellungen ihrer Erzieherin zu hören, sich täglich gegen das Vertrauen warnen zu lassen, mit dem sie mich beehrt. Miß Arabella ist in ihre Heimath zurückgekehrt.

Nach Haughton Castle? fragte der Erzbischof.

Nein; die Damen haben sich nicht als Freundinnen getrennt, jede Verbindung zwischen ihnen hat aufgehört, berichtete der Abbé.

Man konnte an den Mienen des Erzbischofs sehen, daß er mit dieser Kunde wohl zufrieden war. Freundlicher, als er sich ihm bis dahin gezeigt hatte, reichte er dem Abbé die Hand, der sich neigte und sie küßte. Der Erzbischof segnete ihn mit leichter Berührung seines Hauptes.

Leben Sie wohl, mein lieber Abbé, sprach er, und ermüden Sie nicht in Ihrem Werke, nicht in der Strenge gegen Sich selbst! Es sind der Wege viele, auf denen der Herr die Verirrten zu sich zurückzuführen weiß, und den Irrenden auf den rechten Pfad zu weisen, ist eines der guten Werke, denen der Gläubige sich zu unterziehen hat. Leben Sie wohl! Sie werden mir in einigen Tagen die Kunde bringen, welche Wendung diese Angelegenheit genommen hat.

[273]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Der Mond stand schon hell am Himmel, als der Abbé, von dem erzbischöflichen Palaste kommend, über die Brücke ging und sich dem schönen Uferwege zuwendete, an welchem das Palais der Herzogin gelegen war. Er hatte zu jeder Stunde des Tages Zutritt zu demselben, und auch jetzt befand er sich bereits vor dem großen Portale, aber als er die Schelle ziehen wollte, hielt er die Hand zurück. Er mochte Eleonore jetzt nicht sehen, er mochte Niemanden sehen; er mußte mit sich allein sein.

Er schlug den langen, schwarzen Mantel fest um sich und entfernte sich von dem Palaste. Bald langsam, bald in heftiger Bewegung ging er an der Seite des Flusses auf und nieder. Wie goldene Knospen schienen die funkelnden Sterne an den dichten und kahlen Aesten der Bäume zu hängen, die sich in vielfachen Reihen an dem Ufer hinziehen. Der Mond goß sein volles Licht über die prächtigen Gebäude aus, deren Fenster zum Theile hell erglänzten. Es war die Stunde, in welcher die vornehme Gesellschaft ihre Tafel hielt. Vor den einzelnen Häusern fuhren die Wagen vor, hier und dort öffneten sich gastlich die Flügel der Einfahrtsthüren. Die Stadt erschien, so weit man sie deutlich übersehen konnte, heiter und glänzend, und fern ab zeichneten sich die Spitzen der Kirchen unbestimmt und schattenhaft an dem nächtlich klaren Himmel ab.

Aber was jedem Anderen an dieser Stelle das Auge erfreut und den Sinn erheitert haben würde, was auch ihn sonst [274] mit Wohlgefallen erfüllt hatte, heute sah der Abbé es nicht. Ein gewaltiger Kampf durchwühlte seine Seele; in raschestem Wechsel zogen abenteuerliche Plane, wilde Vorsätze und Entschlüsse durch sein Gehirn, und aus der glühenden Leidenschaft, die in ihm brannte, loderten in einzelnen Augenblicken zuckend die Flammen der Verzweiflung in ihm empor. Und doch war es ihm nichts Neues, was er in sich wahrnahm. Er hatte auch nichts Unerwartetes erlebt. Warum traf es ihn denn so furchtbar, was er lange hatte kommen sehen? Warum zerriß sie ihm denn das Herz, die Entscheidung, die er längst getroffen hatte?

Seit er Eleonore gesehen, war er nie über die Empfindung im Zweifel oder im Unklaren gewesen, die sie in ihm wachgerufen hatte. Von früh auf zur strengsten Selbstprüfung gewöhnt, hatte er sich nicht darüber täuschen können, daß er sie mit glühendem Verlangen begehrte, daß er sie leidenschaftlich liebte, aber sein stolzer Sinn hatte sich nicht entschließen mögen, die Gefahr zu meiden; er hatte seinen geistigen Ruhm darein gesetzt, sich zu besiegen, und wie er bis dahin auf der Welt nichts Höheres gekannt hatte, als seine Kirche und ihre Macht, so hatte er sich gelobt, seine Aufgabe in ihrem Dienste zu lösen und ihr mit Verleugnung und Ueberwindung seiner selbst die starke Seele und das reiche Erbe Eleonorens zuzuführen und zu gewinnen.

Tage und Nächte hatte er mit sich gerungen in wildem Schmerze, in brünstigem Gebete. Er wußte, was Eleonore sich nie deutlich gemacht hatte, daß es nur eines Wortes von ihm bedurfte, um sie ihm anzueignen ganz und gar, und heute zum ersten Male fühlte er sich nicht sicher, daß er dieses Wort nicht sprechen, daß sein Blick ihr nicht verrathen würde, was in seiner Seele vorging.

Er sah sie, als er so umherwandelte, mit seines Geistes Augen deutlich vor sich, wie sie auf das Geständniß seiner Liebe [275] in seine Arme sinken, er kannte sie darauf, daß sie nicht zurückschrecken würde, mit ihm zu fliehen, um in irgend einem fernen Winkel der Erde sein Weib zu werden, das Weib des geweihten Priesters, des Meineidigen Weib. – Aber wer hinderte ihn, sich mit Offenheit von diesem Eide loszusagen? Wer hinderte ihn, einem Glauben zu entsagen, der seinem Menschenrechte, seiner Manneskraft und Würde unnatürliche Schranken setzte, unwürdige Gewalt anthat? Wer hinderte ihn, zu thun, was vor zweihundert Jahren, in den Zeiten der großen kirchlichen Umwälzung, Tausende von Priestern vor ihm gethan hatten? Was hielt Eleonoren ab, einem durch sie bekehrten Manne ihre Hand zu geben? Sie war unabhängig und reich genug, in Haughton Castle, in ihrem freien Vaterlande, von dem Gesetze unangefochten und die öffentliche Meinung stolz verachtend, glücklich mit ihm zu sein.

Die Stirn brannte ihm wie im Fieber, alle seine Pulse klopften. Trotz der winterlichen Kälte riß er den Mantel auf, entblößte er sein Haupt. Er fühlte seine ganze, ungebrochene Kraft in seinen Adern, er sah jetzt auch mit Einem Male die glänzende Anmuth der Stadt und der Gegend, er empfand die Schönheit dieser milden Winternacht. Unwillkürlich breitete er seine Arme aus, als wolle er sich mit der Natur vereinen, und ein Seufzer, der wie ein unterdrückter Aufschrei klang, riß sich aus seinem Busen los.

Es war vorüber! – Müde, wie einer, der aus einem ihn erschöpfenden Traume erwacht, ließ er sich auf eine der Bänke fallen, die unter den Bäumen stehen. Er stützte den Kopf in die Hand, sein Haupt sank schwer hernieder, schwer und still fielen ein paar glühende Tropfen aus seinen Augen auf die Wangen herab.

Nicht zum ersten Male hatte er den Kampf gekämpft, aus dem er jetzt wieder als Ueberwinder hervorging; nicht zum ersten [276] Male hatte sein Gewissen seine Phantasie bemeistert, aber noch nie zuvor hatte er so lebhaft wie heute den Wunsch gehegt, sich nicht gebunden zu haben oder jene ungebrochene Willenskraft, jene muthige Rücksichtslosigkeit der Menschen zu besitzen, die sich selbst als den Mittelpunkt der Schöpfung, ihr Wohlbefinden als den letzten Zweck derselben ansehen. Er? – Er konnte nicht vergessen, daß er von früher Jugend an gelernt hatte, sich als einen mitwirkenden Theil der großen Gemeinschaft anzusehen, welche sich das Recht der Herrschaft über die Geister zuerkennt, welche die Anwartschaft zu diesem Rechte aus Gottes Hand empfangen zu haben behauptet, aus der Hand des Gottes, dessen Anerkennung und Verehrung zu predigen die Aufgabe der katholischen Kirche ist. Wohin hatten sein Geist, seine Phantasie sich verirrt, daß er wachend in Träume verfallen konnte, die ein Verbrechen für ihn waren? Und was konnte andererseits die Kirche ihm denn bieten und gewähren, ihn schadlos zu halten für die furchtbare Entsagung, die er über sich genommen hatte?

Er schauderte zusammen, als er sich mit seinen Gedanken wieder auf demselben Wege, wieder auf denselben Bildern fand, von denen er sich gewaltsam abzuwenden beschlossen hatte. Er stand an dem Abgrunde, an welchem Mächtige gestanden hatten und zu Grunde gegangen waren, er erlebte und erlitt, was er selber über sich heraufbeschworen, als er sich die Kraft, die Festigkeit und den Glauben zugetraut hatte, die ihm alle jetzt versagten.

Immer wieder hatte er sich in diesen letzten Jahren wiederholt, daß er nicht zu der großen Masse jener entsagenden, demüthigen Seelen gehöre, die in frommem Glauben, in nicht wankender Hingebung an ein stilles Thun, ihres Geistes Befriedigung, ihres Herzens Beseligung genießen. Von früher Jugend auf hatten seine Lehrer und Meister ihm in der Schule und in [277] in den Seminarien ein weites, ein hohes Ziel gesteckt. Er hatte Herrschaft gewonnen, wo immer er mit Anderen in Gemeinschaft gewesen war, Herrschaft hatte ihm das höchste Glück, Herrschaft im Dienste der Kirche, die ihn trug, so lange er sie stützen half, das höchste, erstrebenswertheste Ziel gedünkt, und Herrschaft, Herrschaft über die Anderen, das hatte er immer gefühlt, war das Einzige, das Ersatz zu bieten vermochte für Selbstbefriedigung, für Liebe und für Glück.

Er kannte die Kirche und den Clerus, denen er angehörte. Er wußte, was der Abtrünnige von der Kirche zu erwarten hat. Er selber hatte in verschiedenen Fällen dazu mitgewirkt, dem Verirrten wie einem gehetzten Wilde die Wege zu verstellen, bis er müde und verblutend an dem Altare niedergesunken war, von dem er sich hatte entfernen wollen. Er fühlte sich nicht dazu geschaffen, solcher Verfolgung Stand zu halten, er konnte sich nicht vor sich selbst erniedrigen durch den nicht endenden Kampf, in welchen er sich unrettbar verstrickte, wenn er sich nicht überwand. Für ihn gab es nur Freiheit innerhalb des Bannes und des Eides, die er freiwillig und mit stolzem Ehrgeize über sich genommen hatte; und der bloße Gedanke, daß er als ein Büßender, als ein unwirksam Befundener, als ein Ausgestoßener vor denen stehen solle, die in ihm eine Kraft geehrt, in ihm einen künftigen Pfeiler der Kirche gesehen hatten und über die er sich einst zu erheben gehofft, ward endlich sein Erretter aus dem Zwiespalte, in dem er sich in dieser Stunde bewegt und ermattet hatte.

Aber der starke und gesunde Mensch reißt die schönste und gewaltigste seiner Kräfte, die Liebe, nicht aus seinem Herzen, ohne Schaden an seiner Seele zu leiden, und heute mehr als je zuvor hatte der Abbé es erkannt, daß er auf die Liebe nicht verzichten könne, ohne sich mit Wollust an die Herrschsucht hinzugeben, und daß es ihm nicht erspart sei, die Qualen der [278] Eifersucht zu leiden, auch wenn er darauf verzichte, für sich selber einen Anspruch an Glück zu erheben.

Oftmals schon hatte er es durchgekostet, wie nahe der Haß und die zum Entsagen gezwungene Liebe in ihm an einander grenzten, oftmals hatte er es mit dem kühlen Blicke eines Beobachters in sich wahrgenommen, wie die Grausamkeit sich der Seele bemächtigt, die keine milde Hoffnung für sich selber hegen darf. Warum sollte er das Weib nicht hassen, vor dem alle glückversprechenden Möglichkeiten offen ausgebreitet lagen, während er sich mit unlöslichem Eide von allen Freuden des Daseins geschieden hatte, ehe er vorausgesehen, das eine Eleonore Haughton leben und daß sie ihm der Güter höchstes, des Glückes begehrenswerthestes erscheinen würde?

Wenn kein Gebet, wenn kein noch so festes Wollen ihm Ruhe zu schaffen vermocht, dann hatte er mit grausamer Wonne daran gedacht, daß Eleonore einst die gleichen Qualen leiden werde; wenn er sich unglücklich gefühlt bis in das Innerste seines Herzens, so hatte der Gedanke ihm gelächelt, daß auch sie sich elend fühlen werde, die ihn also leiden machte, daß auch sie unglücklich sein werde, die ihn herunterzustoßen drohte von der Höhe, auf die er sich gestellt hatte und von der er in den Abgrund sinken mußte, wenn er nicht hoch über seinen jetzigen Standpunkt emporstieg.

Er hatte die Stunde der Entscheidung oft vorausgesehen, die jetzt an ihn herangetreten war. Er oder sie! – Denn sie glücklich zu sehen und zu entsagen, sie glücklich und frei zu denken, während er sich seinem Vorgesetzten als müßiger Knecht mit gebundenen Händen zu überliefern und in dumpfer Unterordnung enge, vorgeschriebene Wege zu gehen hatte, das überstieg seine Kräfte. Er oder sie! – Es gab kein Drittes! –

Er war schon lange wieder an dem Ufer umhergegangen. Die Nacht begann kalt zu werden, der Wind, welcher vom [279] Wasser aufstieg, strich ihm mit eisigem Hauche über die Schläfen hin. Er zog die Uhr heraus, es war später, als er es vermuthet hatte. Jetzt, er wußte es, jetzt befand sich Eleonore schon in dem Empfangszimmer ihrer Tante, jetzt erwartete sie ihn sicherlich. Er lächelte, als er sich ihr Bild vergegenwärtigte, aber wer dieses Lächeln hätte sehen können, hätte sich seines Ausdruckes nicht erfreut.

An der Ecke der Seitenstraße lag ein bescheidenes Speisehaus. Er hatte sonst nicht die Gewohnheit, ähnliche Orte zu besuchen, indeß die Aufregung machte ihn, da er die Mahlzeit versäumt hatte, nach Speise und Trank verlangen. Er ließ sich zu Essen geben, trank etwas Wein, ordnete mit rascher Hand sein reiches Haar, das durch die schnelle Bewegung seines langen Ganges in Unordnung gerathen war, und gefaßt und wieder seiner selber Meister, kehrte er auf der Straße, von der er gekommen war, nach dem Palaste der Herzogin zurück.

Es waren heute noch mehr Besucher als gewöhnlich in ihrem schönen Saale erschienen. Die auffallende Gunst, mit welcher der König sie bei der letzten Mittagsgesellschaft beehrt, hatte ihre Freunde eifriger als je gemacht, und jeder derselben schmeichelte sich mit der Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, den Inhalt jener langen und geheimen Unterhaltung zu erfahren und sich darüber zu vergewissern, was von dem Gerüchte über die Freiwerbung Sr. Majestät zu halten sei. Die Gräfin allein schien nicht zu wissen, was die Uebrigen beschäftigte. Sie saß weit zurückgelehnt, so daß die schöne Länge ihres Leibes ersichtlich war, auf einem niedrigen Sopha, nahe an einem der beiden Kamine. Das Licht der Kerzen und das Licht des Feuers vereinten sich, sie magisch zu überstrahlen. Ihr Haar glänzte wie von einer Aureole umleuchtet, und nie meinte der Abbé sie schöner gesehen zu haben, als eben jetzt, da sie bei seinem Eintritte mit schneller Bewegung die Augen zu ihm wendete.

[280] Eine Gruppe von Männern umgab sie, der Prinz und der junge deutsche Freiherr saßen ihr zur Seite. Die Unterhaltung war heiter und lebhaft gewesen, wie sie es immer wird, wo die Männer zu gefallen wünschen und die Frau mit dem sicheren Bewußtsein ihrer Schönheit jede ihr dargebrachte Huldigung nur als einen schuldigen Tribut, ohne Dank und ohne besonderen Anreiz aufnimmt. Der Prinz hatte sich im Gefühle eines nahen Sieges freier gehen lassen, ohne daß die Haltung der Gräfin ihm dazu das Recht gegeben hätte, und kaum hatte der Abbé sich der Herzogin vorgestellt, so klagte Eleonore, daß die Gluth des Feuers sie belästige, und erhob sich.

Mitten in dem Saale traf sie mit dem Abbé zusammen. Ich habe Sie heute am Morgen und heute am Mittage vergebens erwartet, und Sie kommen spät! sagte sie im Tone des Vorwurfes. Es ist Ihr Wort, das ich Ihnen zurückgebe, Herr Abbé! Man soll uns nicht zur Gewohnheit werden lassen, was man nicht sicher oder nicht geneigt ist, uns dauernd zu gewähren!

Wie sie so neben einander standen, beide hoch und majestätisch gewachsen, daß Auge in Auge traf, beide mit herrischer Miene, war es kaum möglich, sich ein Menschenpaar zu denken, das mehr für einander geschaffen, mehr auf einander angewiesen zu sein schien, sei es, daß sie in Liebe oder in Abneigung zusammentrafen. Es war neben Eleonorens vollkommener Schönheit stets ihr Stolz gewesen, der den Abbé angezogen und ihn gereizt hatte, ihr seine Herrschaft aufzudringen, und man hätte sagen können, daß sie sich im Streite nahe getreten waren, daß sie im Widerstreben gegen einander ihre Herzen und ihren Geist verstrickt hatten, daß Sieg und Niederlage zwischen ihnen stets gewechselt hatten und beides ihnen zum Genuß geworden war.

Auch jetzt empfand der Abbé den alten Zauber wieder mächtig auf sich wirkend, aber er hatte Grund, sich demselben nicht mehr wie sonst zu überlassen, und auf ihre Anrede eingehend, [281] versetzte er: Schlimm genug für mich, daß ich aus meiner eigenen Erfahrung keinen Nutzen zog, daß ich sie nicht zu beherzigen verstand!

Was soll das heißen? fragte sie voll banger Ahnung, weil ihr in seinem Wesen etwas Fremdes entgegentrat.

Wir müssen scheiden, Eleonore! sprach er tonlos.

Er hatte sie niemals bei diesem Namen genannt, er hatte es stets vermieden, sie und sich als Einheit zu bezeichnen, und nun, da ihr Name, von seinen Lippen ausgesprochen, ihr mit unsäglicher Wonne das eigene Herz berührte, nun das beglückende »Wir« ihr von seinem Munde entgegenklang, nun sollte sie sich von ihm trennen – nun?

Scheiden? wiederholte sie. Und weßhalb das? – weßhalb?

Er blickte mit schnellem Auge um sich her; als er sah, daß Niemand nahe genug stand, seine Worte zu vernehmen, sagte er: Ich komme von Seiner Eminenz dem Erzbischof. Auf seinem Tische sah ich einen Brief von Ihrer Hand. Es war offenbar das kleine Billet, das Sie mir neulich gesendet und das ich nicht erhalten hatte. Ein Brief der Frau Herzogin lag daneben.

Eleonore erbleichte, aber ihre Fassung und ihr Selbstgefühl verließen sie nicht. Ich habe nie ein Wort geschrieben, sprach sie, das eines Anderen Blick zu scheuen hätte, und von Seiten meiner Tante überrascht mich nichts, wennschon....

Auch nicht, fiel der Abbé ihr leise in die Rede, daß sie gewagt hat, Ihnen, Ihnen, Eleonore, eine Leidenschaft anzudichten, deren Mitschuldiger ich sein sollte und die ein Verbrechen für mich wäre?

Er war selbst blaß geworden und die Stimme hatte ihm versagt, da er diese Worte aussprach. Sie trafen das Herz des unglücklichen Mädchens wie ein tödtender Blitz. Sie sah, sie entdeckte in sich, was sie sich bisher mit stolzer Scham verborgen [282] hatte. Sie fühlte die Flamme einer verzehrenden Leidenschaft in sich auflodern, und der Mann, der sie in ihr angefacht und genährt hatte, stand ihr kalt gegenüber, sprach zu ihr in einer Weise, als wäre es undenkbar, daß er jemals etwas für sie empfunden habe, etwas für sie fühlen könne.

Ihre Füße wankten, sie faßte krampfhaft die Lehne eines Sessels, der in ihrer Nähe stand, sie fürchtete, sich nicht aufrecht halten zu können; aber mehr noch als Alles peinigte sie der Gedanke, dem ungerührten Manne zu verrathen, was in ihrer Seele vorging, ihn ahnen zu lassen, was sie in diesem Augenblicke um ihn litt. Und die bleichen Lippen zu einem Lächeln zwingend, das ihr das Herz zerriß, fragte sie ihn: Deßhalb also will man Sie entfernen?

Der Abbé bejahte es. Die Thränen traten der Gräfin vor diesem kalten, nackten Ja in's Auge.

Freilich! das Scheiden von einer Freundin – das Scheiden von Eleonore Haughton – was ist das für Sie! sagte sie mit Bitterkeit.

Der Abbé ließ den vollen Strahl seines Auges in die ihrigen fallen, aber er schwieg.

So standen sie sich einige Sekunden gegenüber, und es dünkte Eleonore, als durchlebe sie eine lange Leidenszeit, denn großer Schmerz und große Freude rauben uns den wahren Maßstab für den Verlauf der Zeit. Es kam ihr vor, als sei der Augenblick lange her, in welchem sie das Wort, das niederschmetternde Wort von dem Munde des Geliebten vernommen hatte, als sei es lange her, daß sie sich allein gefunden, allein mit der verzehrenden Leidenschaft in ihrer Brust. Allein!

Nur das konnte sie nicht ertragen! Allein, ohne ihn konnte sie nicht leben. Und wie ein Versinkender verzagend und hoffend zugleich nach Rettung ausschaut, fragte sie: Und gibt es kein Mittel, keines, das Sie – mir erhält?

[283] Es war geschehen, sie hatte es ihm gesagt; aber besorgt, daß eben dieses Wort ihn bestimmen könne, sich von ihr zu trennen, fügte sie hinzu, als wolle sie ihn vergessen machen, ihn über dasjenige täuschen, was sie ihm eben verrathen und gestanden hatte: Ich weiß es, Sie verlassen Paris, den Hof nicht gern, Sie haben Hoffnungen an Ihren hiesigen Aufenthalt geknüpft. Gibt es kein Mittel, Ihre beabsichtigte Entfernung zu vermeiden? – Und wie von einer plötzlichen Eingebung ergriffen sprach sie: Ich will Paris verlassen, ich will in meine Heimath gehen! Sie sollen bleiben. Ich will gehen!

Das jedoch war es nicht, was der Abbé begehrte. Er schüttelte verneinend das Haupt. Fassen Sie sich, Gräfin, man beobachtet Sie und mich! sagte er leise. Ihre Entfernung von Paris würde nichts in meiner Lage ändern, nichts! Aber einen Ausweg gibt es, Einen! – Er zögerte, als falle es ihm schwer, ihr denselben zu nennen. Endlich, da sie auf seine Antwort bange harrte, sagte er: Nehmen Sie die Hand des Prinzen an, für den der König selber morgen um Sie werben wird!

Unmöglich, unmöglich! rief die Gräfin so laut, daß die Anwesenden alle es vernahmen.

Aber sie und der Abbé schlugen wie auf eine Verabredung ein Lachen auf, und mit lachender Miene fügte Eleonore leise hinzu: Soll ich der Herzogin den Triumph bereiten? Soll ich mich der Herrschsucht wider mein Empfinden in die Arme werfen, vor der Sie selbst mich warnten?

So treffen Sie schnell eine andere Wahl, Sie sind Herr darüber! warf der Abbé ihr ein.

Aber wen – wen? fragte die Gräfin, der in der Angst ihres Herzens und in der Verwirrung dieses Augenblickes jedes Mittel erwünscht kam, welches sie vor der Trennung von dem Abbé bewahren und ihm beweisen konnte, daß für ihn kein Opfer ihr zu schwer sei.

[284] Der Abbé wendete das Haupt in das Zimmer und zu der Gruppe zurück, welche die Gräfin vorhin verlassen hatte. Eine Frau wie Sie, sagte er, wird schwerlich einen Mann finden, der sie verdient; aber es müßte mich Alles täuschen, oder der Freiherr von Arten weiß es, was Sie werth sind, und seine liebende Verehrung wird mir den Antheil an Ihrer Freundschaft nicht mißgönnen. Er ist ein Mann von Ehre und er liebt Sie, Gräfin, dessen bin ich sicher!

Sie konnte ihm nichts erwiedern. Der Ausdruck der Verzweiflung und der Liebe, mit dem sie zu ihm emporsah, drohte, ihn seiner Fassung zu berauben, und sich vor ihr verneigend, sagte er so laut, daß die Anderen ihn vernehmen konnten: Denken Sie daran, Gräfin, wir sprechen mehr davon!

Dann wendete er sich zu den Uebrigen, und auch Eleonore kehrte, wie hart ihr das auch ankam, zu ihrer früheren Unterhaltung zurück.

[285]
11. Capitel
Eilftes Capitel

Man trennte sich an dem Abende zeitig, weil einige der Gäste noch anderweitige Einladungen hatten. Im Vorzimmer trafen der Abbé und Renatus zusammen. Der Abbé machte die Bemerkung, daß das Wetter köstlich und daß es eigentlich eine Sünde sei, eine Winternacht von so ungewöhnlicher Milde und Schönheit ungenossen zu lassen, und da er Renatus ohne weiteres Vorhaben fand, schlug er ihm vor, ihn zu begleiten und gemeinsam eine Strecke Weges zu machen.

Der Freiherr verlangte es nicht besser. Er hatte die lange Unterredung zwischen dem Geistlichen und der Gräfin mit Unruhe betrachtet, denn er war von den obwaltenden Verhältnissen zu genau unterrichtet, um nicht zu vermuthen, was die unverkennbare Aufregung Eleonorens zu bedeuten und welchen Inhalt dieses Gespräch der Beiden gehabt haben müsse. Auch stand er ihnen nahe genug, um, sobald er sich mit dem Geistlichen allein auf der Straße befand, ohne Umschweife die Frage zu thun, ob er sich irre, wenn er glaube, daß der Abbé mit ihrer gemeinsamen Freundin von dem Heirathsplane gesprochen, den der König zu dem seinigen gemacht habe und dessen nahes Zustandekommen jetzt die große Angelegenheit des Hofes sei.

Es ist eine traurige Angelegenheit, sagte der Abbé, und nie mehr als in diesem Falle habe ich daran gedacht, wie verschieden die Wege der Prüfung sind, auf welche der Herr uns führt. Er schritt eine Weile schweigend fort, dann sprach er: [286] Wenn man das Leben dieses ungewöhnlichen Mädchens sieht, seine gottbegnadigte äußere Erscheinung, seine großen geistigen Mittel, den fürstlichen Besitz, der ihm von Kindheit an zu eigen war, so fühlt man sich zu dem Gedanken hingeführt, daß es dem Himmel gefallen habe, hier einmal ein Menschenwesen mit allen Gütern des Lebens und des Glückes auszustatten, um ihm den vollen, edlen Genuß des Daseins zu ermöglichen.

Da er wieder in seiner Rede abbrach, meinte Renatus, daß die Gräfin doch auch zu einer hohen und seltenen Reife und Entwicklung gelangt sei und wie ihr zu ihrem Glücke ja auch nichts fehle, als daß sie eben dem Manne begegnete, dem sie ihre Zukunft in liebendem Herzen anvertrauen könne.

Wir sind nicht im Salon, mein theurer Freund! rief der Abbé mit einer Kälte, welche den Andern in Erstaunen setzte. Er fragte, was dieser unerwartete Ausruf bedeuten solle. Der Abbé, der sonst in seinem ganzen Betragen sich immer äußerst zurückhaltend bezeigte und sich eben so wenig eine Vertraulichkeit gegen Andere herausnahm, als er sie ihnen gestattete, legte seinen Arm in den des jungen Offiziers und sagte mit einer ihm sonst ebenfalls sehr fremden Lässigkeit: Es gibt gesellschaftliche halbe und ganze Unwahrheiten, gegen die man wohlthut, sich nicht zu wehren, und an die zu rühren auch nicht weise ist, weil sie in der Regel aus einem vernünftigen Grunde hervorgehen, sogar wenn die Gesellschaft sich desselben nicht immer klar bewußt ist. Eine solche conventionelle Unwahrheit ist der Glaube an die sogenannten großen Eigenschaften der Gräfin Haughton.

Herr Abbé, rief der Freiherr, als traue er seinen Ohren nicht, das sagen Sie, Sie, der Freund, der vertraute Freund Eleonorens?

Eben deßhalb sage ich es, kann ich es sagen! berichtete ihn der Geistliche, und vielleicht werden Sie mir Glauben schenken, [287] wenn ich Ihnen bekenne, daß die Gräfin auch mich eine geraume Zeit geblendet hat, daß ich in ihr Eigenschaften zu sehen wähnte, die sie der Bewunderung würdig machten – und in der That, sie hat auch solche Eigenschaften! Wer wollte und wer könnte dieses läugnen? Sie ist von schnellem Geiste, von einem kühnen Fluge der Gedanken, sie hat, ich zweifle nicht daran, eine männliche Entschlossenheit, wo es ihre eigenen, persönlichen Zwecke gilt; aber ich habe Niemanden gekannt, auf den das Wort der Bibel von dem tönenden Erz und der klingenden Schelle so anwendbar gewesen wäre, als auf sie. »Sie hat der Liebe nicht!« – Selbstsüchtiger und herzenskälter habe ich nie ein Weib gekannt.

Der Freiherr war nicht gleich einer Entgegnung fähig. Er erlebte nach seinen Begriffen einen vollkommenen Verrath, und der Mann, der ihn beging, war ihm bis auf diese Stunde ein Gegenstand der Hochachtung gewesen. Seine Ehrenhaftigkeit schreckte vor einem solchen Verhalten zurück. Er zog unwillkürlich seinen Arm aus dem seines Gefährten. Kennt oder ahnt die Gräfin die Ansicht, welche Sie von ihr hegen? fragte er.

Es gibt Wunden, entgegnete der Abbé, die man nicht sondiren darf, ohne sie tödtlich zu machen. Ich konnte der Gräfin nicht sagen: »Sie haben kein Herz!« da mein ganzes Bestreben darauf gerichtet ist, diese Seite ihres Wesens zu erwecken oder zu beleben. Denn was könnte mich, dessen Ziele weit ab liegen von dem Boden dieser leichtlebigen und sich an der Oberfläche der Dinge haltenden Gesellschaft, was könnte mich bewegen, der tägliche Gast der Frau Herzogin zu sein, hätte ich es der würdigen Frau nicht zugesagt, mich der Bekehrung ihrer Nichte zu unterziehen, hätten meine Vorgesetzten mich nicht selber ermuthigt, an dieses Werk zu gehen?

Mehrere Wagen, die rasselnd an ihnen vorüberfuhren und die sie bei dem Uebergehen nach einer andern Straße für einige [288] Minuten trennten, unterbrachen die Mittheilung des Geistlichen und ließen dem Freiherrn zu einem Umschwunge seiner Ansicht Zeit. Als sie sich wieder zusammenfanden, hob der Abbé auf's Neue zu sprechen an. Es ist ein großes Vertrauen, Herr von Arten, das ich Ihnen mit diesem offenen Bekenntnisse gewähre. Indeß Ihrer Gesinnung bin ich sicher. Sie ist ein schönes Erbe Ihres alten Hauses, und Sie selber sind, ich weiß es, unserer Kirche aufrichtig ergeben. Sie haben in Ihrem Elternhause den Segen und die Alles ausgleichende und versöhnende Kraft des Glaubens, wie ich aus Ihren eigenen Mittheilungen und aus manchen Andeutungen der trefflichen Frau Herzogin erfahren, kennen lernen. Sie gehören nicht zu der Anzahl jener sogenannten Aufgeklärten, die es in ihrer selbstgenügsamen Kurzsichtigkeit dem Gläubigen zum Vorwurfe machen, wenn es ihn drängt, die Segnungen, deren er sich theilhaftig fühlt, die erhebende Erkenntniß, die ihm durch die Gnade Gottes zugänglich geworden ist, nicht als ein todtes Pfund zu vergraben, sondern sie auszubreiten und leuchten zu machen, so weit die menschliche Gemeinschaft reicht.

Der Abbé hatte etwas Mächtiges, wenn er sich dem freien Zuge seiner Beredsamkeit überließ, und Renatus waren solche Ansichten und Ansprüche von früher Kindheit an vertraut gewesen. Sein unvergessener, geliebter Lehrer, der Caplan, hatte ja selber durch Jahre und Jahre in fremden Zonen als ein Bekenner und Verbreiter der allein seligmachenden Kirche gearbeitet und bis an sein Lebensende mit Erhebung an jene Wirksamkeit zurückgedacht. Läugnen konnte Renatus es auch nicht, daß ihm das herrische Wesen der Gräfin bisweilen unheimlich und bedenklich erschienen war, aber er hatte sie nicht tadeln, nicht verurtheilen können; sie hatte ihm neben der Bewunderung, die er für sie hegte, ein Bedauern eingeflößt, und eben jetzt empfand er dieses lebhafter und stärker, als je zuvor.

[289] Sie ist ohne Vater, ohne Mutter aufgewachsen, sagte er entschuldigend, und mich dünkt, die Herzogin war nicht dazu gemacht, eine so eigenartige Natur zu erwärmen und zu bilden. Wer mag denn sagen, ob die Herzogin selber einer wahren Liebe fähig ist?

Die Herzogin keiner Liebe fähig? rief der Abbé im Tone des höchsten Erstaunens. Aber haben Sie denn vergessen, mein theurer Baron, mit welcher Treue die Herzogin in den Zeiten der Verbannung und der Noth an ihrem Bruder festhielt? Haben Sie vergessen, mit welcher Hingebung die Mittellose auf die edle, sie völlig sicherstellende Gastfreiheit Ihres Herrn Vaters verzichtete, als es galt, der königlichen Familie ihre alte Treue zu beweisen? Glauben Sie, daß es sie kein Opfer gekostet hat, den einzigen Bruder an eine Frau zu verlieren, die nicht zu unserer Kirche gehörte? Und wann hat die Herzogin ihre Nichte es fühlen lassen, daß sie, die ruhebedürftige Matrone, ihr ganzes Behagen der Lebenslust Eleonorens zum Opfer brachte? Oder kennen Sie etwas, das rührender, das ehrwürdiger wäre, als die schöne Freundschaft, welche durch ein langes Leben die Herzogin und ihren Jugendgenossen, den greisen Fürsten von Chimay, unzertrennlich verbunden hat? In der That, mein Freund, von Ihnen weniger als von jedem Andern war ich mir eines Urtheils gewärtig, das die Herzogin in so ungerechter Weise anficht, denn mich dünkt, Sie selber hätten mannigfach Gelegenheit gehabt, die theure Frau von ihren schönsten Seiten würdigen zu lernen! – Beide gingen eine Zeit lang schweigend neben einander her.

Renatus fühlte sich beschämt. Er hatte die Undankbarkeit immer als das Zeichen einer niedrigen Gesinnung angesehen, nun zieh man ihn einer solchen, und er konnte es nicht läugnen, man that es nicht ganz mit Unrecht. Je länger er darüber nachsann, um so unsicherer wurde er in seinem Urtheile. Er konnte dem Abbé nicht völlig widersprechen. Er hatte, als er [290] in das Haus der Herzogin gekommen war, ja auch für dieselbe und wider die Gräfin Partei genommen, und erst allmählich hatten Eleonorens bestechende und blendende Eigenschaften ihn anderen Sinnes werden machen. Er wünschte guten Herzens, kein Unrecht gegen die Greisin zu begehen; aber Eleonore, wie der Abbé es that, so schonungslos zu verdammen und aufzugeben, konnte er sich nicht entschließen, und mit der bewußten Absicht, einen vermittelnden Ausweg zu wählen, sprach er: Jede der beiden Frauen hätte wohl eine weichere und mildere Natur an ihrer Seite haben müssen, um glücklicher zu werden; denn wie die Herzogin mir einst gestanden hat, daß sie, früh zur Witwe geworden, nie die geringste Neigung empfunden habe, sich wieder zu vermählen, so hat mir noch neuerdings die Gräfin gesagt, daß sie nach der Ehe kein Verlangen trage, ja, daß ihr bis jetzt niemals eine Sehnsucht nach jenem Glücke des Familienlebens gekommen sei, welches doch den meisten Menschen für ihre Befriedigung nothwendig erscheint. Diese beiden Frauen sind sich eben selbst genug.

Das ist ein trauriger Vorzug, rief der Abbé, und Sie werden mir gestehen, daß ich darüber ein vollgültiger Richter bin! Der Mensch kann, wo es einer großen Ueberzeugung gilt, sich selbst verläugnen, und auf die Liebe, auf die Ehe, auf das Glück verzichten, sich in seinen Kindern fortleben zu sehen; aber es ist das eine harte Entsagung, und das Herz auch des Stärksten hört nicht auf, unter derselben zu leiden und zu bluten! Es muß süß sein, in früher Jugend sich einem geliebten Mädchen zu verbinden, in jedem Augenblicke zu wissen, daß seine Gedanken, seine Gebete uns begleiten, sich vorzustellen, wenn man von ihm fern ist, wie die Liebe der Erwählten uns ersehnt, und sie nach einer Trennung mit der alten, nur gesteigerten und bewährten Treue in die Arme zu schließen.

Er brach ab, schwieg eine Weile und sagte danach: Es [291] sind das Bilder, die auszudenken man sich hüten muß, wenn man gelobt hat, nie nach ihrer Verwirklichung zu streben. Aber so oft ich in meinem Amte in ein Haus getreten bin, wo die demüthige Liebe einer wahrhaft weiblichen Seele dem Manne das Leben verschönte, habe ich empfunden, wo das wahre Glück zu finden sei, und die höchsten Vorzüge eines Mädchens wie die Gräfin haben mich nie von dieser Erkenntniß abweichen machen. Für eine Eleonore Haughton kann ein Jüngling sich begeistern, ein Mann eine sehr lebhafte Freundschaft empfinden. Sie würde, hätte ihr Schicksal sie für einen Thron bestimmt, vielleicht ihrem Ideale, ihrer Königin Elisabeth, in herber, stolzer Selbstüberhebung ähnlich werden können; für einen Mann, der in seinem Weibe ein liebendes Herz zu finden begehrt und der Herr in seinem Hause bleiben will, sind diese Art von Frauen nicht geschaffen. Man macht aus einer Juno, einer Minerva niemals das rührende Geschöpf, als dessen erhabenster Ausdruck uns die Madonna, die jungfräuliche Mutter erscheint, der sich das Knie des gewaltigsten Mannes in liebender Verehrung beugt. Ein Mannweib zu lieben, muß man selbst kein Mann sein! Wo ich einen Mann sich ein recht demüthiges Weib erwählen sehe, weiß ich immer, was er selber werth ist.

Sie waren während dessen bis zu dem Collegium gekommen, in welchem der Abbé seine Wohnung hatte. Er nöthigte den Freiherrn leichthin, mit ihm hinauf zu steigen; aber Renatus nahm es nicht an, und Jener hatte es auch darauf nicht abgesehen, ihn bei sich zu haben. Er wünschte allein zu sein. So schieden sie von einander.

Oben angelangt, ging der Abbé eine geraume Zeit mit schwerem Schritte in dem großen, saalartigen Raume auf und nieder, den er in dem Hause inne hatte. Ein paar werthvolle Bilder, einige Abgüsse nach berühmten antiken Büsten schmückten nach seiner Wahl die Wände. Er sah sie nicht an, so gern [292] sein Auge sonst auf ihnen weilte. Er blickte auch nicht zu dem Crucifix empor, das in dem anstoßenden Gemache, schön geschnitzt, zu Häupten seines Lagers hing. Er hatte manchmal Trost und Beruhigung gefunden, wenn er in schwerem Seelenkampfe zu dem Bilde des Mannes empor geschaut, in welchem die Menschheit sich die höchste Reinheit, die höchste Menschenliebe und die vollendetste Selbstverläugnung verkörpert hat, um sich an ihm aufzuerbauen und zu erheben; aber nichts Aeußerliches vermochte den Abbé heute von sich selber abzuziehen. Er hatte gethan, was seine Pflicht war, er war mit Ueberwindung ein tüchtig Stück auf dem Pfade zu seinem selbstgesteckten Ziele vorgeschritten, und er hatte nicht danach zu fragen, welche Blüthen sein Fuß dabei zertrat, sei es in der Seele eines Andern oder in dem eigenen Herzen; denn das Ziel ist Alles! – Aber das hinderte nicht, daß der Kampf dieser Stunden noch in seiner ganzen, grausamen Schwere auf ihm lastete.

Ein paar Mal blieb er stehen und faßte mit der Hand nach seiner Brust. Es versetzte ihm etwas den Athem. War es ein Schmerz, war es eine zornige Empörung? Er fragte sich nicht danach, er wollte es nicht ergründen, es gar nicht wissen. Er knöpfte mit hastiger Hand die Soutane auf. Wenigstens athmen, athmen wollte er in voller Freiheit, und fre athmen, sagte er, wie zum Troste, zu sich selber, frei athmen kann man in der Menge nicht! Frei athmen kann man nur auf einsamer Höhe, hoch über dem Gewühle der Welt!

Er dehnte unwillkürlich seine Brust. Er war mit sich zufrieden. Ein kaltes Lächeln spielte um seine Lippen, als er sich erinnerte, wie die stolze Eleonore, wie der junge Freiherr, die beide fest nach eigenen Meinungen zu handeln glaubten, gleich einem weichen Wachse sich unter seiner Hand in die Form gefügt hatten, die er ihnen aufzuzwingen gewünscht. Herrisch und meisternd hatte der Erzbischof ihm heute seine Ueberlegenheit zu [293] kosten gegeben. Er hoffte, die Stunde solle nicht ausbleiben, in welcher er ihm dies auf die eine oder auf die andere Weise würde vergelten können; denn auch er fühlte sich aus dem Stoffe geschaffen, aus welchem man die Kirchenfürsten macht. Und die Gegenwart hinter sich zurücklassend, von ehrgeizigen Hoffnungen über den Schmerz und den Kampf des Augenblickes flügelschnell hinweggehoben, durch den eben errungenen Erfolg ermuthigt, blickte er endlich auf die Zukunft wie auf eine Arena hinaus, in welcher der höchste Preis des Sieges ihm nicht entgehen konnte.

Er ging an seinen Schreibtisch, ließ sich in dem Sessel nieder, der vor demselben stand, und begann zu schreiben. Es war tief in der Nacht, als er sich von seiner Arbeit erhob. Die Lampe war im Erlöschen, der untergehende Mond warf sein Licht schräg in das Gemach. Mit dem gesiegelten Briefe in der Hand sah der Abbé lange sinnend in den Garten hinaus, der sich unter seinen Fenstern weithin ausdehnte. Dann fiel sein Blick prüfend auf des Briefes Aufschrift. Er meinte, etwas in derselben vergessen zu haben, aber es war Alles richtig.

Die Aufschrift lautete: »An den Pater Provincial des Jesuiten-Klosters zu Rom.«

Der Abbé war in diesem Kloster erzogen worden und er hatte bisher den Hoffnungen durchaus entsprochen, welche seine Lehrer und Meister auf ihn bauten.

[294]
12. Capitel
Zwölftes Capitel

Der milden Winternacht folgte ein klarer, schöner Tag. In den prachtvollen, alterthümlichen Kaminen des großen königlichen Ballsaales brannten die Feuer. Ihre rothe Gluth, ihre blauen, züngelnden Flammen erschienen bei dem hellen Sonnenlichte dunkel; auch die Kleidung und die Schönheit der Frauen hatten bei den Frühstücksbällen in den Tuilerieen eine wahre Lichtprobe zu bestehen. Aber Niemand ertrug die Prüfung durch das Tageslicht so siegreich, als die Gräfin Haughton, obschon ihrem Antlitze heute die ihm sonst so eigenthümliche Frische, ihren Augen der gewohnte Glanz gebrachen.

Die ersten Quadrillen waren vorüber. Eleonore hätte kaum sagen können, wer ihre Tänzer in denselben gewesen wären. Es war ihr zu Muthe, als sei sie verwandelt, als wohne eine fremde Seele in ihrem Leibe. Nur ihre Gestalt war noch die alte, war noch lebendig; sie selber, die Eleonore, als welche sie sich bis gestern noch empfunden hatte, war dahin.

Sie hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, den ganzen Morgen in marternder Spannung vergebens auf den Besuch des Abbé's, auf eine Zeile, auf ein Wort von ihm gewartet, die ihr hätten zum Troste, zur Stütze werden können. Was war geschehen, daß er sie also in ihrer Herzensnoth verließ? Hatte man ihn unter irgend einem Vorwande gezwungen, Paris schon an diesem Morgen zu verlassen? Konnte er sich entfernt haben, ohne sie davon in Kenntniß zu setzen? Ließ man ihn [295] nicht aus den Augen, und fand er keine Möglichkeit, ihr, wenn auch nur mit Einem Worte, sich zu nahen?

Und wie stand es denn jetzt zwischen ihr und ihm?

Wie ein scharfes Eisen bohrte sich der Gedanke in ihr Hirn: Ich liebe einen Mann, dem die Liebe ein Verbrechen ist! Ich, die Protestantin, liebe einen Katholiken, einen Priester! Ich habe ihm diese Liebe verrathen, und er will mich bestimmen, einem Anderen, einem ungeliebten Manne meine Hand zu reichen, um sich zu retten, um seine Plane zu verfolgen! Warum vertraute ich einem Katholiken, einem Priester?

Dann wieder, wenn der Schmerz sie zu vernichten drohte, wenn der Gedanke, sich und ihre Liebe verschmäht zu sehen, sie völlig niederwarf, raffte sie sich mit Gewalt an einer anderen Ansicht ihrer Lage empor. War es denn seine Schuld, daß sie ihn liebte? Konnte er dafür, daß ihre Seele nicht stark, nicht rein genug gewesen war, sich an der Freundschaft genügen zu lassen, die allein er ihr zu bieten hatte? Wann hatte er je einen Wunsch, einen Anspruch an sie erhoben, der über den Antheil an ihrem Seelenheile hinausgegangen war? Und wie hatte er sich selbst in seinem Eifer für dasselbe zu mäßigen, sich überall in Schranken zu halten gewußt! Mit keinem Worte hatte er ihr je gestanden, was er für sie fühle. Und er liebte sie! Sie zweifelte nicht daran: er liebte sie! Eine Liebe, wie die, welche sie für den Abbé empfand, konnte keine einseitige sein, konnte nicht unerwiedert bleiben! Es war nicht anders möglich: er liebte sie, er mußte sie lieben!

Aber durfte sie das hoffen? Durfte sie es wünschen? – Nein, nein! nur das nicht! rief sie laut, daß der Ton ihrer eigenen Stimme sie in der nächtlichen Einsamkeit erschreckte. Und ihr Gesicht in den Händen verbergend, warf sie sich nieder und weinte, daß es ihr die Brust zu sprengen drohte.

Es war genug an ihrem Elende, an ihrer Verzweiflung, [296] er sollte nicht unselig sein, wie sie. Er sollte den Trost besitzen, daß er rein und makellos den Lebensweg gegangen sei. Er sollte sich ruhig niederwerfen können zu den Füßen Gottes, zu den Füßen der reinen, makellosen Jungfrau, zu deren Altären er sie hinzuführen gestrebt hatte, in deren Verehrung sie eine unzerstörbare Gemeinschaft mit ihm haben konnte.

O, daß ich ihn besäße, den Glauben, der ihm Kraft verleiht! seufzte sie in ihrem Schmerze. Daß ich es gelernt hätte, wie er, in früher Jugend zu entsagen! Wenn ich es vermöchte, wie er, mich an das Kreuz zu schlagen, und Trost zu finden, wie er, in dem Gedan ken, daß ich eine Wahrheit erkannt, eine Wahrheit zu verkünden habe, daß ich mir nicht selbst gehöre, sondern nur ein Diener der Menschheit bin, ein schwaches Werkzeug in des Allmächtigen, des Allweisen Hand! –

Wörtlich, wie ihr Herz sie in sich aufgenommen hatte, wiederholte sie sich die Aussprüche, die er oft vor ihr gethan hatte. Vor wenigen Augenblicken hatte sie ihm gezürnt, nun zürnte sie sich selber. Mit der Demuth der Liebe klagte sie sich an, daß sie mit ihrer Leidenschaft die schöne Ruhe seines Daseins trübe. Sie, sie allein war die Schuldige. Ihre Maßlosigkeit, ihre Ungenügsamkeit verstrickten ihn in Verwirrungen, die er nie zuvor gekannt hatte. Sie erinnerte sich, wie man ihr die hohe Sinnesart, den reinen Wandel des Abbé gepriesen hatte. Auch sie kannte ihn nur hochgesinnt und rein und allem Erhabenen mit Begeisterung zugewendet! Was mochte er jetzt von ihr denken? Was mochte er jetzt thun?

Sie sah ihn knieen vor dem Muttergottesbilde, das er von einem früh gestorbenen Freund ererbt und von dem er ihr je bisweilen wohl gesprochen hatte. Sie zweifelte nicht daran, daß er ihrer dachte, daß er für sie betete. Sie hätte es vor sich haben mögen, das Madonnenbild, vor dem er oftmals Trost gefunden hatte. Sie hatte den Trost sehr nöthig!

[297] Wenn sie ihn sehen, ihm Alles bekennen, ihn berathen, ihm beichten könnte! – Beichten! – Vor einem Madonnenbilde knieen! – Wie hatte das alles ihrem Geiste, ihrem Empfinden, ja, ihrem Verstande sonst widerstrebt, als sie noch in stolzem Selbstgefühle sich der Unfehlbarkeit vermessen hatte! Und jetzt?

Aus der Flut der sie überströmenden Liebe tauchte mit Einem Male wieder der alte Stolz empor, und der Trotz mit ihm. Sie wollte thun, was der Abbé begehrte, sie wollte die Hand des Prinzen annehmen, um es den Abbé empfinden zu lassen, was das Herz des Menschen leiden könne. Denn sie mit Gleichmuth in des Prinzen Armen zu sehen, das konnte auch dem Abbé nicht möglich sein.

Und wieder sagte sie sich, daß sie ihn herabziehen würde von seiner Höhe und wieder wurde die Anbetungslust der Liebe in ihr mächtig, die sie hoch hinaushob über jede menschliche Schwachheit. Sie fand ganz plötzlich ein Genügen, ja, einen Trost darin, daß er nicht ahne, was sie dulde, daß er, ruhig und selbstgewiß, der Liebe wie dem Leiden nicht zugänglich sei.

Von einer Pein zur anderen fortgetrieben, ward ihr keine Rast, bis ihre Kraft erschöpft war und die müde Natur nach Ruhe verlangte. Die Hände gefaltet, saß sie in einer Art von Betäubung wachend auf ihrem Lager. Minute auf Minute, Stunde auf Stunde rannen an ihr vorüber; sie gewahrte es nicht. Kein tröstender, kein beruhigender Gedanke kühlte ihre heiße Stirn, erhob ihr gebeugtes Haupt. Sie kam sich alt, sehr alt, sie kam sich einsam vor und sehr verlassen. Was sind auch Jugend und Schönheit und Besitz und Macht in der Stunde, in der man einer großen Liebe zu entsagen hat?

Es überraschte sie, als der Morgen wie immer in die Höhe kam und das alltägliche Leben mit ihm. Es überraschte sie, als ihre Kammerjungfer sie bei ihrem Namen nannte. Sie war ja nicht mehr dieselbe, die sie gestern noch gewesen war. Sie wunderte [298] sich, daß ihr Haar, da jene die haltenden Nadeln desselben löste, noch in seiner goldigen Fülle von ihrem Haupte auf ihren Leib herniederfloß. Was sollte es ihr? – Sie hätte es ruhig unter der Scheere fallen sehen. Heute hätte sie mit Freude den sie für ewig verhüllenden Schleier über ihre Schläfe und ihr Antlitz decken mögen, damit Niemand die Thränen gewahre, welche aus ihrem gebrochenen Herzen in ihre Augen emporstiegen und auf ihre Wangen niederflossen. Heute begriff sie es, daß es eine Wohlthat sein könne, fern von der Welt, ungesehen und vergessen von ihr, seinem Schmerze ganz allein zu leben.

Sie mußte ihre Dienerin entfernen, um sich noch einmal recht von Herzen auszuweinen. Und wie sie nun da saß, hoffnungslos und an sich selbst verzweifelnd, stieg jener unselige Gedanke der Opferung, der schon manches Weib in gleicher Lage von dem Pfade der Wahrheit und der Sittlichkeit hinweggelockt hat, blendend und verführerisch in ihrer Seele empor.

Was war sie sich denn noch? Was war an ihr gelegen? Er sollte sehen, daß auch sie entsagen, daß auch sie sich überwinden konnte, wenn es darauf ankam, ihm eine Genugthuung, ihm eine Rechtfertigung von dem Verdachte zu bereiten, in den ihre schlecht verhehlte Leidenschaft ihn gebracht hatte und den er nicht verdiente. Er hatte Eleonore Haughton doch nicht nach ihrem vollen Werthe geschätzt, er sollte der Fürstin von Chimay das Zugeständniß nicht versagen dürfen, daß sie der höchsten Liebe würdig gewesen wäre, weil sie die höchste Liebe ihres Herzens, weil sie sich selber dem Geliebten zum Opfer zu bringen vermochte.

In dieser Stimmung ließ sie sich zu dem Feste kleiden. Sie legte zum ersten Male den Erbschmuck ihres Hauses an. Wie man die Jungfrau, die der Welt entsagt, um sich dem himmlischen Bräutigam, dem Heilande unauflöslich hinzugeben, noch einmal in allem Glanze des irdischen Schmuckes erscheinen [299] läßt, ehe des Klosters Pforte sie von der Welt abtrennt, so wollte sie sich noch einmal in dem vollen Glanze ihrer Schönheit betrachten, ehe sie diese Schönheit einem ungeliebten Manne überließ, um dem Geliebten damit die ganze Größe der Hingebung zu beweisen, deren sie für ihn und seine Ehre, seine Ruhe fähig sei.

Weil sie dahin gekommen war, sich auf einen falschen und trügerischen Boden zu stellen, verschoben und verwirrten sich ihr, ohne daß sie es bemerkte, alle ihre Ansichten und Begriffe. Sie vergaß es, daß sie sich dem Prinzen zu vermählen beschlossen hatte, weil sie sich auf diese Weise das Glück zu erkaufen dachte, den Abbé wie bisher in voller Freiheit sehen und seines Umganges, seiner Freundschaft nach wie vor genießen zu können. Sie vergaß auch bald, daß eben der Abbé sie vor der Ehe mit dem Prinzen gewarnt und daß er ihr vorgeschlagen hatte, Renatus zum Gemahl zu wählen. Nur einen flüchtigen Gedanken hatte sie auf diesen hingewendet, aber sie hatte zu viel Freundschaft für den jungen Freiherrn, sie wünschte ihm zu ehrlich Glück, um sich ihm zur Gattin anzutragen; und da sie einmal auf die Vorstellung der Opferung gekommen war, dünkte sie das Opfer nicht groß genug, welches sie in einer Ehe mit Renatus, die doch für sie und für ihn kein Glück zu bringen hatte, über sich genommen haben würde. Je länger sie darüber nachsann, um so fester schlugen die Anschauungen in ihr Wurzel, von denen sie sich sonst mit Widerstreben, ja, mit Empörung abgewendet hatte, so oft der Abbé es unternommen, ihr jene Gefühlsrichtung eingänglich zu machen, welche in der Selbstverläugnung, in der Entsagung, in der Opferung eine Tugend, ja, die höchste Tugend und eine Gott wohlgefällige Handlung erblickt. Daß solche Handlung auch mitten in dem Leben und Geräusche der Welt vollzogen werden, daß man sich schweigend und ohne Aufsehen opfern und damit das gleiche Verdienst wie mit einem eingestandenen Opfer bringen könne, das hatte der Abbé oftmals [300] als seine Ueberzeugung aufgestellt; und eben so hatte er es oft behauptet, daß für Eleonore einmal die Stunde nicht ausbleiben werde, in welcher sich ihr urplötzlich die Erkenntniß und die Wahrheit der Lehren erschließen würden, die er vor ihr ausgesprochen hatte, daß die Stunde schlagen würde, in der sie sich mit ihm in denselben Ueberzeugungen zusammenfinden und vielleicht ohne sie äußerlich zu bekennen aus innerer Nothwendigkeit nach den Grundsätzen der Mutterkirche handeln werde.

Nun war sie da, diese Stunde! Und wie Eleonore in dem Königsschlosse, die im Glanze der Diamanten strahlende Grafenkrone in dem blonden Haare, an der Seite der Herzogin durch die Reihen der sie bewundernden Männer und Frauen hinschritt, erschien der Widerspruch zwischen ihrer Erscheinung und ihrem Empfinden ihr so groß, dünkte ihre Lage ihr so einzig, daß sie darin eine Auszeichnung des Himmels, daß sie eines jener besonderen Geschicke darin zu erblicken glaubte, wie Gott sie nur seinen Auserwählten, nur denjenigen großen Seelen sendet, die er durch besondere Prüfungen zu einer besonderen Gnade heranreifen zu lassen beschlossen hat. Der Stolz des Unglücks bemächtigte sich ihrer. Sie fand einen Genuß in dem Gedanken, um des Geliebten willen großes Leid zu tragen, so daß sie endlich mit einer Art von Wollust dem Augenblicke entgegenharrte, der ihr das Opfer für den Mann ihrer Liebe, die Entscheidung über ihre ganze Zukunft auferlegen sollte. – Und er ließ nicht auf sich warten!

Der König befand sich seit einigen Tagen ganz vortrefflich. Auf seinen Stock gestützt, ging er in der großen Pause des Balles langsam durch die Säle. Das schöne Wetter machte ihn heiter. Der Blick aus den hohen Bogenfenstern des Tanzsaales über den schönen Tuileriengarten weit hinaus bis in die elysäischen Felder that ihm wohl. Paris war doch unendlich schöner, als das enge, weitentlegene Mitau, als das melancholische Schloß [301] von Edinburg. Und es umgaben ihn, wohin er heute blickte, so viel Liebe, so viel Verehrung und Bewunderung! Das Schicksal war ihm eine Vergeltung schuldig gewesen, aber es gewährte sie ihm auch. Er war sehr zufrieden heute, sehr wohl aufgelegt. Alle Welt hatte sich heute des Besten von ihm zu rühmen, die Uniformenträger, wie die Männer in geistlicher Tracht, deren sich eine große Anzahl in den Reihen der Gäste vorfand. Alt und Jung ward freundlich von dem Könige beachtet, und mit huldvollster Miene trat er an die Herzogin heran, an deren Seite ihre Nichte stand.

Wissen Sie, meine schöne Gräfin, sprach er, daß ich Ihnen zürne, ernstlich zürne?

Eleonore verneigte sich tief, und ahnend, was ihr jetzt bevorstand, nahm sie sich fest zusammen und sagte lächelnd, während alles Blut aus ihren Wangen schwand, daß sie sich nicht bewußt sei, durch irgend etwas den Zorn der Majestät verschuldet zu haben.

Daß Sie es nicht wissen, ist ein Verbrechen mehr, scherzte der König, denn es leiht Ihrer Schönheit, die Ihr Verbrechen ist, nur einen höheren Reiz. Sie verderben uns den Charakter, Sie lehren uns den Neid, und es ist Zeit, daß man Sie aus unserer Nähe, daß man Sie für eine Weile von dem Hofe entfernt!

Die Umstehenden zeigten sich entzückt von so viel Gnade, von so viel anmuthvollem Scherze. Der König, für solche Anerkennung immer sehr empfänglich, wendete sich, so leicht als seine Schwerfälligkeit es ihm gestattete, zu seinem ersten Kammerherrn, dem Prinzen Polydor.

Mein Prinz, sprach er, Sie wünschten ja schon lange, Sich für einige Wochen auf Ihre Güter zurückzuziehen. Der König ergriff Eleonorens Hand. Zur Rettung unserer armen Seele nehmen Sie die Gräfin Haughton mit Sich. Unsere besten [302] Wünsche und der Segen der Frau Herzogin begleiten Sie. Im Frühjahre sprechen wir dann selber bei der schönen Fürstin vor!

Gnädiger, geistreicher hatte man Seine Majestät noch nie gefunden, besser hatte er sich nie gefallen. Aber in dem Momente, in welchem der König Eleonorens Hand ergriff, um sie in die des Prinzen zu legen, fiel ihr Auge auf die Herzogin, und der Ausdruck des Triumphes, den sie in ihren Mienen las, verwandelte das Herz der Gräfin. Sie konnte sich zum Opfer bringen – der Herzogin diesen Triumph zu bereiten, das vermochte sie nicht, das wollte sie nicht. Und von ihrem Hasse zu rascher Entschlossenheit getrieben, sprach sie, indem sie ihre Hand leise aus der des Königs zog: Ich vermag Eurer Majestät nicht zu gehorchen, denn ich bin nicht frei!

Des Königs Brauen zogen sich zusammen; es entstand eine Art von Erstarrung in den Mienen Aller, die vernehmen und sehen könnten, was geschah. Die Herzogin mußte sich auf den Arm der Dame stützen, die ihr die nächste war.

Sie sind nicht frei? wiederholte der König, und sein strenger Blick traf wie die Gräfin, so die Herzogin. Sie sind nicht frei?

Ich habe mich gestern dem Freiherrn von Arten zugesagt! erklärte Eleonore rasch entschlossen, wennschon mit bebender Stimme, während die Röthe der Scham ihr Antlitz übergoß, als sie diese Unwahrheit behauptete.

So gehen Sie Ihr Glück in Stille und Einsamkeit genießen; aber gehen Sie, und noch heute – die Frau Herzogin wird Sie begleiten! herrschte der König. Und sich von ihr wendend, ging er nach einer anderen Seite des Kreises hinüber.

Ein panischer Schrecken durchzuckte den Hof. Seit Könige in den Tuilerien wohnten, war ein solcher Vorgang nicht erhört worden. Nur eine Engländerin, nur ein Mädchen, das in so schrankenloser Freiheit auferzogen worden war, konnte eine solche [303] Unwürdigkeit begehen, sich solchen Verkennens der Allerhöchsten Gnade, solcher wahrhaften Majestätsbeleidigung schuldig machen. Man trat, soweit die Sitte dies erlaubte, nahe zusammen, es entstand eine Leere neben der Gräfin und der Herzogin, die sich in halber Ohnmacht gegen einen der Marmorpfeiler lehnte. Niemand kam ihr zu Hülfe. Hatte doch ihre Zudringlichkeit den gnädigen Monarchen in diese schlimme Angelegenheit verwickelt. Welch eine andere Frau hätte ihre Enkelin so schlecht erzogen, so schlecht bewahrt! Die Ungnade der Herzogin war vollauf verdient, man konnte, man durfte sie nicht beklagen; und wie man sie verdammte und fallen ließ, bewunderte man den Prinzen Polydor und seinen Vater, die, sobald der Dienst sie freiließ, den beiden Verbannten ihren Arm und ihre Begleitung boten, um sie durch die Vorsäle in das Vorgemach zu führen, in welchem die Diener sie erwarteten.

Vom Hofe verbannt – das hieß vernichtet für die Herzogin.

In ihren letzten und höchsten Hoffnungen betrogen, starr vor Schrecken, daß die Sprache sich ihr versagte, war die Herzogin in ihrem Palaste angelangt. Keiner von ihren Leuten wußte, was geschehen war, die Bestürzung brachte das ganze Haus in Aufruhr. Aber noch hatte man die Greisin, die in heftiger Beklemmung nach Athem rang, in ihren Zimmern der Hofkleidung nicht entledigt, als Eleonore schon den Freiherrn von Arten zu sich bescheiden ließ.

Unglücklicher Weise war er nicht zu Hause. Die gestrige Unterhaltung mit dem Abbé hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht und ihn unzufrieden mit sich selbst zurückgelassen.

Er konnte es sich nicht wegläugnen, daß fast alles, was sein geistlicher Freund über die Gräfin und über deren Tante geäußert hatte, richtig war. Auch in dem allgemeinen Urtheile, welches der Abbé über die Frauen und über die Bedeutung und den Werth einer wahrhaft weiblichen Natur gefällt hatte, stimmte [304] er mit ihm zusammen. Schon während jener noch an seiner Seite ging, hatte Renatus unwillkürlich die beiden Gestalten, Eleonore und Hildegard, einander gegenüber gestellt und mit einander verglichen. Er hatte das schon oft, er hatte es fast an jedem Tage gethan, und immer war die Entscheidung zu Eleonorens Gunsten ausgefallen. Nun hatte er mit Einem Male zu bemerken geglaubt, daß er gegen seine Verlobte nicht gerecht gewesen sei, daß er ihr lange in seinem Herzen Unrecht gethan habe, und wie der Abbé ihm mit so viel Wärme von dem Glücke gesprochen hatte, das einem Manne aus der vollen, hingebenden Liebe einer demüthigen, in engem Kreise sich beschränkenden Frau erwachse, hatte Renatus sich mit einer Beschämung, die jedoch ihr Süßes hatte, eingestanden, daß ihn dieses Glück erwarte und daß es nur an ihm liege, es sich, sobald als er wolle, anzueignen.

Seit Jahr und Tag hatte er nicht mehr mit Freuden an seine Verlobte, nicht mehr mit Sehnsucht an die Heimath gedacht. Als er aber am verwichenen Abende in seine Wohnung zurückgekehrt war, hatte er seit langer Zeit zum ersten Male wieder Hildegardens Briefe aus dem kleinen Behälter hervorgenommen, in dem er sie bewahrte. Die schöne, röthlich blonde Locke, welche sie sich in der Scheidestunde abgeschnitten, fiel ihm dabei in die Hand. Er hatte sie während der ganzen Feldzüge auf der Brust getragen; erst in Paris hatte er sie von sich abgelegt.

Nun hielt er sie gegen das Licht, sie glänzte hell wie Gold. Er ließ sie durch die Finger gleiten, strich sanft mit der Hand darüber hin; das Haar war seidenweich, und zärtlich, als habe er die Geliebte selber neben sich, drückte er die Locke an die Lippen.

Er war gerührt und fühlte sich schuldig. Einen nach dem andern las er die Briefe durch, welche er im Laufe der letzten Jahre von Hildegard erhalten hatte; aber je mehr er sich in sie [305] vertiefte, je weniger war er mit sich zufrieden. Er konnte es nicht begreifen, wie er diese lieben Briefe so gänzlich mißverstehen können, wie er diesen armen, guten Briefen so schweres Unrecht habe thun mögen. Die Liebe hatte seine Braut seherisch gemacht, und er war blind gewesen, verblendet über sie und über sich.

Hatte denn Hildegard nicht Recht gehabt mit ihren bangen Sorgen? Hatte sie nicht Recht gehabt mit ihrer Ahnung, daß eine Andere ihr die Liebe ihres Bräutigams entziehe, daß er sich nicht mehr nach ihr sehne, daß er sie zu vergessen nahe sei? – Und was konnte sie dafür, daß die Zustände in Richten nicht erfreulich waren, daß sie ihm von den Schwierigkeiten sprechen mußte, von denen sie sich umgeben sah? – Arme, arme Hildegard! rief er aus, und er kam sich treulos und pflichtvergessen gegenüber ihrem treuen Herzen vor.

Er nannte es ein wahres Glück, daß er eben heute dem Abbé das Geleit gegeben, daß ihre Unterhaltung eben diese Wendung genommen hatte. Es wäre ihm unmöglich gewesen, die Ruhe zu suchen, ohne an Hildegard geschrieben zu haben, und einmal auf den Weg der Bekenntnisse gerathen, fand er eine Lust darin, sein Gewissen zu befreien, indem er seiner Verlobten die Gefahr, in der er sich befunden hatte, wie die Versuchung, der er ausgesetzt gewesen sei, mit den warmen Farben darstellte, welche der Gedanke an Eleonorens mächtige und zauberische Reize in seiner Phantasie hervorrief.

Er nannte sich gegen seine Verlobte einen Rinaldo in Armidens Zaubergärten; er schilderte Hildegarden die Gräfin in aller ihrer Schönheit, um der Entfernten klar zu machen, daß er keiner gewöhnlichen Erscheinung gegenüber gestanden, und um ihr zu beweisen, daß nur eine so starke und treue Liebe wie die seinige einer solchen Zauberin zu widerstehen vermocht habe. Und wie er am Abende mit innerer Beschämung seinen Brief [306] begonnen hatte, war er sehr wohl mit sich zufrieden, als er ihn am andern Morgen durchlas und beendigte.

Die Jahre, welche er fern von der Heimath und von seiner Braut verlebt hatte, dünkten ihn unbegreiflich lange. Er warf es sich vor, daß er nicht eher an seine Heimkehr gedacht, daß er die immer wiederholten Mahnungen seiner Braut, die auf das genaueste mit den Vorstellungen Paul's zusammentrafen, bisher unbeachtet gelassen habe. Er versprach am Schlusse seines Briefes, daß er noch selbigen Tages die nöthigen Schritte thun wolle, um sich einen längeren Urlaub zu erwirken, verhieß seiner Braut, daß ihre Verbindung nun nicht weiter hinausgeschoben werden sollte und daß sie dann gemeinsam überlegen würden, ob sie mit ihm nach der Weltstadt an der Seine zurückkehren oder ob er darauf antragen solle, in eines der in der Heimath stehenden Regimenter versetzt zu werden. Es fiel ihm dabei gar nicht auf, daß er der Möglichkeit, in Richten auf seinen Besitzungen zu leben, nicht gedachte, obschon alle seine und seiner Verlobten Plane früher eben darauf berechnet gewesen waren.

Da er um Mittag zur Parade gehen mußte, nahm er den Brief an Hildegard mit sich, um nachzufragen, ob er nicht auf der Gesandtschaft eine Gelegenheit fände, ihn schneller als durch die damals noch sehr langsam gehenden Posten zu befördern, und als ihm dies gelungen war, sprach er noch in dem Collegium vor, weil er den Abbé zu sehen und ihm zu sagen wünschte, wie wohlthätig und befreiend seine gestrigen Erklärungen auf ihn gewirkt hätten. Aber als er sich nach demselben erkundigte, erhielt er den Bescheid, daß der Herr Abbé vor zwei Stunden mit einem der anderen Herren aus dem Collegium abgereist sei. Auf die Frage, wohin er gegangen wäre, ob man die Zeit seiner Wiederkehr bestimmen könne, wußte der Dienstthuende keinen Bescheid zu geben, und Renatus ließ also nur seine Karte mit einem Gruße und ein paar Dankesworten [307] für den Abbé zurück, welche diesem verständlich sein konnten, ohne einem Dritten irgend etwas Ungewöhnliches zu sagen.

An Hildegard denkend und dabei immer wieder auf Eleonore zurückgeführt, tadelte er sich endlich, daß er sich nicht offener und freier gegen dieselbe gestellt habe. Alles, was der Abbé von ihr behauptet, das gab Renatus auch jetzt noch zu, hatte mehr oder weniger seine Richtigkeit; aber darin schien der Abbé ihm Unrecht zu thun, daß er der Gräfin ihre eigentliche Wesenheit zum Vorwurfe machte, daß er nicht anerkannte, wie eine solche Natur sich auf ihre Weise mit der Welt und mit dem Leben abzufinden habe. Es ist sein Stand, es ist seine Ehelosigkeit, sagte sich Renatus, die unseren Abbé so streng machen, und es gefiel ihm, daß er sich eines nachsichtigeren Urtheils über die Gräfin bewußt war. Wenn eine Frau wie diese mehr für die Freundschaft als für die Liebe geschaffen schien, so hatte man, nach des jungen Freiherrn Ansicht, diese Eigenschaften, die sie besaß, zu schätzen, hatte man anzunehmen, was sie zu bieten gewillt war, ihr zu leisten, was sie begehrte, und der Abbé am wenigsten durfte sich über Eleonore, wie sie nun einmal war, beschweren.

Renatus war sich nie so ehrlich wie eben jetzt des gewaltigen Eindruckes bewußt gewesen, den Eleonore auf ihn gemacht hatte. Er gestand es sich jetzt offen ein, daß es hauptsächlich sie gewesen sei, die ihn an Paris gefesselt und ihm den Gedanken an seine Heimath und an seine Braut beängstigend gemacht habe. Nun er aber zur Besinnung und zu sich und den eigentlichen Bedingungen seines Daseins zurückgekehrt war, meinte er es eben einer Eleonore auch schuldig zu sein, ihr frei und unumwunden seine Freundschaft anzutragen. Er wollte ihr Vertrauen gewinnen, indem er ihr das seinige voll und ganz gewährte. Sie sollte wissen, wie nahe er daran gewesen war, um ihretwillen sich und seinen Pflichten, ja, seiner Ehre untreu [308] zu werden; und da seit gestern auf dem Boden seiner neu gefaßten guten Vorsätze das Bild seiner Braut wieder lebendig in ihm emporstieg, so daß es sich ihm in dem Schimmer der Sehnsucht und der Erinnerung immer mehr verklärte, so tauchte gleichzeitig auch das Verlangen in ihm empor, die beiden Jungfrauen, welche ihm als die Ideale ihres Geschlechtes, als die beiden weiblichen Wesen erschienen waren, denen er sich in Liebe und Freundschaft hinzugeben wünschte, einander nahe zu bringen und wo möglich durch seine Vermittlung zu verbinden.

[309]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel

Voll von den angenehmsten Vorstellungen, überzeugt, daß Eleonore und Hildegard, wenn sie Freundinnen werden könnten, die segensreichste Wirkung auf einander üben müßten, und entschlossen, gleich heute, wenn Eleonore von dem Balle heimgekehrt sein würde, eine Unterredung mit ihr zu suchen, langte Renatus in dem Palaste der Herzogin an, und das Erste, womit der Thürsteher ihn empfing, war die Botschaft, daß die Gräfin ihn zu sprechen wünsche. Das überraschte ihn, denn er hatte die Damen noch auf dem Feste vermuthet. Man sagte ihm, daß die Herzogin sich nicht wohl gefühlt und deshalb den Ball verlassen habe, und von dieser Kunde wie von dem Wunsche der Gräfin angetrieben, eilte er die Treppe hinauf und ließ sich bei derselben melden.

Er fand Eleonore allein in ihrem Zimmer. Sie hatte ein loses, weites Morgengewand angelegt, ihr Haar, von dem man die Krone und die Blumen abgenommen hatte, war noch nicht völlig wieder geordnet. Sie sah in hohem Grade erregt aus, und Renatus, der dies mit dem Erkranken der Herzogin in Verbindung brachte, fragte in lebhafter Theilnahme: Wie geht es der Herzogin, wie befindet sie sich?

Gut, gut! entgegnete Eleonore in einer Weise, die den Freiherrn erschreckte, denn es lag etwas völlig Verstörtes in der Hast und in dem Tone, in denen sie zu ihm sprach, – gut, aber davon ist nicht die Rede! – und vor Renatus hintretend, indem [310] sie beide Hände fest gegen ihre Brust preßte, sagte sie, während ihre Wangen glühten und ihre Augen funkelten: Herr von Arten, ich befinde mich in einer Lage, in der sich wohl nicht leicht eine Frau wie ich vor mir befunden hat! Meine Ehre, meine ganze Zukunft stehen auf dem Spiele – ich bin verloren, wenn Sie mich nicht erretten!

Renatus traute seinen Sinnen nicht. Die Angst der Gräfin erfaßte auch ihn. Er glaubte sie von Wahnsinn ergriffen, wie er sie also vor sich sah, und das Entsetzen darüber drohte auch ihn zu verwirren. Reden Sie, reden Sie! Was ist geschehen, Gräfin? rief er beklommen aus – was kann, was soll ich thun?

Sie müssen mich heirathen! stieß Eleonore hervor, und sie erbleichte, als sie das Erschrecken des Freiherrn sah.

Die Ueberzeugung, daß er eine Geisteskranke vor sich habe, stand in dem Augenblicke in Renatus fest. Er wußte nicht, was er sagen, was er denken sollte, und unwillkürlich darauf bedacht, sich der Unseligen zu bemächtigen, ergriff er ihre Hände und sprach so ruhig, als er es vermochte: Setzen Sie Sich, theure Gräfin, Sie sind sehr erschüttert – setzen Sie Sich nur, dann..

Eleonore lachte hell auf. Sie halten mich für wahnsinnig, und in der That, es ist danach angethan, mich wahnsinnig zu machen – aber noch habe ich meinen Verstand, noch bin ich ich selbst, noch habe ich den festen Glauben, daß Ihre Freundschaft mein Erretter sein wird, daß Sie mich nicht zur Lügnerin werden lassen – und auf meinen Knieen will ich's Ihnen danken!

Der Vorgang wie der Zustand der Gräfin wurden Renatus immer räthselhafter, und gemartert, wie er sie gemartert sah, rief er: Sprechen Sie, oh, sprechen Sie, damit ich nur erfahre, was geschehen ist!

Eleonore hatte ihre Hände frei gemacht und strich mit hastiger Bewegung ihr Haar zurück, das aufgegangen und ihr weit um Stirn und Leib herabgefallen war.

[311] Sie kennen, hob sie mit gewaltsamer Selbstbeherrschung zu sprechen an, Sie kennen die Absicht meiner Tante, mich mit ihrem Sohne, dem Prinzen Polydor, zu verbinden! Sie wissen, daß ich die Herzogin und ihren herrschsüchtig-heuchlerischen Charakter verabscheue, daß ich um keinen Preis die Bande noch zu verstärken wünschen kann, die mich ihr verbinden, und Sie wissen auch, daß es mich nicht gelüstet, die Gattin des Prinzen, eines Mannes zu werden, der mein Vater sein könnte und dessen Ruf als Muster eines Edelmannes sich zum Theil auf eine Reihe von Abenteuern gründet, die ihn mir verächtlich machen!

Sie hielt inne, ihre Aufregung versetzte ihr den Athem. Ich habe die persönlichen Bewerbungen des Prinzen, die Vorstellungen meiner Tante nie beachtet, und ich war berechtigt, dies zu thun, denn ich bin volljährig und Herr meiner Person und meines Besitzes! Aber was man auf geradem Wege von mir nicht zu erringen vermochte, das hoffte man mit List mir abzugewinnen! – Und wieder hielt die Gräfin inne. Dann sagte sie: Heute, auf dem Balle, trat der König an mich heran. Man hatte ihn, ich wußte es, dazu zu überreden vermocht, dem Prinzen meine Hand zuzusagen, als ob derselbe ein Anrecht an mich besäße, oder als ob ich eine der Unterthaninnen, eine Sklavin dieses Königs wäre, die ihm blindlings zu gehorchen hat! Mit einem sehr gnädigen Scherze legte der König meine Hand in die des Prinzen, gab er dem Prinzen Urlaub, sich mit mir auf seine Güter zurückzuziehen, und ...

Und? fragte Renatus, und was dann?

Ich war außer mir! nahm Eleonore mit wiederkehrender Heftigkeit das Wort. Aller Augen waren auf mich gerichtet! Ich sah das mir verhaßte Lächeln auf des Prinzen Lippen, ich sah die Zufriedenheit in den Augen der Herzogin! Ich sollte ihre Zufriedenheit mit dem Unglücke meines ganzen Lebens erkaufen – das ging über meine Kräfte! Ich zog meine Hand [312] zurück, ich sagte: ich bin nicht frei! – Ich weiß nicht, warum die Empörung mich keinen andern Ausweg finden ließ, wie das Erschrecken mich vergessen machen konnte, daß Niemand ein Recht hat, über mich zu bestimmen, als ich selbst! Und als der König dann zu wissen forderte, was mich binde, da – da – nannte ich Sie!

Sie brach plötzlich ab und schöpfte Athem, als sei es ihr leichter, nun sie das Wort gesprochen hatte.

Renatus trat von ihr zurück. Mich, fragte er, Sie nannten mich?

Seine Betroffenheit konnte ihr nicht entgehen, ihr alter Stolz entzündete sich an derselben. Mich dünkt, sagte sie, es ist keine Unehre für Sie, wenn ich vor dem Könige und dem ganzen versammelten Hofe Sie, Herr von Arten, als den Mann bezeichnete, dem ich meine Zukunft anvertrauen will und den ich mir erwählte! –

Völlig vergessend, wie sie es als ein nicht zu verzeihendes Unrecht anerkannt hatte, daß man ohne ihre Zustimmung über sie hatte entscheiden wollen, hatte sie in Bezug auf den Freiherrn das Nämliche gethan, und ihre Worte machten das Uebel ärger. Renatus war einen Augenblick ohne jede Fassung. Es war ihm, als würde er auf einem Rade wild umher getrieben, daß er nicht wußte, was er erlebte, was er dachte. Das schönste Weib, welches seine Augen je gesehen, eine Frau, um deren Gunst die ausgezeichnetsten Männer sich bis jetzt vergebens beworben hatten, trug sich ihm an. Er brauchte nur Ein Wort zu sprechen, und er nannte Eleonoren mit ihrem ganzen fürstlichen Besitze sein. Indeß sein Mannesgefühl lehnte sich gegen ihre Gewaltsamkeit auf. Er konnte es ihr nicht vergeben, daß sie ihn vor dem Könige und vor dem Hofe in eine Angelegenheit verwickelt hatte, in der er sie bloßzustellen, oder sich einer übelwilligen Beurtheilung Preis zu geben gezwungen war, und wie [313] unheilvoll ihre Lage, wie beklagenswerth sie ihn auch dünkte, konnte er doch nichts thun, sie aus dem Wirrsale zu befreien, in das ihre vorschnelle Entschlossenheit sie gestürzt hatte. So verging eine ganze Zeit. Immer noch stand er sprachlos vor ihr, aber jede Secunde längeren Schweigens änderte sein Empfinden und seine Gedanken. Was ihn zuerst als eine Gewaltthätigkeit bedünkt, gegen die er sich zu wahren hatte, erschien ihm bald darauf als ein Zeichen des Vertrauens, auf das er stolz sein müsse und dem von seiner Seite bisher nicht entsprochen zu haben er sich bitter vorwarf. Wie hatte die Gräfin ahnen können, daß er gebunden war? Wie anders würde diese Stunde für ihn geschlagen haben, wäre er frei gewesen, hätte er Eleonoren zu Füßen sinken und ihr danken dürfen, daß sie ihm vertraute! Eben erst hatte er ihr zürnen zu müssen geglaubt, nun sagte er sich, daß sie Grund habe, ihm zu zürnen, und wie er in ihr schönes, bleiches Antlitz sah, dessen mächtige Augen mit angstvoller Frage an ihm hingen, da hielt er sich nicht länger, und von einem Schmerze überwältigt, den er sich nicht zu erklären wagte, rief er: Eleonore, Sie und mich habe ich betrogen und elend gemacht! Aber ich bin elender, als Sie – denn ich verliere Sie, und Sie werden mich verachten!

Ihre Arme sanken schlaff herab. Sie sind vermählt? sprach sie klanglos.

Er schüttelte verneinend das Haupt. Nein, nein! rief er, aber ich habe mich seit Jahren meiner Jugendgespielin, der Gräfin Rhoden, anverlobt!

Ihr Blick blieb lange auf ihm haften, als wolle sie zu verstehen suchen, wie eben er sie habe täuschen können. Gebrochen, wie sie sich fühlte, fühlte auch Renatus sich. Sie schwiegen beide, bis Eleonore endlich fast tonlos die Frage hinwarf: Ich habe Sie seit zwei Jahren meinen Freund genannt – was bewog Sie, mir Ihre Verlobung zu verschweigen?

[314] Es lag etwas Furchtbares in der Ruhe, mit welcher sie zu ihm redete. Er hörte es an ihrem Tone, er las es in ihren Mienen, daß sie mit ihrem ganzen Schicksal abgeschlossen habe, daß sie nur noch zu verstehen trachte, wie Alles eben so gekommen sei, und weil er sich ihre offenbare Verzweiflung nicht anders zu er klären wußte, drängte sich ihm der Glaube auf, Eleonore liebe ihn, um seinetwillen habe sie die Hand des Prinzen ausgeschlagen, und sein Geständniß sei es, das sie also beuge. Das überwältigte ihn, und als zerrisse ein Schleier vor seinen Augen, als sähe er sich zum ersten Male im vollen Lichte der Wahrheit, so daß es ihn zwinge, auch völlig wahr gegen sich und Andere zu sein, flehte er: Hören Sie mich, Eleonore! Sie sollen Alles wissen – alles, alles, was ich mir selber nicht einzugestehen wagte. Ja, ich bin verlobt – aber diese Verlobung war eine Uebereilung, war ein Irrthum, den ich oft bereute! Ich war kaum aus dem Vaterhause, kaum aus der Aufsicht meines Erziehers gekommen, ich kannte die Welt, mich selbst noch nicht! Je älter ich wurde, je länger ich von meiner Braut entfernt war, je mehr erblaßte ihr Bild in meiner Erinnerung, und seit ich Sie sah, Eleonore, seit ich Sie kennen lernte .... Er brach plötzlich ab, überwand sich aber und sagte nach kurzem Schweigen: Meine Braut ahnte, fühlte, daß ich für sie erkaltet war, ihre Briefe peinigten mich, ich suchte sie zu vergessen, um nicht in dem Glücke gestört zu werden, das ich in Ihrer Nähe fand und das, wie ich meinte, nicht lange dauern konnte. Ihnen, der Selbstgewissen, hätte ich es am wenigsten gestehen mögen, daß ich leichtsinnig über mein Leben entschieden hatte! Ich schämte mich vor Ihnen meiner Unbesonnenheit, so oft ich Ihnen davon sprechen wollte, ja selbst wenn je zuweilen der Gedanke in mir rege wurde, jenes Band zu lösen und an Ihr Urtheil mich zu wenden, ob ich es lösen dürfe, sagte ich mir, daß Sie den Mann nicht achten könnten, der erst von Ihnen [315] sich sagen lassen müsse, ob er verpflichtet sei, das Wort zu halten, mit welchem er eines edlen Mädchens Leben an sich gekettet, mit dem er ihm seine Zukunft verpfändet habe!

Eleonore setzte sich nieder und stützte ihre Stirn gegen die zusammengeballte Hand. Renatus stand vor ihr und sah mit unbeschreiblichem Schmerze auf sie nieder. Da sie sich nicht regte, fing er noch einmal zu sprechen an. Er schilderte ihr, wie eine zufällige Unterhaltung, die er gestern mit dem Abbé gehabt und in welcher dieser das Glück der Ehe und der Häuslichkeit gepriesen, ihm das Herz erweicht, wie er seit langer Zeit zum ersten Male wirklich wieder mit Neigung an seine Braut gedacht, wie er ihr dies heute geschrieben, ihr die Empfindung eingestanden habe, die er für Eleonore gehegt, wie er seiner Verlobten eben heute zugesagt, seine Heimkehr nicht länger zu verzögern, seine Verheirathung mit ihr nicht weiter hinauszuschieben.

Mit Einem Male fiel Eleonore ihm in das Wort: Und der Abbé? fragte sie in höchster Spannung – und der Abbé, wußte er, daß Sie gebunden sind?

Es wußte hier Niemand darum, und auch in meiner Heimath ist meine Verlobung nicht öffentlich ausgesprochen, denn ich war sie, ehe ich in's Feld zog, ohne daß mein Vater darum wußte, eingegangen!

Eleonore hatte nur die ersten Worte seiner Entgegnung beobachtet. Es war das Einzige, was sie wissen mußte, was für sie noch wichtig war. Als sie das vernommen hatte, versank sie wieder in ihr früheres Brüten. Die Stille konnte Renatus nicht ertragen.

Er trat an sie heran, ergriff ihre herabhängende Rechte und, vor ihr niederknieend, bat er: Sprechen Sie zu mir, Eleonore! Sagen Sie mir, was soll ich thun?

Müssen Sie mich das erst fragen? entgegnete sie ihm.

Er hatte keine andere Antwort von ihr erwartet; aber es [316] gibt Lebenslagen, in denen man es leichter findet, sein Urtheil von einem Andern, als von dem eigenen Bewußtsein sprechen zu lassen, und die seinige war eine solche. Es war vergebens, daß er sich sagte, wie ein getheiltes Herz, wie die Hand eines Mannes, die er einem Weibe widerstrebend reiche, dieses nicht glücklich machen könnten! Er hatte sein Wort verpfändet, er war ein Edelmann und hatte dieses Wort zu halten, was auch daraus für ihn selber werden und entstehen konnte! Es hatte kein Arten je sein Wort gebrochen!

Er erhob sich und trat an das Fenster. Den Kopf gegen die kalten Scheiben gepreßt, ließ er seinen schmerzlichen Gedanken freien Lauf. Er grollte sich, er grollte Hildegard, er grollte der Welt und dem Leben. So blieb er eine Weile stehen, bis Eleonore ihn beim Namen rief. Er blickte um sich, sie stand an seiner Seite, der Schein der untergehenden Sonne umfloß sie mit seinem matten Lichte. Sie sah sehr ermüdet, sehr verändert aus.

Wir haben eine schwere Stunde mit einander durchlebt, sagte sie, und deshalb werden wir einander nicht vergessen! Ich habe Sie um Vergebung zu bitten für mein Thun, ich hatte kein Recht, keinen Anspruch an Sie, es war ein Wahnsinn, der mich erfaßt hatte, als ich über Sie verfügte – und ich allein werde die übeln Folgen davon tragen! Wohl Ihnen, daß Sie gebunden sind, daß Sie Sich nicht verpflichtet glauben können, meine Vermessenheit mit dem Schilde Ihres Namens, Ihrer Ehre zu bedecken!

Eleonore, um Gottes willen schweigen Sie, demüthigen Sie mich nicht! flehte er und die Thränen traten ihm in die Augen.

Nein, entgegnete sie, Sie sind, wenn auch erst in der letzten Stunde, wahr gegen mich gewesen – ich schulde Ihnen das Gleiche! Ich liebe Sie nicht, habe Sie nie geliebt und würde Sie nur geheirathet haben, um ....

[317] Sie stand auf dem Punkte, ihm die volle Wahrheit zu bekennen, aber da sie dieselbe aussprechen wollte, hielten die Scham des Herzens und die Besorgniß, daß sie gegen die Absichten des Geliebten handeln, daß sie ihn benachtheiligen könne, wenn sie ihr Geheimniß dem Freiherrn verriethe, sie davon zurück. – Ich hätte Sie nur geheirathet, sagte sie mit dem Anscheine der vollen Wahrheit, um einer mir verhaßten Ehe zu entgehen! Das wäre kein Glück für Sie gewesen, sicherlich kein Glück!

Renatus biß die Lippen zusammen, die Qual schien kein Ende nehmen zu sollen.

Und was haben Sie zu thun beschlossen? fragte er endlich, da die Sonne herabsank und der frühe Abend anbrach.

Ich verlasse Paris noch diese Nacht – ich bin durch des Königs Wort dazu genöthigt! Es lüstet mich auch nicht, vor dem Hofe als – als eine Lügnerin da zu stehen!

Ihre Züge zuckten bei den Worten wie in einem Krampfe, sie hatte Noth, sich zu behaupten, sie konnte nicht gleich weiter sprechen.

Kann ich denn nichts, gar nichts für Sie sein, nichts für Sie thun? fragte Renatus.

Ja, gehen Sie zu dem Abbé, sagen Sie ihm, daß ich ihn zu sprechen wünsche, gleich jetzt zu sprechen wünsche!

Der Abbé ist verreist! wendete Renatus ein.

Nein, nein, unmöglich! rief Eleonore.

Renatus sagte, daß er selber in dem Collegium gewesen sei, selber dort den Bescheid von der Abwesenheit ihres gemeinsamen Freundes erhalten habe.

Eleonore schellte mit leidenschaftlicher Erregung. Ist kein Brief für mich gekommen? fragte sie den eintretenden Diener.

Eben jetzt hat man diesen hier gebracht, erhielt sie zur Antwort. Sie nahm das Schreiben von dem silbernen Teller, [318] auf dem man es ihr überreichte, und eilte damit an das Fenster. Es war noch hell genug, die wenigen Zeilen lesen zu können.

»Eine Weisung meiner Vorgesetzten,« lauteten sie, »zwingt mich, für einige Wochen die Hauptstadt zu verlassen. Sie kann mich möglicher Weise zu einer längeren Entfernung nöthigen. Welche Entscheidung Sie auch treffen, theure Gräfin, denken Sie, daß meine sorglichsten Wünsche, meine Gebete für Ihre Erleuchtung und für Ihren Frieden Sie immer und überall begleiten.«

Und er sagt mir nicht, wohin er geht! rief sie, während die lange zurückgehaltenen Thränen ihr über die Wangen rollten. Er sagt mir nicht, wohin er geht! wiederholte sie im Tone des bittersten Schmerzes, und ohne auf Renatus noch zu achten, verließ sie mit raschem Schritte das Gemach.

[319]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel

Vierundzwanzig Stunden nach dieser Unterredung waren die großen äußeren Thüren des herzoglichen Palastes, die gastlich offen standen, wenn die Herrschaft anwesend war, geschlossen. Die Dienerschaft zog an den Fenstern, welche nach dem vorderen Hofe gelegen und zum Theil in den oberen Stockwerken von der Straße aus sichtbar waren, die Gardinen zu und ließ die hölzernen Vorhänge herunter. In dem stillen, nach dem Garten hinaussehenden Schlafzimmer der Herzogin wachte man an dem Lager der Greisin, deren feste Natur diesem Stoße sich doch nicht gewachsen gezeigt hatte. Der Arzt, den man herbeigerufen, als die Herzogin vom Hofe gekommen war, hatte ihren Anfall für einen Herzkrampf, ihren Zustand bei ihren hohen Jahren für sehr bedenklich erklärt. Es konnte von ihrer Abreise die Rede nicht sein, obschon sie darauf bestand, dem Könige auch in dem Befehle, den er ihr im Zorne gegeben hatte, pünktlich zu gehorsamen. Man mußte also auf ihre Anordnung dem Palais wenigstens das Ansehen geben, als habe sie es verlassen, und selbst ihrem alten Freunde und dem Prinzen, die gekommen waren, nach ihr zu fragen, verweigerte man auf ihren ausdrücklichen Befehl den Zutritt zu ihr. Sie mochte sich in der Ungnade, die sie getroffen hatte, von Niemandem sehen, von Niemandem beklagen lassen. Sie versagte Anfangs sogar, Arzenei und Speise zu nehmen; man war übel mit ihr daran.

Eleonore war mit Tagesanbruch abgereist. Sie hatte noch [320] an dem verwichenen Abende einen Paß für sich und ihre Bedienung gefordert, und da der englische Gesandte, ein Freund ihrer verstorbenen Mutter, von dem Vorgange im Schlosse Zeuge gewesen war, hatte er sich selbst noch zu ihr begeben und ihr seine Dienste angeboten, falls sie irgend eines Rathes oder Schutzes bedürftig sei. Er hatte sich bei der Gelegenheit die Frage erlaubt, ob ihr Verlobter ihr bald nach England folgen werde, ob sie ihn später nach Deutschland zu begleiten gedenke, und gleich unfähig, sich der Unwahrheit anzuklagen, wie eine Aeußerung zu thun, die ein falsches Licht auf Renatus werfen konnte, hatte sie dem Gesandten ohne alle Erläuterung erklärt, daß von einer Verbindung zwischen ihr und dem Freiherrn nicht mehr die Rede sei. Das hatte ihre Lage noch verschlimmert, und nicht nur in den Sälen des Faubourg Saint Germain, sondern auch in den Kreisen, die dem Hofe nahe standen, boten die Ungnade, in welche die Herzogin von Duras gefallen war, und die Verweisung der bis dahin so gefeierten Gräfin Haughton in den nächsten Tagen und Wochen den Gegenstand der Unterhaltung, den Stoff für die abenteuerlichsten Vermuthungen dar.

Renatus spielte in denselben bald diese, bald jene Rolle. Die Einen behaupteten, die Gräfin habe in Bezug auf ihn Entdeckungen gemacht, die ihm zur Unehre gereicht und sie bewogen hätten, ihre Verlobung mit ihm zu lösen; Andere wollten wissen, daß der Freiherr hinter einen Liebeshandel der Gräfin gekommen sei, dem er habe zum Deckmantel dienen sollen, und die Zahl derjenigen, welche diese Meinung aufrecht erhielten, wuchs mit jedem Tage. Man sprach davon, daß sie seit ihrer Kindheit einen Sohn ihrer Amme, dem man eine gewisse Erziehung gegeben hatte, zu ihrem Diener gehabt habe. Man erinnerte sich, daß derselbe ein schöner Mensch gewesen sei, daß die Gräfin ihn immer mit Auszeichnung behandelt und ihn auch jetzt wieder mit sich genommen habe, obschon eben in diesem [321] Augenblicke ein älterer Diener eine passendere Begleitung für sie gewesen sein würde. Wenn gegen solche Gerüchte sich auch die Stimme der Personen, die Eleonoren nahe gestanden hatten, mit Entschiedenheit und mit Entrüstung auflehnte, so gingen doch manche üble Andeutungen über sie durch die Presse in die Oeffentlichkeit über, und es waren, sonderbar genug, gerade die frömmsten Matronen, die vornehmen Frauen, welche denselben geistlichen Berather mit der Herzogin hatten, von denen jene böswilligen Gerüchte ihren Ausgang hatten und ihre Bestätigung erhielten.

Der Abbé von Montmerie ward bei diesem Anlasse nur in so fern genannt, als man sich wunderte, wie ein Mann von seiner Menschenkenntniß sich über den wahren Werth und über die Bedeutung eines jungen Frauenzimmers wie die Gräfin so völlig habe täuschen können. Als man des Ereignisses einmal zufällig selbst vor dem Erzbischof erwähnte, meinte derselbe, daß gerade der hohe und nur auf das Große gerichtete Sinn des Abbé's das Geringe am leichtesten habe übersehen können und daß eine so erhabene Seele wie die seinige am wenigsten dazu geneigt gewesen sei, das Unedle in Anderen vorauszusetzen. Er beklagte den Abbé wegen dieser übeln Erfahrung, freute sich, daß derselbe eben jetzt zufällig von Paris entfernt sei und daß es ihm also erspart werde, ein ohnmächtiger Zuschauer bei so schmerzlichen Ereignissen in dem ihm eng befreundeten Hause zu werden, und als die Anwesenden dem Herrn Erzbischof in dem günstigen Urtheile über den Abbé von Herzen beistimmten, als die Frauen sich sammt und sonders mit tugendhafter Entrüstung gegen Eleonore erhoben, forderte das milde Herz des Kirchenfürsten Nachsicht auch für die Verirrte. Er gab es zu bedenken, daß die Gräfin in einem unruhigen Reiseleben erzogen sei und daß ihr die Stütze gefehlt habe, welche jeder Mensch nur in dem Anlehnen an die Kirche und ihre ihn überwachende Gewalt [322] mit Sicherheit zu finden vermöge. Das räumte man ihm willig ein. Einem Mädchen, das unter der Aufsicht frommer Nonnen im Kloster erzogen worden, einem Mädchen, dem der Rath und die Aufsicht eines gewissenhaften Beichtigers zur Seite gestanden, hätten solche Abenteuer nicht begegnen können. Man entschuldigte endlich Eleonore mit einem niederdrückenden Mitleid und man begann gleichzeitig, die Herzogin zu tadeln, die, nur auf weltliche Vortheile für sich und ihre Freunde bedacht, es verabsäumt hatte, ihre Nichte auf den Weg des Heils und in die Arme der Kirche zu führen.

Renatus hatte von all diesen Gerüchten einen empfindlichen Rückschlag zu erleiden. Er sah sich von seinen Bekannten und Umgangsgenossen mit einer mehr oder weniger verhehlten Neugier betrachtet, die Näherstehenden wagten vorsichtige Fragen, um, wie sie behaupteten, den an sie von allen Ecken und Enden gestellten Erkundigungen entsprechen zu können, und die Verwirrung seines Gemüthes machte ihm die Nadelstiche, die ihm fortwährend zu Theil werdenden kleinen Verletzungen und Kränkungen nur empfindlicher, ihn nur ungeduldiger in ihrer Abwehr. Alles, was sich bis dahin ganz von selbst für ihn zurecht gelegt, ihn ganz natürlich gedünkt hatte, wurde ihm nun plötzlich zu einem Gegenstande, der reifliche Erwägung forderte. Es war zu bedenken, ob er in dem Palais der Herzogin bleiben könne, bleiben solle, zu bedenken, ob es gerathener sei, Paris zu verlassen, die Gesellschaft zu meiden und dem Uebelwollen das Feld zu räumen, oder sich zu behaupten und zu versuchen, in wie weit es möglich sei, auch Eleonoren dabei nützlich zu werden. Und bei dem allem lag ihm die Besorgniß, daß man seine Ehre antaste, ohne daß er das Geringste thun könne, dies zu hindern, schwer auf der Seele.

Hier und da stieß er auf Fragen, auf Andeutungen, die sein Blut zum Sieden brachten; mehrmals stand er auf dem [323] Punkte, die vorsichtig Zudringlichen, wie es sich nach seinen edelmännischen und militärischen Begriffen gebührte, zu blutiger Rechenschaft zu ziehen, aber die Besonnenen unter seinen Genossen und Kameraden wußten die Zerwürfnisse beizulegen und ihn zu beschwichtigen, indem man ihn daran mahnte, daß der Ruf der Gräfin durch jedes neue Aufsehen neuen Gefahren ausgesetzt sei, und daß in dem Verhältnisse, in welchem die preußischen Truppen sich in Paris befänden, für den Chef derselben nichts ungelegener kommen könne, als ein Duell unter seinen Offizieren, oder gar das Duell eines seiner Offiziere mit einem zum Hofe gehörenden Franzosen.

Trotz ihrer Krankheit verlangte die Herzogin es auch ganz ausdrücklich, daß ihr junger Gast unter ihrem Dache bleiben solle. Sie ließ es ihn durch den Arzt wissen, daß es ihr beruhigend sei, einen ihr befreundeten Menschen in ihrer Nähe zu haben, für den die Ungunst ihres Königs kein Grund sein könne, sich von ihr zurückzuziehen, und dem sie keinen Nachtheil zuzufügen fürchten müsse, wenn er sich ihr anhänglich erweise. Mit zitternder Hand schrieb sie ihm an einem der folgenden Tage, daß sie ihn noch zu sehen hoffe, ehe sie vom Dasein scheide, und da die Freude an der schönen Form in ihr nur mit dem Leben selbst erlöschen konnte, fügte sie den zwei Zeilen am Schlusse die Wendung zu: da sein Vater ihr in Leid und Sorge seine Hand gereicht, so habe der Himmel wohl die Hand des Sohnes auserwählt, ihr die müden Augen zuzuschließen.

Renatus blieb also in ihrem Hause. Von Seiten seiner Freunde und Vorgesetzten sah man dies gern. Es ließ ihn schuldlos an dem Geschehenen erscheinen, und er selber war zu reinen Sinnes, um es der Herzogin zuzutrauen, daß sie ihn gerade deßhalb und eben nur aus Rache gegen Eleonore bei sich festzuhalten suchte.

Wenige Tage nach der Abreise der Gräfin, als Renatus [324] sich eines Abends zu Hause und einsam in seinem Zimmer befand, ward der Abbé ihm angemeldet.

Er sagte, daß er eben erst angekommen sei, daß er eben erst mit höchster Bestürzung das Geschehene erfahren habe. Mit mehr Lebhaftigkeit, als er seinem Ausdrucke sonst zu geben pflegte, beklagte er es, daß er nicht im Stande gewesen sei, dem Rufe der Gräfin zu folgen. Er beurtheilte sie weit weniger streng, als in seiner letzten Unterredung mit dem Freiherrn, versicherte, daß er ihr gleich heute schreiben werde, und billigte es durchaus, daß Renatus in der Nähe der Herzogin geblieben sei. Dann ließ er sich bei dieser anmelden und wurde von ihr trotz der späten Abendstunde angenommen.

Von dem Tage ab kehrte er regelmäßig am Morgen und am Abende wieder, und der Arzt that keinen Einspruch dagegen. Das Uebel der Kranken stellte sich als ein unheilbares heraus und machte raschen Fortschritt. Man gönnte ihr also jede Erquickung und Zerstreuung, deren sie begehrte. Der Abbé kam und ging. Er hatte es vor Niemandem Hehl, daß er an einer Aussöhnung der Herzogin mit ihrer Nichte arbeite; er hatte sogar verschiedene Zusammenkünfte mit dem alten Fürsten von Chimay, den er in das Interesse zu ziehen suchte. So lange man auf die Verbindung Eleonorens und des Prinzen Polydor gerechnet hatte, war es zwischen den Betheiligten als selbstverständlich angesehen worden, daß Eleonore die Erbin der Herzogin wurde und daß auf diesem Umwege der Prinz zu dem Besitze des Vermögens gelangte, welches die Herzogin ihm zuzuwenden wünschte. Jetzt wollte sie ihrer Nichte natürlich diese Vortheile entziehen, und der Fürst seinerseits wünschte sie zur Abfassung eines Testamentes zu Gunsten seines Sohnes zu veranlassen; aber wider sein Erwarten stieß er auf ein Widerstreben bei der Herzogin.

Ihr Beichtvater, welcher auf den Wunsch ihres alten Freundes mit ihr zuerst von dieser Angelegenheit gesprochen, [325] hatte eben dadurch ihr Mißtrauen erregt, und es hatte kaum einer Mühe für den Abbé bedurft, um die Herzogin zur Mittheilung ihrer Sorgen und Bedenken zu veranlassen. Sie nannte es eine unbegreifliche Härte, daß man von ihr mit der Erbeinsetzung des Prinzen Polydor ein Zugeständniß fordere, welches sie zu machen durch ihr ganzes Leben vorsichtig vermieden habe.

Da mir das Loos gefallen ist, mit meines Königs Ungnade belastet von der Welt zu scheiden, sagte sie, wäre es ein Verbrechen gegen mich selbst, wenn ich meine Hand in meinen letzten Stunden noch selbstmörderisch an meinen Ruf und an meine Ehre legen sollte! – Und der Abbé bestärkte sie in dieser Ansicht.

Er behauptete gegen den alten Fürsten wie gegen den Prinzen Polydor, in deren engstes Vertrauen er sich auf diese Weise plötzlich gezogen fand, daß man die Empfindungen der Sterbenden zu ehren und zu schonen habe, und als des Hin- und Herredens und des Verhandelns kein Ende werden wollte, that er endlich einen Vorschlag, auf den Niemand zuvor verfallen war.

Er schilderte dem Prinzen die üble Lage, in welche die Gräfin sich versetzt hatte, spielte darauf an, daß in dem Wappen der Fürsten von Chimay sich ein gefesseltes Weib befinde, weil der erste Chimay seinen Adel durch eine an einer Jungfrau geübte großmüthige That errungen habe, und er rieth dem Prinzen, dem Beispiele seines Ahnherrn Folge zu leisten.

Glück und Unglück haben verschiedene Maßstäbe, erzeugen verschiedene Ansichten, sagte er. Was man in der Fülle des Glückes, in voller, freier Sicherheit zurückweist, das ersehnt man in der Stunde der Gefahr. Er behauptete zu wissen, daß nicht wirkliche Abneigung gegen den Prinzen, sondern nur die eigensinnige Auflehnung der Gräfin gegen das, was sie als eine List der Herzogin bezeichnete, den ganzen beklagenswerthen Vorfall [326] veranlaßt habe. Er sprach den Glauben aus, daß es eben jetzt in der Macht des Prinzen stehe, von der Dankbarkeit und Achtung der Gräfin zu erlangen, was seine Liebe bisher vergebens von ihr erbeten hatte. Er schlug dem Prinzen vor, sich schriftlich gegen die Herzogin zu Eleonorens Gunsten auszusprechen, ihr zu erklären, wie er an dem Charakteradel und der hohen Sinnesreinheit Eleonorens keinen Zweifel hege, und wie er es beklage, wenn seine liebende Ungeduld vielleicht mit dazu beigetragen haben sollte, die unheilvolle Vermittlung Seiner Majestät heraufzubeschwören. Schließlich aber gab der Abbé den beiden Fürsten zu bedenken, daß es eine große, eine schöne Handlung sei, wenn ein Mann mit dem Schilde seiner unbefleckten Ehre sich eines Mädchens wie die Gräfin annehme, und wie es völlig unmöglich sei, daß ein solches Mädchen der Großmuth des sie beschützenden Mannes dauernd widerstehen könne. Er kam immer darauf zurück, daß für den Prinzen Alles zu gewinnen oder Alles zu verlieren sei, und daß derselbe der Herzogin seine Anhänglichkeit besser nicht beweisen könne, als indem er, gleichviel, ob auf geradem Wege oder auf einem Umwege, ihr zur Verwirklichung ihrer Absichten und Wünsche behülflich werde.

Darüber verlief eine Reihe von Tagen, und Renatus hatte gerade sein Urlaubspatent erhalten, als man ihn in der Nacht weckte, weil die Herzogin zu sterben glaube und ihr Testament zu machen vorhabe, bei dem sie der Zeugen nicht entbehren könne.

Es war eine große Aufregung im Hause; man hatte in den Corridoren und auf der Treppe die Lampen in Eile angezündet, das Portal war offen. Fast gleichzeitig fuhren die beiden Wagen der Herzogin in dasselbe ein. Sie hatte die Prinzen von Chimay, Vater und Sohn, und ihren Beichtiger zu sehen verlangt, und man hatte sich beeilt, sie herbeizuholen. Der Notar und der Arzt waren schon vor ihnen angelangt; Renatus fand sie alle um die Sterbende versammelt.

[327] Die Herzogin saß, von ihren Frauen unterstützt, trotz ihrer Schwäche hochaufgerichtet auf ihrem Lager. Obschon das Haupt ihr müde herabsank, sahen doch ihre scharfen Augen noch fest umher, und sie hatte für Jeden ein Wort, ein Zeichen des Bemerkens, wie in ihren guten Tagen.

Als sie alle diejenigen beisammen fand, die sie hatte rufen lassen, ersuchte sie den Notar, den Anwesenden das Testament vorzulesen, wie er es nach ihren Anordnungen niedergeschrieben hatte. Sie hörte, weil die Brust ihr sehr gepreßt war, nur wenig danach hin, während er das Formular vorlas, aber sie richtete mit Anstrengung ihr Haupt in die Höhe, und ihr Auge ging von dem greisen Fürsten zu dem Prinzen und von diesem zu dessen Vater zurück, als der Notar die Worte aussprach:

»Auf den Wunsch und die Fürbitte meiner beiden werthen Freunde, des Fürsten August Philipp von Chimay und seines Sohnes, des Prinzen Philipp Polydor von Chimay, vermache ich meinen ganzen Besitz, er mag Namen haben, welchen er wolle, an meine Nichte, Eleonore Corinna Marquise von Lauzun, Gräfin von Haughton, unter der Voraussicht, daß sie sich meinem Wunsche und dem Befehle Seiner Majestät des Königs in Gehorsam fügen und den Prinzen Polydor, nachdem sie ihren Irrglauben abgeschworen und sich dem alleinseligmachenden Glauben überantwortet hat, in Anerkennung seines verzeihenden Herzens und seiner großmüthigen und edelmännischen Gesinnung, zu ihrem Gatten wählen werde. Sollte sie sich dessen weigern, sollte sie mir die Genugthuung versagen, die ich von ihr zu erwarten berechtigt bin und welche die letzte ist, die ich noch hienieden erhoffen kann, so will ich, allem Irdischen mich abwendend, nur auf das Heil meiner unsterblichen Seele bedacht sein. Von dem Tage ab, an welchem man die Wappen des Hauses Lauzun-Duras auf meiner Ruhestätte in der Kirche zu Vaudricourt, an der Seite meines vielgeliebten Gatten, des verstorbenen [328] Herrn Herzogs Moriz Alibert Chlodwig von Duras, befestigen wird, sollen, sofern die Gräfin Haughton die Hand des Fürsten Polydor nicht annimmt, die frommen Väter des Jesuiten-Klosters zu Malanche die alleinigen Erben meines ganzen Vermögens und Besitzes werden, damit mein Andenken in Liebe und Verehrung auf der Erde erhalten bleibe und meiner armen Seele die Gebete und die erlösenden Fürbitten nicht fehlen mögen, auf welche ich in dem Falle von meiner Nichte, der Gräfin Haughton, nicht zu rechnen haben würde.«

Der Notar hielt inne. Er las danach den Schluß des Formulars, man reichte der Herzogin die Feder hin, hielt einen Leuchter so in die Höhe, daß sie sehen und schreiben konnte, ohne von dem Lichte geblendet zu werden, und erwartete, daß sie jetzt unterzeichnen würde. Aber sie zögerte, es zu thun.

Langsam und prüfend blickte sie den Prinzen, blickte sie den Fürsten noch einmal an. Keiner von beiden, man konnte es in ihren Mienen lesen, hatte diesen Schluß des Testaments erwartet. Auch der Beichtvater der Herzogin zeigte sich überrascht; auf eine Wendung des Testamentes, die Alles von der Entscheidung der Gräfin abhängig werden ließ, hatte er nicht gerechnet.

Es war todtenstill im Zimmer. Renatus, der auf der linken Seite des Lagers der Herzogin zunächst stand, meinte in ihren erstarrenden Zügen plötzlich noch einmal jenes überlegene sarkastische Lächeln zu gewahren, vor dem er als Knabe Scheu getragen hatte und das ihm immer unheimlich geblieben war.

Die Herzogin athmete immer schwerer. Wie betrübt sie sind! sagte sie kaum hörbar. Wie betrübt sie Alle sind! Mein Tod macht Niemanden froh, und sie werden Alle, Alle lange an mich denken! – Die Feder, die Feder! – Licht, schnell das Licht! rief sie mit letzter, plötzlicher Kraftanstrengung, und die Hand mit Gewalt fest auf das Papier auflegend, daß sich [329] ihre Schwäche nicht verrieth, unterzeichnete sie mit klaren Buchstaben ihren vollen Namen. Dann ließ sie die Feder fallen, ihr Haupt sank ihr zurück, und ehe noch die Zeugen ihre Namen unter das Testament geschrieben hatten, war die Herzogin gestorben.

Jeder von ihnen hatte seine besonderen Rückerinnerungen bei dem Tode dieser Frau. Eine halbe Stunde später war das Zimmer verlassen. Der Notar traf die nöthigen gerichtlichen Maßregeln, die herrenlose Dienerschaft ging ihrem Belieben nach.

Am Hofe vernahm man die Kunde von dem Tode der Herzogin ohne besondere Theilnahme und ohne irgend ein Erstaunen. Man fand es natürlich, daß des Königs Ungnade ihr das Herz gebrochen hatte. Als aber der Monarch, im Angedenken alter Freundschaft, den Befehl gab, daß sein Wagen den Leichenzug der Herzogin eröffnen solle, folgten der Hof und die zu ihm gehörende Gesellschaft dieser Anweisung, und die Herzogin wurde mit allen Ehren ihres Standes zur Ruhe bestattet.

[330]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel

Niedergeschlagen wie Einer, den ein schweres Unglück betroffen hat, saß Renatus in dem Reisewagen, der ihn von Paris entfernte. Als er vor vier Jahren inmitten eines begeisterten Heeres, von Gefecht zu Gefecht, von Schlacht zu Schlacht siegreich fortschreitend, durch diese Gegenden zog, war ihm anders zu Sinne gewesen. Aus der Fremde nach der Heimath gehend, kam er sich wie ein Verbannter, wie ein Flüchtling vor. Er war ohne jede bestimmte Hoffnung und völlig unentschlossen, wie er seine Zukunft zu gestalten habe. Er war unzufrieden mit sich, unzufrieden mit seinen Verhältnissen, unsicher in seinen Ueberzeugungen, und sein Gewissen war beschwert.

Wenn er sich vorhielt, daß er nach Hause zurückkehre, um sein Wort gegen Hildegard zu lösen, schien es ihm unnatürlich, daß er zu dieser ging, die seiner nicht bedurfte, statt Eleonoren nachzueilen, die ihn, oder doch in jedem Falle den Beistand eines Freundes nöthig haben mußte. Wenn er sich sagte, daß es Zeit sei, sich an die Ordnung seiner Vermögensverhältnisse zu machen, wozu Paul ihn immer dringender ermahnte, überkam ihn die drückende Einsicht, wie er von diesen Dingen nichts verstehe, und die Abneigung gegen den persönlichen Verkehr mit Paul verminderte dieses Unbehagen nicht. Wohin er seine Gedanken richtete, überall stieß er auf Dinge, die ihn beunruhigten.

Der Aufenthalt in Paris war ihm verleidet und peinlich [331] geworden, in Berlin erwarteten ihn lästige Erörterungen und Geschäfte, denen er sich nicht gewachsen wußte, während ihm die Möglichkeit vorschwebte, daß die Gerüchte, welche auf seine Kosten in Paris in Umlauf gewesen waren, ebenso nach Berlin gelangt sein konnten; und die Mißverständnisse und Zerwürfnisse zwischen seiner Braut und seiner Stiefmutter, mit deren Schilderung man ihn aus der Ferne schon behelligt hatte, versprachen auch nicht, ihm den Aufenthalt in Richten zu erleichtern oder zu verschönern. Wenn er sich das alles aber bis zur Ermüdung vorgehalten hatte, dann bemächtigte sich seiner immer wieder die Erinnerung an Eleonore, um ihn vollends unglücklich zu machen.

In dieser Verfassung langte er an einem der letzten Tage des Februar in der Hauptstadt seines Vaterlandes an. Es war gegen den Abend hin und noch sehr kalt. Bis man seinen Wagen abpackte, seine Koffer öffnete, verging eine geraume Zeit, und als er eine Mahlzeit eingenommen und sich umgekleidet hatte, war es vollends spät geworden.

Nahezu sechs Jahre waren vergangen, seit er Berlin verlassen hatte. Damals war die Stadt voll von Franzosen gewesen, und er selber war, ihren Fahnen folgend, für Napoleon in den Kampf gezogen, für denselben Kaiser, der jetzt, ein zum zweiten Male Niedergeworfener, auf dem einsamen Felsen-Eilande inmitten des Weltmeeres in harter Gefangenschaft seine Tage hinschwinden sah. Jetzt herrschten Ruhe und Friede in dem Lande, das Geschlecht der Hohenzollern saß wieder in voller Sicherheit auf seinem Throne, und doch wollte es Renatus, als er, von seinem Gasthofe kommend, durch die Straßen ging, bedünken, als sei es sonst belebter und lustiger in denselben gewesen.

Berlin erschien ihm traurig, kleinstädtisch und leer. Das schnell fluthende Leben des glänzenden Paris hatte den Maßstab verändert, nach welchem der Freiherr die Dinge maß, und mehr [332] noch, als der Ort, kam er selber sich verwandelt vor. Wo waren all die Wünsche und Hoffnungen, wo war die schöne, schmerzliche Sehnsucht, wo war die ganze innere Zuversicht geblieben, mit welcher er an jenem hellen, kalten Mittage an seines Onkels Haus vorüber in den russischen Krieg gezogen war?

Als er, von seinem Gasthofe ausgehend, an das Schauspielhaus kam, sah er aus alter Gewohnheit nach den Fenstern eines Eckhauses hinauf. Einer seiner liebsten Kameraden hatte dort gewohnt. Der fröhliche Gesell war in einem der ersten Gefechte des Freiheitskrieges gefallen; auch sein Vetter, der Renatus diesen Todesfall gemeldet hatte, war ein Opfer des Krieges geworden. Der Bruder lebte noch und stand bei einem der in Berlin garnisonirenden Regimenter; aber er hatte sich verheirathet und Renatus es versäumt, sich um seine Wohnung zu erkundigen. Er dachte an diesen und jenen von seinen früheren Bekannten, ohne zu wissen, ob sie in der Stadt und wo sie anzutreffen wären. Das ließ ihn nur noch deutlicher merken, wie lange er entfernt gewesen sei, wie fremd er in Berlin geworden war, und diese Einsicht, verbunden mit jener Scheu, welche man, wenn man mit sich selbst nicht einig ist, vor jeder Erörterung über sich und seine Zustände empfindet, machte ihn vor dem Zusammentreffen mit den Personen zurückschrecken, die zu sehen er eigentlich gekommen war. Wäre er seiner Stimmung gefolgt, hätte er einen Zauberstab besessen, er wäre in demselben Augenblicke davongegangen. Aber wohin? Es blühten ihm an keinem Orte Freuden.

Unbehaglich, ohne eine bestimmte Absicht, ging er in den Straßen vorwärts. Endlich fing er an, sich seines Zustandes zu schämen, und wie einer, der lange zaudernd vor dem kalten Wasser steht, bis er sich mit gewaltsamem Entschlusse kopfüber hineinstürzt, so schlug Renatus mit Einem Male seinen Weg [333] nach dem Hause ein, welches einst das Wappen seines Geschlechtes über dem Portale getragen hatte.

Als er in die Straße kam, in welcher es gelegen war, und in die Nähe des Hauses selbst, fand er Alles sehr verändert. Der gartenartige Hof, der das Haus nach der Straße und zu beiden Seiten umgeben hatte, war verschwunden, das Eisengitter gegen die Straße hin war abgerissen, rechts und links waren ein paar stattliche Wohnhäuser entstanden, und Renatus sah an den Wagen, die vor dem ehemaligen Arten'schen Hause hielten, an dem Diener, der den ankommenden Gästen die Thüre des Hauses mit Beflissenheit öffnete, wie an der Reihe der hellerleuchteten Fenster im ersten Stockwerke, daß man irgend ein Festgelage in demselben begehen müsse. Er blieb einen Augenblick stehen und blickte hinauf. Ein paar Leute aus dem Volke, ein paar arme Kinder standen ebenfalls still und betrachteten die Aussteigenden. Er hatte eine äußerst unangenehme Empfindung, als er sich also einsam, in solcher Gesellschaft vor dem Hause seiner Väter umhergehend fand, und obschon er sich einen Vorwurf daraus machte, konnte er sich nicht überwinden, eben jetzt seine Karte bei dem Hauswart abzugeben und sagen zu lassen, daß er morgen in den Vormittagsstunden vorsprechen werde.

Unentschlossen, wohin er sich wenden solle, kehrte er nach den Linden zurück, und weil ihm die Aussicht, den Abend einsam in der Stube seines Gasthofes zuzubringen, unerträglich fiel, beschloß er, seinen Oheim aufzusuchen, obschon dieser im Grunde der Letzte war, den wiederzusehen er Verlangen trug. Aber Renatus war in einer Verfassung, in welcher jede Unterhaltung, jede Gesellschaft ihm willkommener war, als des Alleinsein mit den eigenen Gedanken, und er war endlich wirklich froh, er kam sich wie geborgen vor, als er auf seine Anfrage den Bescheid erhielt, daß der Graf zu Hause sei, sich freilich nicht ganz wohl befinde, aber sehr erfreut sein werde, den Herrn Baron zu empfangen. [334] Es war noch die Wohnung, noch die etwas prunkende Einrichtung, die der Graf zur Zeit des russischen Feldzuges gehabt hatte; indeß es war mit beiden doch eine Veränderung vorgenommen worden, und am meisten hatte der Graf selbst sich verändert. Wie er sich einst geflissentlich aus einem preußischen Offizier in einen Napoleonisten verwandelt, so hatte er sich jetzt wieder in das Deutsche zurück übersetzt, und er gefiel Renatus in dieser Gestalt gleich bei dem ersten Anblicke besser, obschon er in dem Zeitraume, in welchem sie einander nicht gesehen, verhältnißmäßig sehr gealtert hatte. Sein Haar, das er vor Jahren in der dicken französischen Locke bis tief auf die Stirn herabhängen lassen, war am Vorderhaupte und an den Schläfen weit zurückgewichen und dünn geworden. Man konnte noch nicht sagen, daß er kahl sei, aber die Stirn war bedenklich hoch, und wenn sein von Natur feines Antlitz dadurch auch noch nicht entstellt ward, so veränderte es seinen Ausdruck doch. Dazu war er magerer geworden, erschien also noch größer, und die weißen Hände, die aus dem weiten seidenen Schlafrocke auf das sorgfältigste gepflegt hervorsahen, hatten nicht mehr den eisenfesten Druck, der sonst den Ankommenden zu begrüßen pflegte.

Die Bilder der französischen Kaiserfamilie, welche einst an den Wänden des Wohnzimmers hingen, waren entfernt, sie hatten ein paar guten Bildern von des Grafen Eltern Platz machen müssen. An der Stelle des antik gehaltenen französischen Canapee's stand ein großes, weiches Sopha, und einige Lehn- und Ruhestühle zeigten, daß der Besitzer dieses Raumes es sich behaglich zu machen liebe und verstehe.

Als Renatus eintrat, streckte der Graf ihm die Hände entgegen und sagte: Es ist, auf Ehre, um einen Menschen abergläubisch zu machen. Ein Glück kommt nie allein! Heute Morgen habe ich da die Anzeige erhalten, daß Seine Majestät der König mir eine große Gnade, daß er mir – der Graf hob [335] ein mit großem Siegel versehenes Blatt empor – daß er mir den Orden verliehen, den unser Vater auch getragen hat, und jetzt kommt der einzige Sohn unserer Angelika, kommst Du, alter Junge, uns in die Heimath zurück! Nun, willkommen zu Hause, herzlich willkommen! – Einen Sessel für den Herrn Baron – Du siehst vortrefflich aus – aber ganz vortrefflich! Nimm Platz, Renatus, nimm Platz! Wie wird die gute Hildegard sich freuen!

Er hatte das alles rasch hinter einander gesprochen, ohne seinem Neffen Zeit zu einer Unterbrechung zu lassen. Dann warf er sich auf das Sopha, hüstelte leise, wickelte sich wieder fest in seinen Schlafrock ein, zog die Beine auf das Lager und sagte, während der alte Diener ihm eine Decke über die Füße legte: Verzeihe, mein Bester, aber wenn man die erste Jugend hinter sich, und sie, wie es sich gebührt, genossen hat, muß man zum Dank für treu geleistete Dienste mit seiner Gesundheit, seinem Körper rücksichtsvoll und freundlich umgehen, um sich die zweite Jugend möglichst lange zu erhalten. Ich dorlottire mich ein wenig, wie Du siehst, aber ich befinde mich wohl dabei. Wie findest Du mich aussehen?

Renatus versicherte ihm, daß er sich sehr gut erhalten habe; der Graf nahm das mit Wohlgefallen auf.

Du wirst auch, wenn Du nach Berka kommst, den Onkel Felix sehr munter finden. Die Feldzüge haben ihm entschieden gutgethan. Er hat das ganze Haus voll Kinder, schöne Kinder! Ich war zu Weihnachten mit den Rhoden's dort, denn – Hildegard wird Dir das ja wohl geschrieben haben – es war Deine Schwiegermutter, der ich den gegenwärtigen engen Zusammenhang mit den Meinigen verdanke. Ich hatte früher wenig Familiensinn, aber ich habe das selbst nicht geglaubt, der Familiensinn findet sich wirklich mit den Jahren.

Er war ganz ausschließlich mit sich und seinen Angelegenheiten [336] beschäftigt. Er erzählte, wie er während der Freiheitskriege durch die Gräfin Rhoden, die er jetzt immer nur die Cousine nannte, mit der Prinzessin in nähere Beziehung gekommen sei, wie diese ihn dem Könige empfohlen und ihm dann auch neuerdings die Verleihung jenes Ordens erwirkt hätte, der, in ferner Zeit, als Lohn für besondere Tugend und Selbstverläugnung gestiftet, jetzt zu einer Auszeichnung für den Adel geworden war.

Es ist eine schöne Decoration, sagte er, auf das Kästchen weisend, in welchem der Orden vor ihm lag, und man mußte doch endlich auch etwas für mich thun! In das Militär zurückzutreten, fühlte ich keine Neigung mehr, und eine Anerkennung war man mir für die mannigfachen und oft recht peinlichen und drückenden Vermittlungen, die ich während der Franzosenherrschaft über mich genommen hatte, allerdings wohl schuldig. Du glaubst nicht, wie viel Uebles ich verhütet, wie oft ich durch meine Kenntniß der Personen und der Verhältnisse recht arge und bedenkliche Zusammenstöße verhindert habe, und ich hätte vielleicht sehr recht daran gethan, wie die Prinzessin mir es vorschlug, eines der zu vergebenden großen Consulate anzunehmen, um mir auf diesem Wege den Uebergang in die diplomatische Laufbahn zu bereiten. – Aber was willst Du? Ich bin bequem geworden. Ich hänge an meiner Wohnung, an meinen Gewohnheiten, meinen Freunden – ich bin ohne Ehrgeiz! Tout bonnement ein alter Junggeselle, der sich von seinen Freunden verbrauchen läßt. Und ich versichere Dich, sie machen sich das zu Nutze! Alle, alle sammt und sonders, selbst Deine Hildegard, die ein Juwel von einem Mädchen ist! So klug, so umsichtig, ein wahrer Schatz! Wir sind große Freunde, nun, sie hat Dir's ja geschrieben!

Er unterbrach sich endlich selbst, da die Verwunderung des Freiherrn diesen lange nicht zum Sprechen kommen ließ; denn [337] Renatus traute seinen Ohren nicht. Wie mußten die Zeiten und die Zustände sich hier geändert haben, wenn man den Grafen für Handlungen belohnen konnte, die ihm einst den gerechten Zorn seiner ganzen Familie und die Mißachtung aller rechtschaffenen Vaterlandsfreunde zugezogen hatten! Wie sicher mußte der Graf sich fühlen, daß er auf gar keine mögliche Einwendung von Seiten seines Neffen mehr Bedacht zu nehmen nöthig fand. Und was war es mit dem Ordenswesen überhaupt, wenn ein Gerhard von Berka den Orden erhalten und zu tragen sich unterfangen konnte, der als ein Zeichen besonderer Sinnesreinheit nur dem Adel verliehen werden durfte? Alles, was er hörte und vernahm, war dazu angethan, den Heimgekehrten zu überraschen, denn weit mehr noch als alle diese Thatsachen setzten die Zustände ihn in Verwunderung, aus denen heraus sie einzig möglich geworden sein konnten.

Dazu berührte die Weise, in welcher der Graf bei jedem Anlasse Hildegardens Lob aussprach, den Freiherrn nicht angenehm. Er meinte überall herauszufühlen, daß der Onkel das Vertrauen seiner Braut mehr, als es nöthig sei, besitze. Es klang ihm im weiteren Verlaufe der Unterhaltung, als müsse Hildegard sich sogar über ihn, über sein langes Ausbleiben, ja, über seine Beziehungen zu der Herzogin und zu Eleonoren gegen den Onkel klagend ausgesprochen haben, denn der Eifer, mit welchem Graf Gerhard das Deutschthum auf Kosten des Franzosenthums, und die edeln Eigenschaften einer deutschen Jungfrau über alle Reize der Ausländerinnen erhob, klangen in seinem Munde so unberechtigt, daß er, bei seinem Scharfsinn und bei seiner Klugheit, nothwendig eine bestimmte Absicht haben mußte, um eine solche Ungeschicktheit zu begehen.

Weil Renatus endlich von der Bewunderung seiner Verlobten, zu der er nicht geneigt war, abzukommen wünschte und weil er der in jedem Augenblicke drohenden direkten Frage nach [338] seinem Erleben und wohl gar nach Eleonoren ausweichen wollte, brachte er die Rede auf seine Geschäfte. Er sagte, daß er eben nur so lange in Berlin zu bleiben vorhabe, als dieselben es erheischen würden, erwähnte, daß er schon heute zu Tremann habe gehen wollen, daß die Auffahrt einer Gesellschaft ihn aber davon zurückgehalten und daß er morgen gleich in der Frühe sich zu ihm zu begeben denke.

Der Graf ließ sich das ruhig erzählen, schenkte sich und seinem Neffen sorgfältig den Thee ein, welchen der Diener inzwischen aufgetragen hatte, wählte mit Kennerblick für seinen Gast die besten Stücke der kalten Küche aus und zeigte überhaupt alle jene kleinen Aufmerksamkeiten für ihn, durch welche eine achtsame Hausfrau ihrem Besucher die Freude über seine Anwesenheit auszudrücken liebt.

Renatus rühmte dies dankbar, der Graf nannte es scherzend seine Hagestolzenkünste, und das brachte Jenen auf die Frage, ob der Onkel seine frühere Haushälterin, die Kriegsräthin, noch bei sich habe.

Der Graf verneinte es. Ich habe sie schon vor drei Jahren fortgeschickt, sagte er. Sie war eine vortreffliche Köchin, überhaupt eine brauchbare Person, aber Eine Kunst ging ihr völlig ab: sie verstand nicht, alt zu werden. Sie wurde eine lächerliche Figur, und eine solche in meinem Vorzimmer zu haben, konnte mir nicht passen.

Sie kamen dann wieder auf Tremann zu sprechen, und Graf Gerhard meinte, es sei ihm unbegreiflich gewesen, wie Renatus eben ihn zu seinem Bevollmächtigten habe wählen mögen. Auf die Frage, ob der Graf denn Gründe habe, Tremann zu mißtrauen, versetzte er: Und welche Gründe hast Du, ihm zu vertrauen?

Es entstand eine kleine Pause, ehe der Graf mit dem Ausspruche wieder das Wort nahm, daß er für sein Theil überhaupt keinem Kaufmanne vertraue, und dem thätigen, dem [339] unternehmenden am wenigsten. Der Besitz, sagte er mit einer jener hochtönenden Phrasen, welche der müßige Uebermuth so leicht erlernt, der Besitz ist für diese Art von Leuten nicht das zu schonende Feld, der zu pflegende Baum, von dessen Frucht und Ernte sie leben wollen, ruhig leben wollen. Nicht der Besitz erfreut sie, sondern der Erwerb. Das Jagen nach demselben, die rastlose Arbeit ist ihr eigentlicher Genuß. Sie schmieden sich an das ewig rollende Rad des wechselnden Glückes; und jene widerwärtige Spannung zwischen Gewinn und Verlust, die einem gebildeten Geiste wie die Marter eines Ixion bedünken würde, ist die Wollust solcher niedrig geborenen Naturen. Nimm Dich mit ihm in Acht!

Auf unfertige Menschen macht jeder allgemein ausgesprochene Satz, vor Allem, wenn er auf irgend etwas anwendbar ist, das mit ihren besonderen Verhältnissen zusammenhängt, Anfangs immer einen bannenden Eindruck, und trotz seiner achtundzwanzig Jahre und seines in der letzten Zeit so mannigfach bewegten Lebens war Renatus in sich nicht freier, nicht von der leichten Bestimmbarkeit geheilt worden, welche, als eine Folge seiner Erziehung, ihn immer unsicher über sich selbst und zum Sklaven jeder fremden Meinung machte, die ihm mit Sicherheit entgegentrat. Er hatte sich bisher etwas damit gewußt, daß er Paul zu seinem Vertreter und Vertrauensmanne erwählt hatte. Es war auch alles, was derselbe bis jetzt für ihn gethan, soweit Renatus es aus der Ferne hatte übersehen und beurtheilen können, durchaus zufriedenstellend gewesen, so daß er in seinem Inneren beständig auf den psychologischen Scharfblick stolz gewesen war, den er bewiesen hatte. Jetzt aber kam plötzlich bei des Grafen Worten der böse Genius aller schwachen Seelen, das Mißtrauen gegen sich und Andere, über den jungen Freiherrn, und sichtlich beunruhigt erkundigte er sich, wem die beiden Häuser gehörten und wer sie errichtet hätte, die neben dem alten von Arten'schen Hause emporgestiegen waren.

[340] Wer anders soll sie erbaut haben, als Tremann! entgegnete der Graf. Es war eine Spekulation, die ihm, glaube ich, gut eingeschlagen ist, und es gibt kein großes Unternehmen irgend einer Art, in dem er nicht die Hände hätte. Wo er die Capitalien dazu hernimmt, ist freilich nicht zu sagen.

Ich denke, Flies war reich, wendete Renatus ein.

Reich genug! Aber der Alte kannte seine Leute, lächelte der Graf. Nicht ein Pfennig des Flies'schen Capitals ist in dem Geschäfte geblieben. Tremann muß andere Quellen haben, und Du selbst hast ihm vielleicht mehr, als wir übersehen können, damit genutzt, als Du ihm Deine Angelegenheiten überantwortet hast! Es war das ein unbegreiflicher Einfall von Dir, und ich bekenne Dir, mein Lieber, ich wußte nicht, was ich von Dir denken sollte! Mein Bruder Felix stand freilich eben so wie Du im Felde. Aber war ich denn nicht da? Ich hatte in meiner unfreiwilligen Muße mir ein gut Theil Geschäftskenntniß erworben, und abgesehen davon, Bester, so wären, dünkt mich, Eure immerhin ein wenig delikaten Familien-Angelegenheiten in Deines Onkels, in eines Edelmanns Händen besser, als in denen dieses – dieses Tremann aufgehoben gewesen!

Es ging Renatus, wie es ihm mit dem Grafen stets gegangen war. Er hatte eine Abneigung, eine Scheu, ja, ein entschiedenes Mißtrauen gegen ihn und fühlte sich doch von ihm beherrscht. Sich dieser Herrschaft zu entziehen, oder doch mindestens sich von dem Vorwurfe eines unbesonnenen Handelns zu befreien, den der Graf ihm machte, überwand er sich so weit, demselben von seinem Abenteuer in der Schlacht von Möckern und von der heldenmüthigen Aufopferung zu sprechen, mit welcher Tremann für ihn eingetreten war und ihm das Leben gerettet hatte.

Der Graf ließ ihn ruhig erzählen und berichten.

Als er aber geendet hatte, schien der Graf ein spöttisches Lächeln länger nicht verbergen zu können. Wie der Vater, sagte [341] er – genau wie dein Vater! Verzeihe mir, daß ich lachen muß! Ich glaube, es muß Eure Religion sein, die Euch so gläubig für Zeichen und für Wunder macht! Es fehlt nur noch, daß Ihr, wie Schiller's Wallenstein, Euch einen Astrologen haltet und pathetisch Euer: »Und dieses Pferdes Schnelligkeit entriß mich Bannier's verfolgenden Dragonern!« deklamirt! Ich habe das Stück erst gestern mit angesehen – schade, daß Du nicht dabei warst! Es hätte Dir eine Lehre von der Unfehlbarkeit der Zeichen und der Wunder geben können. – Er hielt inne und sagte dann ernsthaft und mit achselzuckender Geringschätzung: Du thust wahrhaftig, lieber Junge, als ob solch ein Dazwischenspringen im Gefechte etwas auf sich hätte! Bedenke doch nur, daß dieser Tremann allen Grund hat, Dich und Dein Geschlecht zu hassen! Glaubst Du, daß er nicht gern ein Herr von Arten-Richten wäre? Glaubst Du, daß diese Flies, die ihn erzogen hat, sich seiner ohne ganz bestimmte Plane angenommen hätte? Schon vor Jahren habe ich es Dir gesagt, sie hassen Dich und mich – und ich verdenke ihnen das nicht im geringsten! Vielleicht machte ich es an ihrer Stelle eben so. Aber daran halte fest, der Wahlspruch aller dieser Leute, aller sammt und sonders, ist: »Stehe auf, damit ich mich setze!« – und wenn man sie nicht niederwirft, sie nicht in ihre alten Schranken mit Entschiedenheit zurückdrängt, so werden wir diese sogenannten Freiheitskriege einst noch gründlich zu verwünschen haben!

Er war aufgestanden, hatte die Serviette von sich geworfen und ging während des Sprechens lebhaft in dem großen Zimmer auf und nieder. Renatus war sehr nachdenklich geworden. Alles, was er hier vernahm, bedrängte ihn, und mit der schweren Besorgniß, daß er einen großen Fehler begangen, dessen Folgen er zu tragen haben werde, verließ er endlich den Grafen, der ihn aufgefordert hatte, seinen Rath zu benutzen, wo und wie er es für nöthig finden würde.

[342]
16. Capitel
Sechszehntes Capitel

In Paul's Arbeitszimmer brannten in der Frühe des folgenden Morgens noch die Lichter, denn es war nebelig draußen, und Paul war zeitig aufgestanden, um einige Entwürfe und Rechnungen durchzusehen, die ihm von Dritten zur Prüfung vorgelegt worden waren. Im Comptoir daneben war noch Alles still, auch von den Seinigen wachte noch Niemand. Das Fest hatte lange gedauert; Seba bedurfte jetzt bisweilen doch schon der Ruhe, Davide aber, die es sich sonst nicht nehmen ließ, ihrem Gatten das Frühstück zu bereiten und eine ruhige halbe Stunde mit ihm zu haben, ehe die Geschäfte ihn beanspruchten, war durch den Knaben, den sie selbst nährte, mehr als gewöhnlich wach erhalten worden und hatte sich von ihrem Manne bereden lassen, sich dafür durch ein paar Stunden Schlaf am Morgen zu entschädigen.

Als es acht Uhr schlug und Paul eben die Lichter auslöschte, weil die Sonne die Nebel zu durchdringen und durch die Aeste der prächtig bereiften Bäume freundlich in sein Zimmer zu scheinen begann, meldete der Diener ihm, daß die Dame, die schon gestern dagewesen und die er auf heute beschieden habe, wiedergekommen sei. Paul befahl, sie einzulassen, und sich mit übertriebener Demuth tief verneigend, trat eine große, noch rüstige Frau in Trauerkleidern in das Zimmer.

Mit einer Handbewegung wies der Herr des Hauses ihr einen Stuhl in der Nähe seines Schreibtisches an und fragte dann nach ihrem Begehren.

[343] Ich komme, sagte sie, Ihnen für all das Gute zu danken, das Sie, lieber Herr Tremann, meinem geliebten seligen Manne bis an sein Lebensende erwiesen haben. Daß er so sanft seine alten Tage beschließen konnte, das dankte er ja Ihnen ganz allein und noch auf seinem Todtenbette hat er ....

Lassen Sie das, ich bitte, lassen Sie das! unterbrach sie Paul. Es hat mich gefreut, den alten Mann ohne Sorgen zu wissen. Hat das Geld zu seiner Beerdigung ausgereicht, das ich Ihnen gegeben habe?

Beinahe, beinahe ganz, entgegnete die Trauernde; aber ich wollte nur sagen, noch auf seinem Todtenbette hat der gute Weißenbach den Tag und die Stunde gesegnet, in welcher der Herr Caplan Sie in unser Haus gebracht hat; und er hat auch mich dafür gesegnet und mir es tausend Mal gedankt, daß ich ihn damals überredete, Sie aufzunehmen, denn er hat es nicht gewollt – er hat es nicht gewollt!

Paul hatte sie dieses Mal zu Ende sprechen lassen; nun er schwieg, befand sie sich offenbar in einer Verlegenheit, und er beeilte sich nicht, sie aus derselben zu befreien. Die Kriegsräthin war ihm stets ein Gegenstand der Abneigung gewesen, und ihr jetziges Auftreten war nicht dazu geeignet, diese Abneigung zu vermindern. Der Graf hatte mit seinem Worte Recht gehabt: die schöne Laura verstand es nicht, mit Anstand alt zu werden. Die dicken, falschen Locken, die falschen Zähne, welche in herausfordernder Weiße aus dem stets lächelnden Munde hervorsahen, die geschminkten Wangen und der schäbige und doch auffallende Ausputz ihrer Trauerkleider machten sie lächerlich, während ihre schlecht erheuchelte Betrübniß sie Paul noch widerwärtiger erscheinen ließ.

Wünschen Sie noch etwas? fragte er; sonst bitte ich Sie, mir zu sagen, wie viel Sie für das Begräbniß aus Ihrer [344] Tasche hergegeben haben, damit ich es Ihnen wiedererstatte, denn ich bin beschäftigt.

Sie zog ein Taschenbuch aus dem großen, schwarzen Sammet-Pompadour, blätterte darin herum, nahm einen Bleistift zu Hülfe, rechnete eine Weile, versicherte danach, daß sie im entferntesten nicht darauf gehofft hätte, daß Herr Tremann ihr auch damit noch zu Hülfe kommen wolle, wie sie sich aber in einer Lage befinde, in welcher sie benutzen müsse, was die Großmuth ihrer gütigen Gönner für sie zu thun geneigt sei, und sie schloß endlich mit der Antwort, daß sie fünf Thaler und zwölf Groschen zu der Beerdigung zugeschossen habe.

Paul nahm einen Zehnthalerschein aus seiner Kasse. Als die Kriegsräthin ihre Börse hervorholte und Miene machte, nach dem Gelde zu suchen, welches sie herauszugeben hatte, sagte er ihr, sie möge sich nicht bemühen, sondern den Ueberschuß für etwaige noch nachträgliche Ausgaben behalten. Damit hoffte er, indem er ihr ein Lebewohl bot, ihrer nun auch ledig zu sein. Indeß sie erhob sich zwar von ihrem Sitze, aber sie blieb nahe bei dem Pulte stehen, sah sich im Zimmer mehrmals um, schien gehen und dann doch wieder nicht gehen zu wollen, so daß Paul, obschon er das Erkünstelte in ihrem Betragen klar durchschaute, sich doch veranlaßt fand, sie zu fragen, was sie suche oder was sie sonst noch etwa wolle und begehre.

Was hätte ich hier zu suchen, rief sie mit einem Seufzer, oder was könnte ich Anderes begehren, als Ihnen, mein verehrter Herr Tremann, meine Dankbarkeit für alle Ihre Wohlthaten an meinem lieben, seligen Weißenbach zu beweisen! Und ich glaube, ich kann das, ich kann das wirklich, so wie ja die Maus auch dem Löwen helfen konnte! – Sie sah sich nochmals in dem Zimmer um, trat dann an das Pult heran und sprach: Ich weiß nicht, Herr Tremann, in wie weit Sie von der Liebschaft unterrichtet sind, welche die Cousine und Pflegemutter [345] Ihrer Frau Gemahlin mit dem Grafen Gerhard von Berka seiner Zeit gehabt hat; aber ....

Sie hielt inne, da Paul's finstere Miene ihr Scheu einflößte. Er ließ sie schweigend stehen, denn er war peinlicher berührt, als er es ihr zu zeigen für nöthig fand, und er ging mit sich zu Rathe, ob er sie sprechen lassen oder sie von sich weisen solle. Aber obgleich jedes ihrer Worte ihm durch den Ton und die plötzliche Vertraulichkeit dieser Frau zu einer doppelten Kränkung wurde, entschloß er sich endlich doch, sie anzuhören.

Was bringt Sie dazu, mir die Frage vorzulegen, welche Sie an mich gerichtet haben? fragte er sie.

Meine Dankbarkeit, Herr Tremann, nur meine Dankbarkeit, und, setzte sie hinzu, auch die alte Freundschaft für das Flies'sche Haus. Freilich hat Seba es jetzt ganz vergessen, daß ich's gewesen bin, die sie zuerst unter die Menschen und in die Gesellschaft gebracht hat, und daß ich ihre Manieren und ihre Haltung formirte. Ich habe auch, was an mir gewesen ist ....

Ich bin sehr beschäftigt, unterbrach sie Paul, dem die Weise der Kriegsräthin immer unleidlicher werden mußte, und der zu merken anfing, worauf es abgesehen war. Ich bin sehr beschäftigt, haben Sie also die Güte, Sich an das Wesentliche zu halten, Frau Kriegsräthin!

Wie Sie wünschen, wie Sie wünschen! versicherte sie. Aber, Herr Tremann, erlauben Sie mir nur zu mei ner Rechtfertigung noch ein paar Worte. Sie sind ein erfahrener Mann, Herr Tremann, und Sie haben gewiß die Frauen kennen gelernt. Sie wissen, wie die Mädchen sind. Seba ließ sich nicht abhalten, an den Herrn Grafen zu schreiben, Brief auf Brief und Jahr und Tag. Das war sehr unrecht, und ich sagte ihr immer ....

Und diese Briefe? fragte Paul, der seine Ungeduld nur mühsam unterdrückte.

[346] Die Kriegsräthin schlug die Augen nieder. Diese Briefe besitze ich, sagte sie.

Sie besitzen diese Briefe – Sie? Wie kommen Sie dazu? fuhr Paul auf, dem das Blut in die Wangen stieg, obschon er seiner Empörung und seinem Zorne Gewalt anthat. Wie kommen Sie, Frau Kriegsräthin, zu diesen Briefen?

Sie machte eine Bewegung mit beiden Händen, als wolle sie andeuten, sie könne sich dessen kaum erinnern. Ich fand mich, Sie wissen es ja, Herr Tremann, als mein armer, guter Weißenbach seiner Versuchung unterlegen war, genöthigt, mir mein Brod zu suchen. Da nahm Graf Berka mich als Haushälterin, und ich kann sagen, als eine Freundin in sein Haus, und ....

Und er, Graf Berka, also ist's, der Ihnen diese Briefe übergeben hat? fragte Paul bestimmt.

Die Kriegsräthin schlug voll Demuth ihre Blicke nieder. Der Herr Graf hatte keine Geheimnisse vor mir, sagte sie. Er wußte, daß man mir vertrauen könne, und, fügte sie hinzu, dächte ich nicht, daß ich nicht mehr jung bin, daß der Herr mich abberufen und diese Briefe dann einmal in unbedachte Hände fallen könnten, so hätte ich gegen Sie, Herr Tremann, und gegen Niemanden dieser Angelegenheit erwähnt. Aber Mademoiselle Flies hat mich nicht vorgelassen; hat, als ich ihr geschrieben, meinen Brief zurückgeschickt – was sollte ich da machen?

Paul's Verachtung gegen die Kriegsräthin, seine Verachtung gegen den Grafen, der solche Briefe aufbewahren und sie, wenn man das wenigst Schlimme von ihm denken wollte, so schlecht aufbewahren konnte, daß sie einer Person wie dieser in die Hände fallen mochten, schwellten die Adern auf seiner Stirn.

Wo sind die Briefe? fragte er kurz und kalt.

Die Kriegsräthin brachte aus ihrem Pompadour ein ansehnliches [347] Packet Papiere hervor, das mit einer Schnur über Kreuz zusammengebunden war.

Hier, sagte sie; aber sie reichte sie Paul nicht hin, sondern hielt sie fest, als fürchte sie, daß sie ihr entrissen werden könnten.

Sind das die Briefe alle, welche Graf Berka von Mademoiselle Flies erhalten hat?

Alle, so viel ich weiß.

Paul ging mit sich zu Rathe; die Kriegsräthin verwandte kein Auge von ihm.

Was verlangen Sie für diese Briefe? fragte er darauf.

Die Kriegsräthin ließ einen Ausruf der Entrüstung hören. Sie betheuerte, daß es ihr nur darauf angekommen sei, dem Wohlthäter ihres Gatten ihre gute und anhängliche Gesinnung zu bezeigen, um wo möglich seine Geneigtheit und das Zutrauen, das er doch einst zu ihr gehabt habe, wieder zu erlangen. Sie brachte es endlich bis zu der unter Thränen gethanen Erklärung, daß sie, die Kinderlose, sich immer der Hoffnung hingegeben habe, sich in ihrem Pfleglinge einen Sohn zu erziehen; aber Seba habe sie durch ihr Dazwischentreten auch um dieses Glück gebracht, und sie würde in ihren Herzensergüssen kein Ende gefunden haben, hätte Paul sie nicht noch einmal mit der nackten Frage unterbrochen, was sie für die Briefe fordere.

Ihren Beistand – weiter nichts! rief die Kriegsräthin, sich die Augen trocknend.

Paul schüttelte verneinend das Haupt. Ich bin nicht gewohnt, solche Wechsel in Blanco auszustellen. Nennen Sie die Summe.

Sie haben für meinen Mann so viel gethan ....

Täuschen Sie Sich nicht, Frau Kriegsräthin, ich bin nicht im entferntesten gesonnen, auch nur irgendwie ein Aehnliches für Sie zu thun! bedeutete er ihr.

Aber, hob sie noch einmal an, wenn ich diese Briefe ....

[348]

Da hielt sich Paul nicht länger. Wenn Sie die Unwürdigkeit begehen sollten, von diesen Briefen irgend einen Gebrauch zu machen, der Mademoiselle Flies verletzen könnte, so würde ich zunächst den Grafen Gerhard fragen, auf welche Weise Sie in den Besitz derselben gelangt sind! sagte er.

So wahr Gott lebt, ich habe sie von ihm selbst! rief die Kriegsräthin erschrocken aus.

Dann behalten Sie sie; aber ich mache von dieser Stunde ab den Grafen verantwortlich für jeden Mißbrauch, den Sie mit denselben treiben! Und nun, Adieu, Frau Kriegsräthin! – Er drehte ihr den Rücken und wollte das Zimmer verlassen.

Darauf jedoch hatte sie es nicht abgesehen. Sie trat rasch hinzu, legte die Briefe auf sein Pult und sagte: Sie mißtrauen mir, Herr Tremann; aber wie unrecht Sie mir auch thun, ich will es Ihnen nicht vergelten. Da sind die Briefe! Seba soll sehen, ob ich ihre Freundin war und bin. Da sind die Briefe – alle! Thun Sie nun, was Ihnen von Ihrem Herzen und von Ihrer Generosität geboten wird.

Sie blieb stehen. Paul nahm eine Feder in die Hand. Was denken Sie jetzt zu unternehmen, da Ihr Mann gestorben ist?

Der Herr Graf hat mir schon längst dazu verhelfen wollen, daß ich eine Concession erhielte, möblirte Zimmer zu vermiethen; aber um das anzufangen, um die Möbel anzuschaffen ....

Brauchen Sie Geld, natürlich! Wie groß ist die Summe, deren Sie zu bedürfen glauben?

Ich habe mir das oftmals ausgerechnet; dreihundertfünfzig Thaler wären doch das Wenigste – das Allerwenigste! meinte sie.

Paul fand diese Summe viel zu hoch. Nach einigen kurzen Erklärungen wurden sie jedoch des Handels einig. Er ließ sich von ihr einen Schein unterschreiben, daß sie ihm gegen die von ihm empfangene Summe sämmtliche in ihrem Besitze gewesenen Briefe Seba's an den Grafen Berka ausgehändigt habe, so daß, [349] falls noch jemals derartige Briefe zum Vorschein kommen sollten, sie als Fälschung anzusehen wären. Und nachdem die Kriegsräthin sich noch verpflichtet hatte, sich niemals mehr, weder schriftlich noch mündlich, an Seba zu wenden, zahlte er selbst ihr die bedungene Summe aus und entließ sie, froh, sich ihrer endlich entledigen zu können.

Als er allein war, sah er die von der Kriegsräthin nach ihrem Datum geordneten Briefe noch einmal flüchtig an. Die vergilbten Blätter rührten ihn. Er dachte all der trügerischen Hoffnungen, all der verzweifelnden Leidenschaft, mit denen sie geschrieben worden waren, aber er hätte ein Heiligthum zu entweihen geglaubt, hätte er gelesen, was nicht für ihn bestimmt gewesen war. Er nahm das ganze Päckchen, trat an das Feuer des Kamines, warf die Blätter hinein und blieb bei ihnen stehen, bis das letzte derselben in Asche zerfiel und zerstob.

Die Begegnung mit der Kriegsräthin, die ganze Angelegenheit hatte ihn verstimmt; indeß er war mit derselben noch nicht am Ende, denn er hatte seine Abrechnung noch mit dem Grafen selbst zu halten, um Seba wo möglich ein für alle Mal vor den Verletzungen, die ihr von dieser Seite kommen konnten, sicher zu stellen, und er beschloß nach kurzem Ueberlegen, dies sofort zu thun.

»Hochgeborener Herr!« schrieb er. »Ich habe so eben von Ihrer ehemaligen Haushälterin, der verwittweten Kriegsräthin Weißenbach, eine Reihe von Briefen erhalten, die eine edle und von mir hochverehrte Frau in dem Vertrauen jugendlicher Liebe und in dem Glauben an die Ehrenhaftigkeit des von ihr damals geliebten Mannes geschrieben hat. Beides, ihre Liebe wie ihr Vertrauen, waren ein Irrthum, und ich wünsche sie vor jeder unangenehmen Erinnerung an dieselben, wie sie ihr durch die Weißenbach leicht bereitet werden könnte, fortan zu bewahren. Indem ich es unerörtert lassen will, auf welche Weise jene [350] Briefe in die Hände und den Besitz der Kriegsräthin, die sie mir gegenüber als einen Handelsartikel zu betrachten für angemessen hielt, gelangt sind, erlaube ich mir, bei Ew. Hochgeboren anzufragen, ob sich vielleicht noch andere Briefe jener Dame in Ihrem Gewahrsam befinden. Sollte das der Fall sein, so bin ich nach der heute gemachten Erfahrung gezwungen, Ew. Hochgeboren an die Herausgabe dieser Briefe als an die Erfüllung einer sittlichen Pflicht zu erinnern, wogegen ich Ihnen auf mein Wort versichern kann, daß in dem Besitze der betreffenden Dame nichts, gar nichts mehr vorhanden ist, was an Sie erinnern könnte. Ich habe es wohl nicht nöthig, Ew. Hochgeboren noch besonders darauf aufmerksam zu machen, daß die Schreiberin jener Briefe von dem Mißbrauche, der mit denselben getrieben worden ist, nicht Kenntniß hat und nicht Kenntniß erhalten wird. Diese Beleidigung und Kränkung sind von ihr durch mich glücklicher Weise abgehalten worden. Die Angelegenheit ist also zwischen Ew. Hochgeboren und mir zu ordnen, und ich habe dabei nur noch zu bemerken, daß ich der Kriegsräthin gegenüber meine Maßregeln in der Art genommen habe, daß neue Ansprüche und Erpressungen auf Anlaß ähnlicher Papiere von ihrer Seite künftig nicht mehr zu befürchten sind. Ihrer baldigen Antwort entgegensehend

Paul Tremann


Er hatte diesen Brief eben erst einem Boten zur Besorgung gegeben und wollte sich in das Comptoir verfügen, in welchem inzwischen seine Gehülfen angekommen und an ihre Arbeit gegangen waren, als man ihm den Freiherrn von Arten-Richten meldete.

Es war seit lange von der Rückkehr desselben die Rede gewesen, aber sie kam Paul doch jetzt völlig unerwartet, und weil er voraussah, daß die Besprechung, welche er mit Renatus haben mußte, eine längere Zeit erheischen würde, begab er sich erst zu [351] seinen Leuten, um mit ihnen das Nöthige zu bereden und ihnen seine Befehle zu ertheilen, während er den Freiherrn ersuchen ließ, ihn in dem Privatzimmer, in welchem Paul sich bis dahin aufgehalten hatte, zu erwarten.

Renatus war der Gang zu diesem Besuche schwer geworden, und die Bemerkungen des Grafen Gerhard hatten nicht dazu beigetragen, ihm denselben zu erleichtern.

Er war beunruhigt durch den Gedanken, wie Paul im Grunde über ihn und über jene seine Maßnahme urtheilen möge, nach welcher er ihm vor Jahren seine Angelegenheiten anvertraute. Er für sein Theil war jetzt sehr geneigt, diesen Schritt für eine romantische und großmüthige Unbesonnenheit zu halten, um derentwillen er von sich nicht schlechter dachte, die er aber doch bereute. Der Graf hatte ihm mit seiner Schilderung der rastlosen Habgier, die jedem Kaufmanne inne wohnen sollte, ein widerwärtiges Bild in die Seele gedrückt; indeß weder das Haus, in das er getreten war, noch der Raum, in welchen man ihn jetzt gewiesen hatte, stimmten mit des Grafen Voraussetzung zusammen.

Der wohlanständige Hauswart, der ernsthafte Diener in schwarzer, bürgerlicher Kleidung, die mit Teppichen nach englischer Weise belegten Fluren und Korridors, auf denen der Tritt nicht hörbar war, konnten eben so wohl in dem Hause einer Herzogin ihren Platz finden, und dieses Zimmer, in welchem Renatus den Kaufmann zu erwarten hatte, trug vollends ein beruhigendes Gepräge. Die dunklen Tapeten, die zurückgezogenen dunklen Fenstervorhänge, der große Schreibtisch und die wenigen schweren Armstühle, die in dem Zimmer standen, sahen sehr würdig aus. Die großen Special-Landkarten an den Wänden, die nicht unbedeutende Bibliothek, welche die eine Seite des Gemaches einnahm, und eine Reihe von Modellen zu Maschinen, die auf einem der Tische aufgestellt waren, hätten auch in das [352] Zimmer eines Gelehrten gehören können. Renatus, der viel Freude an allem Zusammenstimmenden besaß und durch den Anblick desselben, wie durch eine angenehme Luft, sehr leicht besänftigt wurde, hätte sich wahrscheinlich auch jetzt diesem wohlthuenden Eindrucke bereitwillig hingegeben, hätte ihm nicht die ihm bevorstehende Unterredung mit ihren unerläßlichen Erörterungen gar zu schwer auf dem Herzen gelegen und hätte er es verschmerzen können, daß er hier als ein Fremder auf den Herrn eben dieses Hauses warten mußte, das einst seiner Familie angehört hatte.

Er hatte auf die Einladung des Dieners in einem der alterthümlichen Lehnstühle Platz genommen, die vor dem Kamine standen, und wie er von dem knisternden Feuer zu den Ausschmückungen des Simses hinaufblickte, leuchtete ihm das Arten'sche Wappen mit seinem fortis in adversis, hell von den Flammen angestrahlt, vertraut und doch schmerzlich entgegen. Er zweifelte nicht, daß auch diese hochlehnigen Eichensessel, daß der schwere, schön geschnitzte Tisch, der jetzt den Modellen und Maschinen zum Träger diente, daß diese große, altmodische Uhr einst Arten'scher Besitz gewesen waren, welcher bei der Versteigerung des Hausrathes an die neuen Eigenthümer direkt oder indirekt übergegangen war; und ungeduldig den großen, langsam fortrückenden Zeiger der Uhr verfolgend, wollte er sich eben erheben, als die Thüre, welche nach dem Comptoir ging, sich lautlos öffnete und, eben so lautlos hereintretend, der Herr dieses Hauses vor ihm stand.

Willkommen in Deutschland! sagte er; und ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie warten ließ! Ich war dazu genöthigt, um jetzt völlig zu Ihrer Verfügung zu sein. Seit wann sind Sie zurück?

Renatus antwortete, daß er schon gestern gekommen sei; aber er konnte sich in den geschäftsmäßigen, wennschon sehr [353] verbindlichen Ton des Andern nicht gleich finden, er konnte überhaupt sich noch nicht Rechenschaft von demjenigen geben, was in ihm vorging. Das Arten'sche Gesicht, Paul's mit jedem Lebensjahre wachsende Aehnlichkeit mit dem verstorbenen Freiherrn verfehlten ihre Wirkung auch jetzt wieder nicht auf dessen Sohn. Aber dieser Mann in der dunkeln, bürgerlichen Tracht, auf dessen hoher Stirn die Sorge ihre Spur in leichten Furchen zurückgelassen hatte und in dessen braunem Gelocke hier und da bereits ein weißer Silberfaden schimmerte, war das noch derselbe Offizier, der feurige Krieger, der einst wie ein Sanct Georg mit seinem flammenden Schwerte zwischen Renatus und den Tod getreten war? Auch jenem Jünglinge, mit dem der junge Freiherr einst in Seba's Zimmer so feindselig an einander gerathen war, glich Paul jetzt nicht mehr. Die frische Farbe seines Antlitzes war bleicher geworden, alle seine Züge hatten sich gefestet. Der Mund, der Blick der Augen waren ernster, die Stimme selbst dünkte Renatus tiefer geworden zu sein, und wie ihm damals der Schwung und das Feuer des jungen Fremden eine unruhige Eifersucht eingeflößt hatten, so setzte ihn jetzt etwas Mächtiges, etwas Gebieterisches in dem Wesen dieses Mannes in Verwunderung, obschon er selbst sich ihm gegenüber, in der glänzenden Uniform, in der straffen, regelrechten Haltung, mit dem Degen an der Seite, entschieden als der Vornehmere, als das Mitglied einer höheren Kaste bedünkte. Auch war es ein Ton nachlässiger Vornehmheit, mit welchem er Tremann aufforderte, sich gar nicht zu geniren, er könne warten, denn er habe Zeit.

So besitzen Sie, antwortete Tremann ihm in der früheren, freien Weise, was mir in der Regel fehlt, und ich denke, wir machen uns eben deßhalb gleich an unsere Geschäfte. Wollen Sie ablegen? Ich bitte!

Renatus, der bis dahin nicht ohne Absicht noch immer [354] seinen Säbel an der Seite und seinen Czako in der Hand behalten hatte, hakte den Säbel los, stellte ihn in die Fensterbrüstung, stülpte den Czako darüber, zog die Handschuhe aus, fuhr sich, in den Spiegel blickend, der über dem Kamine hing, einige Male mit der feinen Hand durch sein wohlgepflegtes, blondes Haar und setzte sich dann mit einem unterdrückten Seufzer, wie Einer, der an eine schwere Arbeit geht, an dem Tische nieder, an welchem Tremann bereits vor ihm Platz genommen und auf dem er verschiedene Aktenstücke und Papiere ausgebreitet hatte.

Sie waren eigenthümlich anzusehen, der schöne, kräftige Geschäftsmann, der mit selbstgewisser Sicherheit sich zu seiner Arbeit anschickte, und der jüngere, eben so schöne und kräftige Offizier, dem sich das Unbehagen an dem Ungewohnten, das er über sich zu nehmen hatte, in jedem Zuge ausprägte. Mit jener kurzen Uebersichtlichkeit, zu welcher es nur ein sehr klarer Kopf bei völliger Beherrschung seines Stoffes bringt, setzte Tremann dem Freiherrn den Zustand aus einander, in welchem dessen Vermögensverhältnisse sich befänden. Er wiederholte ihm und erklärte ihm ausführlicher, als es in seinen Briefen geschehen war, daß die allmählich aufgehäufte Schuldenlast und die daraus erfolgenden Zinszahlungen es jetzt völlig unmöglich machten, die Angelegenheiten in der gewohnten Weise fortzuführen, und er kam darauf zurück, daß es großer, durchgreifender Entschlüsse bedürfe, wenn man zufriedenstellende Erfolge erzielen wolle. Er trug die Summen zusammen, welche allmählich auf Rothenfeld und Neudorf aufgenommen worden waren, erinnerte Renatus daran, daß man sein mütterliches Capital, welches der verstorbene Freiherr zur ersten Stelle auf Richten eintragen lassen, noch vor dem Ausbruche des Krieges mit der Zustimmung von Renatus auf eine zweite Hypothek gestellt habe, weil es nothwendig gewesen sei, neue namhafte Capitalien herbeizuschaffen, [355] die man gegen dritte Hypotheken nicht habe erhalten können, und schließlich hielt er dann den gegenwärtigen Werth der Güter jener Schuldenlast gegenüber, welcher dieselbe freilich noch immer überstieg, aber doch nicht mehr in solcher Weise überstieg, daß es für Renatus möglich gewesen wäre, sich noch als einen reichen Mann zu betrachten.

Die unwiderlegliche Gewalt der Zahlen übte auf Renatus in diesem Falle eine erschreckende Wirkung. Indeß er war von Jugend auf gewohnt, mit sicheren Hoffnungen, mit dem Glauben an das Fortbestehen seiner ausgezeichneten Verhältnisse in die Zukunft zu sehen, und sich von dem unangenehmen Eindrucke rasch emporraffend, sagte er mit der vornehmen Leichtigkeit, die er ebensowohl als der verstorbene Freiherr, wenn es ihm paßte, anzunehmen wußte: Das klingt allerdings bedenklich und würde auch bedenklich sein, wenn man genöthigt wäre, in diesen immer noch ungünstigen Zeiten zu dem Verkaufe eines solchen Besitzes zu schreiten; glücklicher Weise ist das nicht der Fall!

Tremann, der mit großem Bedachte und reiflichem Ernste seine Auseinandersetzungen gemacht und sich dabei so schonend als möglich geäußert hatte, weil er gerecht genug war, den jungen Freiherrn nicht für die ungünstige Lage verantwortlich zu machen, in welche seine Güter durch die Schuld seines Vaters gebracht worden waren, fühlte sich durch das ganze Betragen und durch die Leichtfertigkeit des Freiherrn doch bewogen, diese Schonung nicht weiter zu üben, und trocken und ohne allen Umschweif sagte er: Wie die Weltlage und unsere industriellen und gewerblichen Verhältnisse sich mir darstellen, ist ein rasches Steigen der Güterpreise nicht vorauszusehen, und wenn Sie Sich jetzt nicht entschließen, Neudorf und Rothenfeld so bald als möglich zu verkaufen, werden Sie nach drei Jahren nicht mehr im Stande sein, auch nur Richten zu behaupten.

Renatus wurde plötzlich blaß. Er konnte die frühere leichte [356] Weise solchem Ausspruche gegenüber nicht mehr aufrecht erhalten, und Tremann schien es auch gar nicht auf eine Gegenäußerung von ihm abgesehen zu haben. – Ich mußte mich, fuhr er fort, als ich mich, Ihrem Wunsche gemäß, dem Amte unterzog, das mein verstorbener Compagnon nach Ihres Herrn Vaters Tode von Ihnen übernommen hatte, erst selber genauer über eine Menge von landwirthschaftlichen Fragen und namentlich über die Zustände in Ihren Provinzen unterrichten, da man ohne eine vollständige Einsicht in diese Dinge nur ein schlechter Berather sein würde, und der ehemalige Amtmann Ihres Herrn Vaters, der Gutsbesitzer Steinert, ist mir dabei mit seiner Einsicht und, ich darf sagen, mit seinem guten Willen, Ihnen behülflich zu sein, sehr nützlich gewesen. Nach seinen Mittheilungen ist seit fast dreißig Jahren, seit dem Tode Ihres Großvaters, wie Steinert es nannte, so gut wie gar nichts in die Güter hineingesteckt, wohl aber alles aus ihnen herausgezogen worden, was sie irgend herzugeben vermochten. Der Krieg und die untüchtige Verwaltung des jetzigen Amtmanns, mit dem man aus Vorschnelle und Bequemlichkeit, ohne ihn zu kennen, auf lange Jahre hinaus einen Vertrag gemacht hatte, der ihn halbwegs wie einen Pächter hinstellt, der aber keine Caution irgend einer Art geleistet hat, sind unheilvoll dazugekommen. Die Güter befinden sich in dem völligsten Verfalle. Sie haben allerdings in Richten ein großes Schloß, in Neudorf eine Kirche und ein Pfarrhaus, in Rothenfeld die neue katholische Kirche und daneben sogar noch jene Art von Seminar. Das sind Baulichkeiten genug, aber es sind unfruchtbare, geldkostende Gebäude, und es fehlt an allem Nöthigen – es fehlt an Scheunen und an Ställen, es fehlen Wohnungen für eine größere Anzahl Leute, die herbeigezogen werden müßten, wenn man die Verbesserung des Bodens ernstlich betreiben wollte. Man müßte vierzig, fünfzig Tausend Thaler in die Hand nehmen können, [357] um auf den drei Gütern nur die nothwendigsten Gebäude herzustellen. Man müßte eine eben so große Summe anwenden, um ein Vieh-Inventar herbeizuschaffen, wie es einem solchen ausgesogenen Güter-Complexe nothwendig wäre, und müßte die Mittel haben, durch die ersten Jahre nicht nur diesen Viehstand, sondern auch die Leute völlig durchzuhalten, bis die Güter selber den Aufwand wieder tragen könnten. Wo wollen Sie diese Capitalien, diese Mittel finden? Wie wollen Sie es machen, diese neuen Capitalien besten Falles aus dem gegenwärtigen Ertrage der Güter, neben den ohnehin laufenden alten Zinsen zu verzinsen?

Er nahm, da Renatus keine Antwort darauf zu geben vermochte, die Papiere zur Hand, welche den letzten Jahresabschluß des Amtmanns enthielten, und jene andern Berichte, die er sich vierteljährlich von ihm hatte senden lassen. Der gegenwärtige Reinertrag der Wirthschaft hatte, da Renatus sich allmählich in der französischen Hofgesellschaft auch an einen größeren Aufwand gewöhnt hatte, kaum die Höhe der Summe erreicht, welche er sich in den beiden letzten Jahren als Zuschuß nach Paris hatte nachsenden lassen, und um den Haushalt und die Bedürfnisse der Baronin und ihrer Gäste zu bestreiten, hatte man gelegentlich von den Kaufleuten in den kleinen, den Gütern nahe gelegenen Städten einzelne Beträge in verschiedener Höhe entnommen, die sie, weil alle diese kleinen Kaufleute die Vermögenslage des Freiherrn kannten, nur unter den ungünstigsten Bedingungen hergegeben hatten. Sie waren, da auch hier sich Zins zu Zins gefügt, zu einer Summe angewachsen, die Renatus in Erschrecken versetzte, und zum ersten Male seiner selber nicht mehr Meister, rief er, sich gegen die Stirn schlagend: Furchtbar, furchtbar! Da ist ja gar kein Ausweg möglich!

Er war aufgestanden und hatte mit hastiger Hand die Haken und Knöpfe seiner Uniform geöffnet, es wurde ihm angst [358] und bange. Wie verkörpert stiegen die Berechnungen gewaltig vor ihm in die Höhe und drängten auf ihn ein. Alle, alle, alle gegen den Einen, gegen ihn! Hier war für ihn kein Durchhauen möglich – und hier zu unterliegen war nicht, wie in einer guten Sache auf dem Schlachtfelde, eine Ehre – hier zu unterliegen war ein Schimpf!

Tremann, der ihn seit dem Beginne ihrer Unterredung genau beobachtet hatte, errieth und sah, was in dem jungen Freiherrn vorging, und, wie bei allen tüchtigen Menschen, waren seine Theilnahme und sein Mitleid leicht erregbar, wo er an die Möglichkeit einer nachhaltigen Hülfe glauben konnte.

Nur Muth, Herr von Arten! rief er; die Sache steht allerdings nicht sonderlich, doch ist sie keineswegs verloren, noch ist sie zu halten, Sie müssen nur den Muth nicht sinken lassen!

Aber der natürliche und wohlgemeinte Zuspruch brachte auf das jetzt doppelt verletzbare Gemüth des Freiherrn nicht die beabsichtigte Wirkung hervor; denn die feinen Augenbrauen zusammenziehend, sagte er: An Muth hat es noch keinem Arten je gefehlt, und wenigstens diese Eigenschaft unseres Hauses geht mir sicherlich nicht ab.

Tremann ließ diese unberechtigte Gereiztheit völlig unbeachtet. Mit einer beruhigenden Milde, die seinem ernsten Antlitze eine Schönheit verlieh, gegen welche Renatus selbst in diesem Momente sein Auge nicht verschließen konnte, sprach er: Es konnte mir nicht einfallen, Herr von Arten, an Ihrem Muthe, an dem sogenannten Heldenmuthe in Ihnen zu zweifeln, der im entscheidenden Augenblicke mit Selbstvergessenheit sein Leben daran zu geben weiß. Mich dünkt, in dieser Art von Muth haben wir beide Gelegenheit gehabt, unsere Proben abzulegen. Er hielt inne, als wolle er dem Andern die Zeit vergönnen, sich auszusprechen; da Renatus aber schwieg und sein Antlitz sich nicht erhellte, sagte Tremann nachdrücklich, wennschon mit [359] derselben unerschütterlichen Gelassenheit: Es gibt aber einen Muth, der weniger leicht zu behaupten ist, als jener von der fortreißenden Macht einer begeisterten Masse, oder von der Erregung eines gewaltigen Augenblickes erzeugte Heldenmuth; ich meine den moralischen Muth, jenen guten, stillen Muth des Mannes, der seine Ehre darein setzt, sich mit aller seiner Kraft in verschuldetem oder nicht verschuldetem Mißgeschicke zu behaupten, der entschlossen ist, mit jahrelang währender Arbeit, mit Sorgen und Mühen, die Niemand sieht und die in vielen Fällen Niemand sehen und kennen darf, seinen Verpflichtungen zu genügen, und der herstellen und schaffen will, was für ihn und für Andere das Geforderte und Gebotene ist. Fühlen Sie von diesem schweigenden, beharrlichen, recht eigentlich bürgerlichen Muthe etwas in Sich, Herr von Arten – nun, so brauchen Sie über Ihre Lage noch keineswegs zu erschrecken, denn ich wiederhole es Ihnen: noch ist Hülfe möglich!

Renatus konnte sich gegen die Würdigkeit dieses Mannes nicht verschließen, zugleich aber fühlte er jenen hochmüthigen Arten'schen Aberglauben noch einmal in sich rege werden, der erst gestern dem Grafen Gerhard Anlaß gegeben hatte, ihn zu verspotten. Zum zweiten Male stellte dieser Tremann sich zwischen ihn und eine ihm drohende Gefahr. Er hatte ihm im Kampfe der offenen Feldschlacht einst durch seinen Muth das Leben erhalten; weßhalb sollte er von dem Schicksal nicht auch bestimmt sein, ihn eben so vor dem andern Untergange zu bewahren, der ihm jetzt zu drohen schien? Und von der Bewegung, in welche dieser Gedanke ihn versetzte, über seine sonstige enge Schranke des Empfindens fortgerissen, rief er plötzlich: Soll ich Ihnen – er wollte hinzusetzen: eben Ihnen denn Alles zu verdanken haben? – Aber er unterdrückte diesen Zusatz, und obschon Paul das wohl bemerkte, focht es ihn nicht an. Im Gegentheil, dasjenige, was Renatus aufregte, dünkte ihn nur ein ganz Natürliches [360] zu sein. Er hatte dem jungen Manne, der an sich völlig schuldlos an allem demjenigen war, was in Paul's Schicksal mit den Schicksalen der Herren von Arten zusammenhing, mit Gefahr des eigenen Lebens das Leben gerettet; es erschien ihm also, da er sich einmal bereitwillig hatte finden lassen, die Arten'schen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, eben deßhalb jetzt nur folgerecht, daß er, so viel an ihm war, auch dazu that, den Freiherrn auf den Weg zu weisen, auf welchem er sein Leben ehrenhaft und würdig weiter fortzuführen vermochte.

Ich war, hob Paul nach kurzer Unterbrechung also wieder an, da ich nach fast vierjähriger Abwesenheit aus dem Felde kam, Ihnen will ich es zu Ihrer Ermuthigung bekennen, ziemlich in der gleichen Lage, in der Sie gegenwärtig sind. Mein Vorgänger hatte mit den Anforderungen der Zeit nicht Schritt zu halten vermocht, wir waren durch seine Schuld in die bedenklichsten Geschäfte und Unternehmungen verwickelt, es waren bereits große Verluste vorgekommen, und da ich ohnehin nach dem Willen des verstorbenen Herrn Flies die Capitalien seiner Tochter gänzlich aus dem Geschäfte herauszuziehen hatte, fand ich mich nach meiner Heimkehr eines Tages auf dem Punkte, an dem ich, um den augenblicklich auf mich eindringenden Forderungen gerecht zu werden und mit meinem guten Namen auch meine bürgerliche Ehre und meinen kaufmännischen Credit zu erhalten, wie ich es Ihnen eben jetzt gerathen habe, Alles an Alles setzen mußte.

Was heißt das in Ihrem Falle? fragte Renatus mit wachsender Spannung.

Das heißt, daß ich alles, was ich an Fonds, an Papieren, selbst an Immobilien besaß, unter den ungünstigsten Verhältnissen verkaufen mußte, um die auf unsere Firma laufenden Wechsel einlösen und dem Mißtrauen begegnen zu können, das sich durch die in meiner Abwesenheit gemachten unglücklichen Geschäfte und Unternehmungen gegen unser Haus erhoben hatte.

[361] Es kam ein Abend, sprach er langsam und nachdrücklich, es kam ein Abend, an welchem ich, nach Wochen und Monaten voll der schwersten Sorgen, voll schlafloser Nächte, mir sagen mußte, daß ich jetzt fast so pfenniglos da stände, als an dem Tage, an welchem ich in die Welt hinausgegangen war, und mir fehlten jetzt die feurige Hoffnung der ersten Jugend und die zwanzig Jahre voll rüstiger Kraft, in denen ich mir meinen Weg geschaffen und mein Vermögen erworben hatte. Ich besaß an jenem Abende, setzte er nach einem tiefen Athemzuge mit schwerem, gewichtigem Tone hinzu, nicht viel mehr, als das Bewußtsein, das Rechte gethan zu haben, nicht viel mehr, als das unbedingte Vertrauen derjenigen, mit denen ich meine Geschäfte gemacht hatte, und die Ueberzeugung, daß ich mich auf mich selbst und auf meine Arbeitskraft verlassen könne. Das aber ist ein Großes! – Und wieder entstand eine neue Pause.

Trotz seines starken Herzens hatten die Erinnerungen, welche er eben nicht häufig in sich zu erwecken gewohnt war, den ernsten Mann erschüttert, während in Renatus die widersprechendsten Vorstellungen, Gedanken und Empfindungen auf und nieder wogten. Bald fühlte er sich geneigt, sich Tremann mit Bewunderung in brüderlicher Verehrung in die Arme zu werfen; dann wieder bedünkte es ihn, als dürfe er demselben, ohne sich etwas zu vergeben, nicht eine Genugthuung bereiten, deren er jetzt ohnehin schon vollauf genießen mußte; denn daß ein Mann das Rechte um des Rechten willen thun, daß er fördern und Hülfe leisten könne, ohne dabei an sich selbst und an die Wirkung zu gedenken, welche diese Hülfsleistung auf das Gefühl des Geförderten hervorbringt, das einzusehen, dazu war die Seele des jungen Freiherrn nicht gemacht. Und doch fühlte er, daß er nicht schweigen dürfe, daß er Tremann mindestens ein Zeichen seiner dankenden Anerkenntniß schuldig sei.

Ich bewundere Ihre Entschlossenheit, sagte er endlich, und [362] ich wünschte, ich befände mich in so einfachen Verhältnissen, wie Sie, daß ich das Gleiche möglich machen und mich doch behaupten könnte. Unser Standpunkt ist nur wieder sehr verschieden.

Tremann sah ihn prüfend an. Er hörte aus den Worten des Freiherrn, was in dessen Seele vorging, aber er gab nichts auf die hochmüthige und vorurtheilsvolle Ueberhebung, mit welcher jener seine Zustände als ganz besondere von denen des bürgerlichen Kaufmanns abzutrennen suchte; und wie der Arzt die Ungebühr des Kranken nur als ein Krankheitszeichen ansieht, das ihn nicht beirren darf, sagte Tremann: Das ist vielleicht nicht so schwer, als es Sie dünkt, und ich bin bereit, Ihnen meine Ansicht und meine Plane für Sie mitzutheilen, wenn Sie mir vorher ein paar Fragen beantworten wollen. Haben Sie Liebe für das Landleben? Denken Sie, Sich auf Ihren Gütern aufzuhalten?

Ich bin auf dem Lande geboren, und die Herren von Arten haben stets auf ihren Besitzungen gelebt, es ist ein Herkommen unter uns, gab er abermals ausweichend zur Antwort.

Das fing Paul endlich doch zu verdrießen an. Wir haben es hier nicht mit Ihren Familien-Traditionen, Herr von Arten, sondern mit Ihren Möglichkeiten zu thun, sagte er schärfer, als er bis dahin zu dem Freiherrn gesprochen hatte, und zu der Uhr emporsehend, fügte er hinzu, daß ihm in einer halben Stunde eine Geschäftsbesprechung bevorstehe, daß er also genöthigt sei, dem Freiherrn in großen Umrissen die Möglichkeiten und Maßnahmen vorzuzeichnen, mittels deren er es für thunlich halte, die Arten'schen Verhältnisse zu ordnen und durch Rettung eines Theiles des Vermögens die Mittel zu einer allmählichen Wiederherstellung desselben zu gewinnen.

Er rieth, Neudorf und Rothenfeld sofort zu verkaufen. Für Neudorf finde sich in dem Baurath Herbert, der einst die [363] Rothenfelder Kirche aufgeführt und bei der Gelegenheit den Werth der Neudorfer Steinbrüche habe kennen lernen, ein Käufer, da der Baurath mit Andern in Gemeinschaft eine regelmäßige Ausbeutung der Brüche unternehmen möchte. Auch auf Rothenfeld sei ein den Zeitumständen nach recht günstiges Gebot gethan. Nach dem Verkaufe dieser Güter werde Renatus die Möglichkeit besitzen, seine Wechselschulden zu tilgen, die hoch verzinsten Hypotheken von Richten theilweise abzulösen und dann Geld von der Landschaft zu geringern Zinsen auf Richten zu erhalten. Sei dies geschehen, so frage er sich, ob der Freiherr es nicht vorziehe, im militärischen Dienste zu verbleiben, in welchem er sich eine ehrenvolle Laufbahn eröffnet und den Weg zu weiterem Vorwärtskommen gebahnt habe. Man mache an einen Privatmann, welchem Stande er auch angehöre, in einer großen Stadt nicht die Ansprüche, die man gewohnt sei, an die Herren von Arten auf ihrem Schlosse zu erheben. Der Hauptmann von Arten könne in der Stadt sehr standesgemäß mit dem achten Theile der Summe leben, welche der Freiherr von Arten einst in Richten alljährlich ausgegeben habe. Ueberantworte man Richten einem rechtschaffenen und vermöglichen Pächter, nachdem man die Bauten hergestellt, das Inventarium vervollständigt und somit die Mittel vorbereitet habe, welche zur Verbesserung des Gutes unerläßlich wären, so werde man sich in der Lage befinden, jährlich einen Theil der auf Richten dann noch haftenden Schulden zu tilgen. Noch im rüstigsten Mannesalter aber könne Renatus dann wieder Herr eines Besitzes sein, der bei den Fortschritten, welche die Bodenkultur nach den neuen Forschungen und Erfahrungen der Engländer und Franzosen nothwendig auch in Deutschland machen müsse, immer noch ausreichend groß genug sein werde, ihm, wenn er dann den Abschied nehmen und, nach seinem Familien-Herkommen, sich auf seinem Gute niederlassen wolle, auch auf dem Lande ein reichliches Leben möglich zu [364] machen und den Seinen ein schönes Erbe zu werden. Wolle Renatus aber jetzt gleich den Dienst aufgeben, um sich auf sein Stammgut zurückzuziehen, nun, so bleibe ihm nichts übrig, als den Degen ehrlich mit dem Pfluge zu vertauschen, die Landwirthschaft gründlich als einen Beruf zu erlernen, die Bewirthschaftung seines Gutes selbst zu übernehmen und zu sehen, in wie weit es ihm gelinge, mit tüchtigen Gehülfen das Gut zu heben und seine Bedürfnisse mit seinen Einnahmen in das Gleiche zu setzen, wobei denn freilich auch auf die unüberlegten Ausgaben der Baronin Vittoria Rücksicht genommen, und die Erziehung des jungen Freiherrn Valerio in eine andere Richtung als bisher geleitet werden müßte.

Renatus hatte ihm schweigend zugehört. Als Tremann dann geendet hatte, dankte Jener ihm für diese gewiß sehr richtigen und höchst wohlgemeinten Auseinandersetzungen und für seine Rathschläge; aber, sagte er, ich sehe und fühle, wo der Punkt liegt, den Sie bei Ihren Planen für meine Unternehmungen nicht in's Auge fassen und den ich unberücksichtigt zu lassen nicht im Stande bin, ja, den ich, selbst wenn ich es über mein Gefühl vermöchte, nicht unberücksichtigt lassen darf. Mein Onkel, Graf Berka, bemerkte mir gestern mit Recht: dem Kaufmanne, dem bürgerlichen Gewerbetreibenden, Ihnen zum Beispiel, habe alles, was Sie erwerben, nur seinen wirklichen Werth. Alles, was Sie besitzen, ist Ihnen Geld, ist Ihnen Mittel zum Zwecke. Sie geben selbst den erworbenen, liegenden Besitz mit voller Freiheit und ohne jegliches Bedenken auf, sobald es Ihnen paßt, und es ändert sich in Ihrem Sein damit nicht das Geringste, wenn Sie ein Haus, ein Gut kaufen oder es verkaufen und wieder zurückkaufen, wie der Anlaß sich eben dazu bietet. Wir aber, wir befinden uns in einer solchen Lage nicht. Unsere Verhältnisse sind völlig anders. Wir, sagte er mit besonderer Betonung, wir sind durch langjährigen Besitz Eins geworden [365] mit unserem Grunde und Boden, mit unserem Lande und unseren Schlössern. Wir tragen ihren Namen, sie sind unser Unterscheidungszeichen. Ein junger Baum – setzen Sie ihn von seinem heimathlichen Boden fern, wohin Sie wollen – er kann auch in der fremden Erde wachsen und gedeihen. Ein Stamm, der, weithin schattend, durch Jahrhunderte seine mächtigen Wurzeln durch dasselbe Erdreich forterstreckte ...

Geht aus, fiel Paul ihm in die Rede, wenn er den Boden ausgesogen hat, aus dem er seine Nahrung schöpfte.

Das ist wohl möglich, entgegnete Renatus mit einem Ausdrucke von Schwermuth in seiner Stimme, die der Andere an ihm noch nicht wahrgenommen hatte, das ist möglich; aber es ist sicher, wenn Sie es unternehmen, ihn zu entwurzeln und ihn zu verpflanzen. Und tief aufathmend, setzte er hinzu: Sie sprechen zu mir mit einem Antheile, den ich dankbar anerkennen muß. Indeß Sie haben nur die eine Seite meiner Verhältnisse im Auge, und Sie vermögen die andern in ihrer ganzen Bedeutung wohl nicht zu ermessen. Sie sagen mir: verkaufen Sie Neudorf. Aber Neudorf war der erste Besitz unseres Hauses. Der Hochmeister Winrich von Knipprode belehnte im vierzehnten Jahrhundert meinen Ahnherrn, nach der Schlacht von Rudau, mit der Feldmark Neudorf. Neudorf ist seit nahezu vierhundert Jahren unser Eigenthum. Es wäre mir, wenn ich Neudorf fortgäbe, als zöge ich mir den Boden unter den eigenen Füßen fort, um mich darauf zu verlassen, daß ich im Nothfalle fliegen lernen werde. Das vermag ich nicht. Sie sagen mir: verkaufen Sie Rothenfeld, und Sie bedenken nicht, daß in der Rothenfelder Kirche, die meine Eltern aufgerichtet haben, jetzt die Gebeine meiner Eltern, meiner Ahnen ruhen, daß ich von ihnen die fromme Pflicht ererbte, in Rothenfeld eben jenes Stift für katholische Knaben zu erhalten.

Es wird Ihnen das in keinem Falle lange mehr möglich [366] sein, warf Paul abermals dazwischen, auch wenn Sie Sich nicht zu der gedachten durchgreifenden Aenderung vermögen.

Und nun vollends Richten verpachten, das Haus veröden lassen, sagte Renatus wie zu sich selber, das seit mehr als hundertfünfzig Jahren uns von Geschlecht zu Geschlecht geboren werden und sterben sah? Unmöglich, ganz unmöglich – es muß einen anderen Ausweg geben!

Tremann erhob sich; seine Geduld war erschöpft, seine freie Zeit zu Ende. Ich begreife Ihre schmerzlichen Empfindungen, sagte er, und ich hatte nicht erwartet, daß Sie Sich leichten Herzens zu den schweren Schritten entschließen würden. Aber täuschen Sie Sich darüber nicht, Herr von Arten, Sie haben keine Zeit, Sich Ihren Empfindungen zu überlassen. Ich sehe, und es gibt sicherlich für Sie keinen anderen Ausweg, als den, welchen ich Ihnen angedeutet habe. Sie müssen Neudorf und Rothenfeld verkaufen, Sie müssen Richten verpachten, wenn Sie Sich nicht zu persönlicher Arbeit bequemen mögen, die, wie ich fürchte, auch gegen Ihre bisherigen Gewohnheiten und wahrscheinlich ebenfalls gegen die Ueberlieferungen Ihres Hauses verstößt. Ich habe das Amt, mit dem Sie mich betrauten, nur bis zu Ihrer Rückkunft übernommen. Wollen Sie Sorge dafür tragen, daß Ihrer Frau Stiefmutter jetzt ein anderer Curator, Ihrem Bruder baldigst ein anderer Vormund gegeben werde, und wollen Sie es mir ermöglichen, daß ich in Bälde die Papiere, die ich in meiner Obhut habe, einem Anderen, vielleicht weniger Beschäftigten überliefern kann, so wird das meinen eigenen Arbeiten zu Gute kommen und ich werde es Ihnen danken.

Renatus hatte sich jetzt auch erhoben. Er schnallte den Säbel wieder um, nahm den Czako zur Hand, und so auf's Neue in voller Uniform, entschuldigte er sich gegen Tremann, daß er ihn also lange aufgehalten, ohne von seinen guten Absichten [367] und Meinungen den von Jenem erwarteten Nutzen gezogen zu haben. Er versprach, sobald es ihm irgend thunlich werde, Paul's gänzliche Entlastung zu bewirken, verhieß, die Arten'schen Akten und die Vormundschafts-Papiere seines Bruders in kürzester Zeit an sich zu nehmen, und sie trennten sich darauf höflich, aber kalt.

Der Freiherr sprach allerdings dem Kaufmanne seinen Dank und seine Anerkennung zu wiederholten Malen aus; Paul nahm dieselben auch mit seiner gewohnten guten Weise hin, indeß sie waren sich durch diese Begegnung um keinen Schritt näher getreten, sie hatten sich nur weiter und entschiedener als je von einander getrennt empfunden.

Als Paul dann auf der Wendeltreppe, die er sich aus seinem Arbeitszimmer nach Daviden's Wohnstube hatte legen lassen, hinaufstieg, fand er die beiden Frauen seiner bereits wartend. Er umarmte die junge Mutter, reichte Seba die Hand, und als sie ihn mit ihren immer noch schönen Augen ruhig und heiter anblickte, umarmte er auch sie. Er fühlte eine große Zärtlichkeit für sie, weil es ihm gelungen war, von ihrem Herzen eben heute eine Kränkung abzuwenden.

Trotz seiner Freundlichkeit merkte Davide, deren Liebe sie hellsehend machte, dennoch, daß ihm etwas nicht ganz recht sein oder daß er eine Unannehmlichkeit zu überwinden gehabt haben müsse, und sie fragte, um ihm Anlaß zur Mittheilung zu geben, weßhalb er sie also lange habe auf sich warten lassen.

Ich habe verschiedene Besprechungen gehabt, und zuletzt war Herr von Arten, der gestern von Paris gekommen ist, sehr lange bei mir, gab er ihr zur Antwort.

Und wie hast Du ihn gefunden? rief Seba, in welcher die Theilnahme für den Sohn ihrer Angelika sich augenblicklich wieder regte.

Er ist ein schöner Mann geworden, breitschulterig und [368] kräftig, ein sehr schöner Mann, gab er zur Antwort, während er sich zum Imbiß niedersetzte.

Und wie ist er sonst geworden? fragte Jene noch einmal.

Nicht anders, als er gewesen ist. Es geht ihm wie dem Herrscherstamme der Bourbonen, von deren Hofe er nach Hause kommt. Er hat nichts gelernt und hat nichts vergessen.

Was will das in seinem Falle besagen? erkundigte Davide sich, der die Mißstimmung ihres Gatten jetzt erklärlich wurde.

Was das sagen will, mein Kind? Nun, er möchte sein Leben genießen, wie sein Vater und seine Ahnen es genossen haben; möchte wie sie die Herrschaften besitzen und geachtet leben und sterben wie sie. Er hat auch recht viel schöne Empfindungen – nur zur Arbeit hat er keine Lust.

Die Frauen schwiegen. Sie mochten sich erinnern, daß sie es gewesen waren, die Paul gegen seine Absicht überredet hatten, sich mit den Arten'schen Angelegenheiten zu befassen, und da er dieses wohl errieth, sagte er, gleich darauf bedacht, ihnen jede Reue zu ersparen: Macht Euch um meinetwillen darüber keine Sorge, meine Lieben! Ich erleide durch Renatus keine Enttäuschung, habe obenein in dieser Verwaltung mancherlei erfahren und gelernt, das mir gelegentlich von Nutzen sein wird; und auf eine Handvoll Arbeit mehr kommt es mir glücklicher Weise nicht an.

Und Du glaubst, daß er sich nicht rathen lassen, sich nicht ändern werde? erkundigte sich Seba noch einmal.

Nein; denn wie sollten Menschen, die sich für eine besondere Abart halten, sich verständig in die der großen Gesammtheit gemeinsamen Bedingungen der Gegenwart zu schicken wissen? – Er schüttelte das Haupt und sprach danach sehr ernsthaft: Täuscht Euch nicht darin: Alles und Jedes hat nur einen zeitweisen Bestand, eine zeitweise Möglichkeit des Bestehens. So gewiß als die fortschreitende Cultur die gemeinschädlichen Thiere in die [369] Einöden zurückdrängen und endlich völlig ausrotten muß und wird, so gewiß muß und wird die fortschreitende Bildung, die in dem Leisten und Schaffen den höchsten Beruf des Menschen, und in der Freiheit und Genuß bereitenden Arbeit ihre höchste Ehre erkennt, über alle die Geschlechter hinweggehen, die ohne Nutzen für die Gesammtheit leben und, sich von ihr ausschließend, sich hinter Vorrechten und Vorurtheilen verschanzen und halten zu können glauben. Was werthlos für das Allgemeine ist, muß untergehen; und kein Adelsbrief und keine Großthat irgend eines Ahnen kann dagegen schützen, kann die Allgemeinheit schadlos halten für unberechtigte Ansprüche und für hochmüthige Arbeitsscheu. Mögen sie zu Grunde gehen!

Er hatte dieses Verdammungsurtheil, dessen letzte Worte in seinem Munde und in seinem ernsten Tone etwas Gewichtiges und Furchtbares gewannen, noch nicht beendet, als die Wärterin ihm seinen Knaben in das Zimmer brachte. Der derbe Bursche streckte dem Vater die kleinen Arme entgegen, und kaum hatte dieser ihn auf seinen Knieen, als der Knabe sich mit allen seinen Kräften aufzurichten strebte, um das Stück Brod zu erlangen, das in einiger Entfernung vor dem Vater auf dem Tische lag. Die Frauen lachten über die lebhaften, wenn auch noch ungeschickten Bewegungen des kleinen Menschen, und ihm emporhelfend, rief der Vater mit sichtlichem Vergnügen: So recht, so recht, mein Sohn, hilf Du Dir selber zu Deinem Brode – ich hab's eben so gemacht – und ich denke, das soll uns wohl bekommen! Geh' nur gerade darauf los!

Und in bester Laune kehrte er nach kurzer Unterbrechung in sein Comptoir und zu seiner täglichen Arbeit zurück.

[370]
17. Capitel
Siebzehntes Capitel

Renatus ward den ganzen Morgen durch seine Dienstgeschäfte und seine geselligen Verpflichtungen in Anspruch genommen. Er hatte sich bei seinen Vorgesetzten vorzustellen, alte Bekannte und Freunde aufzusuchen, und überall fand er einen Empfang, der ihn die unangenehmen Erörterungen der ersten Morgenstunde bei seinem wenig tiefen Sinne leicht vergessen machte. Allerdings wurde auch von seinen Vorgesetzten wie von seinen Freunden die Frage, ob er im Dienste bleiben oder sich auf seine Güter begeben werde, mehrfach angeregt, aber es geschah in einer Weise, welche deutlich kund gab, wie man bei einer solchen Entschließung an die vollste Freiheit von seiner Seite glaube und höchstens den Wunsch seiner künftigen Gattin, denn man deutete ihm überall an, daß man um sein Verlöbniß mit der Gräfin Rhoden wisse, als einen ihn bestimmenden Einfluß in Betracht bringe.

Wohin er kam, begegnete er einer großen Zufriedenheit und den besten Hoffnungen für die Zukunft des Vaterlandes, in welche denn selbstverständlich die besten Aussichten für den Einzelnen immer mit eingeschlossen waren. Man rühmte sich nicht, wie Renatus das in Frankreich erlebt hatte, eines gewaltsamen Rückschrittes in die Zustände der Vergangenheit, aber man sprach es in den militärischen und adeligen Kreisen doch unzweideutig aus, wie man froh sei, daß jene Tage einer unnatürlichen Aufregung nun überstanden und überwunden wären, in denen die Masse des Volkes über ihre eigentlichen Grenzen [371] hinausgetrieben und, freilich durch die Nothwendigkeit, ihrem häuslichen Leben wie ihrem Berufe und Gewerbe abwendig geworden war. Man erkannte mit Zufriedenheit, wie der Strom der Bewegung jetzt auf's Neue richtig eingedämmt, in sein altes Bett zurückgeleitet werde, und wie die natürliche Gliederung der Stände sich gleichsam von selber wieder herstelle, seit man in den höchsten Kreisen die schönen, würdigen Formen der Etiquette wieder strenger aufrecht halte. Besonders jedoch versprach man sich von der Verbindung der Königstochter mit dem russischen Thronfolger, dessen Gesinnungen und Charakter man höchlich pries, wie von dem engen Anschlusse an das conservative Oesterreich, daß man nun auch in Preußen schnell den phantastischen, demagogischen Freiheitsgelüsten, die einer ruhigen Entwicklung des Staatslebens im Wege ständen, das Ende machen werde. Und da man von oben herab einzelnen hartbedrängten adeligen Grundbesitzern mit großen Darlehen zu Hülfe gekommen war, sah man, wenn in Preußen auch nicht die Milliarde von Franken in Aussicht stand, mit welcher man die Ausgewanderten in Frankreich entschädigt hatte, doch für den Adel des Landes sehr beruhigt und hoffnungsreich in die Zukunft hinaus.

Als Renatus dann am Abende, wie er es versprochen hatte, seinen Oheim besuchte und ihm von seinem Tagewerke Rechenschaft geben sollte, gestand er diesem, daß er dieses Tagewerk, wie er es nannte, mit einer Uebereilung, ja, recht eigentlich mit einer Dummheit angefangen habe.

Der Graf begehrte natürlich zu wissen, was das heißen solle, und sein Neffe entgegnete: Ich habe gegen die ersten Grundsätze der Kriegführung gesündigt und dafür eine Schlappe davongetragen. Ich habe mir unnöthig eine Blöße gegeben, die ich mir hätte sparen können, hätte ich, wie sich's gebührte, erst den Grund und Boden und die Gegend genau untersucht, in die ich jetzt fast als ein Fremder zurückgekommen bin.

[372] Er erzählte darauf, wie er, statt sich erst zu seinen Freunden zu begeben, gleich am Morgen zu Tremann gegangen sei, wie dieser ihm eine Besorgniß erregende Rechenschaft über seine Angelegenheiten abgestattet, wie er selber sie im trübsten Lichte angesehen und wirklich an nichts als an den Untergang gedacht habe. Um sich aber wegen dessen, was er jetzt als seinen thörichten Kleinmuth bezeichnete, zu entschuldigen, gab er dem Oheim zu bedenken, daß er die Eindrücke seiner Kindheit, in welcher er den hohen Adel Frankreichs flüchtig durch die Welt habe ziehen sehen, niemals los geworden sei, und daß er sich, von seinem Stammbesitze abgetrennt, so elend wie ein Verstümmelter, ja, wie ein Mensch ohne seinen natürlichen Schatten erscheinen würde. Er berichtete, von dem Drange nach Mittheilung dazu verleitet, alles, was er von Tremann erfahren hatte, ließ es nicht unerwähnt, daß Herbert, der dem Grafen dem Namen nach aus den früheren Zeiten wohl bekannt war, auf Neudorf Absichten hege, daß auch von einem Käufer für Rothenfeld die Rede gewesen sei, und der Graf hörte ihm, ohne ihn zu unterbrechen, geduldig zu.

Dann, als jener geendet hatte, sprach er: Ja, sie regen sich gewaltig, diese Herren vom Geldsacke und von der Hacke, und man könnte wirklich mitunter meinen, das goldene und das eiserne Zeitalter rückten gleichzeitig, und zwar zu unserem Verderben, auf uns heran. Glücklicher Weise aber hat es keine Noth mit ihnen. Ihre Interessen sind tausendfältig, kreuzen und widerstreben einander, und die unseren sind eines – eines und dasselbe durch die ganze Welt! Ihre Habgier trennt sie von einander, unser berechtigtes Verlangen, das Unserige, seien es Rechte oder Besitzthümer, zu erhalten, zwingt uns zur Einigkeit. Wir gipfeln in dem Throne, den wir stützen, sie suchen nach einer Gestaltung, die Alle auf gleiche Höhe stellt, und sie verflachen und vernichten sich auf diese Weise, während wir uns [373] durch unsere Gliederung und Unterordnung zugleich vertiefen und erheben. Es hat keine Noth mit ihnen und mit uns! Ich habe sie unter den Franzosen studirt und kennen lernen, diese republikanischen Grafen von vorgestern und Prinzen von gestern! – Er lachte. – Du hast ja selber Proben von ihnen hier bei mir gesehen. Schmutziges, habgieriges Gesindel, das Jeden für käuflich hielt, weil es selber käuflich war!

Renatus hörte dem Grafen nicht ohne Wohlgefallen zu, aber er wurde an seinen eigenen Erinnerungen und Erlebnissen irre. Indeß wie alles in sich Vollendete, hat auch die vollendete Heuchelei für denjenigen, der einer solchen nicht fähig ist, etwas, das ihn wenigstens für Augenblicke und oft für lange Zeit beherrschen und blenden kann, besonders wenn ihre Aeußerungen den persönlichen Ansichten und Wünschen dessen begegnen, an den sie gerichtet sind; und alles, was Renatus von seinem Oheim vernahm, war dazu geeignet, ihn zu beruhigen. Freilich entsann er sich gar wohl der Vorschläge und Anträge, welche der Graf ihm eben hier in diesem Zimmer zur Zeit der französischen Herrschaft gethan hatte; er erinnerte sich auch aller der Gerüchte, die über seinen Oheim in Umlauf gewesen waren, und des Tadels und der Unzufriedenheit, ja, des schweren Kummers, zu welchen derselbe seiner eigenen Familie Anlaß gegeben hatte. Aber der Freiherr hatte in Paris eine große Anzahl von Männern kennen lernen, von deren stürmisch durchlebter Jugend, von deren auffallenden Sinnesänderungen man sich ebenfalls das Abenteuerlichste zu erzählen wußte, und es hatte das nicht gehindert, daß man ihnen Ehre und Achtung zollte, wenn sie endlich zu einer würdigen Abklärung ihres Lebens, zu Ueberzeugungen durchgedrungen schienen, mit denen man sich einverstanden zu erklären vermochte. Wie durfte der Neffe auch an der ehrlichen Wandlung und sittlich-patriotischen Erhebung seines Oheims zweifeln, wenn der König, in dessen unbedingter Verehrung der [374] junge Freiherr auferzogen und den er gewöhnt worden war, als die irdische Verkörperung der höchsten Gerechtigkeit zu betrachten, den Grafen zu Gnaden angenommen und ihn mit einem seiner höchsten Orden ausgezeichnet hatte? Der Autoritätenglaube, welchen er zu den Pflichten seines Standes zählte, zwang den Freiherrn, das eigene Urtheil der Ansicht seines Königs unterzuordnen, und anzuerkennen, gelten zu lassen und zu verehren, was dem Landesherrn, dessen menschliche Beschränktheit doch natürlich stets auf fremdes Urtheil, auf fremde Angaben zurückzugehen sich genöthigt sah, von Dritten als ein Ehrenwerthes und als der Anerkennung würdig geschildert worden war.

Sein Vertrauen in des Oheims Einsicht steigerte sich beständig, und die mannigfache Kenntniß, welche derselbe von allen praktischen Dingen zu haben schien, überraschte den Neffen. Auch über Tremann's Angelegenheiten zeigte der Graf sich völlig unterrichtet. Er erzählte, wie Tremann von der Flies das von Arten'sche Grundstück in der Hauptstadt an sich gebracht, wie er es parzellirt, wie er die Bewilligung erhalten habe, hinten im Garten dem Wasser entlang eine Straße anzulegen, und wie er sich dadurch nicht nur aus einer bedenklichen Verlegenheit gerettet, sondern auch ein namhaftes Capital gewonnen und seinen großen Credit aufrecht erhalten habe.

Sie haben sich, sagte der Graf, zusammengethan, wie ich neulich hörte, als ich einmal ausnahmsweise, denn ich liebe meine eigene Küche, mit einem Bekannten im Hôtel zu Mittag aß; sie haben sich zusammengethan, Euer Steinert, dieser Tremann und der Baurath Herbert. Sie sind es, die ihre Absichten auf Neudorf und auf Rothenfeld gerichtet haben. Sie wollen bei Euch in der Provinz, wo der Boden und der Arbeitslohn noch billiger sind als hier, Fabriken anlegen, Oelund Zuckersiedereien, und, was weiß ich, was sonst noch Alles. Steinert, der Marienfelde schon besitzt, soll so viel als möglich [375] von dem Rohprodukte auf eigenem, den Fabriken gehörendem Boden erzielen. Herbert übernimmt die Bauten. Steinert's Sohn haben sie ein Jahr hindurch in England gehabt und nun nach Amerika hinübergeschickt, damit er sich in dem Fabrikwesen umsehen solle, und Tremann, der jetzt hier bereits wieder zu den großen Firmen zählt, findet für jede seiner Unternehmungen Theilnehmer und Capital, wobei denn, wie sich das nach Meinung dieser Leute wohl gebührt, dem Erfinder der Löwenantheil anheimfällt. Die Continentalsperre hat sie alle klug gemacht, und was wir Bonaparte auch nachzutragen haben, die Industrie des Festlandes hat er mit einem Federzuge um Jahrhunderte gefördert.

Der Graf erwähnte darauf noch in derselben abfertigenden Weise verschiedener anderer Gewerbtreibenden, die in kurzer Zeit große Vermögen erworben hatten; aber Renatus hörte es nicht mehr. Es war ihm unheimlich, zu denken, wie Andere sich bereits Rechnung auf Gewinn von dem Ertrage seiner Güter machten; und wie sich in solcher Lage die Vorstellungen dem Menschen leicht zum Bilde verkörpern, kam er sich wie ein von Jägern vorsichtig umstelltes Wild vor, dem zwar die freie Bewegung innerhalb des Reviers, aber kein Entrinnen mehr vergönnt ist. Er sah sich im Geiste schon auf Richten eingebannt, von Neudorf und Rothenfeld qualmte der Rauch aus den Schloten der Oelmühlen und Zuckersiedereien, er meinte den Donner der Minen zu hören, mit denen man in den Steinbrüchen hinter Neudorf die Felsen sprengte, und von seinem Mißempfinden fortgerissen, rief er: Wenn ich mir denke, daß diese Compagnie sich bei uns einzunisten denkt ....

Wo denken sie sich denn nicht einzudrängen? erwiederte mit lachendem Achselzucken der Graf. Und vor Allen dieser Monsieur Tremann! Da – er stand auf, ging an seinen Schreibschrank, schob einige Papiere, die auf demselben lagen, [376] mit rascher Hand zur Seite, und seinem Neffen ein Blatt hinhaltend, fügte er hinzu: Da, lies einmal, welch eine Epistel ich heute von dem Patron erhalten habe.

Renatus that, wie Jener begehrte; indeß die Wirkung des Schreibens war eine andere, als der Graf erwartet haben mochte, denn mit sichtlicher Mißbilligung fragte sein Neffe: Aber wie konnte das auch geschehen? wie konnte die Person zu diesen Briefen kommen? Da Sie ihr dieselben nicht gegeben haben können, so muß sie sie entwendet haben. Was werden Sie denn thun?

Was ich thun werde? lachte der Graf, Nichts! Ich werde dem Herrn Tremann die Zeit vergönnen, den Landwehr-Major zu vergessen, der ihm noch im Kopfe spukt, und sein Arten'sches Blut, an das er sicherlich auch mit Vergnügen denkt, allmählich zu beruhigen. Wenn man als verständiger und gewiegter Mann sich noch um solche Jugendsünden kümmern sollte, da hätte man viel zu thun, vorausgesetzt, daß man ein Paar rothe Backen besessen und gesunde Glieder in der Uniform gehabt hat. – Aber den Scherz bei Seite! Du denkst doch hoffentlich jetzt nicht daran, Deine Angelegenheiten diesem Tremann noch länger zur Ausbeutung zu überlassen?

Renatus sagte, wie Tremann selbst gefordert habe, daß er ihn davon entbinden möge.

So thue es, je eher, desto lieber! sprach der Graf. Du bist jetzt hier, gehst jetzt nach Hause. Sieh' Dir an, wie die Verhältnisse dort sind, und da ja zwischen heute und morgen nichts entschieden zu werden braucht, so kann man überlegen, was zu machen ist. Bringe mir die Berichte einmal her, vielleicht vermag ich etwas für Dich zu thun. Ich komme im Frühjahre in unsere Provinz. Der Regierungs-Präsident, der Direktor der Landschaft sind alte Freunde von mir. Man muß die Dinge nur anzufassen, höchsten Ortes richtig darzustellen wissen! Es [377] geht Unsereinem nicht gleich an Hals und Kragen, und wenn man sich bei Anlaß Deiner Hochzeit an die rechte Stelle wendet, so kommt man Dir, da Hildegard und die Mutter sehr geschätzt sind, wohl zu Hülfe. Sind wir denn Hans und Kunz, daß wir uns nur mit so brutalen Mitteln wie Krethi und Plethi aus der Affaire ziehen könnten?

Der Graf war bei diesen Auseinandersetzungen äußerst heiter geworden. Das wirkte auf Renatus vortheilhaft zurück. Nach kurzer Berathung kamen der Oheim und der Neffe dahin überein, daß der junge Freiherr gleich jetzt an Tremann schreiben und die sofortige Aushändigung der Geschäftsakten und Dokumente begehren solle, weil Renatus sie mit sich zu nehmen wünsche. Das brachte die Unterhaltung denn auch auf die Abreise des Freiherrn, und der Graf rieth ihm mit einer gewissen Dringlichkeit, dieselbe zu beschleunigen und auch seine Hochzeit so bald als möglich zu begehen. Da dies seinem Neffen beides auffiel, sagte Jener unumwunden, Renatus möge nicht vergessen, daß er gegenwärtig der letzte Arten sei und daß er seinem Hause schulde, endlich für die Erhaltung dieses alten Geschlechtes Sorge zu tragen. Nebenher sei Hildegard durch den langen Brautstand muthlos und an sich selber irre geworden, habe ein Mißtrauen in Renatus' Zuneigung zu ihr, und es sei auch für Renatus selber nöthig, daß er sich von dem Gerede frei mache, das über ihn im Gange sei.

Der junge Freiherr fuhr auf. Er begehrte zu wissen, was das sagen wolle; sein Oheim suchte ihn zu beschwichtigen, und da Jener in ihn drang, meinte der Graf, er selber habe nicht recht dahinter kommen können, um was es sich dabei handle. Graf Stammburg, der Attaché der preußischen Gesandtschaft, welcher dieser Tage mit Privat-Depeschen von London angekommen sei, habe das Gerücht von einem Liebeshandel, einem Bekehrungsplane, einer Verführungs- oder Entführungsgeschichte [378] hierhergebracht, in welcher der Name eines katholischen Geistlichen mit Renatus' Namen und dem Namen der bekannten Schönheit, der Gräfin Haughton, wunderlich verschlungen zu gleicher Zeit genannt worden wären. So viel stehe fest, daß die englische Gesellschaft die Gräfin zurückgewiesen, daß sie sich auf ihre Güter begeben habe und in das Ausland zu gehen beabsichtige. Käme sie bei ihrer Reise etwa nach Berlin, so sei es, was auch immer zwischen ihr und dem Freiherrn vorgegangen wäre, gewiß das Beste, wenn derselbe bei ihrer Ankunft nicht in der Hauptstadt und wo möglich schon vermählt sei, um sich damit gegen seine eigenen Erinnerungen wie gegen die möglichen Ansprüche der Gräfin eine Schutzwehr zu bereiten.

Renatus war sehr betroffen. Er konnte es nicht ertragen, von sich und von Eleonoren in solcher Weise sprechen zu hören oder einen Verdacht gegen seine Ehre auf sich sitzen zu lassen. Um sich zu rechtfertigen, erzählte er dem Oheim seine Erlebnisse bis in ihre kleinsten Einzelheiten, und es war lange nach Mitternacht, als die Beiden noch bei einer Flasche Wein beisammen saßen.

Der Graf war ein vortrefflicher Zuhörer. Er verstand zu fragen, sprechen zu lassen und zu schweigen. Als Renatus aber alle seine Mittheilungen geendet und dem Grafen selbst sein erkaltetes Empfinden für seine Braut nicht verborgen hatte, rieth dieser ihm nur noch entschiedener, gleich an einem der nächsten Tage nach seiner Heimath aufzubrechen. Er pries Hildegard in gewohnter Weise auf das wärmste, meinte, jedes Feuer erlösche, wenn man es zu lange ohne Nahrung lasse. Auch Renatus brauche nur in der Nähe seiner Braut zu sein, um die alten Flammen wieder auflodern zu fühlen. Dazu gab er ihm des Königs bekannten Widerwillen gegen alles, was irgend nach einem romantischen Abenteuer aussähe, zu bedenken. Es sei nicht rathsam, meinte er, wenn der König jetzt zum ersten Male von [379] Renatus, gerade auf Anlaß eines so vieldeutigen Gerüchtes, sprechen höre, ohne daß man durch den Hinweis auf seine nahe Vermählung mit einer ihm von Jugend auf verlobten Braut jene Verdächtigungen entkräften könne. Für die Herstellung von Renatus' Vermögen und Besitz sei des Königs Gunst die erste und die einzige Bedingung, und die Gräfin Rhoden, die Mutter wie die Töchter, besäßen diese Gunst.

Der Graf kam allmählich auch auf die Baronin Vittoria zu reden, erwähnte mit Bedauern, daß sie seinen verstorbenen Schwager wohl manche unangenehme Erfahrung habe machen lassen, und meinte, da heute einmal zwischen ihnen Alles, wie es sich zwischen so nahen Blutsverwandten und zwischen Männern zieme, welche die Welt und das Leben kennen gelernt hätten, durchgesprochen würde, so wolle er Renatus denn auch vertrauen, daß er in Bezug auf dessen Stiefmutter ein sehr wichtiges Dokument besitze. Es sei ein Brief, der Brief eines im Felde gebliebenen italienischen Offiziers an die Baronin. Er, der Graf, sei sonst, wie Renatus es heute gesehen habe, eben kein sorgfältiger Aufbewahrer von Papieren, indeß dieses sei ihm doch der Mühe werth erschienen, und da man nicht wissen könne, wie Alles sich einmal im Leben füge, so sei er bereit, es Renatus auszuhändigen.

Die Mittheilung kam dem Freiherrn höchlich unerwünscht. Sein Schamgefühl wie sein Ehrgefühl lehnten sich gegen diese Enthüllung des Verrathes auf, welchen Vittoria gegen seinen Vater begangen hatte; und daß ein Anderer, als eben er und sein verstorbener Vater, sich das Recht zuerkennen durfte, seine Stiefmutter zu verurtheilen, that ihm auch um ihretwillen weh. Wäre er seiner ersten Eingebung gefolgt, so würde er das Anerbieten von sich gewiesen haben, aber die flüchtigste Ueberlegung ließ ihn erkennen, daß ein Zeugniß gegen die Baronin, gegen die Frau, die seines Vaters Gattin gewesen war und seines [380] Hauses Namen trug, nicht in fremden Händen bleiben dürfe; und sich überwindend, sagte er so ruhig, als er es vermochte, daß er es seinem Onkel natürlich nur Dank wissen könne, wenn er ihm den Brief abtreten wolle.

Der Graf holte ihn also sofort herbei. Der Zufall spielt oft wunderbar, meinte er. Ein Italiener, der uns hier zur Zeit des russischen Feldzuges im Hause erkrankte und am Typhus starb, hatte das Blatt an Vittoria in seiner Brieftasche. Die Weißenbach, welche des Kranken gewartet und dann später sein Hab und Gut an sich genommen hat, brachte mir das Schreiben.

Es war in der That nur ein einzelnes Blatt, wie man es aus einer Schreibtafel herausreißt, los zusammengelegt, mit Bleistift geschrieben, die Buchstaben und die Zeilen unregelmäßig; man mußte annehmen, daß ein Kranker, ein Sterbender sie hingeworfen hatte. Die Aufschrift aber war von einer anderen Hand. Sie trug in festen, sichern Lettern Vittoria's Namen mit genauer Angabe ihres Wohnortes und der Stadt, in deren Nähe Schloß Richten gelegen war.

Ohne den Neffen anzusehen – und diese Rücksicht wußte Renatus sehr zu würdigen – reichte er ihm über die Schulter hin das Blatt. Wer weiß, wie Du es einmal brauchen kannst, Deine Stiefmutter im Zaume zu halten, sagte er. Ich habe, wie ich Dir bekennen will, durch die bloße Andeutung, daß ich von dem Dasein eines solchen Briefes wisse, Ruhe und Frieden in Richten geschafft, und die Gräfin und Hildegard haben mich seitdem für einen großen Psychologen, ja, für einen halben Zauberer angesehen. Du wirst viel zu schlichten und zu schaffen finden, denn auch der Junge ist ein wahrer Satan, aber vielleicht auch ein Genie, und wenn Du etwa von dem Briefe einmal Gebrauch zu machen denkst ....

Das werde ich niemals! fiel Renatus ihm in die Rede.

Hüte Dich, mein Lieber; man soll so etwas nicht sagen! [381] meinte der Graf. Das Leben nimmt uns oft sonderbar beim Worte!

Es entstand eine Pause; Renatus schickte sich zum Fortgehen an. Der Graf fragte ihn, wann er nach Hause zu reisen denke, und er entgegnete, daß er schon morgen aufbrechen möchte, daß er jedoch erst noch einmal zu Tremann gehen und seine Papiere an sich nehmen müsse. Der Graf hingegen meinte, daß Renatus deßhalb ja nicht noch einmal mit Tremann zusammen zu kommen brauche, sondern daß diese Sache sich auch schriftlich abthun lasse; und nach kurzem Hin- und Widerreden kamen sie überein, daß der Graf gleich jetzt zwei Zeilen an Tremann schreiben solle, um dem Neffen ein neues unwillkommenes Begegnen zu ersparen.

Der Graf, der es unter der Franzosenherrschaft wohl gelernt hatte, rasch und gewandt mit der Feder umzugehen, setzte sich sofort an seinen Schreibtisch nieder. Warte, sagte er, dabei kann ich ihm gleich auf seinen ritterlichen Brief von diesem Morgen die ihm gebührende Antwort vergönnen. Als er geendet hatte, bot er seinem Neffen das Billet zur Ansicht dar. Es lautete:

»Mein Neffe, der Freiherr Renatus von Arten-Richten, welchen der Wunsch, seine Heimath und seine Braut baldmöglichst wiederzusehen, zu beschleunigter Abreise veranlaßt, hat mich beauftragt, die sämmtlichen in Ihrem Gewahrsam befindlichen, ihm zustehenden Papiere und Dokumente von Ihnen zurückzufordern. Ich ersuche Sie also, mir dieselben gegen einen von dem Freiherrn unterzeichneten Empfangsschein zustellen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit bemerke ich zugleich auf Ihr Schreiben von heute früh, daß es mir gegen die Ehre und gegen die sittliche Pflicht eines jeden Mannes zu verstoßen scheint, entwendete Papiere käuflich an sich zu bringen, daß es aber fern von mir ist, Sie deßhalb zu einer Rechenschaft zu ziehen, da jene mir entwendeten Briefschaften völlig werthlos für mich sind.«

[382] Der Graf sah, daß die letzten Zeilen dieses Briefes nicht nach dem Sinne seines Neffen waren, aber er wußte dem Ausdrucke dieses Mißfallens vorzubeugen. Man muß diesen Herren doch gute Sitten lehren, sagte er spöttisch, und ihnen zeigen, wie ein Cavalier mit Ihresgleichen umzugehen hat. Sie möchten sich am liebsten auch in der Gesellschaft in Reihe und Glied mit Unsereinem stellen, weil sie einmal im Felde neben uns gestanden haben. Aber die Tage folgen einander und gleichen einander nicht! wie die Franzosen richtig sagen.

Er ersuchte Renatus darauf, ihm den Empfangsschein, dessen er für Tremann benöthigt war, zu schreiben. Sie verabredeten, daß sie am nächsten Tage noch zusammen speisen wollten, und Renatus, der von der Menge der verschiedensten Eindrücke aufgeregt war, trug jetzt selbst ein Verlangen, nach Richten zu kommen, um seine Zustände und Verhältnisse einmal durch eigene Anschauung und Erfahrung zu prüfen und wo möglich zu einem Abschlusse zu bringen, der es ihm vergönnte, sich in Ruhe auf sich selber zu besinnen.

[3]
Viertes Buch
1. Capitel
[3] [5]Erstes Capitel

»Die Tage folgen einander und gleichen einander nicht!« wiederholte sich der Freiherr, als er in seiner Reisekalesche einsam durch die tief verschneiten Haiden gen Osten nach seiner Heimath fuhr.

Er empfand das jetzt noch lebhafter, als es sich ihm bei seiner Reise durch Deutschland dargestellt hatte. Gerade sechs Jahre waren es her, seit er mit dem preußischen Contingente, am Ausgange des Winters, denselben Weg gegangen war; aber sie waren dahin, die jugendlichen Liebes- und Ruhmesträume, welche ihm damals die Brust geschwellt hatten. Ihm winkte jetzt nicht mehr das Wiedersehen mit seinem Vater, nicht mehr die Aussicht, mit seinen fröhlichen Kameraden in seiner Väter Schloß heitere Tage zu verleben, und Vittoria und ihren Sohn in Freuden zu umarmen. Er war noch jung genug, indeß die großen Ereignisse, die ungewöhnlichen Schicksalswechsel, die er an sich hatte vorüberziehen sehen und in denen er selbst betheiligt gewesen war, die Gefahren und Nöthen, die er überstanden, die Vorgänge in seiner Familie und namentlich die Erfahrungen, die sich ihm in Paris in den letzten Wochen und Monaten aufgedrängt hatten, machten, daß er sich älter, in der That weit älter dünkte. Dazu trat die Sorge jetzt nahe und näher an ihn heran.

So lange er in Frankreich gewesen war, hatte er sie wie eine ferne, weit entlegene Gebirgsreihe nur in unbestimmten [5] umrissen und nur gelegentlich vor sich gesehen. Jetzt, da er sich auf der altbekannten Straße wiederfand, da jede Station ihm eine halbvergessene Erinnerung wachrief, tauchte auch die ganze Kette seiner Sorgen immer deutlicher vor ihm empor, und er konnte, wohin er den Blick auch wendete, es nicht hindern, daß sie sich hoch und höher aufzuthürmen schienen, bis er sich endlich wie von ihnen umringt und seinen ganzen Horizont von ihnen in einer Weise eingeschlossen fühlte, daß es ihm jeden freien Ausblick hemmte und ihm den Athem einzuengen drohte.

Was ging ihm nicht alles durch den Kopf! – In diesem Gasthofe war er gewesen, als er mit seinen Eltern, in Begleitung der Herzogin, nach der Stadt gefahren war. Er erinnerte sich, wie man ihn in den Wagen der Herzogin gebracht hatte, damit die Mutter Ruhe hätte, und wie heiter sein Vater an dem Tage gewesen war. Vor jenem Kruge hatte man ihm auf der Rückreise zu trinken geben lassen, und der Krüger hatte nach der Frau Baronin gefragt, die unter Seba's Obhut mit dem Caplan in der Stadt schwer krank zurückgeblieben war. Nun lebten sie alle nicht mehr: nicht sein Vater, nicht seine Mutter, nicht der Caplan und nicht die Herzogin! Und wie ihm das auch weh that, sie konnte er nicht beklagen. Das Leben dünkte ihm kein so großes Glück. Brauchten sie alle es doch nicht zu hören, was er von Tremann und von dem Grafen hatte hören müssen! Er dachte mit einer zärtlichen Genugthuung daran, daß sie mit weniger beschwertem Sinne, als er, durch ihr Dasein gegangen waren, und daß nur er allein die Erbschaft ihrer Sorgen auf sich nehmen mußte. Sie hätten denselben zu stehen nicht mehr vermocht.

Vor dem Hause, vor welchem er auf seinem eiligen Ritte nach dem väterlichen Schlosse damals, als er seinem Regimente Quartier bestellen wollte, mit Steinert zusammengetroffen war, mußte er auch jetzt wieder verweilen. Man hatte die Posthalterei [6] dahin verlegt, es war die letzte Station, auf der er seine Pferde wechselte. Der Posthalter, der den jungen Freiherrn trotz der sechsjährigen Entfernung augenblicklich wiedererkannte, bewillkommte ihn mit lebhaftem Zuspruche. Wie vor sechs Jahren, hatte Renatus jedoch auch jetzt keine Neigung, darauf einzugehen. Jetzt wie damals fürchtete er, irgend welche ihm unwillkommene Berichte zu vernehmen, denn Gutes war ihm von Hause schon seit langer Zeit nicht mehr gekommen. Und sich wie Einer, der geschlafen hat und weiter zu schlafen denkt, tief in die Wagenecke zurücklehnend, befahl er, sobald die Pferde vorgelegt waren, weiter zu fahren.

Es war noch früh am Morgen, als das Schloß sich vor seinen Augen erhob. Die Stattlichkeit desselben freute ihn, da er es jetzt zum ersten Male als sein Eigenthum begrüßen sollte, aber seine Besitzesfreude war nicht rein. Wehmüthige Erinnerungen und schwere Sorgen warfen ihre trüben Schatten über sie.

Man hatte am verwichenen Tage die Kalesche des Freiherrn auf Kufen gesetzt und die Räder untergebunden, denn der Schnee lag hier noch auf dem ganzen Lande fest. Er reichte vor den niedrigen Häusern der Insassen bis an die halbverstiemten kleinen Fenster hinauf. Nun steckten aus den Thüren sich hier der Kopf einer Alten, dort ein paar Kindergesichter unter ihren dicken Pelzmützen hervor, als mit dem Schalle des Posthorns zugleich das Klingeln der Schlittenschellen ertönte, und der Schlitten, von den starken Gäulen fortgezogen, eilig durch das Dorf fuhr.

Die winterliche Einsamkeit, das Anschlagen der Hunde, das sich von Hof zu Hof fortsetzte, bis es aus dem Bereiche des Schlosses an des Freiherrn Ohr klang, hatten etwas Melancholisches für ihn, dem jetzt seit Jahren das belebte Treiben der heitersten aller Städte zu einer lieben Gewohnheit geworden war. Da er sich in Berlin so plötzlich zum Aufbruche entschlossen und auch seine Abreise von Paris schneller, als er es erwartet hatte, [7] gekommen war, konnte man hier in Richten natürlich auf seine Ankunft noch nicht vorbereitet sein.

Das eiserne Gitter in dem Hofthore war geschlossen, kein Laden in beiden Stockwerken geöffnet. Man hätte das Schloß für unbewohnt ansehen können, wäre nicht aus den Schloten der Rauch emporgestiegen.

Der Postillon ließ auf's Neue sein Horn erklingen, um Einlaß zu erhalten. Der Freiherr betrachtete während dessen, wie der graue Rauch, von der Sonne erhellt, an dem lebhaft gefärbten Himmel in graden, sich kräuselnden Säulen in die Höhe stieg, die Gegend, das Klima, sein Schloß und sein ganzer Zustand kamen ihm plötzlich so fremd, so wenig als zu ihm gehörend vor, daß er über die Gleichgültigkeit erschrak, mit der er, hier umherschauend, auf das Oeffnen seines Hauses wartete.

Der Bursche, der das Thor aufmachte, kannte den Freiherrn nicht. Er war noch ein Knabe gewesen, als Renatus fortgegangen war. Aber der Stallknecht, der hervorkam, riß voll freudiger Bestürzung seine Mütze von dem Kopfe und rief, während er sich mit den Händen gegen die Lenden schlug, dem Schlitten nachlaufend: Der Herr! Herr Jesus, unser junger, gnädiger Herr ist da! der Herr ist da!

Der Ruf brachte im Hofe Alles schnell in Bewegung. Der Kutscher, ein Paar der andern Leute eilten nach der Rampe. Die Thüre des Schlosses ward rasch aufgemacht, es kamen ein Diener, einige Mägde zum Vorschein, man umringte Renatus, man küßte ihm die Hände, aber es waren lauter fremde Gesichter. Nicht Einer von den Leuten, die früher im Schlosse gewesen waren, fand sich unter den Begrüßenden, so daß es dem Schloßherrn endlich eine wirkliche Erquickung war, als Vittoria's italienische Kammerfrau, ihr rothseidenes Tuch wie sonst um das dicke, schwarze Haar geschlungen, aus einem der unteren Zimmer zum Vorschein kam.

[8] Wo ist die Signorina? fragte Renatus lebhaft, und der bloße Klang dieses einen Wortes erwärmte ihm das Herz.

Hier, Signor, hier! Im Bette! Sie schläft noch, aber sie wird glücklich sein über ein solches Erwecktwerden! Kommen Sie, kommen Sie, Herr Baron! Wie glücklich wird meine Signorina sein!

Die treue Seele ließ dem Freiherrn kaum die Zeit, sich seines Pelzes und seiner Reisestiefel zu entledigen; dann ihn mit sich fortziehend, öffnete sie die Thüre von Vittoria's Gemach und meldete mit ihrer starken, lauten Stimme: Signora, liebe Herrin, unser Herr ist da! Unser junger Herr, unser Herr Baron!

Das Feuer brannte hell im Kamine, Gaetana riß die Fensterläden auf, daß die emporkommende Sonne durch die gefrorenen Scheiben blendend hell hineinschien, und von dem grellen Lichte schnell erweckt, richtete Vittoria sich auf ihrem Lager rasch empor, sah den Eintretenden mit ihren mächtigen Augen voll Erstaunen an und rief dann, ihm ihre Arme entgegenbreitend: Renatus, lieber Renatus, mein Sohn, mein Freund! Aber welche Freude, aber welch ein Glück!

Sie konnte sich nicht genug thun. Er hatte sich zu ihr niedergebeugt, sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn wieder und wieder.

Wie Du schön geworden bist, wie groß, wie stark! sagte sie Mal auf Mal, und wenn sie ihn von sich entfernt hatte, als könne sie ihn nun besser betrachten, so zog sie ihn wieder zu sich heran, um ihn auf's Neue zu umarmen. Plötzlich aber brachen ihre Thränen gewaltsam hervor, und die Augen verhüllend, sprach sie: Ich glaubte, ich sei alt, sehr alt! Aber nur ein Bißchen Hoffnung, nur ein Sonnenstrahl des Glückes, und das Leben und die Jugend sind wieder da! – O, ich bin jung wie Du, seit ich Dich wiedersehe!

[9] Ehe er es hindern konnte, hatte sie in der Freude seines Herzens seine Hand ergriffen und an ihre Lippen gedrückt. Ihre Warmherzigkeit, die Rückhaltlosigkeit, mit welcher sie sich an ihre Empfindung hingab, bezauberten Renatus, und wie ihr in der lebhaften Bewegung das seidene Tuch vom Haupte glitt, daß die Fülle ihres schwarzen Haares sie und ihr volles, marmorfarbiges Gesicht umfloß, übte auch ihre Schönheit den alten, lieben Reiz auf ihren Stiefsohn aus.

Sie fragte nach seinem Ergehen, aber sie fragte, wie es die Weise ihres phantastischen Sinnes war, bald nach Diesem, bald nach Jenem. Er sollte erzählen, und doch war sie es, die ihm erzählte, wie traurig, wie verlassen sie hier im Schlosse lebe, wie schön Valerio geworden sei, wie sie es hier gar nicht ertragen haben würde, hätte sie Valerio und Cäcilie nicht gehabt, hätte sie sich nicht damit getröstet, daß Renatus wiederkommen und seiner armen, kleinen Mutter das Leben wieder leicht und lieblich machen werde. Nur des Freiherrn, ihres verstorbenen Gatten, erwähnte sie mit keinem Worte, und Renatus mochte ihre Freude durch keine schmerzliche Erinnerung stören. Es fiel ihr gar nicht ein, daß Jemand, der von einer Reise kommt, ein Verlangen nach Nahrung oder den Wunsch hegen könne, sich umzukleiden. Sie dachte nicht daran, daß er von der mehrtägigen Fahrt ermüdet sein müsse; selbst daß sie aufstehen und sich ankleiden lassen könne, kam ihr nicht in den Sinn. Sie war froh und glücklich, sie war immer noch die alte Vittoria, die im Augenblicke ihre Welt zu finden wußte, und wie sonst riß sie Renatus mit sich fort, daß er sich fröhlich und erquickt in ihrer Nähe fühlte.

Mit einem Male jedoch erhob er sich von dem Sessel, auf welchem er vor Vittoria's Lager Platz genommen hatte, und sich selber scheltend, sprach er: Aber ich sitze hier bei Dir, Signorina, und ich muß zu meiner Braut, zu Hildegard!

Das ist wahr! so geh', so eile! Sie wird sich freuen, die [10] gute Hildegard! Aber sie ist immer unwohl, immer unwohl, die gute Hildegard! entgegnete Vittoria.

Auf seine Frage, was seiner Verlobten fehle, fügte die Baronin hinzu, Hildegard habe den Schnupfen, immer den Schnupfen, sie sei immer erkältet und leide, wie sie sage, an den Nerven. Sie behaupte, die Sehnsucht habe sie krank gemacht. Nun aber sei er ja da, nun also werde sie genesen.

Renatus konnte den Spott in den Worten seiner Stiefmutter nicht überhören, indeß er mochte sich nicht gleich in dieser Stunde mit den kleinen Mißhelligkeiten und Eifersüchteleien befassen, deren Aeußerungen er in jedem Briefe gefunden, welchen er von Hause erhalten hatte, und schnell die Treppe und den langen Korridor hinaufgehend, folgte er dem Diener, der ihn bei der Gräfin ansagen sollte, während er selbst in seine Zimmer zu gehen und sich nach der langen Fahrt umzukleiden wünschte, ehe er vor seiner Braut erschien. Er hatte jedoch den Korridor noch nicht verlassen, als eine in Bewegung bebende Stimme die Worte ausrief: Wo ist er? Ach, wo ist er? Und da er, diese Stimme erkennend, sich umwendete, eilte Hildegard mit ausgebreiteten Armen, den Kopf wie in einer Verzückung erhoben, auf ihn zu und drückte ihn stumm und sprachlos, als wolle sie ihn nicht mehr lassen, an ihr Herz.

Die Mutter, die Schwester waren ihr auf dem Fuße gefolgt, der Diener stand dabei, das Kammermädchen, welches den Frauen einige Kleidungsstücke zuzutragen hatte, kam ebenfalls den Gang herauf, und wenn diese Begegnung in dem kalten Vorsaale, im Beisein einer ihm fremden Dienerschaft, schon nicht nach dem Wunsche des jungen Freiherrn war, so lag in dem Wesen, in dem Tone, ja, selbst in der gewaltsamen Innigkeit, mit welcher seine Braut ihn umarmte, etwas, das, statt ihn zu erwärmen, ihn erkältete, weil es ihn unwillkürlich von sich selber abzog und ihn zum Beobachten nöthigte, wo er sich einer einfacheren [11] Ausdrucksweise der Empfindung arglos und willig hingegeben haben würde.

Fasse Dich, liebe Hildegard, fasse Dich! mußte er sie zu wiederholten Malen ermahnen; aber sie schüttelte stumm und immer noch sprachlos das Haupt, und Renatus war endlich genöthigt, sie mit sanfter Gewalt von seinem Herzen aufzuheben, um die Mutter, um Cäcilie begrüßen und Hildegard in das Zimmer geleiten zu können, wohin die Andern ihnen folgten.

Die Gräfin hatte sich, weil sie in dem fremden Hause so wenig als möglich an dem Bestehenden zu ändern gewünscht, als sie nach Richten gezogen war, in dem sogenannten Fremdenflügel niedergelassen, der einst von der Herzogin bewohnt worden war. Hieher hatte sie ihre Möbel bringen lassen und sich, so weit dies möglich war, ganz so eingerichtet, wie in den Räumen, die sie in der Stadt zuletzt inne gehabt hatte. Hier wie dort hingen die weißen, schlichten Vorhänge in langen, regelrechten Falten an den Fenstern hernieder. Das kleine, alte Klavier, das schlichte Sopha, die Bilder der Königin und des Prinzen Louis Ferdinand, es stand und hing hier Alles so wie dort; auch die strenge Ordnungsliebe, die glänzende Sauberkeit herrschten hier wie dort. Renatus kannte Alles wieder, Alles; selbst den Myrtenstock am Fenster in dem alterthümlichen, gemalten Topfe, und doch war es ihm so fremd, doch ängstigte es ihn – so wie Hildegard's stumme Liebe, wie ihr Blick ihn ängstigte, der sich gar nicht von ihm wendete, wie ihre langen Händedrücke ihn beängstigten.

Was war denn mit seiner Braut geschehen? Die Mutter fand er, wie er sie verlassen hatte. Sie war immer noch die edle, stattliche Frau mit den breiten Wangenflächen, mit dem sanften Lächeln und dem guten, mütterlichen Ausdrucke. Cäcilie war noch gewachsen, war voll, stark und hübsch geworden, weit hübscher noch, als ihre erste Jugend es hatte erwarten lassen; [12] nur Hildegard hatte sich in einer Weise verändert, daß es Renatus schwer fiel, ihr zu verbergen, wie ihn dies überrasche.

In ihrem dunkeln, engen Morgenrocke, mit der fest anliegenden, kleinen weißen Haube über dem glatt gescheitelten Haare sah sie ihm wie eine Nonne, wie eine barmherzige Schwester aus, und ihr Behaben ließ ihn vollends an ihr irre werden. Er kam nicht über die Frage hinaus: Was stellt das vor? was soll das bedeuten? Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß er verurtheilt sei, in einer Komödie eine ihm aufgedrungene und nicht natürliche Rolle zu spielen. Er mißfiel sich in derselben, er fand sich lächerlich in ihr; aber Hildegard mißfiel ihm noch weit mehr. Er war froh, wenn die Mutter, wenn Cäcilie mit ihm sprachen, er konnte es endlich gradezu nicht mehr ertragen, sich von seiner Braut mit dieser schwermuthsvollen Liebe ansehen zu lassen, und von einer plötzlichen Ungeduld ergriffen, fragte er sie, ob sie krank sei.

Krank? O nein, glücklich bin ich, unaussprechlich glücklich, entgegnete sie ihm, so glücklich, daß ich's noch nicht fassen, noch nicht glauben kann!

Aber diese Antwort machte das Uebel ärger, und lachend, um seine wahre Empfindung zu verbergen, sagte er: So will ich mich umkleiden gehen, damit Du Zeit gewinnst, Dich zu beruhigen! – Und den Anderen freundlich zunickend, verließ er sie.

In seinem Zimmer angelangt, warf er seine Kleider von sich und ging mit heftigen Schritten in dem großen Raume auf und nieder. Das Herz war ihm still in der Brust, zum Erschrecken still, und seine Gedanken wirbelten mit einer Schnelle durch seinen Kopf, daß er ihnen kaum zu folgen vermochte.

Es war unmöglich, er konnte sein Wort nicht halten. Dieses Mädchen konnte er nicht heirathen. Daß er Hildegard nicht liebe, das hatte er lange, das hatte er eigentlich schon am Tage nach seiner Verlobung gewußt; dennoch hatte er es für [13] möglich gehalten, sich mit ihr zu verbinden, um seinem Versprechen nachzukommen, und er hatte gemeint, auch ohne die eigentliche Liebe glücklich an ihrer Seite leben zu können. Sie war immer schwärmerisch, immer überspannt, immer von einer großen Empfindsamkeit gewesen. Aber die Schwärmerei, welche ihr vor Jahren einen eigenthümlichen Reiz verliehen, die Empfindsamkeit, die ihn bei dem Abschiede mit sich fortgerissen hatte, kleideten sie jetzt nicht mehr. Sie sah so verblüht aus. Bittoria hatte Recht, man sah es, daß sie beständig kränkelte, daß sie beständig den Schnupfen haben mußte; und dazu diese Gefühlskomödie, dieses Zurschautragen der Empfindung!

Wie schön, wie frei war Vittoria, die man mitten aus dem Schlafe erweckt und die von seiner Ankunft eben so wenig eine Kenntniß gehabt hatte, in ihrer Freude gewesen! Wie herzlich hatte ihn die Mutter, mit wie fröhlicher Zärtlichkeit hatte Cäcilie ihn empfangen! Er brauchte nicht an Eleonore, an dieses herrlichste der Weiber zu denken, um sich zu sagen, daß Hildegard nicht für ihn passe, daß er zu jung, zu lebensvoll und, der flüchtigste Blick in seinen Spiegel rief es ihm zu, ein zu schöner Mann sei, um ein Mädchen wie Hildegard an den Altar und in sein Haus zu führen. Es war unmöglich!

Aber was sollte er thun? Sollte er es ihr gleich jetzt, gleich heute sagen, daß er sie nicht liebe? Sollte er warten und die Zeit walten lassen? War es denkbar, daß sie ihm bei längerem Beisammensein weniger mißfiel? Durfte er darauf rechnen, daß sie vielleicht selber einsehen lernen würde, wie wenig sie und er zusammen paßten? Sollte er ihr schreiben – mit der Mutter sprechen? Sollte er abreisen? – Damit war freilich nichts gewonnen! – Und doch hätte er es am liebsten thun mögen, hätte er nicht nach dem Seinigen sehen müssen und wäre Vittoria nicht dagewesen, die er liebte, die wiederzufinden er so glücklich gewesen war.

[14] Der Diener hatte des Freiherrn Kleider noch nicht ausgepackt, als dieser etwas die Treppe hinaufstürmen hörte, und im nächsten Augenblicke warf sich ein Knabe mit dem Ausrufe: Mein Bruder, willkommen, mein lieber Bruder! ihm in die Arme.

Ein blühenderes, ein schöneres Geschöpf war kaum zu denken. Weit größer, als seine Jahre es erwarten ließen, das braune Gesicht von einer Fülle schwarzen Haares umlockt, die schönen Lippen vom Lachen umspielt, die großen Augen vor Freude funkelnd, und leicht und kräftig in jeder Regung und Bewegung, entzückte Valerio den jungen Freiherrn durch sein bloßes Erscheinen; und jene Liebe für die Kindheit, welche die Frauen meist als ein ihnen besonders eigenes und angeborenes Gefühl bezeichnen, während die Männer sie oft in ganz gleichem, wenn nicht in einem höheren und edleren Grade besitzen, bemächtigte sich urplötzlich seines Herzens. Er konnte nicht satt werden, den schlanken Knaben anzusehen. Er hörte es mit unsäglichem Vergnügen, wie Valerio ihn immerfort seinen Bruder, seinen geliebten Bruder nannte, wie er sich freute, daß der Bruder nun wieder da sei, wie er den Bruder bewunderte, der alle die Schlachten gefochten hatte. Nie zuvor waren die Worte »mein Bruder« zärtlicher an des Freiherrn Ohr gedrungen, es hatte Niemand mit so voller, kindlich vertrauender Liebe zu ihm emporgesehen. Und diese Zuversicht, diese vertrauende Bruderliebe des schönen Knaben, den er hatte geboren werden sehen, den er auf seinen Armen getragen hatte, sollte er Lügen strafen, sollte er jemals wieder entbehren müssen? Nimmermehr! – Vittoria war der Stern seiner Jugend gewesen, ihre Liebe und Freundschaft hatten seine bis dahin einsame und freudlose Kindheit in Glück verwandelt. Jetzt konnte er es ihr vergelten, es ihr in ihrem Sohne mit Genuß vergelten, und er gelobte sich, es zu thun.

Nur mit Widerstreben, nur, um ihn nicht in fremder [15] Hand zu lassen, hatte er den Brief, der gegen Vittoria Zeugniß gab, von dem Grafen Gerhard angenommen. Renatus hatte nicht daran gedacht, ihn jemals gegen sie zu brauchen oder dem Willen seines Vaters entgegen zu handeln. Nur darüber war er mit sich nicht eins gewesen, ob er ihn Vittoria übergeben solle oder nicht, ob es gerathen sei, die alte Wunde aufzureißen und sich zum ausdrücklichen Mitwisser von Valerio's unrechtmäßiger Geburt zu machen, oder ob er besser thue, dasjenige, was begraben sei, auch begraben bleiben zu lassen. Und wie er heute Vittoria wiedergesehen hatte, wie jetzt Valerio in seiner Schönheit und Liebe vor ihm stand, zweifelte er nicht mehr, was hier zu thun ihm zieme. Hätte er sich doch am liebsten selbst vor der Erinnerung an dasjenige bewahren mögen, was diese beiden ihm so theuren Wesen von ihm trennen konnte; und rasch entschlossen, nahm er seine Brieftasche zur Hand, suchte aus derselben den bewußten Brief hervor, betrachtete ihn sorgfältig, um sich zu überzeugen, daß er sich nicht irre, und warf das Blatt dann in das Feuer des Kamins.

Was machst Du da? fragte Valerio, dessen Neugier alles, was der Freiherr that, beschäftigte.

Ich verbrenne einen Brief.

Weßhalb das?

Weil ich Dich liebe, mein Valerio, mein lieber, lieber Bruder! gab Renatus ihm zur Antwort, indem er ihm die Arme entgegenhielt.

Valerio sprang an ihm empor und sagte lachend: Du gibst grade solche Antworten, wie die Mutter.

Der Freiherr fragte ihn, was er damit meine.

O, versetzte der Knabe, solche Antworten, bei denen man nicht weiß, was sie will, und über die man sich freut, auch ohne daß man sie versteht! Aber da Du jetzt zu Hause bist, lieber Bruder, will ich Dir auch Alles sagen und Dich immer fragen.

[16] Der Freiherr, der es wohl bemerkte, wie stolz es den Knaben machte, einen fertigen Mann als seinen Bruder ansprechen und behandeln zu können, forderte ihn, von Valerio's Weise mehr und mehr gefesselt, freundlich auf, mit dem Sagen und Vertrauen nur gleich zu beginnen; indeß Valerio weigerte sich dessen. Noch sei es nicht an der Zeit, noch sei es Winter; aber im Frühlinge, wenn der Schnee geschmolzen und Alles wieder grün sei, dann werde er es ihm schon sagen.

Er fing darauf, während Renatus sich säuberte und kleidete, von der Mutter, von der Gräfin und von Hildegard zu erzählen an: wie Hildegard ihn in die Stadt und in die Schule schicken wolle, wie er Hildegard nicht leiden könne, wie Cäcilie weit besser, aber weit besser sei, und wie auch die Mutter Cäcilien viel lieber habe. Renatus ließ ihn immerfort gewähren, aber er konnte sich aus dem planlosen Geplauder des Knaben doch bald überzeugen, daß derselbe durch das beständige Zusammensein mit Erwachsenen eine bedenkliche Frühreife erlangt und daß man ihm weit mehr als wünschenswerth den Zaum und Zügel habe schießen lassen.

Auf des Bruders Frage, was Valerio denn lerne, was er treibe, entgegnete dieser, der Pfarrer käme Tag um Tag, ihm Unterricht zu geben, und an den anderen Tagen lerne er mit der Mutter und mit Cäcilie Italienisch und Französisch. Hätten die keine Zeit, so zeichne er oder er spiele Klavier. Als Renatus sich erkundigte, wer ihn darin unterweise, sagte er sehr bestimmt, darin unterweise ihn Niemand, das könne er von selbst; und er hatte denn auch gleich, ohne um Erlaubniß zu fragen, aus des Freiherrn Taschenbuch den Bleistift herausgenommen und auf den Rand eines der Papiere, die zur Einwicklung von des Freiherrn Besteck gedient hatten, eine Menge von kleinen Figuren in den wunderlichsten Stellungen und Sprüngen, oft nur mit wenig Strichen, aber mit so vollkommener Sicherheit [17] hingeworfen, daß Renatus sich des Erstaunens und des Lachens nicht erwehren konnte. Sein Wohlgefallen an Valerio ward immer größer. Er meinte, nie eine so reine Freude genossen zu haben, als die Liebe für diesen Knaben sie ihm bereitete, und er begriff seinen Oheim nicht, der mit solcher Wärme und Anerkennung von Hildegard sprechen und dieses schönen, lebensvollen Knaben kaum Erwähnung, und zwar mit Abneigung hatte Erwähnung thun können.

[18]
2. Capitel
Zweites Capitel

Renatus war während der Feldzüge viel umhergeworfen worden. Er hatte gelernt, sich in den verschiedensten Verhältnissen schnell zurechtzufinden und auf verschlungenen Wegen seines Pfades nicht zu fehlen; aber eine so absonderliche Wirthschaft, wie die in seinem Schlosse, war ihm nirgend vorgekommen, und es war ihm leichter, überall leichter gewesen, sich durch fremde Verkehrtheiten durchzuschlagen, als im eigenen Hause und in der eigenen Familie Ordnung zu schaffen, besonders für ihn, der Ruhe und Frieden herstellen sollte, während er keinen anderen Gedanken hegte, als das einzige, in der allgemeinen Uneinigkeit anscheinend fest bestehende Verhältniß, seine Verlobung mit Hildegard, so bald als möglich aufzulösen.

Er kannte das Schloß kaum wieder, er konnte in seinem Vaterhause nicht heimisch werden, und nur allmählich vermochte er es einzusehen, wie man zu einer so grillenhaften Benutzung der verschiedenen Räumlichkeiten gelangt war und weßhalb man sich in einer so unbequemen und unzweckmäßigen Weise eingerichtet hatte. Allerdings hatte Hildegard ihm davon geschrieben, aber die Ungehörigkeit dieser Lebensweise stellte sich in der Wirklichkeit noch ganz anders als auf dem Papiere dar, und der Eindruck, welchen Renatus davon empfing, war ein sehr verdrießlicher.

Vittoria hatte gleich nach dem Tode ihres greisen Gatten die Zimmerreihe verlassen, die sie mit ihm getheilt und die der [19] verstorbene Freiherr auch mit seiner ersten Frau bewohnt hatte. Was sie dazu bestimmt hatte, darüber sprach sie sich nicht aus, aber Renatus konnte es sich denken; und als er dann eines Tages, neben ihr am Fenster stehend, in einer der Scheiben den Namen des Mannes eingeschnitten fand, dessen Brief an Vittoria er vernichtet hatte, blieb ihm kein Zweifel über die Beweggründe, durch welche seine Stiefmutter eben zu der Wahl dieser im Erdgeschosse gelegenen Räume veranlaßt worden war. Da man diese Wohnung seit einem halben Jahrhunderte wenig benutzt und während der Feldzüge die jüngeren Offiziere in dieselben einquartiert hatte, waren die altfränkischen Möbel, die Tapeten, die Vorhänge in denselben sehr arg mitgenommen. Für dergleichen fehlte jedoch der Baronin das Auge ganz und gar. Was sie an diese Räume fesselte, war völlig unabhängig von dem Zustande, in dem sie sich befanden. Ihr genügten sie. Sie schätzte es daneben, daß sie zu ebener Erde lagen, daß sie nicht nöthig hatte, eine Treppe zu steigen, wenn sie während der schönen Jahreszeit sich im Freien aufzuhalten wünschte, und für den Winter hatte sie sich auch nach ihren eigenthümlichen Bedürfnissen eingerichtet. Das schöne, große Bett aus ihrem Schlafgemache, einige Ruhesessel, ein Polsterlager, das sie sich bald nach ihrer Verheirathung hatte machen lassen, ihr Flügel und ihre Musikalienschränke waren in das große Gemach hinuntergebracht, in welchem Tag und Nacht die Feuer in den beiden Kaminen nicht erlöschen durften, weil es Vittoria nie verließ, wenn sie nicht zu einem Besuche in die Nachbarschaft fuhr. Neben ihr wohnten ihr Sohn und ihre Kammerfrau, und obschon es der Letzteren an Sinn für Ordnung nicht gebrach, wollte es ihr jetzt, wo die Baronin, ganz sich selber überlassen, ihren Neigungen nachgeben konnte, nicht gelingen, Herr über die phantastische Unordnung zu werden, in welcher Jene sich schon um deßhalb wohlgefiel, weil sie den entschiedensten [20] Gegensatz zu den Gewohnheiten der Gräfin Rhoden bildete.

Wäre Renatus nicht zu nahe dabei betheiligt gewesen, so würde der Weiberkrieg in diesem Schlosse ihn belustigt haben. Jetzt indessen war das anders. Da Vittoria die eigentliche herrschaftliche Wohnung nie betrat, hatte die Gräfin es auch nicht für angemessen erachtet, sich ihrer zu bedienen; und weil Vittoria oft am Tage schlief und dann bis tief in die Nacht hinein am Flügel musizirte, war die Gräfin darauf bedacht gewesen, sich vor solcher Störung ihrer Ruhe zu bewahren. Vittoria wohnte also im Erdgeschoß des linken Flügels, die Rhoden'sche Familie im zweiten Stockwerk der rechten Seite. Alle übrigen Zimmer waren zugeschlossen, und man hatte zwei Treppen und die ganze Flucht der langen Gänge zu durchwandern, ehe man aus dem einen feindlichen Lager in das andere gelangte. Das hatte jedoch für die Betheiligten nur wenig auf sich, denn die Gräfin und Hildegard vermieden die Baronin so sehr, als es nur möglich war, und Cäcilie, deren blühende Gesundheit die Kälte nicht zu scheuen brauchte, focht die Unbequemlichkeit nicht an.

Schon seit Jahren aß man nicht mehr gemeinsam. Vittoria liebte es nicht, sich an eine bestimmte Stunde zu binden, die Gräfin und Hildegard verlangten auch in diesem Falle nach einer strengen Pünktlichkeit, und wie über die Zeit, so hatten die Frauen sich auch über die Wahl der Speisen nie vereinigen können. Gaetana besorgte die Küche der Baronin, die Gräfin hielt mit ihren Dienstboten nach ihrer Weise Haus. Hildegard warf es Vittoria vor, daß sie sich mit ihrer süßen, fetten Kost unförmlich stark und träge mache, die Baronin hingegen wollte sich nicht zu einer Ernährung bequemen, bei welcher man so wie Hildegard verfalle und an den Nerven leide, und die Folge davon war, daß den ganzen Tag im Schlosse des Kochens und des Bratens kein Ende war, daß der Amtmann über den gewaltigen [21] Verbrauch von Brennholz klagte, daß die beiden Haushaltungen einander der unverantwortlichsten Verschwendung ziehen und daß Renatus gleich in den ersten Stunden von beiden Seiten mit Beschwerden und mit Anschuldigungen, mit Rathschlägen zu einer Aenderung und mit Forderungen und Ansprüchen behelligt wurde, die ihm, eben weil sie sammt und sonders kleinlich waren und den rechten Punkt des Uebels nicht berührten, äußerst lästig dünkten. Das waren jedoch im Grunde alles nur sehr unwesentliche Dinge gegen den Zwiespalt, den Renatus in sich trug, gegen dasjenige, was er mit sich selber und mit seiner Verlobten abzumachen hatte.

Der erste Eindruck, welchen er von Hildegard empfangen hatte, änderte sich auch im längeren Beisammenbleiben nicht. Sie war anderthalb Jahr älter als der Freiherr und nie schön gewesen. Nur die an blonden Mädchen schnell vorübergehende Frische der Jugend hatte sie diesem einst reizend gemacht. Jetzt, wo Renatus auf der Höhe seiner männlichen Kraft und Schönheit stand, näherte Hildegard sich ihrem dreißigsten Jahre, und weil sie magerer geworden war, traten die Kleinlichkeit und die Schärfe ihrer Züge unangenehm hervor. Dazu hatte, wie jedes Zeitalter den Menschen eine bestimmte Physiognomie anbildet, so daß nur wenig bevorzugte Naturen sich unabhängig von dem allgemeinen Typus zu freien und eigenartigen Persönlichkeiten ausbilden, die Stimmung, welche vor und während der Freiheitskriege in Deutschland herrschend gewesen war, auch der jungen Gräfin Rhoden ihren Charakter aufgeprägt. Die schweren Sorgen, welche jeder Einzelne zu tragen hatte, die Nothwendigkeit, für das Allgemeine bedeutende Opfer zu bringen und sich eben deßhalb in seinen eigenen Bedürfnissen zu beschränken, die Ergebung in große Unglücksfälle, zu der so Viele sich veranlaßt fanden, endlich die Selbstverläugnung, welche die deutschen Frauen und Mädchen an dem Siechbette der Verwundeten und Kranken über [22] sich genommen, hatten Hildegard vortrefflich erzogen, aber ihr auch ein eigenthümliches Gepräge aufgedrückt. Sie war sparsam und fleißig, anspruchslos in allen ihren Bedürfnissen, großer, ausdauernder Treue und Hingebung fähig, von einem starken Pflichtgefühle beseelt, und man hätte diese Tugenden vielleicht noch höher schätzen müssen, weil sie dieselben mit vollem Bewußtsein übte und in sich ausgebildet hatte. Grade diese Absichtlichkeit nahm ihr indessen die Natürlichkeit. Die Sanftmuth, deren sie sich befleißigte und die sie in ihrem ganzen Wesen kund zu thun strebte, wurde in ihrem Mienenspiele zu einem süßlichen Ausdrucke, ihre Hingebung ließ sie empfindsam erscheinen, und daneben machte ihre Strenge gegen sich selbst sie gegen die Anderen unduldsam. Mit jener Unerbittlichkeit und Selbstgenügsamkeit, denen man bei beschränkten Menschen, so Männern als Frauen, überall begegnet, hatte sie sich ein Tugendideal geschaffen, dem sie sich nachzubilden trachtete, und ohne den verschiedenen Naturen und Lebensbedingungen der Anderen irgend eine Rechenschaft zu tragen, verwarf sie Alles und Jeden, sofern sie ihrem Ideale nicht entsprachen.

Da sie in all ihrem Thun und Treiben berechnend geworden war, hatte sie bei dem Wiedersehen mit Renatus ihm gleich die ganze Fülle ihrer Liebe und die tiefe Innerlichkeit derselben darzuthun gestrebt. Aber sie hatte sich diese Scene so tausendfältig vorgestellt, sich dieselbe so oft und in allen ihren Einzelheiten so genau und mit so leidenschaftlichen Farben ausgemalt, daß die Wirklichkeit weit hinter der erwarteten Glückseligkeit zurückblieb. Hildegard war also trotz ihrer anscheinenden Versunkenheit völlig im Stande gewesen, nicht nur über sich selbst, sondern auch über ihren Verlobten genaue Beobachtungen anzustellen, und sie waren nicht dazu geeignet gewesen, sie über ihre Zweifel an seiner Liebe zu beruhigen. Schon daß er nicht zuerst nach ihr verlangt hatte, daß er nicht graden Weges zu [23] ihr gekommen war, hatte, wie sie es nannte, ihrem Herzen wehe gethan, und daß er dann so lange mit Valerio in seinem Zimmer und von ihr fern verweilen können, war für ihre Seele noch weit entmuthigender gewesen.

Alle ihre schlimmsten Ahnungen gingen in Erfüllung. Weinend sank sie ihrer Mutter, nachdem Renatus das Zimmer verlassen hatte, in die Arme; unter Thränen kleidete sie sich an; und diese Thränen trugen nicht dazu bei, sie zu verschönern. Es war vergebens, daß die Mutter ihr Muth einsprach, daß sie Renatus mit der Ermüdung entschuldigte, welche die unausbleibliche Folge einer langen Winterreise sei. Obschon auch der Gräfin das Erschrecken und die Kälte des Freiherrn sichtbar genug gewesen waren, gab sie der verzagten Tochter zu bedenken, daß in jeder langen Trennung der Keim zu gegenseitigem Mißverstehen liege. Sie erinnerte Hildegard daran, wie schnell, wie plötzlich einst ihr Verlöbniß mit Renatus geschlossen worden sei und wie das wahrhaft bräutliche Zusammengehören, wie ein Zuversicht gebendes Liebesverhältniß sich noch gar nicht zwischen ihnen habe gestalten können. Vor Allem jedoch warnte sie die Tochter, ihre Zweifel dem Wiedergekehrten zu verrathen. Sie beschwor sie, sich zu erheitern, sich zu schmücken, dem Verlobten unverhohlen die Freude kund zu geben, welche sie empfinde. Aber durch die lange Gewohnheit, sich in ihren Gefühlen mit Selbstbeobachtung und mit Selbstbewußtsein darzustellen, war Hildegard völlig unfähig geworden, sich zwanglos gehen zu lassen, und sie hatte kaum eingesehen, daß die Mutter Recht habe und daß sie wohl thun werde, wenn sie ihr folge, als sie sich auch schon in eine neue Rolle hinein versetzte, die ihr freilich noch weniger wohl anstand, als die bisher von ihr aufrecht erhaltene Kundgebung der stummen Liebe.

Sie war jetzt fest entschossen, ihren Kummer zu verbannen, sie wollte sich mit aller ihrer Energie aus der sehnsuchtsvollen [24] Braut in die glücklich Liebende verwandeln; indeß eine Miene, welche man durch lange Jahre festgehalten hat, läßt sich nicht leicht verwischen. Ihr lächelnder Mund wollte nicht mehr zu dem schwermüthigen Blicke, die Art, in welcher sie sich hüpfend dem Bräutigam an den Hals warf, nicht zu dem elegischen Tone ihrer Sprache passen, und wenn sie bei dem Eintritte des Geliebten nach fröhlicher Kinder Weise in die Hände klatschte, machte das einen solchen Gegensatz zu der wehmüthigen Neigung ihres Hauptes, die ihr zur anderen Natur geworden war, daß Valerio, der nicht von des Bruders Seite wich, und weder gewohnt war, seine Gedanken zu verbergen, noch den Ausdruck seiner Einfälle zurückzuhalten, eines Tages bei Hildegard's Anblick laut zu lachen anfing.

Wie kommst Du denn in ein grünes Kleid, fragte er, und obenein mit solchen langen Locken? Du siehst wie eine vergnügte Trauerweide aus!

Die Gräfin schalt den Knaben. Auch Renatus wies ihn mit strengem Wort in seine Schranken; aber Hildegard mißfiel auch ihm, seit sie zum Aufputze ihre Zuflucht nahm, mehr noch als am ersten Tage, und doch vermochte er das trennende Wort gegen sie nicht auszusprechen. Er konnte sich nicht entschließen, einem Weibe, das ihm liebend gegenüber stand, mit Härte zu begegnen. Er fühlte sich sehr unglücklich, ja, er betrachtete es als eine Erniedrigung, daß er sich genöthigt sah, sich der Zärtlichkeit eines ungeliebten Mädchens zu überlassen, welches offenbar entschlossen war, seine Kälte nicht zu beachten, seine Liebe durch ihre Geduld und Treue zu gewinnen und sich ihm nützlich und angenehm zu machen, indem es schon jetzt die Hälfte seiner Mühen und Sorgen auf sich nahm.

Ohne daß er es von ihr begehrte, sprach ihm Hildegard ihre Ansicht über seine Verhältnisse aus, von denen sie durch ihre eigenen Beobachtungen und Erkundigungen weit vollständiger [25] unterrichtet war, als Renatus es erwartete. Sie hatte denn auch mit reiflicher Ueberlegung jene Plane entworfen, von denen sie ihrem Bräutigam in ihren Briefen zum Oefteren gesprochen, und sie waren natürlich ganz auf jene Ausschließlichkeit des liebenden Beisammenseins berechnet, welchem Hildegard einst in der Stunde der ersten Trennung von dem Verlobten mit dem Ausrufe: Ich und Du – und Du und ich! ihren Ausdruck gegeben hatte.

Ihrem Sinne widerstanden Tremann's Rathschläge, von denen sie sich mit ihren sanften und doch eindringlich bohrenden Fragen bald durch den Freiherrn Kenntniß zu schaffen wußte, keineswegs. Denn Vereinfachung der Zustände war gerade dasjenige, worauf ihr Augenmerk gerichtet war. Sie stimmte daher der Meinung Tremann's auch völlig bei, daß man Neudorf und Rothenfeld verkaufen solle; sie hoffte mit dem Grafen Gerhard, daß der König, wenn er sähe, wie bedrängt Renatus sei und wie sehr er und seine Braut entschlossen wären, ihre Verhältnisse zu regeln, sich ihrer annehmen würde, und sie hatte bereits die genauesten Berechnungen über die Summe angestellt, welche man der Baronin aussetzen müsse, wenn diese mit ihrem Sohne erst an einem beliebigen anderen Orte ein Unterkommen gefunden haben würde. Daß die Gräfin Rhoden und Cäcilie sich mit dem kleinen, ihnen eigenen Vermögen nach der Hauptstadt zurückwenden würden, nahm Hildegard als selbstverständlich an, und sie erging sich also, so oft der Anlaß sich ihr dazu bot, in den Schilderungen des friedlichen und vollendeten Glückes, dessen sie und der Geliebte theilhaftig werden würden, wenn sie, von Sorgen und Widerwärtigkeiten nicht belastet, hier in Richten einzig auf einander angewiesen, einst nur für einander leben würden.

Es lag in dem Ernst der jungen Gräfin eine zwingende Kraft, aber sie hatte die Unart, immer wieder auf denselben [26] Gegenstand zurückzukommen, den Freiherrn an jedem Tage auf die Nothwendigkeit einer Entschließung hinzuweisen und dadurch ihn unablässig an die ganze Schwere seiner Sorgen zu erinnern. Er gestand es sich ein, daß sie in gewissem Sinne Recht habe, daß sie ein tüchtiger, ein ehrenwerther Charakter sei; er ließ sich sogar den Vorwurf von ihr gefallen, daß es ihm an Willensstärke fehle; indeß die Achtung, welche er ihr nicht versagen durfte, fachte die Liebe in ihm nicht wieder an. Sein Bedauern über die Unklugheit, ihr nicht aus der Ferne geschrieben zu haben, was er ihr weder verbergen konnte, noch verbergen wollte, verminderte sich dadurch nicht, und der Unfriede und die grillenhafte Lebensweise, welche in seinem Schlosse herrschten, traten ihm trotz alledem als der Uebelstand hervor, dem zunächst eine Schranke gezogen werden müsse.

Daß er diese Zustände, wie sie sich während seiner Entfernung herausgebildet hatten, daß er namentlich die Doppelwirthschaft nicht fortbestehen lassen könne, erklärte der junge Schloßherr den Frauen gleich am ersten Tage. Er ließ die Wohnung seiner Eltern öffnen, richtete sich in seines Vaters Zimmern ein, ordnete an, daß man um bestimmte Stunden und gemeinsam speisen solle, und wie diese Einrichtungen ihn des Alleinseins mit Hildegard zum Theil enthoben, so zeigten sämmtliche Frauen sich aus Eifersucht gegen einander mit Einem Male seinen Wünschen und Anweisungen fügsamer, als er es erwartet hatte.

Vittoria verließ ihr Gemach und stieg zur festgesetzten Zeit die Treppe bereitwillig hinauf, um der Gräfin und Hildegard die Rechte der Hausfrau in dem Versammlungszimmer und im Speisesaale nicht zu überlassen. Diese hinwieder hielten es für geboten, der Liebe und Zärtlichkeit entgegenzuarbeiten, welche Renatus immer noch für seine Stiefmutter hegte, und da die Einen wie die Andern das Bestreben hatten, den Heimgekehrten [27] festzuhalten, an sich zu fesseln und für sich einzunehmen, mäßigte ein Jeder sich in der Aeußerung und Darstellung des Unrechtes, das er erlitten zu haben glaubte, hielt Jeder sich mit den Ansprüchen und Anklagen, die er erheben zu müssen für nöthig ansah, vorläufig noch in gewissen Schranken zurück. Das gab dem Freiherrn Hoffnung und gewährte ihm eine Genugthuung; denn er besaß noch jenen guten Glauben des Unerfahrenen, welcher alles, was sich um ihn her gestaltet und vollzieht, als sein Werk, als die Folge seiner Anordnungen und Maßnahmen anzusehen liebt, ohne zu bemerken, welchen Antheil die Plane und Berechnungen der Andern daran haben, und ohne es gewahr zu werden, daß er oft nur ein Werkzeug ist, wo er sich als den Herrn und Meister fühlt.

Er zweifelte nicht daran, daß er seinen Willen durchgesetzt habe, als Vittoria plötzlich ihren Flügel und ihre Noten wieder in das Empfangszimmer hinaufbringen ließ; er ging mit Behagen in den Sälen umher, wenn die Frauen sich Abends um ihn versammelten, wenn Vittoria und Cäcilie und Hildegard bei ihren musikalischen Leistungen einen förmlichen Wetteifer verriethen, wenn die Frauen alle sich in freundlicher Zuvorkommenheit gegen ihn und gegen einander plötzlich überboten und keine von ihnen ein anderes Bestreben zu haben schien, als das, sich ihm angenehm zu machen und ihn so weit als möglich zufrieden und glücklich zu sehen.

Die Gräfin, deren Liebling ihre älteste Tochter stets gewesen war und welche jetzt noch mehr als früher wünschen mußte, das nicht mehr junge Mädchen durch die noch immer ansehnliche Heirath mit dem Freiherrn zu versorgen, that, so viel an ihr lag, einen Jeden zur Fügsamkeit in die Anordnungen des Hausherrn anzuhalten und Hildegard zu freundlicher Ergebung, zu gewinnendem Beharren, zu förderlicher Hülfsleistung zu ermuthigen. Es hätte jedoch bei einem Charakter wie dem von [28] Hildegard dieser Ermahnungen kaum bedurft, ja, sie waren im Grunde für sie vom Uebel, denn das Geflissentliche, welches sich in dem Wesen der jungen Gräfin ohnehin mehr, als es dem Freiherrn lieb war, überall verrieth, ward dadurch noch verstärkt. Es langweilte Renatus bald, beständig auf diese immer gleiche, ernste Ergebenheit zu stoßen, und wenn er nach seinen Unterredungen mit seiner Braut, wie Vittoria es nannte, aus dem Norden zu ihr in den Süden hinunterkam, fand er sich von seiner Stiefmutter angenehmer und heiterer unterhalten und in seinen eigenen Anschauungen über Hildegard bestärkt.

Vittoria hatte ihren Stiefsohn immer vor der gefährlichen Sanftmuth und vor der herrschsüchtigen Pflichttreue seiner Braut gewarnt. Jetzt klagte sie dieselbe unumwunden der Arglist und einer niedrigen Gesinnung an. Sie nannte es unschicklich und anmaßend, daß Hildegard, ohne dazu von ihrem Verlobten ermächtigt worden zu sein, mit seinen Beamten verkehrt und von ihnen Auskunft und Rechenschaft über seine Vermögensumstände gefordert habe. Sie bezeichnete es als einen entschiedenen Verrath, daß sie dem Grafen Berka einen Einblick in Verhältnisse eröffnet, den sie selbst sich nur durch ihre Zudringlichkeit erworben habe. Sie beschwerte sich über den herzlosen Hochmuth, den Hildegard beweise, wenn sie ihr, der Wittwe des verstorbenen Freiherrn, der Mutter ihres Verlobten, gleichsam den Thaler nachrechne, dessen sie für ihre kleinen Bedürfnisse benöthigt sei; und als Renatus, dessen offenem und großmüthigem Herzen jede Kleinlichkeit fremd und eben deßhalb auch in Anderen zuwider war, sich eines unwilligen Wortes bei dieser letzten Mittheilung nicht erwehren konnte, rief Vittoria, den Boden ihres Angriffes plötzlich wechselnd: Blick' diesem Mädchen doch nur einmal unbefangen in das verblühte, jeder Anmuth, jedes Liebreizes so beraubte Antlitz! Kannst Du an Liebesworte von den schmalen, blassen Lippen glauben, auf denen das Lächeln gleich zu Eis [29] gefriert? Kannst Du mit Freuden in solchen Armen ruhen? Nein, dieses Mädchen ist zur Gattin, zur Mutter nicht geschaffen! Ich müßte irre werden an Gott und an der Natur, wenn diesem selbstsüchtigen Herzen die Wonne der Mutterliebe jemals blühen könnte!

Vittoria hatte es oft erfahren, daß ihre wilde Beredtsamkeit ihre Wirkung auf den Stiefsohn nicht verfehlte. Wider ihr Erwarten aber blieb er ihr die Antwort schuldig. Das war gegen ihre Absicht, denn die Liebe, welche sie wirklich für Renatus hegte, und das Bewußtsein, daß sie mit ihrer Zukunft zum größten Theile auf seinen guten Willen angewiesen sei, machten sie in der Regel in ihren Aeußerungen vorsichtig. Sie würde sich auch nicht unterfangen haben, Hildegard mit solcher Entschiedenheit anzugreifen, ohne die Ueberzeugung, daß sie den geheimsten Gedanken des Freiherrn mit ihren Aussprüchen begegne, und sie irrte darin nicht, wenngleich er es nicht für angemessen fand, ihr dies einzuräumen.

Nur Eines hatte Vittoria übersehen, daß nämlich in Renatus seit seinem Aufenthalte in der Heimath und in seinem Schlosse sich ein neues Element entfaltete: er begann sich als Oberhaupt einer Familie zu empfinden. An die Unterordnung unter ein solches als an gute, adelige Zucht und Sitte von früh auf streng gewöhnt, gefiel er sich darin, jetzt für sich in Anspruch zu nehmen, was er früher hatte leisten müssen, und die Lage, in welcher die Frauen sich ihm gegenüber befanden, erleichterte ihm die ersten Schritte auf dem Wege zur Herrschsucht, den er, in dem besten Glauben an ihre Nothwendigkeit, betrat.

Er hatte am Tage seiner Ankunft den Bruch mit Hildegard beabsichtigt. Er dachte auch jetzt noch an denselben. Aber die Vorstellung, daß er diesen Schritt später so gut wie jetzt ausführen könne, daß es nur von ihm abhänge, in welcher Weise er sein Schicksal gestalten wolle, und vor Allem die ungewohnte [30] Nachgiebigkeit, der er begegnete, wohin immer er sich wendete, schmeichelten ihm mehr, als er es ahnte. Er täuschte sich darüber keinen Augenblick, daß Hildegard ihm mehr als gleichgültig sei, ja, daß sie ihm mißfalle; und doch konnte er in ihrer Nähe nie vergessen, was der Abbé ihm über die demüthige und hingebende Frauenliebe ausgesprochen hatte, doch mußte er, wie oft und verführerisch ihm Eleonorens Bild eben hier in der Zurückgezogenheit erschien, sich eingestehen, daß eine stolze gewaltsame Natur, wie sie, ihn auf die Länge nicht zu beglücken fähig gewesen sein würde. Denn es ging ihm wie allen den Männern, die in einem unklaren, aber darum nicht weniger richtigen Bewußtsein ihrer eigenen Schwäche vor jeder starken Frauenseele Scheu tragen. Sie sehen die Kraft als einen Fehler in den Frauen an, weil sie ihnen selber mangelt, und eben deßhalb schweben sie beständig in der doppelten Gefahr, von der Berechnung der Frauen absichtlich durch eine zur Schau getragene sogenannte unterwürfige Weiblichkeit getäuscht, oder von der wirklichen Unbedeutendheit gefesselt und beherrscht zu werden.

Selbst die Mißhelligkeiten und kleinen Händel, auf welche Renatus fast an jedem Tage, so sehr man sie ihm zu verbergen strebte, zwischen den einander jetzt mit erhöhter Genauigkeit beobachtenden Frauen stieß, dünkten ihn bald nicht mehr so unerträglich, als in den ersten Tagen und Wochen, denn sie gaben ihm die Gelegenheit, sich täglich der Herrschaft bewußt zu werden, welche er über die Personen ausübte, die er als seine Familie hielt und ansah. Und weil es ihm wider sein Vermuthen und des Grafen Voraussetzungen leicht genug gelungen war, durch sein bloßes Dazwischentreten ein schicklicheres Leben und Beisammensein in seinem Schlosse herzustellen, war er bald überzeugt, daß seine Berather, daß Tremann und Graf Gerhard, der Eine aus Unkenntniß der landwirthschaftlichen Verhältnisse, der Andere, weil ihm bei dem beginnenden Alter die Kraft und [31] Leichtlebigkeit der Jugend nicht mehr zu Gebote ständen, ihm auch von seinen Vermögensverhältnissen ein zu düster gefärbtes und eben darum kein völlig richtiges Bild entworfen hätten.

Er beschloß also, künftig nur seinen eigenen Augen zu vertrauen und sich bei der Ordnung seiner Angelegenheiten vor allen Dingen von dem Sachverhalte selbst zu überzeugen, ehe er sich auf irgend welche eingehende Besprechungen mit seinen Beamten einließ oder sich gar in Verhandlungen mit Dritten weiter vorwärts wagte.

[32]
3. Capitel
Drittes Capitel

Der Winter neigte sich stark zu Ende. Die Tage wurden schon wieder hell. Am Mittage, wenn die Sonne hoch stand, war die Luft leicht und warm, der Himmel dunkelblau, und der Schnee, der den Boden noch bedeckte, wenngleich er von den Dächern und Bäumen weggeschmolzen war, funkelte so hell, daß man sich belebt fühlte, als ob man im Hochgebirge wäre. Auch die lichtfreudige Lerche wirbelte sich schon wieder in gerader Linie aus ihrer Scholle zum Firmament empor und ließ aus ihrer kleinen Kehle ihre jubelnde Frühlingsverkündigung vorzeitig über die Erde hinweg erschallen.

Um, wie er es nannte, nach dem Seinigen zu sehen, hatte Renatus sich gewöhnt, an jedem Mittage auszureiten. Hildegard, die man um ihrer zarten Gesundheit willen das Reiten stets vermeiden lassen, hatte ihn zum Fahren überreden wollen, um ihn begleiten zu können; indeß er hatte das Reiten für bequemer und seinem Zwecke entsprechender erklärt und Anfangs nur Valerio, bald aber auch Cäcilie mit sich genommen, deren lebensvoller Körper sich immer nach starker, durchgreifender Bewegung sehnte.

Eines Tages, als man um die festgesetzte Stunde auch wieder die Pferde für die Reiter auf die Rampe geführt hatte, kam der Freiherr mit Valerio und Cäcilien eben aus dem Schlosse heraus. Er hatte dem Sonnenschein zu Liebe einen Jagdrock von grünem Sammet angezogen, den er auf mancher Jagd in [33] Saint Germain getragen. Er sah ungemein gut in demselben aus, und Hildegard, die, in ihren großen Shawl gehüllt, ein kleines Tuch vorsichtig um das Haupt gebunden, oben in ihrem Zimmer an dem geöffneten Fenster stand, bemerkte das mit Vergnügen. Aber auch Cäcilie sah es. Denn als er diese an ihr Pferd geleitet hatte und ihr seine Hand hinhielt, damit sie aufsteigen und er sie in den Sattel schwingen könne, rief sie Hildegarden die fröhliche Frage zu, ob Renatus nicht sehr schön aussähe oder ob jemals eine Königin einen schöneren Pagen gehabt habe, als sie. Valerio, der bereits auf seinem kleinen Schimmel saß, hatte auch diese Frage kaum vernommen, als er aus voller Brust einige von den Strophen zu singen begann, die Beaumarchais in seinem »Figaro« dem Pagen in den Mund gelegt hat und welche, auf die Marlborough-Melodie übertragen, mit den französischen Heeren durch ganz Europa gewandert waren. Valerio sang mit seiner schönen Knabenstimme:


Beau page! dit la reine,
(Que mon coeur, mon coeur a de peine!)
Qui vous met à la gêne?
Qui vous fait tant pleurer?
Qui vous fait tant pleurer?
Nous faut le déclarer.
Madame et souveraine,
Que mon coeur, mon coeur a de peine!
J'avais une marraine,
Que toujours adorai!

Er wiederholte den letzten Vers zu verschiedenen Malen, warf Cäcilien, mit welcher er auf dem besten Fuße stand, einen Kuß zu und sprengte singend davon.

Inzwischen war Renatus ebenfalls aufgestiegen. Er lenkte seinen Goldfuchs nach der linken Seite der Reiterin, leitete ihr Pferd vorsichtig die etwas glatte Rampe hinunter, und während er unwillkürlich das »Que toujours adorai!« des Knaben [34] nachsang, grüßten er und Cäcilie noch einmal nach dem Schlosse hinauf, ehe sie Valerio folgten, der den Hof bereits verlassen hatte und lustig in das Freie hinausgeritten war.

Hildegard sah ihnen lange nach. Sie vergaß es, daß die Mutter sie gewarnt hatte, sich eben heute, da sie nicht ganz wohl war, der Luft am geöffneten Fenster auszusetzen, die ihr nachtheilig werden konnte. Das fröhliche Singen des Knaben hatte sie traurig ge macht. Wie die Phantasie des jungen Freiherrn sich an den letzten Vers geheftet, hatte ihre Seele sich der immer wiederkehrenden Worte: »Que mon coeur, mon coeur a de peine!« bemächtigt, und sie wußte sich nicht zu sagen, was ihr eben heute so große Betrübniß, so großen Kummer verursachte.

Es zog ihr so schmerzlich am Herzen, es regte sich ein Gedanke in ihr, der ihr früher nicht gekommen war. Sonst hatte das Frühjahr sie erheitert, dieses Mal machte sein Herannahen sie wehmüthig. Was war denn geschehen? Was war denn anders geworden, seit im vorigen Jahre die Sonne den Schnee hinweggeschmolzen und die Lerchen eben so gesungen hatten?

Damals war ihre Seele verwirrt gewesen durch ihre Eifersucht auf die Gräfin Eleonore; damals hatte sie sich nach dem Bräutigam gesehnt und mit banger Zärtlichkeit die Tage und die Stunden gezählt, die bis zu seiner Heimkehr noch vergehen mußten. Jetzt war Renatus da, sie sah, sie sprach ihn täglich, sie hatte ihm das Geständniß abgenommen, daß er die Gräfin Haughton trotz ihrer verführerischen Reize nie geliebt, ja, daß er ihre Hand, die sie ihm in selbstgewissem Freimuthe angeboten, zurückgewiesen habe, und doch konnte Hildegard sich's nicht verbergen, daß sie in den Tagen jenes bangen und doch so zuversichtlichen Sehnens glücklicher als jetzt gewesen sei.

Sie beneidete Cäcilie um ihre unausgesetzte gute Laune, [35] um ihre gedankenlose Fröhlichkeit. Sie beneidete Renatus, der sich mit Valerio und ihrer Schwester, von dem Augenblicke ganz hingenommen, an dem bloßen Sonnenscheine erfreuen konnte. Ihr war das nicht gegeben. Der frühe Tod ihres Vaters, dessen sie sich mit allen Nebenumständen klar erinnerte, die mannigfachen Sorgen, die sie mit ihrer Mutter zeitig schon getheilt hatte, ihre heimliche Verlobung und endlich alle die Erfahrungen, welche sie während der Kriegsjahre hatte machen müssen, hatten ihr den glücklichen Leichtsinn der Jugend geraubt. Ihr Sinn war von jeher ernster als der ihres Bräutigams gewesen, und wie lieb sie ihn hatte, er kam ihr immer noch nicht fertig vor. Sie erschien, sie fühlte sich reifer als er, ihm überlegen. Als sie das einmal in einer vertraulichen Unterredung gegen den Grafen Gerhard ausgesprochen, hatte dieser ihr lächelnd erwiedert, sie könne eben nichts für ihre Berka'sche Abstammung. Den Berka lägen die Verständigkeit und die Energie so gewiß im Blute, wie den Arten der Leichtsinn und der Wankelmuth, und sie sei eben deßhalb wie ausersehen, mit ihren großen Eigenschaften den Schwächen seines Neffen zu Hülfe zu kommen. Ihr werde naturgemäß die Herrschaft im Hause und in der Ehe zufallen, und sie solle bei Zeiten darauf denken, sich des Einflusses zu bemächtigen, welchen sie auf einen Charakter wie den ihres Bräutigams, zu dessen eigenem Heile, nothwendig erlangen müsse.

Sie war sich bewußt, diesen Rathschlägen mit all ihrer Kraft gefolgt zu sein, aber sie erntete davon die Früchte nicht, die sie erhofft hatte. Renatus, wie leichtgesinnt er sich auch gab, hatte das feinste Gefühl für jede ihrer Absichten und war nichts weniger als gewillt, ihr irgend einen Einfluß auf seine Maßnahmen und Entschließungen einzuräumen. Sie hatte es nach den ersten vierzehn Tagen völlig aufgeben müssen, seiner Geschäftsverhältnisse gegen ihn zu erwähnen. Spottend und [36] dann wieder scherzend hatte er sie Schritt für Schritt von dem Boden zurückgewiesen, auf dem sie sich in bester Absicht heimisch gemacht hatte. Was sie ihm leisten, ihm sein konnte und wollte, das begehrte er von ihr nicht; was er in ihr zu finden wünschte, den fröhlichen, ihn stets belustigenden Sinn ihrer um mehr als sechs Jahre jüngeren Schwester, den besaß sie nicht. Sie war nicht jung genug dazu, sie war überhaupt nicht mehr jung.

Das war es, was ihr heute so weh im Herzen that, was ihr das erste Frühlingsahnen in der Luft so schmerzlich machte, und ihr die Thränen in die Augen preßte. Der Frühling war jetzt nahe am Wiederkehren, aber ihre Jugend war dahin und kehrte niemals wieder – niemals wieder!

Heute, bei dem ersten hellen Sonnenscheine, hatte sie es gesehen, hatte ihr Spiegel es ihr unwiderleglich dargethan, sie war verblüht! Die Fältchen in den Augenwinkeln, die Furchen auf der Stirn, die Züge, welche sich von ihrem Munde nach dem Kinn hinuntersenkten, wie leise, wie wenig sichtbar sie auch waren, sie hatte sie heute zum ersten Male an sich bemerkt, und sie zweifelte nicht daran, Renatus hatte sie vor ihr wahrgenommen, denn er liebte sie nicht mehr, und was das Auge der Liebe übersehen hätte, dem Blicke des gleichgültigen Beobachters war es sicher nicht entgangen.

Sie hatte das Fenster längst geschlossen, war längst an ihren Nähtisch zurückgekehrt. Was sollte ihr das helle, unverwüstliche Sonnenlicht? Es vermochte ja nur der Erde, nicht ihr, nicht ihrem Antlitze neue Jugend zu verleihen. Aber war es ihre Schuld, daß sie verblüht war, daß Renatus sich erst jetzt zu seiner vollen Kraft, zu voller Männlichkeit entfaltete, während ihre schönste Zeit vorüber war? Hatte sie es zu verantworten, daß er sie erwählt, daß er sie an sich gebunden hatte durch alle die langen Jahre? Durch alle die langen Jahre, in denen ein frisches, wechselvolles Leben im vollen Weltgetriebe [37] sein schönes Loos gewesen war und die sie theils in schwerer Pflichterfüllung, theils, weil er es also angeordnet, hier in der Einsamkeit vertrauert hatte?

Mit keinem Worte hatte er, seit er zu Hause war, daran gedacht, den Zeitpunkt ihrer Verbindung festzusetzen. Aus mädchenhaftem Zartgefühl, aus Ehrgefühl hatte sie nicht nach demselben fragen, nicht auf dieselbe dringen mögen; aber auch der Zustand, in dem sie gegenwärtig mit Renatus lebte, beleidigte ihr Zartgefühl, trat ihrem Ehrgefühl zu nahe, und doch wußte sie nicht, wie sie ihn ändern, wie sie sich aus demselben befreien könnte.

Es half ihr nicht, daß sie sich schmückte! Sie konnte den verlorenen Jugendreiz damit nicht ersetzen. Es half ihr nicht, daß sie sich in nicht endender Gefälligkeit um Renatus Mühe gab. Das Zufällige, das Vittoria, das Cäcilie ihm leisteten, war immer mehr nach seinem Sinne und hatte den Vorzug, ihm, weil es unerwartet kam, eine Ueberraschung zu sein. Sie hatte es allmählich aufgegeben, ihn zu suchen, weil sie bemerken mußte, wie wenig es ihn freute, sie zu finden; und selbst der Muth, ihn zu berathen, hatte sie verlassen, weil er durch ihre Rathschläge seine Selbständigkeit von ihr angetastet glaubte und oft, sie zweifelte nicht daran, gegen seine eigene Ueberzeugung handelte, um ihr darzuthun, daß er nicht gewillt sei, sich der ihrigen anzuschließen oder gar zu fügen.

Gestern hatte sie, gekränkt von der Sorglosigkeit, mit welcher er sie mehr und mehr sich selber überließ, es ihrer Mutter zum ersten Male ausgesprochen, daß sie fühle, Renatus wolle sie verlassen; er wolle mit ihr brechen und wolle, das Maß seiner selbstsüchtigen Grausamkeit zu füllen, sie dazu nöthigen, die Trennung zwischen ihnen zu vollziehen.

Die Gräfin hatte dies zu läugnen, die Thatsachen in Abrede zu stellen, ihre Tochter zu beruhigen versucht; indeß Hildegard [38] war jetzt nicht mehr zu täuschen. Sie litt mehr als sie es sagen konnte. Alle ihre Hoffnungen waren auf die Ehe mit Renatus begründet gewesen, ihre ganze Vergangenheit, ihre Zukunft wurden ihr mit Einem Schlage zertrümmert, wenn Renatus sich ihr entzog, und, für sie war es gewiß, er hatte sich ihr bereits entzogen.

Es verging kein Tag, an dem sie nicht Ursache hatte, ihm zu zürnen, es war schon mancher Tag gekommen, an dem sie sich gesagt hatte, daß sie ihn von einer unmännlichen Charakterschwäche finde. Wenn sie seiner dachte, und wann dachte sie nicht an ihn? war oft eine Bitterkeit in ihrem Herzen, vor der sie selbst erschrak und die nicht ihm allein galt. Sie zürnte ihrer Mutter, weil diese sich einst ihrer heimlichen Verlobung mit Renatus nicht widersetzt hatte. Sie klagte die Gräfin eines Mangels an Menschen- und an Weltkenntniß an, weil sie nach des alten Freiherrn Tode nicht gleich auf die eheliche Verbindung der Verlobten, oder auf die Lösung des Verlöbnisses gehalten hatte. Denn damals war Hildegard noch jung, noch hübsch, noch voller Lebensmuth gewesen, damals hatte Renatus sie noch geliebt und damals hätte es ihr im schlimmsten Falle an anderen Bewerbern nicht gefehlt, damals wäre sie noch fähig gewesen, sich zu trösten, zu vergessen und ihr Herz neuer Liebe hinzugeben. Aber jetzt?

Mit selbstquälerischer Grausamkeit trat sie an ihren Spiegel heran. Sie strich die Locken, die sie seit der Heimkehr ihres Verlobten wieder zu tragen angefangen, weil er sie einst geliebt hatte, mit einer heftigen Bewegung von ihrer Stirn, sie riß das Bändchen mit dem kleinen Kreuze, das ihr am Halse hing, mit heftiger Hand entzwei. Sie wollte sich nicht mehr schmücken. Es freute sie, daß die blauen Adern unter ihrer schlaffer gewordenen Haut, auf ihrer Stirn, in ihren Schläfen stärker als in jungen Tagen sichtbar waren. Es freute sie, daß die Linie, [39] auf der sich Hals und Nacken einen, jetzt in bräunlicher Farbe scharf hervortrat. Renatus sollte es sehen, was sie um ihn gelitten hatte. Er sollte es sehen, daß er sie verblühen machen, daß er, er allein sie um Jugend und um Glück betrogen hatte. Und er mußte ja kein Mensch, er mußte nicht Renatus, nicht ihr Renatus, nicht ihr angebeteter Geliebter sein, wenn ihr Verfall ihn nicht rühren, wenn er nicht zu ihr wiederkehren sollte, ihr Jugend und Schönheit, Hoffnung, Glauben und Glück mit einem einzigen Liebesworte, mit seiner Liebe wiederzugeben.

Sie verstummte in bittern Thränen, als sie auf weitem Wege wieder zu dem alten Ausgangspunkte gelangt war. Mitten in dem Weinen erhob sie sich aber, und noch einmal trat sie an ihren Spiegel heran. Sie erschrak vor ihrem eigenen Anblicke. So hatte sie, so zerstört hatte sie noch niemals ausgesehen. Den Schmerz konnte sie der Mutter, den Triumph konnte sie Vittoria nicht bereiten. Sie durfte, sie wollte sich nicht sinken lassen, sich nicht verloren geben. Sollte Vittoria die Genugthuung genießen, sie von dem Schlosse gehen zu sehen? Sollte sie, sie selbst mit ihren armen, weinenden Augen, den Tag erleben, an welchem die Mutter in ihren vorgerückten Jahren aus dem Schlosse, das derselben zu einer lieben Heimath geworden war, auf's Neue hinausziehen und sich in der kalten, fremden Welt eine neue Stätte bereiten solle? – Das konnte, das durfte nicht geschehen. Um ihrer Mutter willen mußte sie ausharren und bleiben, mußte sie ihr eigenes Empfinden, ihr eigenes Bedürfen opfern.

Und wenn es dann trotzdem geschah, wenn Renatus es vergessen konnte, was er ihr schuldig war, nun, so sollte sein die Schuld, sein ganz allein auch das Verbrechen sein, das er damit an ihrer armen Mutter, an der edelsten der Frauen, zu begehen sich nicht scheute.

Daß sie selber bei ihren Planen für die Zukunft immer [40] auf die Entfernung ihrer Mutter und ihrer Schwester gerechnet hatte, so lange diese Plane noch auf ein ausschließliches Liebesglück begründet gewesen waren, daran freilich erinnerte Hildegard sich in dieser Stunde nicht.

Noch weniger machte Renatus sich bei seinem fröhlichen Ritte eine Sorge um die Gedanken und um die Zweifel, mit welchen Cäciliens daheimgebliebene Schwester sich eben beschäftigte und quälte.

Es war ein strahlend schöner Tag. Die drei Reiter hatten ihr Entzücken an demselben. Die frische Luft, die sonnebeleuchtete Ebene, die sich nach der einen Seite weit wie der Horizont, und nur von ihm begrenzt, vor ihnen öffnete, hatten für die Phantasie etwas Verlockendes, und sie ritten schnell und schneller, wie man das immer thut, wo dem Auge kein festes Ziel gesetzt ist.

In den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Richten hatte Renatus noch mit erneutem schmerzlichem Bedauern die prächtige Allee vor dem Schlosse vermißt, deren Verschwinden ihn einst so ergriffen hatte, als er in den russischen Krieg gegangen war. Jetzt war er schon völlig daran gewöhnt, das Schloß ohne seine Baumeszierde vor sich zu sehen, und selbst den Verfall an den Häusern und an den andern Baulichkeiten fand er doch nicht so arg, als er es nach Tremann's Darstellungen befürchtet hatte. Seine Feldzüge hatten ihn mit dem Anblicke so entsetzlicher Zerstörungen vertraut werden lassen, daß es ihm keinen bedenklichen Eindruck machte, wenn die Dächer der Scheunen und Ställe, denen einst eine schöne Deckung mit Dachsteinen nicht gefehlt hatte, nur nothdürftig mit Stroh gedeckt waren, wo die Ziegel schadhaft geworden waren. Er hatte so viele Häuser ohne Thüre und ohne Fenster stehen sehen, daß eine eingesunkene Schwelle und schief hängende Thürflügel, daß Verschläge von Brettern statt der Fenster, besonders, wo es sich um die Wohnung von Leuten handelte, die im Grunde doch zufrieden waren, wenn sie [41] unter Dach und Fach nur warm beisammen saßen, ihm nicht als ein Unglück erschienen. Und wie man in einer elenden Baracke bei rauchendem Feuer und auf hartem Boden, selbst wenn man an Nahrungsmitteln keinen Ueberfluß hatte, doch gesund und arbeitsfähig und selbst guten Muthes bleiben könne, das hatte er in seinen Feldzügen an sich selbst mehr als einmal erfahren.

Heute nun vollends, wo die Sonne so herrlich schien und der frische Wind im Walde die Aeste der alten Bäume so lustig knarren machte, heute, wo die Lerche sang, als wisse sie, daß es mit dem Winter nun bald zu Ende sein und über der Furche sich in Kurzem wieder die grünen, weichen Halme schützend wölben würden, heute, wo die kluge Krähe so bedächtig auf dem letzten Reste des Schnee's umherging, als wolle sie mit dem Schnabel ermessen, wie hoch er denn noch liege und wie lange die Sonne wohl noch zu thun habe, bis sie mit ihm fertig werden und die schöne Jahreszeit beginnen könne, heute erschien auch dem Freiherrn seine Lage bereits wieder in ganz anderem Lichte, als an dem Morgen, an welchem er in sein Schloß zurückgekehrt war.

Er war in diesen Wochen überall selbst herumgewesen, hatte überall selbst nachgehört, und mehr noch als bei diesen Ausflügen hatte er von den Leuten erfahren und gelernt, die, weil er ihnen das gestattet hatte, zu ihm gekommen waren, ihm ihre Beschwerden und Wünsche vorzutragen. Sie hatten allerdings geklagt, aber Renatus hatte schon in Friedenszeiten bei seinem Dienste, und dann vollends im Kriege, mit dem gemeinen Manne verkehren lernen. Er wußte, daß derselbe immer klage und daß er leicht zu trösten, daß er mit dem geringsten Zugeständnisse für den Augenblick zu beschwichtigen, ja, zufrieden zu stellen und zu geduldigem Warten wie zu muthigem Hoffen leicht zu bewegen sei.

[42] Der Amtmann war wirklich ein harter Mann, der Justitiarius konnte nichts bewilligen, der verstorbene Freiherr hatte mit den Leuten, deren schwerfällig langsames Wesen ihn belästigte, deren Kleider, selbst wenn sie in ihrem besten Anzuge vor ihm erschienen, nach ihren schlecht gelüfteten Wohnungen übel rochen, nichts zu thun haben mögen. Er war ihnen, namentlich in den späteren Jahren seines Lebens, als der Bau der katholischen Kirche, die Entlassung des Neudorfer protestantischen Pfarrers, und der Todtschlag der französischen Kammerjungfer böses Blut zwischen der Herrschaft und den Leuten erzeugt hatte, nur noch eine Schreckgestalt gewesen, und sie hatten mit ihm gar nichts gemein gehabt. Erst hatte er, wie sie sich's noch jetzt erzählten, die kleine französische Herzogin und den hasenfüßigen Marquis in's Land gebracht, vor dem kein Frauenzimmer Ruhe gehabt; nachher hatte er sich die schwarze Italienerin geholt, mit der auch kein Christenmensch im Lande in seiner Muttersprache reden konnte, und wenn das auch Niemand laut zu sagen wagte, im Stillen waren die Leute sammt und sonders doch der Meinung, daß der alte Freiherr es heimlich mit den Franzosen gehalten habe und nicht dawider gewesen wäre, wenn sie heute hier noch im Lande ihr Wesen getrieben hätten. Er hatte ja im Schlosse auch meistens nur Französisch parlirt mit Frau und Kind.

Jetzt mit dem jungen Freiherrn war das, wie die Leute sagten, ganz was Anderes. Man brauchte ihn nur anzusehen: die helle Ehrlichkeit sah ihm aus seinen großen, blauen Augen. Der hatte seine Knochen und sein Leben nicht geschont. Der war mitgegangen wie der gemeine Mann, als es noth gethan hatte. Der hatte sein Blut ehrlich vergossen für Gott, für König und für's Vaterland, wie der gemeine Mann. Mit dem Wilhelm, mit des Neudorfer Schulzen Aeltestem, war er zusammen in Leipzig im Hospital gewesen, und als der Freiherr, dessen Wunde [43] rascher geheilt war, als des Wilhelm's Bein, dann aus dem Lazarethe abgegangen war, hatte er dem Wilhelm noch eine Flasche Alten und zwei harte Thaler zurückgelassen, daß er sich pflegen und recht zu Kräften bringen solle, ehe er wieder zum Regimente käme. Und nun hier zu Hause! Das war ein ganz anderes Wesen.

Der junge Herr hatte es im Kriege gelernt, daß ein Mensch des andern Menschen Kamerad und Bruder sei. Keinen, auch den ärmsten Einlieger nicht, behandelte er, wie der Alte es gethan hatte. Er sagte zu Niemandem Er, er nannte Jedweden Du, und wie er neulich beim Schulzen in Neudorf gewesen war, da hatte er den Wilhelm eigens rufen lassen, hatte ihn gefragt: Nun, Kriegskamerad, wie geht's Dir? Und wie er danach weggeritten war, hatte er dem Wilhelm die Hand gegeben und geschüttelt. Jeder Mensch konnte zu ihm kommen, und nicht bloß auf die eine bestimmte Stunde, wie zum Alten, sondern wann er wollte.

Dem Berning hatte der junge Herr gleich die Latten geben lassen, die er zum Verschlage hatte haben wollen, und der Backofen war auch in Stand gesetzt, mit dem die Frauen sich alle die Jahre her so hatten quälen müssen. Der Amtmann, der ließ jetzt freilich den Kopf hangen, nun der Herr über ihn gekommen war; aber das war dem hartherzigen Geizhalse recht gesund; und wenn es nun wahr wäre, daß sie den Bonaparte fest in Sicherheit gebracht hätten und daß man den Frieden behielte und der junge Herr zu Hause bleiben konnte, dann mußte Alles noch ganz anders werden. Dann schaffte der Herr den Amtmann ab, dann fing er selber zu wirthschaften an; und daß der Herr dann nicht irgend eine Ausländische in sein Schloß führen, sondern eine Frau von hier zu Lande nehmen würde, daran war gar kein Zweifel. Man brauchte ja nur zu sehen, wie der junge Herr und die junge Gräfin einander [44] Augen machten! Die im Schlosse behaupteten zwar, es sei die blasse Gräfin, gegen die man freilich auch nichts sagen konnte, denn gut und barmherzig und mitleidig mit den Kranken war sie auch; aber so ein schöner, junger Herr wie der Freiherr, der brauchte ja keine Krankenwärterin. Der brauchte ein frisches, junges Weib, und der jüngsten Gräfin lachte das Leben aus den Augen und platzte die Gesundheit fast aus den rothen Backen heraus.

Die Frauen und die Kinder erzählten es sich in den Dörfern, wie der Freiherr und die rothe Gräfin sich mit dem Junker am Sonntage auf der Terrasse lustig mit Schneeballen geworfen hätten, und als sie neulich einmal beim Reiten zu Dreien das Lied gesungen hatten, das der Wilhelm auch immer sang, der es aus dem Felde mitgebracht, da hatte das lustige »Juchheirassassa und die Preußen sind da!« so durch die Luft geschmettert, daß denen im Walde beim Holzfällen sich das Herz in der Brust vor Vergnügen ordentlich gehoben hatte.

Die ganze Vorliebe, welche das Volk, und mit Recht, für die Jugend, für die Schönheit, für die Gesundheit hegt, hatte sich auf Renatus und auf Cäcilie gewendet, in welchen sie dieselben verkörpert fanden, und die Leichtlebigkeit, welcher der junge Gutsherr sich halb mit Bewußtsein, halb aus Bequemlichkeit überließ, wo er es sich nicht schuldig zu sein glaubte, seine Würde besonders aufrecht zu erhalten, machte ihn vollends in den Dörfern und unter seinen Leuten beliebt. Wohin er kam, überall begegneten ihm freundliche Gesichter. Die Kinder blieben stehen und grüßten, die Alten gingen nicht ohne einen herzlichen Anruf an ihm vorüber, und sahen ihn mit Cäcilien und dem Bruder niemals kommen, ohne in die Thüren zu treten und ihm lange nachzublicken.

Mit jedem Tage längeren Verweilens wuchs diese Anhänglichkeit dem jungen Freiherrn mehr ins Herz. Er hatte [45] bis dahin nur den Grund und Boden geliebt, auf dem er geboren war und der ihm gehörte; jetzt begann er die Menschen zu lieben, unter denen er geboren war und die sich als zu ihm gehörend betrachteten. Er fand ein Vergnügen darin, ihre rauhen und doch so freundlichen Gesichter zu sehen, es war ihm eine Genugthuung, wenn er einen Bedrängten so weit als möglich erleichtert von sich entlassen konnte, und mit einem stolzen Selbstgefühle genoß er das Vertrauen, welches man ihm entgegenbrachte, noch ehe er es hatte verdienen können, als eines der schönsten Erbtheile, die er von seinen Vätern überkommen hatte.

Er fand es ganz begreiflich, daß Paul Tremann und daß selbst sein Onkel mit so leichtem Sinne von dem Kaufe oder von dem Verkaufe eines Gutes sprechen mochten. Sie hatten beide kein Gut ererbt, das seit Jahrhunderten von dem Vater auf den Sohn, von Geschlecht zu Geschlecht übergegangen war; sie wußten nicht, was es heißt, auf eigenem Grund und Boden leben, unter seinen Leuten heimisch sein.

Die Bäume, die konnte man niederschlagen und entwurzeln lassen, wenn die Noth es heischte, wie sein Vater es gethan hatte. Sich selbst zu entwurzeln, sich loszureißen von seiner eigentlichen Heimath, das war noch etwas Anderes, und ehe Renatus sich dazu entschloß, mußte seine Lage schlimmer sein, als er sie jetzt vor Augen hatte, mußte er die Ueberzeugung gewonnen haben, daß ihm gar kein anderer Ausweg bleibe. Noch aber hegte er diese Ueberzeugung nicht, und er versprach sich, nichts zu übereilen, sondern sich zu genauem Kennenlernen und Prüfen, zu reiflicher Ueberlegung die Zeit zu gönnen.

[46]
4. Capitel
Viertes Capitel

Darüber kam der Frühling siegreich in das Land. An allen Ecken und Enden begann das Treiben und das Blühen. Renatus hatte seit langen Jahren die Güter nicht im Schmucke der guten Jahreszeit gesehen. Die keimenden Saaten, die knospenden Bäume, die grünenden Büsche freuten ihn ganz anders, als je zuvor, jetzt, wo er sie mit dem Auge des Besitzers ansah. Wind und Wetter, Regen und Sonnenschein bekamen eine Bedeutung für ihn, und die Arbeiten wie die Hoffnungen des geringsten Mannes wurden ihm wichtig, weil sie mit seinen eigenen Nothwendigkeiten und Aussichten zusammentrafen. Es gefiel ihm immer mehr, Grundbesitzer und Hausherr zu sein, er fand auch Behagen an dem Verkehr mit dem Adel der Gegend, mit welchem er durch alte Familienbeziehungen verbunden war; und da der Mensch so glücklich oder so unglücklich geartet ist, daß die Gewohnheit ihn allmählich auch mit demjenigen versöhnt, was ihm Anfangs unertragbar erschienen ist, so war es nicht zu verwundern, wenn Renatus, dessen Natur ohnehin allem Gewaltsamen abhold war, in Bezug auf Hildegard die Dinge gehen ließ, wie sie eben gingen, und von der Zeit eine Entscheidung erwartete, die er zu treffen sich nicht entschließen mochte. Kam ihm dann doch bisweilen der Gedanke, daß diese Handlungsweise oder vielmehr dieses Abwarten nicht redlich, daß es nicht männlich sei, so beschwichtigte er sich mit der Vorstellung, daß es bisweilen edler sei, den Schein der Schwäche und der [47] Unredlichkeit über sich zu nehmen, als sich selbst mit einer Grausamkeit gegen einen Andern, und obenein gegen ein Weib, eine Genugthuung und einen Abschluß zu bereiten, und Hildegard irrte also in der Voraussetzung keineswegs, daß Renatus von ihr die Lösung ihres Verhältnisses erwarte, weil er selber den Muth zu einer solchen nicht in sich fand.

Mit der bestimmten Absicht, sich über die Gutsverwaltung zu unterrichten und aufzuklären, nahm er bei seinem Verkehr mit den benachbarten adeligen Gutsbesitzern jede Gelegenheit wahr, von der Landwirthschaft wie von den Aussichten für die Zukunft der Provinz zu sprechen, und alles, was er dabei hörte und erfuhr, stand mit den Ansichten und Maßnahmen, welche Tremann ihm als die einzige zweckmäßige Handlungsweise vorgezeichnet hatte, sehr im Widerspruche. Das hatte indessen seine guten Gründe.

Es ist ein beschwerlicher Beruf, einem Manne unangenehme Wahrheiten zu sagen, und vollends Jemanden zu entmuthigen, der für sein Wünschen und Hoffen Zuspruch von uns erwartet, ist eine unerfreuliche Sache. Die älteren Edelleute, die Lebensgenossen und Freunde seines Vaters, bei denen der junge Freiherr sich wegen seiner Angelegenheiten gesprächsweise Rath zu holen suchte, gaben ihm zu verstehen, daß die Zeiten für den grundbesitzenden Edelmann allerdings verändert und nicht zum Vortheil verändert wären, seit jeder im Schacher reich gewordene Bürger Besitzer der alten adeligen Güter werden könne. Grade darum aber sei es Pflicht, wenn irgend möglich, den adeligen Grundbesitz nicht zu zersplittern. Ehe man die Güter an Schlächter und Brauer, an Branntweinbrenner und Fabrikanten übergehen lasse, müsse man diese Gewerbe lieber auf den Gütern selbst betreiben und mit neuem Erwerbe die alten Familien aufrecht zu erhalten suchen, bis man wieder so weit gekommen sein werde, die Oberhand zu haben und die Dinge [48] auf den guten, alten Standpunkt zurückführen zu können. Vom Hofe aus werde dieses Verhalten ganz und gar gebilligt; man könne sich von dort her jeder Förderung getrösten, und wenn der verstorbene Freiherr Franz auch kein sonderlicher Landwirth gewesen und vielleicht, ohne streng zu rechnen, ein wenig stark ins Zeug gegangen sei, nun, so sei Renatus nicht der erste Sohn, der solche kleine väterliche Unterlassungssünden ausgleichen müsse. Der und Jener – man nannte die Namen angesehener Grundbesitzer – habe sich in ganz gleicher Lage befunden und sich mit einem tüchtigen Inspector oder Amtmann wieder ganz und gar herausgearbeitet. Es komme also hauptsächlich darauf an, ob Renatus sich auf seinen Amtmann verlassen könne, und das werde er ja wissen.

Die jüngeren Edelleute faßten die Sachlage noch anders auf. Sie hatten davon gehört, daß Angebote auf Neudorf und auf Rothenfeld geschehen wären, daß eine fabrikmäßige Ausbeutung der Steinbrüche und der Torflager in Aussicht genommen sei; indeß sie hegten, wie sie sagten, zu Renatus das feste Vertrauen, daß er nicht verkaufen werde. Sie läugneten nicht, daß die Güter nicht im besten Stande wären, aber das gäbe doch noch keinen Grund, sie loszuschlagen. Wenn Andere sie kaufen wollten, so sei das nur ein Zeichen, daß sie sich große Vortheile davon versprächen, und es sei thöricht, ihnen aus hastiger Muthlosigkeit in den Schooß zu werfen, was man mit einiger Geduld selbst ernten könne. Diejenigen, welche während des Krieges oder gleich nach demselben ihre Güter verkauft hätten, bereuten es schon jetzt wie ein Verbrechen gegen die Ihrigen, und es werde sicherlich Keinem anders damit ergehen. Wenn man zugebe, daß die Krämer und die Juden sich hier im Lande auf den Gütern einnisten dürften, so werde dem Edelmanne bald nichts mehr übrig bleiben, als das flache Land ganz und gar aufzugeben und in die Städte zu ziehen; [49] denn Umgang, Gesellschaft wolle der Mensch doch haben, und mit solchem Volke könne man doch nicht leben, könne man doch seine Frauen und Töchter nicht verkehren lassen.

In dem weichen Sinne des Freiherrn blieb von allen solchen Ansichten und Gesprächen dasjenige haften, was seinen persönlichen Wünschen am meisten diente, und es lag nicht im Vortheile seines Amtmannes, ihn anderen Sinnes werden zu lassen.

Paul hatte in verständiger Voraussicht der verschiedenen Möglichkeiten den neuen Contract mit dem Amtmanne der Art gemacht, daß der Freiherr nach seiner Heimkehr darüber entscheiden konnte, ob der Contract, wie bisher, immer auf drei neue Jahre oder, wie es eben jetzt geschehen war, nur auf ein Jahr verlängert werden solle, und der junge Gutsherr hatte seine Entschließung endlich bis zum letzten Tage hinausgeschoben, auf welchen man die Zulässigkeit einer solchen für ihn festgesetzt hatte.

Er war ohne alles Vertrauen in sich und seine Einsicht auf seinen Gütern angelangt; indeß eben weil ihm eine gründliche Kenntniß der Wirthschaft abging, war er leicht dahin gekommen, sein gelegentlich und schnell erworbenes Wissen von den Dingen sehr hoch zu veranschlagen und sich auf sein richtiges Auge, auf seinen natürlichen Blick, auf seinen gesunden Verstand, mit Einem Worte, auf alle jene angeborenen Fähigkeiten zu verlassen, in deren Besitz die Unkenntniß sich beruhigt fühlt und die sich immer als unzulänglich erweisen, wo ein umsichtiges Wissen und ein folgerechtes, auf genaue Einsicht und Erfahrung begründetes Handeln vonnöthen sind.

Trotzdem konnte Renatus in der Nacht, welche dem entscheidenden Morgen voranging, keine Ruhe finden. Alles, was er erlebt hatte, seit er den deutschen Boden wieder betreten, alles, was er innerlich erfahren hatte, seit er wieder in seinem Schlosse weilte, zog in seinem Geiste an ihm vorüber, und wie [50] er sich nun von Stunde zu Stunde mehr gedrängt fand, mit sich ins Klare zu kommen, sah er deutlich ein, daß die Maßregel, welche er jetzt unabweislich treffen mußte, ihn zu einer Erklärung gegen Hildegard nöthigen, ihn zwingen würde, auch mit ihr zu einem Abschlusse zu gelangen, und sie erleichterte ihm dieses nicht.

Wenn er die drei Güter, dieses alte Erbe seines Hauses, zusammen zu erhalten suchte, wenn er in Richten blieb, und die Wirthschaft mit Hülfe eines den Ansprüchen der neuen Zeit gewachsenen Inspektors, der freilich erst noch gefunden werden mußte und bei dessen Wahl man ebenfalls fehlgreifen konnte, selbst zu führen übernahm, so fehlte ihm jeder Grund, seine Verheirathung hinauszuschieben. Hildegard war seine Verlobte, der Adel der Umgegend erwartete mit Recht täglich die öffentliche Erklärung seiner Verlobung, die Gräfin sprach beständig von der jetzt nahe bevorstehenden Verbindung des jungen Paares, nur Renatus und Hildegard erwähnten derselben nicht, und der Verkehr der beiden war allmählich ein ganz besonderer geworden.

Hildegard hatte sich nicht vortheilhaft entwickelt, indeß der Grund ihres Wesens war ursprünglich rein und edel gewesen, und wo sie fehlte und irrte, geschah es in der Regel durch Uebertreibung eines an sich Guten und Lobenswerthen. Sie besaß in hohem Grade jenes Schamgefühl, das der verschmähten Liebe eigen ist, und jene Selbstachtung, die sich im Unglücke zu bescheiden weiß. Seit dem Tage aber, an welchem sie es sich zum ersten Male deutlich gemacht hatte, daß die Zeit ihrer Jugend vorüber sei, daß Renatus sie nicht liebe, daß er daran denken könne, sie zu verlassen, war eine jener Wandlungen mit ihr vorgegangen, die sich in religiösen Frauennaturen oft mit einer unerwarteten Plötzlichkeit vollziehen. Sie hatte es aufgegeben, ihr Schicksal selbst bestimmen und gestalten zu wollen, und mit einer aus Entmuthigung und Frömmigkeit zusammengesetzten [51] Ergebung, Alles der Fügung des höchsten Wesens anheimgestellt, dem sie sich in Demuth unterzuordnen beschloß. Was Gott zulassen, was er bestimmen würde, das sollte, so hatte sie es sich gesagt, auch ihr erwähltes Theil sein; und wie edel und richtig von ihrem religiösen Standpunkte aus diese Entsagung auch sein mochte, war ihr dieselbe doch in ihrem Verhältnisse zu Renatus nicht förderlich gewesen, sondern nur ihm allein zu Statten gekommen.

Sonst hatte sie seine Zärtlichkeit gesucht und ihm die ihrige mit unverhehlter Liebe kundgegeben; jetzt hielt sie sich zurück, obschon das Herz ihr blutete, wenn Renatus ihre Liebesbeweise nicht forderte, nicht einmal vermißte. Sie beklagte sich nicht, wenn er ihre Gesellschaft nicht verlangte, sie ließ ihn gewähren, wenn er sich oft für mehrere Tage entfernte, sie setzte Vittoria's Bemühungen um ihn kein Hinderniß in den Weg. Konnte Renatus seinen Schwüren untreu werden, obschon er's sehen mußte, daß der Kummer ihre Wange bleichte, konnte Cäciliens beständige und oft so grundlose Fröhlichkeit ihn mehr befriedigen, ihm mehr werth sein, als ihr treues Herz, nun so hatte er sie nie geliebt, so hatte Gott es zugelassen, daß sie ihre Liebe einem Unwürdigen zugewendet hatte, und sie mußte in Demuth hinnehmen und tragen, was ihr von Gott beschieden war, auch wenn sie seine Wege nicht verstehen konnte.

Das Schweigen, die Entsagung, welchen Hildegard sich überließ, täuschten den Freiherrn, denn wo die Blindheit ihnen Vortheil bringt, strengen die Wenigsten ihr Auge zum Sehen an. Er meinte, sie erkenne es jetzt bereits, daß sie nicht für einander paßten, und sie wolle es ihm erleichtern, sich von ihr loszusagen, ohne deßhalb ihr einstiges, schönes Jugendverhältniß zu verläugnen. Er wußte ihr Dank für ihre Zurückhaltung, Dank dafür, daß sie ihn seinen freien Weg und Willen haben ließ, und während er Anfangs sich davor gefürchtet hatte, ihr [52] von seinen Planen zu sprechen, begegnete es ihm jetzt bisweilen, daß er ihr erzählte, was er zu thun, wie er sich einzurichten denke, ohne daß bei diesen Vorsätzen irgendwie von ihr die Rede gewesen wäre. Er gewann zu ihr jene unbedingte Zuversicht, welche grausam macht, und weil ihr Ehrgefühl sie hinderte, sich zu beklagen, überließ er sich bereitwillig dem Glauben, daß sie keinen Schmerz empfinde. So begann er, sich seine Unentschlossenheit und sein feiges Zuwarten zum Verdienste und als eine Maßregel milder Klugheit anzurechnen, für welche alle Theile ihn zu loben hätten, und er bestärkte sich an seinem eigenen Verhalten in der Lehre: daß man gewaltsame Schritte überall vermeiden müsse, daß man die Dinge nur gehen zu lassen brauche, damit sie in die richtige Bahn und zu einer naturgemäßen Entwicklung hingeleitet würden.

Als er sich niedergelegt, hatte er sich an dem betreffenden Abende gefragt: Was werde ich mit Hildegard machen, wenn ich die Güter behalte? – Am Morgen, da er sich erhob, stand er noch vor derselben Frage, und als sich dann im Laufe des Vormittags zur anberaumten Stunde sein Amtmann bei ihm einfand, war Renatus auch noch nicht über seine Ungewißheit hinausgekommen. Er fand es nach wie vor eben so unwürdig, sein Wort zu brechen, als grausam gegen ein Weib zu sein; denn von seinen täglich wiederkehrenden kleinen Grausamkeiten hatte er kein Bewußtsein, und daneben sagte er sich dennoch immer wieder, daß ihm gar nichts übrig bleiben werde, als seinem Worte, seiner Ehre und seinem Gewissen zuwider zu handeln, wenn er sich nicht gegen sein eigenes Glück versündigen, wenn er nicht ein gealtertes, kränkelndes Mädchen zu seiner Gattin, zur Mutter seiner Kinder, zur Mutter eines Geschlechtes machen wolle, das mit Fug und Recht bisher auf seine schönen und kräftigen Männer und Frauen so stolz gewesen war.

Jetzt, wo die Stunde der Entscheidung da war, drohte [53] sein Glaube an die Weisheit des Abwartens wankend zu werden, und doch verließ ihn ein Selbstbewußtsein nicht, das ihn erhob: er stand auf seinem Grunde und Boden, in seiner Väter Schloß, er war hier der Herr. Die Vergangenheit dieses Hauses war die seinige, sich die Zukunft in demselben zu bewahren, stand in seiner Macht. Er hegte das volle Herrenbewußtsein, jene Ueberzeugung von der eigenen Bedeutung, welche rücksichtslose Selbsterhaltung und Selbstbefriedigung als ihr angeborenes Recht betrachtet. Er meinte seines Vaters Geist in sich zu fühlen, und er gelobte sich, in diesem Geiste auch zu handeln. Er durfte, er wollte sich von dem Boden nicht trennen, aus dem er ihm erwuchs. Nur mit Hildegard mußte er zu einem Abschlusse, einem Ende gelangen!

Er war eben von seinem Spaziergange mit Cäcilien heimgekommen, als man ihm den Amtmann meldete. Die Jahre hatten diesen wenig angefochten. Er war jetzt allerdings auch kein junger Mann mehr, aber er sah besser aus, als in früheren Zeiten, denn er war stark geworden und blickte selbstzufrieden und behaglich lächelnd um sich her. Nur aus den kleinen, grauen Augen, deren schwere Lider sich beinahe schlossen, wenn er den Mund zur Freundlichkeit verzog, schoß hier und da ein Ausdruck achtsamer Schlauheit unheimlich hervor, der sonderbar gegen das offene Wesen abstach, dessen der Amtmann sich sonst befleißigte und rühmte.

Demüthig und doch nicht ohne Zuversicht trat er bei dem Freiherrn ein. Er sagte, daß er gekommen sei, die Befehle und die letztlichen Entschließungen des gnädigen Herrn zu vernehmen, und er hoffe, daß diese nicht zu seinem Schaden sein würden. Die Herren von Arten hätten ja treue Dienste immer zu würdigen verstanden, und so werde denn ja auch der jetzige Freiherr wohl das Gleiche an ihm thun.

Renatus hatte den Amtmann seine Anrede ruhig vollenden [54] lassen. Dann nöthigte er ihn, sich zu setzen, und ohne ihm irgend eine Anerkennung auszusprechen oder ihn zu einer Hoffnung zu ermuthigen, blieb er selber, den Arm auf die Lehne seines hohen Schreibtisches gestützt, vor dem Sitzenden stehen, so daß er auf ihn herniedersah. Er genoß in diesem Augenblicke das Bewußtsein seiner Herrschaft, er wollte sie den Amtmann auch empfinden lassen, und erst nach längerem Schweigen sagte er mit jener nur auf das eigene Interesse gerichteten Weise, in welcher die Fürsten gegen ihre Unterthanen, die Besitzenden gegen die Nichtbesitzenden in der Regel Meister sind, und welche sie oft sogar verhindert, sich die Zeit zu nehmen, dem Angeredeten auch nur die Ehre seiner Namensnennung zu gewähren: Ich höre aus Ihren Worten, daß Sie die Ansichten kennen, welche mein Bevollmächtigter, der Kaufmann Tremann, in Bezug auf diese Güter hegt, und ich lasse es vorläufig dahingestellt sein, in wie weit er mit denselben Recht hat. Ich war bei meiner Ankunft allerdings der Meinung, daß ich hier durchgreifende Veränderungen machen müßte, indeß ich mag nichts übereilen, und da, wie Sie richtig bemerken, wir in unserem Hause es nicht lieben, unsere Beamten und Diener oft zu wechseln, so wäre ich in gewissem Sinne nicht abgeneigt, auch mit Ihnen einen neuen Versuch, einen neuen Contract zu machen, obschon ich mich während meines langen Aufenthaltes im Auslande davon überzeugte, daß Ihnen in der That, darin hat Herr Tremann Recht, die Kenntniß der Fortschritte mangelt, welche man in der rationellen Bewirthschaftung und Verwerthung großer Güter in den letzten Jahrzehenden überall gemacht hat.

Er hielt inne, nahm eine Feder zur Hand, prüfte auf dem Nagel des Daumens ihre Spitze, legte sie dann wieder fort und streifte mit dem Auge über den Amtmann hin, der, die Hände über dem Leibe gefaltet, andächtig und unbeweglich, als ob er vor der Kanzel säße, die Aussprüche des jungen Freiherrn, von [55] dessen landwirthschaftlichen Kenntnissen er hinwiederum auch seine besondere Meinung hegte, über sich ergehen ließ. Er fand es weder nöthig noch zweckmäßig, ihm eine Antwort zu geben, ehe eine solche unvermeidlich war, und Renatus sah sich dadurch also gezwungen, seiner ersten Rede die Bemerkung hinzuzufügen, daß große Verbesserungen auf den Gütern, wie er sich überzeugt habe, unerläßlich wären, und den Amtmann daran zu erinnern, wie derselbe es ihm für möglich erklärt habe, die Ameliorationen ohne alle Hülfe von auswärts, aus den eigenen Mitteln zu bewerkstelligen. Aber auch hierauf antwortete der Amtmann nur mit einer stummen Kopfneigung, und der Freiherr mußte also auf's Neue zu sprechen beginnen.

Da Sie wußten, sagte er, daß ich heute die Entscheidung treffen muß, werden Sie Sich die Verhältnisse wohl durchdacht haben. Erklären Sie Sich also nach Ihrem besten Wissen und Gewissen darüber, ob und wie Sie es für möglich erachten, daß wir, ohne zu neuen Geldaufnahmen unsere Zuflucht zu nehmen und ohne eines der Güter abzutrennen, – er vermied das Wort verkaufen geflissentlich, – die Wirthschaft weiter führen und den Schaden ersetzen können, den die Kriege uns gethan haben. Man hat mir, ich verhehle Ihnen das nicht, nicht nur gegen Ihre Einsicht und Ihre Kenntnisse, sondern auch gegen Ihre Person Mißtrauen eingeflößt, aber ich gestehe Ihnen mit Vergnügen ein, daß ich glaube, man habe Ihnen Unrecht gethan. Ich habe nichts, gar nichts wider Sie, im Gegentheil! Die Frau Baronin hat mir Ihre gefällige Dienstfertigkeit gerühmt. Sie können also zuversichtlich sprechen und der billigsten Beurtheilung, der genauesten Erwägung des Für und Wider Sich versichert halten. Ohne eine zwingende Nothwendigkeit entferne ich Sie nicht!

Renatus war äußerst wohl mit sich und mit dieser Rede zufrieden; sie war eben so bestimmt, wie er meinte, als menschlich und gerecht gewesen, und der Amtmann hatte sie auch mit der [56] tiefsten Ergebenheit vernommen. Er hatte nur zu verschiedenen Malen gewichtig mit dem Kopfe genickt; dann wieder hatte er gelächelt, wie einer, dem das Gehörte nicht unerwartet kommt, und sich zur Antwort und zum Ueberlegen bedächtig Zeit lassend, sagte er endlich: Gnädiger Herr, ich habe mich nicht herangedrängt, Ihnen meine Meinung zu sagen; ich habe gedacht, Sie sollten Sich nur, wie Sie das ja auch gethan haben, hier zu Lande umsehen, denn die Verantwortung, die Unsereiner auf sich nimmt, ist gar zu groß. Nun Sie hier Bescheid wissen und, wie das in der Ordnung ist, überall selber herumgehört haben, was von mir geglaubt und gehalten wird, nun sind Sie doch wenigstens so weit in Ihrem Zutrauen zu mir gekommen, daß Sie meine Stimme zu vernehmen wünschen. Gerade heraus also, gnädiger Herr, es sind die Spekulanten, den Steinert und den Tremann an der Spitze, die ihre Augen auf die Güter hier geworfen haben, das ist das ganze Elend! Sonst hat es noch keine Noth, wenn man nur erst wieder gelassen an die Arbeit gehen kann. Verschuldet sind die Güter, schwer verschuldet, das ist wahr; wer verlangt denn aber, daß man morgen oder übermorgen die Schulden abbezahlt? Wer verlangt das anders, als die Spekulanten, die am liebsten Alles zu Geld und alles Geld in der Welt flüssig machen möchten, damit es, wie bei Tremann, alljährlich drei, vier Mal durch ihre Hände laufen und immer etwas davon kleben bleiben kann? Im Gutsbesitz, im Landbesitz ist es just das stricte Gegentheil. Da will Alles seine Zeit und seine Ruhe haben. Und wenn Sie, gnädiger Herr, mir ganz allein vertrauen und Sich auf mich allein verlassen wollten, so sollten Sie erleben, ob ich mich auf mein Fach verstehe und ob ich meines Herrn Vortheil mit meiner alten Wirthschaftsmanier nicht besser wahrzunehmen weiß, als die Anderen mit all ihren neuen Künsten.

Der Amtmann gab dem Freiherrn zu bedenken, wie leicht [57] es die Steinert, seine Vorgänger im Amte, während der langen Friedensjahre gehabt hätten, die dem siebenjährigen Kriege gefolgt waren, und unter wie ungünstigen Umständen er die Verwaltung übernommen habe. Er wies den unverhältnißmäßigen Geldverbrauch des Freiherrn Franz nach, er erinnerte an die furchtbaren Kriege und Kriegszüge, an den allgemeinen Nothstand, an die Aufhebung der Leibeigenschaft, um zu erklären, wie unmöglich es bisher für ihn gewesen sei, an irgend eine Verbesserung auf den Gütern, oder gar an die Erzielung von Ueberschüssen zur Schuldentilgung denken zu können. Nun, sagte er, sei noch der völlige Mißwachs des vorigen Jahres dazu gekommen, in welchem man das eigene Vieh zu schlachten versucht gewesen sei, weil man nicht gewußt habe, wie man es ernähren solle, und trotzdem habe er in diesem Jahre am ersten Quartale allen Verpflichtungen genügen können, die auf den Gütern und auf dem gnädigen Herrn persönlich gehaftet hätten.

Sehen Sie, gnädiger Herr, rief er und wies in die Landschaft hinaus, Gott der Herr hat doch endlich wieder eine Einsicht! Seit man gedenken kann, haben die Saaten nicht so gestanden, haben wir kein so frühes Jahr gehabt, haben die Bäume nicht solche Blüthenlast getragen. Wenn Gott uns weiter gnädig ist, gibt das eine Ernte, die manches Loch verstopft! Denn die Theurung ist noch immer ungeheuer und die Preise halten sich nothwendig noch bis in das nächste Jahr. Es ist nichts mit den Spekulanten und mit den Fabriken, von denen sie immer reden! Aus dem Boden muß man es herausholen mit Egge und Pflug! Langsam geht das freilich, dafür jedoch ist's sicherer, sicherer wie der Dampf, mit dem sie jetzt in England ihr Wesen zu betreiben anfangen und der auch dem Steinert im Kopfe spukt, seit er den Sohn in Amerika da drüben sitzen hat. Mit Dampf wollen sie brennen und brauen in Marienfeld, mit Dampf möchten sie Steine schleifen in Neudorf, und dazu sollen die [58] Torfstiche in Rothenfeld die Feuerung liefern. Aber wir können ja selber Torfstiche eröffnen, wenn wir nur erst so weit sind, die Bauten in Angriff nehmen, neue Häuser aufführen und Leute zur Arbeit hieherziehen und ernähren zu können. Auch die Wege müssen wir erst wieder so weit im Stande haben, daß man den Torf bis zum Wasser bringen kann. Machen können wir das alles, nur Geduld müssen wir haben, nur Geduld! Das Geld wird sich schon finden, wenn man uns nur Zeit läßt. Und weil sie das Alles wissen, so gut wie ich, darum drängen sie den gnädigen Herrn so gewaltig zum Verkaufen. Diese Spekulanten haben ja ihre Augen überall. Wie die Stoßvögel hangen sie in der Luft, und ehe man's gewahr wird, schießen sie herunter und haben's in den Krallen!

Der Amtmann lachte, als er von den Summen hörte, welche Tremann für die Hebung der Güter als unerläßlich bezeichnet hatte. Daran allein können der gnädige Herr ja sehen, daß es ihnen bloß darauf ankommt, den gnädigen Herrn abzuschrecken. Und das nennen diese Leute Landwirthschaft! Kaufen, Alles fertig kaufen, Alles baar bezahlen! Nichts erschaffen, nichts erziehen, das ist ihre neue Weisheit! Sie wollen die Ziegel nicht streichen zum Baue und das Thier nicht austragen lassen im Mutterleibe; Stallungen aufrichten im Handumdrehen und fremde Heerden einführen, ohne zu denken, ob sie sich hier zu Lande halten; Hunderttausende in die Güter hineinstecken und sie dann verkaufen und das Doppelte herausziehen! Und dann sieh' Du zu, was nun aus dem Grunde und Boden wird! Spekulanten und Roßtäuscher – die sind Einer wie der Andere! Elendes Gesindel, das der Landwirth sich vom Hofe und vom Leibe halten muß!

Der Amtmann hatte sich in Zorn gesprochen, denn die Sache ging ihm an das Leben. Er kannte seinen jungen Herrn wenig, indeß langjähriges Dienen hatte ihn die Edelleute der [59] Gegend im Allgemeinen kennen gelehrt, und er hatte bewußt und unbewußt den rechten Ton getroffen, um auf seinen Herrn zu wirken. Renatus liebte es nicht, in denjenigen, mit welchen er Geschäfte abzumachen hatte, seines Gleichen oder gar einer Ueberlegenheit zu begegnen, und Tremann's völlig freie Bildung war ihm eben so unangenehm gewesen, als die Leichtigkeit, mit der er sich in allem Geschäftlichen bewegte, und die rasche Entschiedenheit, welche er von dem Freiherrn forderte. Des Amtmanns Ansichten vom Abwarten stimmten zudem auf das genaueste mit denen seines Herrn überein, und da jede fest ausgesprochene Meinung ihre Wirkung auf den Unerfahrenen nie verfehlt, verlangte Renatus, dessen Zutrauen zu seinem Beamten sich steigerte, von demselben endlich eine genaue Auseinandersetzung über die Wege, welche dieser bei der Ausführung seiner Plane einzuschlagen denke.

Der Amtmann zuckte die Schultern. Gnädiger Herr, sagte er, ich allein kann's nicht machen und Einer allein kann's überhaupt nicht. Aber wenn der gnädige Herr selber mit dazu thun wollen, so ist's keine Hexerei und gar kein Zweifel, daß wir vorwärts und zu Stande kommen.

Renatus befahl ihm, sich deutlicher zu erklären; der Amtmann ließ sich das nicht zweimal sagen. Es war ihm, als er vor seinem Herrn erschienen war, nicht besonders wohl gewesen, jetzt aber begann er, Muth zu fassen. Er knöpfte den braunen Oberrock auf, daß die großgeblümte, wollene Weste in ihrer ganzen Farbenpracht zu sehen war, zog sein blaues Taschentuch hervor, und sich die Stirn und die feisten Wangen trocknend, während die kleinen Augen in freundlicher Zuversicht listig zwinkerten, sagte er: Was sie dem gnädigen Herrn auch von den neuen Wirthschafts-Methoden und neuen Theorieen gesprochen haben mögen, es gibt zum Vorwärtskommen, um in die Höhe zu kommen, immer nur die eine praktische Theorie: [60] viel einnehmen und wenig brauchen, daß man Ueberschuß erzielt. So haben sie's ja auch gemacht, die Steinert und der alte Flies, die ihr Schäfchen so vorsichtig in's Trockene gebracht haben, während sie den seligen Herrn in die Patsche führten. Warum soll's denn jetzt, da es nicht ihren, sondern des gnädigen Herrn Vortheil gilt, mit neuen Mitteln angefangen werden?

Er begann darauf, dem Freiherrn die Erträge der Güter und die zunächst nothwendigen Ausgaben vorzurechnen, wobei die Verhältnisse sich allerdings weit günstiger als nach den Annahmen von Tremann auswiesen, schilderte darauf aber die großen Mühen, welche man in den kommenden Jahren haben werde, die mancherlei Unsicherheiten, denen man immer in der Wirthschaft ausgesetzt sei, und nachdem er Renatus mit jener Menge von Einzelheiten, die für den Uneingeweihten stets etwas Beunruhigendes und Verwirrendes haben, ermüdet hatte, so daß derselbe bedenklich zu werden begann, trat der Amtmann ganz unerwartet und plötzlich mit dem Vorschlage hervor, die Güter in Pacht zu nehmen, falls der Freiherr es unter den obwaltenden Umständen etwa vorziehen sollte, im militärischen Dienste zu verbleiben, wo ihm bei seinen jungen Jahren ein schönes Vorwärtskommen nicht entgehen könne, da jetzt nach dem Kriege viele der älteren Offiziere ihren Abschied fordern oder erhalten würden.

Renatus stand noch immer an dem Schreibtische, aber seine Stirne sah nicht mehr so heiter und so klar aus. Der Vorschlag des Amtmanns beunruhigte ihn sehr; denn auch Tremann hatte ihn darauf hingewiesen, daß es gerathen für ihn sein würde, in seiner militärischen Laufbahn zu beharren und zu versuchen, in wie weit sich mit dem festen Ertrage eines Pachtzinses seine Vermögens-Umstände verbessern ließen. Wenn man aber von zwei so verschiedenen Ausgangspunkten, wie die von Tremann und von dem Amtmanne es waren, an das [61] gleiche Ziel gelangen konnte, so mußte dies ein richtiges sein; indeß es widerstrebte dem Freiherrn immer noch, an die Verpachtung seiner Güter zu denken.

Er hatte die Feder wieder zur Hand genommen und riß, ohne zu wissen, was er that, ihre Fahne in kleinen Stücken herunter, bis er den nackten, kahlen Kiel erblickte. Stückweise! murmelte er kaum hörbar zwischen den Zähnen hin, knickte die Feder um und warf sie mit einer heftigen Bewegung fort.

Der Amtmann beobachtete ihn genau, aber er drängte ihn mit keinem Worte zu einer entscheidenden Antwort hin. Er erklärte sich sogar aus freiem Antriebe bereit, das Belieben des gnädigen Herrn noch acht Tage zu erwarten, damit derselbe volle Zeit habe, die Sache reiflich zu erwägen. Und als man danach auf die Bürgschaft zu reden kam, welche der Amtmann als Pächter der Güter zu leisten haben würde, meinte er, bescheiden und vertrauensvoll lächelnd, er sei ja nicht nackt und bloß gewesen, als er in den Dienst der Herrschaften getreten sei. Er habe sich in all den schweren Jahren schlicht und recht und kümmerlich wie der ärmste Mann beholfen, habe also immer doch etwas zurückgelegt, und wenn der Freiherr von ihm die Bürgschaft nicht über die Gebühr hoch begehre, so hoffe er mit Gottes Hülfe und mit dem Beistande seiner Freunde wohl im Stande zu sein, sie aufzubringen.

Damit waren für's Erste diese Verhandlungen beendet, aber der Sinn des Freiherrn blieb mit ihnen immerfort beschäftigt, und wie er sich's auch vorhielt, daß es ja noch völlig in seinem Belieben und in seinem Ermessen liege, was er thun wolle, kam er sich nicht mehr so frei, so selbständig als noch vor wenigen Stunden vor, denn, mochte er sich auch gegen die Einsicht sträuben, das erkannte er deutlich, er konnte das Leben nicht in der Weise seines Vaters weiterführen; er war heruntergekommen, und Alle um ihn her, Alle, die in seinen Diensten [62] gearbeitet, selbst gearbeitet hatten, waren im Wohlstande fortgeschritten.

Er hatte den Neid niemals gekannt, jetzt aber regte sich in ihm eine zornige Empfindung gegen alle jene Emporkömmlinge, und obschon er sich durchaus in der Lage befand, den Werth und die Bedeutung des Geldes schätzen zu lernen, dünkte das Geld ihn an und für sich als etwas Verächtliches, weil der gemeine Mann, weil Jedweder es erwerben konnte, der eine schwielige Hand nicht scheute, der sich entschließen mochte, die Gegenwart um der Zukunft willen daran zu geben, und, wie der Amtmann es nannte, gleich einem gemeinen Manne zu arbeiten und zu leben. Es lag für des Freiherrn Empfinden auch etwas sehr Gemeines in dem beständigen Denken an Hab und Gut, an Vermehrung des Besitzes. Er hatte eine Erinnerung an die Zeiten, in welchen in seinem väterlichen Schlosse von Geld und Besitz niemals die Rede gewesen war, weil man ihr Vorhandensein als ein Selbstverständliches angenommen hatte. Damals hatte man sich selbst gelebt, man hatte Muße und Freiheit gehabt, sich seinen Neigungen, seinen Gefühlen zu überlassen; jetzt trat überall die zwingende Nothwendigkeit zwischen ihn und seine Wünsche, und sogar in dem Augenblicke, in welchem er sich enger als je zuvor mit seinem Besitze verwachsen fühlen gelernt, trachteten die Emporkömmlinge ihm von allen Seiten die Ueberzeugung aufzudrängen, daß für ihn die alten Zustände nicht mehr aufrecht zu halten seien, daß er ohne ihren Beistand nothwendig zu Grunde gehen müsse.

Er hatte es durchaus vorgehabt, auf seinen Gütern und unter seinen Leuten, die ihm lieb geworden waren, zu weilen und zu leben. Nun sollte er das menschliche Verhältniß, das sich zwischen ihnen zu bilden begonnen hatte, plötzlich wieder zerstören, indem er sie einem fremden Willen überließ; nun sollte er wieder von seiner Heimath scheiden und das Erbe seiner [63] Väter einzig als den Boden behandeln, von dessen Frucht er sich ernährte – es wollte ihm nicht eingehen!

Es war gegen den Mittag hin, als der Amtmann sich von dem Freiherrn verabschiedete. Renatus blieb eine Weile an seinem Schreibtische sitzen. Das Haupt auf den Arm gestützt, sah er unverwandten Auges auf die Berechnungen nieder, welche der Amtmann ihm vorgelegt hatte. Er zählte die Reihen zusammen, er verglich die verschiedenen Posten, es wurde damit nicht viel für ihn gefördert.

War das aber eine Aufgabe, die sich für ihn, für einen Edelmann geziemte? Tag für Tag nur dem Erwerbe, dem elenden Gelderwerbe leben! Heute dem Gewinne eine kleine Summe hinzufügen, morgen sie von den Schulden abstreichen; und das Jahr aus, Jahr ein, und das Alles ohne die bestimmte Aussicht auf einen sicheren Erfolg? Es dünkte ihn eine sehr untröstliche Beschäftigung. Hinter dem Pfluge herzugehen, die Furche in dem fruchtgebenden Boden aufzureißen, die goldenen Samenkörner dem warmen Schooße der Erde anzuvertrauen, die reife Frucht des Feldes einzuernten, den Kampf mit des Wetters Ungunst zu bestehen, dieses Thun und Erleiden des gemeinen Mannes däuchten ihm ein Genuß neben dem Zuwarten aus der Ferne, zu welchem der Edelmann, zu welchem er selber verdammt war, wenn er sich des persönlichen Eingreifens in seine Angelegenheit durch die Verpachtung seiner Güter mehr noch als bisher begab.

Er konnte zu keinem Entschlusse kommen, und von der inneren Ungeduld hinweggetrieben, verließ er sein Gemach. Er stieg die Treppen hinunter und ging in den Garten hinaus. Gleich an der rechten Seite, wo die große Allee sich anschloß, ging er von der Terrasse hinunter und durch den Park.

Die Bäume, die Büsche hatten schon ihr volles Laub. Der Schatten war tief und erquicklich, aber die Stille und die [64] Einsamkeit waren ihm heute nicht erwünscht. Er hätte gestört werden mögen in den Gedanken, die auf ihm lasteten, er hätte die Trompeten seines Regimentes einmal wieder schmettern hören mögen, um sich an ihrem muthigen Klange das Herz zu erfrischen. Und während er noch vor wenigen Stunden seinen Besitz als eine Ehrensache angesehen hätte, erschien ihm jetzt der ärmste Soldat, der in seinem Degen sein ganzes Erbe besaß und am Tage den Tag zu leben vermochte, bei Weitem als der Glücklichere. Warum war es gerade ihm denn auferlegt, einzustehen für die Ehre und das Ansehen einer Reihe von Altvordern, deren Genüsse und Befriedigungen er nicht getheilt, und an deren Irrthümern er doch so schwer zu tragen hatte?

Er war jetzt seit einer Reihe von Jahren an ein bewegtes Dasein, an Thätigkeit gewöhnt, er verstand das Waffenhandwerk, das er bisher getrieben hatte. Auch in seinem Regimente kannte man ihn, auch in seinem Regimente vertraute ihm der gemeine Mann und liebte man ihn so gut wie hier auf seinem Grunde und Boden. Auch in seinem Regimente hatte er eine Heimath, eine Bedeutung, eine Wirksamkeit, und sie waren völlig unabhängig von allem, was von seinen Ahnen als Erbe auf ihn gekommen war, sie waren mehr als alles Andere sein eigen. Weßhalb sollte er darauf verzichten? Weßhalb sollte er sich auf seine Güter zurückziehen, wenn er sich dazu verdammen mußte, auf ihnen als ein Einsiedler und in der halben Abhängigkeit von einem ihm untergebenen geringen Manne zu leben? Welche Verpflichtungen hatte er gegen den Adel der Nachbarschaft, der ihm so dringend vom Verkaufe der Güter abrieth? Sie waren ihm im Grunde sammt und sonders fremd, diese Edelleute. In seinem Regimente hatte er Freunde, hatte er die Kameraden, mit denen die Erinnerung an Noth, an Gefahr und Sieg ihn eng verband. Er sehnte sich nach seinem Regimente. Dort hatte er seiner Sorgen nicht in jedem Augenblicke denken müssen, dort [65] hatte er sich jung gefühlt; hier lastete das Leben schwer auf ihm und drückte ihn hernieder. Er wollte seinen Frohsinn, seine Freunde wieder haben, er wollte sich die schönen Tage der goldenen Jugend nicht verkümmern lassen. Mochte der Ernst beginnen, wenn die Jugend ihm entflohen war.

Er hatte den Park verlassen und war hinausgetreten in die Rothenfelder Feldmark. Die Kirche lag in stiller Ruhe vor ihm. Sie sah sehr mächtig aus mit ihrem hohen Thurme, mit dem schönen Eingangsthore; aber er konnte es sich nicht verbergen, es war für ihre Erbauung keine Nothwendigkeit vorhanden gewesen. Seine Eltern hatten damit einem ganz persönlichen Bedürfen und Belieben nachgegeben und sie hatten, wie es ihm heute erschien, damit auch Recht gehabt. Es sollte Jeder vor allem Anderen sich selbst genug zu thun trachten. Er für seinen Theil bedurfte dieses Gotteshauses freilich nicht, denn des Amtmanns Vorschlag, daß er im Regimente bleiben solle, war im Grunde sehr verständig. Wenn er wirklich im Regimente blieb, wenn er sich künftig nicht für immer in seinem Schlosse aufhielt, brauchte man z.B. auch die Pfarre für's Erste nicht fortbestehen zu lassen. Man konnte den Fürstbischof ersuchen, den Pfarrer zurückzuberufen und anderweitig zu verwenden. Die Baronin Vittoria konnte, so oft sie es begehrte, nach einer der Städte, welche eine katholische Kirche hatten, zur Messe fahren, und die Gräber zu bewachen, war der Sakristan genug.

Je länger Renatus über die Ersparungsvorschläge, welche der Amtmann ihm im Laufe ihrer Unterredung gethan hatte, nachsann, um so mehr leuchteten ihm dieselben ein. Die Entlassung der sämmtlichen noch im Schlosse vorhandenen Dienerschaft war verständig; nur Gaetana und der alte Kammerdiener sollten bei der Baronin bleiben. Seinen Bruder Valerio, welcher der weiblichen Hand durchaus entwachsen war, wollte der junge Freiherr mit sich nehmen, um ihn in einer der militärischen Erziehungsanstalten [66] unterzubringen; und wie er in solcher Weise das Schloß zu entvölkern begann, wurde sein eigenes Verlangen, es zu verlassen, immer größer.

Vor wenigen Tagen hatte ihn die Liebe überrascht, welche er für dasselbe, für seine Besitzungen hegte, jetzt erschreckte ihn die Gleichgültigkeit beinahe, in welcher er an die theilweise Zerstörung der Verhältnisse denken konnte, mit denen er sich so unauflöslich verbunden geglaubt hatte; und wie er tiefer in sein Herz hineinsah, wie er mit dem grübelnden Sinne, der ihm von der Mutter angeboren war, sich fragte: was ist es, das mir die Aussicht in die Ferne plötzlich so erheitert? da blieb er sich die Antwort schuldig, denn er sah Hildegard den kleinen Seitenpfad von der Margarethenhöhe herunterkommen, und er mußte gehen, sie zu begrüßen.

[67]
5. Capitel
Fünftes Capitel

Was nur heute in sie gefahren ist! sagte an dem Nachmittage der Kammerdiener verdrießlich zu Vittoria's Dienerin, mit welcher er in dem Laufe der Jahre eine Freundschaft auf Tod und Leben geschlossen hatte. Seit der junge Herr zu Hause ist, hatte doch Alles wieder eine Manier bekommen, aber heute stieben sie aus einander, als hätte der Blitz dazwischengeschlagen! Was haben sie denn vor?

Der junge Herr ist fortgeritten! bedeutete Gaetana geheimnißvoll.

Freilich, ich habe ihm ja das Pferd bestellt! versetzte darauf der Diener.

Aber wissen Sie, weßhalb er fortgeritten ist? fragte die Italienerin, und ihre dunklen Augen blitzten unter den breiten, schwarzen Brauen scharf hervor.

Ja, er war ärgerlich, weil er mit dem Amtmanne nicht zu Stande gekommen ist! sagte der Kammerdiener.

Gaetana machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Nein, Padrone, Ihr irrt, Ihr irrt Euch ganz und gar! – Und sich vorsichtig umblickend, fügte sie hinzu: Die Gräfin Cäcilie kam blaß wie eine Leiche zu meiner Signorina in das Zimmer! Sie schickten den Junker fort, sie schickten auch mich hinaus! Gleich darauf sendete die Gräfin ihre Jungfer zu uns und ließ sagen, sie und die älteste Comtesse würden auf ihrem Zimmer speisen. Die Gräfin Hildegard reist ab!

[68] Sie konnte ihr Vergnügen bei den Worten nicht verbergen, der Kammerdiener zuckte ungläubig mit den Schultern. Sie denkt nicht daran! meinte er – die Herzogin, als wir die noch zu des seligen Herrn Zeiten bei uns hatten – ich war damals noch ein Junge, der nur hier und da zur Hand ging – die Herzogin machte es gerade so, wenn sie ihren Willen durchzusetzen dachte! Packen werden sie und Pferde bestellen auch! Aber sie werden die Pferde stehen lassen und mit dem Packen nicht zu Ende kommen, bis sie der Herr dabei betrifft, und dann ...

Nein, sie geht, sie geht! versicherte ihm Gaetana, als die Klingel aus dem Zimmer der Baronin Vittoria sie von der Unterhaltung abrief, und fast gleichzeitig der Reitknecht eines benachbarten Edelmannes in den Hof geritten kam.

Er brachte einen Zettel von dem jungen Freiherrn, der den Kammerdiener anwies, ihn heute nicht mehr zu erwarten, sondern ihm einen Mantelsack zu packen und ihm denselben durch einen Boten zu übersenden, da er mit seinem gegenwärtigen Wirthe auf einem andern Gute bei andern Freunden noch einen Besuch zu machen denke.

Nun? fragte Gaetana, da sie im Auftrage ihrer Herrin eilig durch den Flur ging.

Sie könnten Recht haben, meinte der Kammerdiener; es ist etwas passirt! Aber fortgehen? Ich glaub's nicht! Wo sollen sie denn hin? fügte er mit einem geringschätzigen Zucken des Mundes hinzu.

Er war noch zu den guten Zeiten in die Dienste des verstorbenen Freiherrn getreten, hatte noch die Baronin Angelika in aller ihrer Vornehmheit gekannt und, wie alle Diener reicher Häuser, immer eine große Verachtung gegen unbemittelte Herrschaften gehegt. Es war daher gar nicht nach seinem Sinne gewesen, als nach dem Tode des Freiherrn die Gräfin Rhoden mit ihren Töchtern in das Schloß gekommen war. Er hatte [69] es auch in all den Jahren und bis zu dem Tage von des jungen Freiherrn Rückkehr hartnäckig geläugnet, daß es zwischen seinem jungen Herrn und der Gräfin Hildegard jemals etwas werden könne. Jedem, der ihn darum befragt, hatte er geantwortet, daß sein Herr der Gräfin Rhoden und ihren Töchtern in den schweren Zeiten zu Hülfe gekommen sei und sie so mit durchgehalten habe, und das sei schön und recht von ihm gewesen, denn der verstorbene Herr Baron habe es ja seiner Zeit mit der Frau Herzogin gerade so gehalten; aber heirathen? Nein! Heirathen sei doch etwas Anderes, und an eine Heirath sei hier nicht zu denken! Die Herren von Arten nähmen sich keine Frauen, deren Hab und Gut man in zwei Wagen und ein paar Koffern von der Stadt nach Richten bringen könne!

Selbst als nach des jungen Freiherrn Heimkehr die äußeren Zärtlichkeitsbeweise zwischen Renatus und Hildegard ihr Verlobtsein für die Schloßinsassen außer Frage stellten, hatte der Kammerdiener immer noch den Kopf geschüttelt und war von seinem verzweifelnden »ich glaub's nicht!« nicht abgegangen; denn, hatte er zu Gaetana stets gesagt, so wie der gnädige Herr die Gräfin Hildegard anfaßt, so faßt solch ein junger Herr kein Frauenzimmer an, bei dem ihm warm wird! Mit den Beiden wird es nichts!

Ihm machte es also keinen Kummer, im Gegentheil, er sah es mit der stillen Genugthuung eines Propheten, dessen Vorausverkündigungen sich erfüllen, als man die alten Koffer der Gräfin Rhoden aus der Remise hervorbrachte, als die Kammerjungfer den Sattler vom Hofe herbeiholte, die Riemen und die Schnallen nachzusehen. Er that keine Frage, er ließ die Dinge gehen und an sich kommen.

Die Mahlzeit war vorüber. Die Baronin Vittoria und der Junker hatten mit großer Eßlust gespeist, aus den Zimmern der Gräfin waren die Speisen fast unberührt nach der Küche zurückgebracht [70] worden, und in der Stube der Dienerschaft saßen der Kammerdiener, die beiden Kammerfrauen und der alte Kutscher jetzt bei ihrem Mittagbrode, bei welchem die Köchin die Vorschneiderin machte und eine der Küchenmägde die Speisen zutrug.

Wird denn oben nicht mehr gepackt? fragte der Kammerdiener, während er sich zu dem Hammelbraten, den die Köchin ihm vorgelegt hatte, eine tüchtige Portion der Spargel geben ließ, welche für die Tafel der Gräfin bestimmt gewesen waren. Wird denn oben jetzt nicht mehr gepackt?

Wir machen nur eine kleine Pause, entgegnete die Kammerjungfer, welche ihre gute Berliner Sprache, wie sie immer sagte, hier auf dem Lande nicht verlernen wollte. Meine Comtesse hat sich ein wenig hingelegt, sie hat Migräne, und es muß doch auch geschrieben werden.

Was denn geschrieben? erkundigte sich der Kutscher, es ist ja heut' nicht Posttag!

Sie haben wohl nicht gesehen, daß der Reitknecht von Brasteck in den Hof gekommen ist? Der soll den Brief an den Herrn Baron gleich mit sich nehmen.

Der Kammerdiener fragte, wer den Brief denn schreibe? Mamsell Caroline entgegnete, die Frau Gräfin schriebe ihn.

Da soll sie sich sputen, meinte der Kutscher, indem er das große Bierglas an die Lippen setzte, denn der Reitknecht hat gefüttert und sattelt wieder.

So sagen Sie ihm, gebot die Kammerjungfer, daß er warten muß, bis meine Gräfin fertig ist! Ich will sie aber avertiren gehen.

Sie stand auf, besah sich in dem Spiegel, rückte ihre Brilllocken und ihre schwarze Schürze zurecht und sagte der Köchin, sie brauche heute Abend weiter nichts.

Also Sie gehen mit, Mamsell? rief der Kutscher. Nun, [71] da soll mir's ein Vergnügen sein, zu fahren – besonders, wenn Sie nicht wiederkommen wollen! brummte er in seinen Bart. Aber er hatte es nicht so leise gesprochen, um von den Andern nicht verstanden zu werden, wenn schon Mamsell Caroline sich das Ansehen geben konnte, als habe sie nicht gehört, was er gesagt, und als wisse sie nicht, was das Lachen um sie her bedeute.

Oben lag Hildegard bleich und regungslos auf ihrem Lager. Die Vorhänge waren niedergelassen, der Geruch von Aether erfüllte das Gemach. Die Gräfin hatte ihren Brief an den Freiherrn eben beendet. Sie wollte ihn der Tochter zu lesen geben, aber Hildegard machte eine matte, abwehrende Bewegung. Die Mutter siegelte ihn also und wollte schellen, um ihn hinunter zu senden. Cäcilie saß müßig in einem der Lehnstühle. Weil sie jedoch wußte, wie empfindlich ihre Schwester während ihrer Anfälle von Kopfweh gegen das geringste Geräusch zu sein pflegte, wollte sie ihr das Schellen und das Kommen des Dieners bereitwillig ersparen.

Sie stand leise auf, trat an die Gräfin heran und erbot sich, den Brief selbst hinunter zu tragen. Aber wie von einem elektrischen Schlage getroffen, sprang Hildegard, die anscheinend mit geschlossenen Augen da gelegen hatte, von ihrem Ruhebette empor, und Cäcilie mit so gewaltsamem Griffe um das Handgelenk fassend, daß sie im Schmerze zusammenzuckte, rief sie mit funkelnden Augen in wilder Leidenschaft: Du, rühre den Brief nicht an! Du nicht!

Ganz erschrocken trat Cäcilie zurück. Sie wollte antworten, die Thränen stürzten ihr aus den Augen, und die Hände entsetzensvoll zusammenschlagend, rief sie: Gott im Himmel, sie ist wahnsinnig! Hilda ist wahnsinnig geworden!

Hildegard lachte hell auf. Nein, nein, rief sie, noch bin ich's nicht, noch sehe ich sie ja, die heuchlerischen Thränen, die Dir über die rothen Backen niederrinnen! Aber ich werde es [72] werden, wahnsinnig wird es mich machen, wenn ich es sehen muß, wenn ich Dich sehen muß ... Sie war unfähig, den Satz zu vollenden; sie warf sich der Mutter mit beiden Armen um den Hals und barg ihr Gesicht an deren Brust. Es bricht mir das Herz, es nimmt mir den Verstand! wiederholte sie immer und immer wieder. Die Gräfin bemühte sich, sie zu besänftigen, Cäcilie war neben der Schwester hingeknieet und küßte ihr die Hände, aber Hildegard stieß sie mit Heftigkeit von sich, und die Gräfin hieß die jüngere Tochter endlich sich entfernen.

Weinend und bleich, wie Gaetana es dem Kammerdiener geschildert hatte, war Cäcilie in dem Zimmer der Baronin angelangt. Athemlos, in der höchsten Aufregung, erzählte sie derselben, was geschehen war; aber wider ihr Erwarten machte sie auf die ältere Freundin mit ihrem Berichte nicht den gewünschten Eindruck.

Vittoria hatte sich eben erst, dem schönen Wetter zu Liebe, ihr Ruhebett bis hart an die großen Fensterthüren ihres Zimmers tragen lassen und blieb, von den aufgespannten Vorhängen mild beschattet, ruhig liegen, während sie sich langsam und ohne jede Unterbrechung fächelte. Sie zog Cäcilie neben sich auf die Polster nieder, und mit ihrem Tuche die Thränen von der jungen Gräfin Wangen trocknend, sagte sie mit ihrer weichen, tiefen Stimme: Weine nicht, weine nicht, mein Kind! Die Thränen ziehen Furchen, und aus den Furchen in eines Weibes Antlitz wächst kein Glück hervor! – Komm, sei heiter, lächle wieder. Sieh mich an!

Sie nahm den Kopf Cäciliens in ihre Hände, schaute ihr in das Auge, küßte dann ihre Augenlider und rief: Hildegard war nicht für das Glück geschaffen, nicht für das eigene, nicht für fremdes; ihr Blick ist unheilvoll! Wir werden alle, alle glücklich werden, wenn ihre unheilvollen Augen uns nicht mehr verfolgen!

[73]

Cäcilie tröstend und Hildegard anklagend, sich ereifernd und dann wieder schmeichelnd und scherzend, ließ Vittoria Cäcilie nicht zu Worte kommen, als diese ihr Erschrecken über den zwischen ihrer Schwester und dem jungen Freiherrn erfolgten Bruch und ihr Bedauern über Hildegard's Schicksal auszusprechen wünschte. Und wenn es immer nicht leicht war, sich Vittoria's Einfluß zu entziehen, wo sie es mit Absicht darauf anlegte, Jemanden für sich und ihre augenblickliche Stimmung zu gewinnen, so fand Cäcilie es heute mehr als je unmöglich.

Sie sowohl als die Mutter hatten seit Jahren von dem traurigen Verhältnisse zwischen Hildegard und Renatus viel zu leiden gehabt. Daß es ein unhaltbares geworden sei, das hatte Cäcilie gleich an dem Tage gefürchtet, an welchem sie den Jugendgespielen nach so langer Trennung zum ersten Male wiedersah. Es war ihr überhaupt mit Renatus sonderbar ergangen. Von allen den Erinnerungen ihrer ersten Jugend, von denen Hildegard und auch die Mutter zu erzählen liebten, wußte Cäcilie nichts. Sie war um mehr als fünf Jahre jünger denn der junge Freiherr, sie war fast noch ein Kind gewesen, als Renatus in den russischen Feldzug gegangen war; aber sie hatte es oft behauptet, daß dies eigentlich der Tag sei, dessen sie sich aus ihrem ganzen Leben am deutlichsten entsinne, und daß sie erst von diesem Tage ab völlig klare und zusammenhängende Vorstellungen von ihren Erlebnissen habe, die freilich einfach genug gewesen waren.

Sie hatte ihre Kindheit während und nach der Wittwentrauer ihrer Mutter auf dem Lande, in dem Schlosse der ihnen verwandten Familie verlebt, von wo aus sie nach Richten gekommen waren. Dann hatte sie in der Hauptstadt in einer der Erziehungsanstalten einzelne Unterrichtsstunden erhalten, bis man zu Anfang der Freiheitskriege wieder auf das Land und nach Schloß Richten gezogen war, das die Mutter und Hildegard [74] nur verlassen hatten, als sie zur Pflege der Verwundeten und Kranken sich in die Stadt begeben hatten. Cäcilie, die für eine solche Aufgabe noch zu jung gewesen, war unter Vittoria's Obhut in Richten geblieben, denn damals hatten die Gräfinnen und Vittoria noch im besten Einvernehmen mit einander gelebt. Die Zerwürfnisse zwischen Hildegard und der Baronin hatten sich erst später, erst als Hildegard, wie sie das nannte, zum Bewußtsein über sich und über ihre Pflichten, und über den Beruf des deutschen Weibes gekommen war, so schroff herausgebildet. Und läugnen konnte Cäcilie es nicht, das viele Nachdenken und die große Tugend hatten ihre Schwester nicht liebenswürdiger gemacht.

Cäcilie war Hildegardens völliges Gegentheil. Sie dachte wenig nach. Sie kannte die Welt und die Menschen eigentlich nur aus den Schilderungen ihrer Mutter und aus den wenigen Büchern, welche sie nach der Wahl der Gräfin gelesen hatte. Zwischen die Gefühlsschwärmerei ihrer Schwester und die von leidenschaftlichen Erinnerungen durchglühte Phantasie Vittoria's gestellt, hatte sich ihrer nicht etwa ein Verlangen nach ähnlichen Empfindungen, sondern nur die Neugier bemächtigt, ob sie solcher Empfindungen wohl fähig sei; und weil sie bei ihrer sehr zurückgezogenen Lebensweise nur wenig Männern begegnet war – denn fast die ganze männliche Jugend des Landes stand seit Jahren unter den Waffen – so hatte sie in alle jene Träume, ohne welche kein Mädchen sich entfaltet, das Bild des Jünglings verwebt, den sie am besten kannte, das Bild des jungen Freiherrn, des Verlobten ihrer Schwester. Schlank und schmächtig, schüchtern und ein wenig schweigsam, mit den sanften, blauen Augen freundlich lächelnd, so hatte sie sein Bild in ihrem Gedächtnisse bewahrt, und wie vor einem völlig Fremden hatte sie am Tage seiner Heimkehr vor dem stattlichen Manne gestanden, zu welchem die Jahre, die Strapazen des Krieges und das[75] Leben in der bewegtesten und gewähltesten Gesellschaft von Europa den jungen Freiherrn ausgebildet hatten.

Sein Haar war dunkler, seine Gestalt sehr kräftig, sein Blick, seine Sprache waren lebhaft geworden, und Cäcilie hatte in freudiger Bewunderung seiner Schönheit sich gesagt, daß ihre Schwester sehr glücklich sein müsse. Aber das Glück, das sie an dem liebenden Paare zu sehen erwartete, wollte nicht zum Vorschein kommen.

Cäcilie bemerkte mit steigender Verwunderung die schwermüthige Zärtlichkeit ihrer Schwester und die Verlegenheit, mit welcher Renatus dieselbe eher zu ertragen als zu suchen schien. Wenn sie sich an die Stelle ihrer Schwester dachte, so mußte es gewiß ganz anders sein, sagte sie sich; denn sie war doch nicht des jungen Freiherrn Braut, sie liebte er nicht und sie liebte ihn auch nicht, aber es war doch Alles Lust und Freude zwischen ihnen, wenn sie einmal beisammen sein konnten, ohne daß Hildegard's ernsthafte Betrachtungen ihnen in ihrem Frohsinne Schranken setzten. Sie begriff es endlich gar nicht mehr, wie Renatus es mit ihrer Schwester nur auszuhalten vermöge; sie selbst hatte Hildegard nie so quälerisch und so mit sich und ihren kleinen Leiden ausschließlich beschäftigt gesehen, als eben jetzt. Sie war sonst mit der Schwester immer einig gewesen, oder doch gut mit ihr fertig geworden, denn ihre Neigungen und Gewohnheiten hatten sich, eben weil sie so ganz und gar von einander unterschieden waren, nicht gekreuzt; aber seit Renatus wieder in der Heimath lebte, hatte auch das gute Verhältniß zwischen den beiden Schwestern sich mit Einem Male geändert.

Hildegard hatte sich von Anfang an über die laute Fröhlichkeit ihrer jüngeren Schwester wie über die Rastlosigkeit beschwert, mit welcher sie bald Dies, bald Jenes mit Renatus unternehmen wollte, und sich vor Allem darüber beklagt, daß sie es ihr so schwer mache, ihren Verlobten zu irgend einer Sammlung [76] zu bewegen oder auch nur ernsthaft mit ihm zu verkehren. Cäcilie hingegen war empfindlich darüber geworden, daß die Schwester sie wie ein Kind behandle, mit dem oder in dessen Gegenwart man nichts Wichtiges besprechen könne. Sie hatte geklagt, daß Hildegard Alles an ihr tadle, von ihrer Art, sich zu kleiden, bis zu der Weise, in welcher sie mit dem Jugendfreunde, mit dem künftigen Schwager verkehre; und als Cäcilie allmählich aus Ungeduld die Nähe der Schwester zu meiden angefangen, hatte Renatus sich zu ihr gesellt, um Hildegard zu zeigen, daß er ihr Betragen gegen Cäcilie nicht billige.

Laß ihr doch Zeit, über ihre Sorgen nachzudenken! hatte Cäcilie übermüthig ausgerufen, wenn sie und Valerio den jungen Freiherrn zu irgend einem fröhlichen Unternehmen zu überreden getrachtet hatten; und nachgebend und von der eigenen Neigung angetrieben, hatte Renatus sich mehr und mehr an Cäcilie angeschlossen, deren blühende Frische ihm das Herz erfreute.

Es war ihm ein Vergnügen, Cäcilie laufen zu sehen, sie hatte die Anmuth eines Rehes. Es war ihm ein Vergnügen, sie reiten zu sehen, das Thier selbst schien von ihrer Lebenslust beflügelt zu werden; und sie mit ihrer hellen Stimme lachen zu hören, war für Renatus vollends ein Genuß. Cäcilie aber gehörte nicht zu denen, die sich Sorgen machen, die Mutter und die Schwester thaten's, wie sie meinte, zur Genüge; sie war immer guter Dinge.

Sie lachte mit ihrem reizendsten Lachen, wenn Renatus sich bei ihr über seine Braut beklagte. Sei nicht böse auf sie, sagte sie; sie ist ein wenig altjüngferlich geworden. Heirathe sie nur bald, dann wird sie eine junge Frau und auch wieder munter und vernünftig werden. Sie hat sich gar zu sehr nach Dir gesehnt.

Und hast Du Dich nicht nach mir gesehnt? fragte Renatus sie dann wohl.

[77] Ich? Wie käme ich dazu? Ich war ja nicht mit Dir verlobt! Nur als Du in den Krieg gegangen bist, dachte ich, es würde mir das Herz zerbrechen, wenn Du sterben solltest! Ich konnte mich damals gar nicht von Dir trennen! Aber Du hast's nicht bemerkt, ich war ja damals auch nur noch ein dummes Kind!

Renatus sah sie betroffen an. Ganz plötzlich kam es ihm in das Gedächtniß zurück. Wie hatte er das vergessen können? – Deutlich, aber ganz deutlich, erinnerte er sich jetzt, wie die leidenschaftliche Umarmung des kaum vierzehnjährigen Mädchens ihn in jener Abschiedsstunde erschreckt hatte. So hatte Hildegard ihn nie umarmt. Er fühlte unwillkürlich ein lebhaftes Verlangen, einer solchen Umarmung noch einmal, von Cäcilien noch einmal theilhaftig zu werden. Wie bittend hielt er ihr die Hand hin, sie schlug herzhaft ein, er umarmte und küßte sie und sie gab ihm den Kuß mit ihren schwellenden Lippen fröhlich lachend wieder. Weßhalb sollte sie ihrem künftigen Schwager, weßhalb sollte sie Renatus auch einen Kuß versagen? Sie that es niemals, wenn er sie darum bat, und er küßte sie jetzt oft genug. Nur jene erbebende Leidenschaft, die er wieder einmal, nur einmal wieder noch zu genießen wünschte, jene Leidenschaft nahm er an ihr nie wieder wahr. Es war Alles an und in ihr arglose, auf den Augenblick gestellte Fröhlichkeit, und diese war es auch, was ihre Nähe für Vittoria so angenehm machte, was Valerio an sie fesselte.

Heute zum ersten Male in ihrem ganzen Leben hegte Cäcilie einen wahrhaften Zorn, und er war gegen ihre einzige Schwester gerichtet. Sie hatte es Vittoria verschweigen wollen, was oben unter der eigenen Mutter Augen zwischen Hildegard und ihr geschehen war; aber der Schwester ungerechtes Mißtrauen, ihre Härte und ihre Heftigkeit waren gar zu groß, gar zu grausam gewesen. Vittoria hatte Recht: Hildegard war nicht zum Glück geschaffen, nicht für das eigene, nicht für fremdes Glück. Wie hätte sie sonst die Schwester, die ihr in mitleidvoller Liebe zu[78] helfen und zu dienen bemüht gewesen war, so herzlos, so unnatürlich von sich stoßen können?

Cäcilie klagte, Vittoria hörte ihr ermuthigend zu. Als jene geendet hatte, sagte die Baronin: Und könntest Du jemals so voll Argwohn sein, wie Deine Schwester?

Nein! nein! ganz gewiß nicht! rief Cäcilie. Wie kann man auch einem Menschen ein Uebel, ein Unrecht zutrauen, wenn man ...

Sie hielt inne, denn die Gewohnheit der Schwesterliebe – und die Familienliebe ist ja überhaupt zu einem großen Theile Gewohnheitssache – hielt sie zurück, den Gedanken auszusprechen, der ihr eben erst gekommen war; aber Vittoria ergänzte ihn sofort.

Siehst Du es, siehst Du es nun, mein Kind, daß sie voll Arglist ist? Weil sie von Jugend auf mit unermüdlicher Beharrlichkeit ihr Netz gesponnen und meinen armen Renatus, als er fast noch ein Knabe war, damit umgarnt hat, darum, darum allein hält sie Dich für fähig, das Gleiche zu thun; darum traut sie Dir es zu, Du könntest, arglistig wie sie, ihr das Herz des ersehnten Bräutigams abwendig machen wollen. Als ob sie nicht selber alles dazu gethan hätte, ihn von sich zu entfernen, als ob ein Mann, so schön, so gut, so fröhlich und so gesund wie mein Renatus, dazu geschaffen wäre, sie seufzen zu hören und unter ihren kühlen Blicken zu erfrieren! Per bacco! Vittoria brauchte, wenn sie heiteren Muthes war, wie eben jetzt, wohl einmal einen heimathlichen Schwur – per bacco, wir werden Ursache haben, diesen Tag zu segnen, und mich verlangt danach, Renatus in seiner neu gewonnenen Freiheit zu umarmen! Er wird schön aussehen, wenn er wiederkehrt und seinen Willen hat, denn er sehnte sich nach seiner Freiheit.

Sie war so aufgeregt, daß sie sich erhob, um einen Gang hinaus in den Garten zu thun, und sie forderte ihren Schützling auf, sie zu begleiten. Anfangs weigerte Cäcilie sich dessen. Die [79] Stunde war nahe, welche man für die Abreise der Schwester anberaumt hatte, sie wollte sie in dieser nicht verlassen, ihr dabei nicht fehlen.

Vittoria nahm sie bei der Hand. Lügst Du auch, fragte sie, oder hast auch Du kein Blut in Deinen Adern, kein Feuer in der Brust, das in zorniger Flamme emporschlägt, wenn man Dich beleidigt? Schäme Dich, Cäcilie, ich hatte besser von Dir gedacht! Und ihren Arm in den der jungen Gräfin legend, sagte sie, während sie mit ihr die Terrasse entlang und in den Garten hinunter ging: Komm, mein Herz, es wäre nicht hübsch von Dir, Dich an ihrem Schmerze zu weiden, denn leiden – leiden muß man im Verborgenen!

Cäcilie gab endlich nach. Sie war selbst aufgeregter und in sich unentschiedener, als je. Sie hätte nicht sagen können, wie ihr eigentlich zu Muthe sei. Sie hörte auch nur halb auf die Schilderung, welche Vittoria ihr von dem ganzen Zusammenhange zwischen ihrem Stiefsohne und Hildegarden machte, denn Renatus hatte es der Baronin in seinem Mißmuthe einst anvertraut, wie er sich Hildegarden, von ihr dazu angetrieben, gerade in dem Augenblicke versprochen habe, in welchem er gekommen war, sich von ihr los zu sagen. Nur das Eine entging Cäcilien nicht, und die Baronin wiederholte es auch wieder und wieder: Renatus hatte Hildegard niemals geliebt!

Also ist Renatus jetzt nicht zu beklagen! sagte Cäcilie sich mit einer Genugthuung, die sie überraschte, und gleich darauf fiel ihr die Schwester ein. Sie sah nach der Uhr. Jetzt hatte Hildegard das Schloß bereits verlassen.

Wider ihren Willen seufzte Cäcilie tief. Sie dachte daran, daß auch ihres Bleibens jetzt hier nicht mehr lange sein werde, und die Thränen traten ihr bei der Vorstellung in die sonst so fröhlichen Augen. Sie hatte das Schloß und die Baronin Vittoria und Renatus und Valerio so lieb!

[80]
6. Capitel
Sechstes Capitel

Graf Gerhard hatte eine Krankheit überstanden. Mitten in einer Gesellschaft, bei einem Feste, das ein Kreis von alten Junggesellen sich gegeben hatte und bei dem es fröhlich genug hergegangen war, denn die Jugenderinnerungen waren den Herren bei dem Weine reichlich zugeflossen, hatte ein schlimmer Anfall ihn ereilt.

Wie ein Schwindel, wie ein plötzliches Vergehen der Sinne war es über ihn gekommen. Man hatte ihn mit dem Beistande eines Arztes nach seiner Wohnung gebracht; dort hatte er sich bald erholt, und die Krankheit hatte nicht lange gewährt. Jetzt war sie ganz vorüber. Nur eine Schwäche war ihm noch zurückgeblieben, und das Zittern in den Händen, das Renatus bei dem Wiedersehen seines Oheims aufgefallen war, hatte zugenommen, wenngleich der Graf es mit großer Geschicklichkeit zu verbergen wußte.

Die Fenster seines Zimmers waren geöffnet, die Wärme des Tages drang voll herein, obschon man mit den heruntergelassenen Markisen das Licht abdämpfte. In den großen Vasen auf den Ecktischen dufteten die schönsten Frühlingsblumen, Früchte, welche die Jahreszeit im Freien noch nicht darbot und die also aus Treibhäusern geliefert sein mußten, standen auf dem Tische vor dem Sopha, und in seinen seidenen Schlafrock gehüllt, genoß der Graf, von Polstern bequem gestützt, einer sehr behaglichen Ruhe. Bald sah er, wie das Sonnenlicht milde über die Bilder [81] an den Wänden hinglitt, dann betrachtete er die Blumen in den Vasen. Ein Schmetterling, der sich in das Zimmer verirrt hatte, flog von der einen Vase zu der anderen, wiegte sich bald auf dieser, bald auf jener Blume und flatterte dann gaukelnd auf und nieder, wo die Sonne ihm am wärmsten schien. Der Graf hätte stundenlang dem Spiele dieser bunten Flügelchen zusehen können, ohne an etwas Anderes zu denken, hätte der Brief, den er in seinen Händen hielt, ihn nicht beschäftigt.

Es war ein langer Brief. Er hatte ihn schon am verwichenen Tage erhalten und gelesen, aber er wollte ihn noch einmal lesen. Der Brief hatte ihn sehr gerührt, der Seelenzustand der Schreiberin hatte etwas Poetisches für ihn. Er klingelte, befahl dem Diener, ihm die Brille zu reichen, welche er in seinem Schlafzimmer zurückgelassen hatte, ließ sich aus der feinen Krystallflasche ein Glas Orgeade einschenken, und nachdem er getrunken und den goldenen Theelöffel mit weiblicher Genauigkeit quer über den Rand des Glases gelegt hatte, um dem Diener ohne Worte anzuzeigen, daß er das Glas nicht wieder füllen solle, zog er den Brief aus seiner Umhüllung hervor und begann ihn zum zweiten Male zu lesen. Er war aus Pyrmont datirt und von Hildegard geschrieben.

»Ich bin unfähig gewesen zu irgend einem Thun,« hob der Brief an, »das mag Ihnen erklären, mein verehrter Freund, weshalb Sie erst heute von mir erfahren, daß ich in Pyrmont bin, daß ich mich vierundzwanzig Stunden in Berlin aufgehalten, ohne Sie, ohne irgend Jemanden davon zu benachrichtigen, und daß ich Richten verlassen habe. Ach, ich habe mehr verlassen, als den Ort!«

Der Brief brach an der Stelle plötzlich ab, und erst am folgenden Tage war die Fortsetzung desselben geschrieben worden.

»Es ist eine lange Zeit vergangen,« hieß es in derselben, »ehe ich die Fassung gewann, mir selbst meine Zustände klar [82] zu machen, und gestern, als ich mich stark genug glaubte, Sie, dessen tröstliche Theilnahme mir seit manchem Jahre das Hoffen erleichterte, in meine entmuthigte Seele, in mein gebrochenes Herz blicken zu lassen – gestern übermannte mich die Verzweiflung wieder mit ihrer ganzen Stärke. Jeder meiner Gedanken war wieder nur ein Aufschrei, ein Aufschrei der Klage gegen ihn, dessen Namen zu nennen mir jetzt ein Schmerz ist.

Ich habe des Tages nicht vergessen, an welchem ich Ihnen, als wir in Richten zum ersten Male nach dem Kriege die Margarethenhöhe hinaufstiegen, die einfache Geschichte meines Lebens, die unbewußte Weise schilderte, in welcher mein Herz sich, von früher Kindheit an, dem schönen, verwaisten Knaben zugewendet hatte. Meine Liebe ist stets eine Kraft gewesen, die ich nur genoß, wenn ich sie im Dienste für Andere, in der Hingebung an Andere verwerthen konnte. Ich war sein, so lange ich mich meiner selbst erinnern kann, und seit sieben langen Jahren hat jeder meiner Athemzüge ihm gehört. Weshalb soll ich noch leben, da mein Dasein ihn nicht mehr beglückt? –

Schatten der Liebe, welche den Gegensatz zu ihrem Lichte bilden, haben Sie die bangen Zweifel geheißen, von denen meine Seele damals sich beunruhigt fühlte. Ach, ich wußte, daß mein ahnend Herz mich nicht betrog, daß es nicht vergebens sorgte und erbebte! Der Unglückselige hat sein Blut vergossen für des Vaterlandes Ehre, und während ich in brünstigem Gebete jedes Haar seines Hauptes der Huld des Höchsten anempfahl, ist Renatus nicht nur von mir, ist er von der wahren Ehre abgefallen, ist er sich selbst verloren gegangen, ist er abwendig geworden der Liebe und der Treue, die er mir gelobt hat.

Als er heimkehrte! Wie soll ich sie Ihnen aussprechen, die Wonne und das Glück, die ich empfand, die Seligkeit, mit der ich ihn in meine Arme schloß! Aber in jenem ersten Aufzucken [83] meines Herzens fühlte ich es – nur ich war glücklich, er war es nicht.

Was habe ich nicht alles gethan, ihn wiederzugewinnen, was gelitten, ihn zu sich selbst zurückzuführen! Es ist Alles vergebens gewesen, und meine Kraft ist erschöpft, meine Lebenslust dahin.

Fast fünf Monate sind in diesem stillen Kampfe entschwunden. Der Termin für die neuen Contracte mit seinen Beamten war gekommen. Ich hatte ihn am Morgen heiterer als sonst gesehen, er sprach von seinem Vorsatze, auf seinen Gütern zu leben, ich knüpfte wider meinen Willen meine Hoffnungen daran. Aber der Mittag war nahe, der Amtmann hatte sich schon lange entfernt, und Renatus ließ sich nicht sehen. Seine Sorgen waren stets die meinigen gewesen, ich kannte seine Angelegenheiten besser als er selbst, ich hatte mich darauf vorbereitet, sie leiten zu können, wenn es ihm nach unserer Verheirathung nicht gefallen hätte, sich mit ihnen zu beschäftigen, und eben deßhalb hatte ich dem Rathe beigepflichtet, daß er die beiden andern Güter verkaufen solle. Glücklich mit ihm zu sein, war in dem herrlichen Richten ja immer noch des Raumes genug.

Den ganzen Morgen hatte ich mich gefragt: Was wird er thun, wozu wird er sich entschließen? Die Ungewißheit ließ mir endlich keine Ruhe. Ich schickte nach seinem Zimmer, er war nicht dort. Man sagte, er sei in den Park gegangen. Ich konnte nicht anders, ich mußte ihn sehen. Man reißt nothgedrungen sein Herz von dem geliebten Herzen eines Mannes los und verlernt es doch nicht, um den zu sorgen, der uns von sich stößt.

Ich ging in den Park hinab, ich suchte Renatus in den Wegen, welche ihm die liebsten waren, nur seine Fußtapfen sah ich, er war nicht dort .. Er fand die Laune spazieren zu gehen, und sagte sich nicht mehr: Hildegard wird am mich denken, wird um mich sorgen!

[84] Bis an die Wiese folgte ich seiner Spur. Dann ging ich auf die Margarethenhöhe hinauf, und kaum dort angelangt, sah ich ihn von dem Rothenfelder Kirchpfade den Weg in die Höhe kommen. Das Herz schlug mir vor Freude, wie ich ihn in seiner Schönheit so leicht einhergehen sah. Ich wußte nicht, was ich that, als ich, der inneren Stimme folgend, so schnell ich konnte, ihm entgegeneilte.

Sonst, wenn ich, noch ein halbes Kind, so im Laufe von der Höhe zu ihm heruntergeflogen war, hatten seine Arme sich mir entgegengebreitet und ich hatte mich an seine Brust geworfen mit dem Glücksgefühle, daß ich im Hafen sei. Jetzt, als ich athemlos vor Freude und Erregung vor ihm stand, mußte ich beschämt die Augen niederschlagen, um es nicht zu sehen, wie wenig die unerwartete Begegnung ihn erfreute.

Wo kommst Du her? fragte er mich, ohne mir auch nur die Hand zu reichen.

Ich habe Dich gesucht, gab ich ihm zur Antwort; ich befürchte, daß Du keine gute Verhandlung mit dem Amtmann hattest, daß es zu keinem Abschlusse gekommen ist! – Und als ich das ausgesprochen hatte, fiel mir's auf das Herz, daß zwischen mir und ihm schon seit lange immer nur von seinen Geschäften die Rede gewesen war.

Obschon die Mittagssonne heiß herniederbrannte, wollte ich über die Wiese den Rückweg nehmen, weil es uns am schnellsten nach dem Schlosse gebracht hätte, und ich scheute mich, mit ihm allein zu sein, weil es mir dann immer am schmerzlichsten fühlbar wurde, wie er mir gar nichts mehr zu sagen hatte.

Wider mein Erwarten äußerte er die Absicht, über die Höhe nach Hause zu gehen. Als wir hinaufstiegen, bot er mir den Arm. Ich wollte fragen, mich erkundigen; er hieß mich schweigen, meine Brust zu schonen; aber auch er sprach nicht zu mir. Die Sonne erwärmte das Laub und die Stämme, [85] daß uns aus den dicht verschatteten Gängen überall ein warmer Blätterduft ntgegenquoll. Von Zweig zu Zweig huschten die Vögel an uns vorüber, es sang und zwitscherte rund um uns her, es blühte, wohin man sah, und dazwischen zuckte und flammte das Sonnenlicht bald hier, bald dort zwischen der dichten Blätterfülle hervor und streute seinen glühenden Wiederschein über das grasige Erdreich hin, daß man wie auf dunkelrothen Blumen ging. Mitten in der Traurigkeit, die sich während dieses schweigenden Ganges immer lähmender auf mich herniedersenkte, wirkte die Herrlichkeit des Tages doch noch auf mich ein, und um nur die Stille zu unterbrechen, um nur nicht zu merken, wie einsam ich an seiner Seite sei, sagte ich: Siehst Du denn nicht, wie schön es hier ist?

Gewiß! entgegnete er mir, es wird mir schwer genug werden, es wieder zu entbehren.

Ich war nicht gleich im Stande, ihm auszudrücken, wie unerwartet mir seine Antwort kam, aber er mochte mein Erstaunen in meinen Mienen lesen, und ehe ich noch ein Wort gesprochen hatte, sagte er: Mein Urlaub geht zu Ende, unser Regiment kommt in den nächsten Wochen über den Rhein zurück. Ich muß es zu erreichen suchen, um meine Compagnie doch selbst in die Hauptstadt einführen zu können.

Er sprach das so einfach, so natürlich – und welche Grausamkeit wäre einem treulos gewordenen Herzen nicht natürlich? – daß er mich täuschte. Ich war es schon gewohnt worden, ihn nur an seine eigenen Wünsche denken zu sehen, und das Verlangen, mit den Tapfern, in deren Mitte er gekämpft hatte, unter unseres geliebten Königs Augen in die Hauptstadt einzuziehen, war ja ein berechtigtes. Ich selbst sehnte mich danach, ihn an der Seinen Spitze, im Siegesschmucke, im deutschen Eichenkranze zu erblicken. Indeß ich unterdrückte diesen Wunsch, und nur die Frage that ich, wann er gehen wolle.

[86] Sobald ich hier mit dem Amtmann abgeschlossen habe!

Du denkst also, ihn zu behalten? erkundigte ich mich.

Ja, als Pächter! entgegnete er kurz.

Mein Erschrecken war groß, indeß ich hatte seit lange die Erfahrung gemacht, daß meine Bitten, meine Vorstellungen ihn nicht bestimmten. Du hast also Deine Absichten geändert, Du willst die Güter nicht selbst bewirthschaften, wie Du es noch vor wenig Tagen vorgehabt hast? erkundigte ich mich.

Nein! sprach er sehr bestimmt.

Ich wußte mir nicht zu erklären, was geschehen sein konnte, ich schwieg also; aber das reizte seine Ungeduld, und heftiger, als es zu verantworten war, rief er: Sprich es doch aus, was Du denkst, und hülle Deine Unzufriedenheit nicht in dieses Schweigen, das mich verdammt, weil ich endlich, endlich einmal von den Sorgen freizukommen wünsche, die mein Erbtheil gewesen sind von Jugend auf! Was habe ich denn bis jetzt von meinem Leben, von diesen Gütern anders gehabt, als Sorgen? Von unseren übeln Vermögensumständen habe ich den Caplan sprechen hören, als ich mich, ein Knabe, noch an Märchen zu ergötzen wünschte! Um unserer Vermögensverhältnisse willen schickte man mich in das Heer, in einem Alter, in welchem mein Vater in wahrhaft königlicher Freiheit mit seinem Erzieher die halbe Welt durchreiste! Als ich nach längerer Zeit ins Vaterhaus zurückkam, empfing mich die Kunde, daß unsere Lage es für meinen Vater nöthig mache, auf mein mütterliches Erbe zurückzugreifen, und ich gab es hin! Im Feldlager, am Vorabende der größten Schlacht, erreichten mich mit der Nachricht von meines Vaters Tode die Berichte über unseren sich entwerthenden Besitz! Am Beiwachtfeuer, auf dem Siechbette im Lazareth, in den Sälen von Paris, bei dem Wiedersehen des Onkels, in dem Bureau von jenem Tremann und hier in meinem Hause höre ich immer und ewig nur dasselbe alte Lied! [87] Und wenn einmal der Schatten meiner Bäume mich still umfängt, wenn ich endlich einmal aufathmen möchte in Gottes freier Luft, spricht Dein schon wieder sorgenvoller Blick: Schaffe Rath, schaffe Ordnung, so ist's nicht zu halten! – Nun denn – verzeihen Sie mir, mein edler, theurer Freund, daß ich den Ausdruck wiederhole, den ich mit Beschämung von seinem Munde hören mußte – nun denn, so mag zum Teufel gehen, was nicht zu halten ist! Ich verkaufe Rothenfeld und Neudorf, ich verpachte Richten, ich gehe zu meinem Regiment zurück! Ich will wissen, woran ich bin, ich will nicht länger die Last auf meinen Schultern fühlen, welche die Vergangenheit mir aufgebürdet hat. Ich will die Irrthümer meiner Voreltern und auch die meinigen nicht als eine mich ewig hemmende Kette durch das Leben schleppen! Ich will ein eigenes, neues Leben leben, ich will endlich einmal mein eigener Herr, endlich einmal frei, endlich frei sein!

Renatus hatte sich erhoben und ging auf dem engen Raume heftig auf und nieder. Noch an dem Morgen dieses Tages hatte er, wie ich schon erwähnte, davon gesprochen, daß er die Güter selbst bewirthschaften wolle; es mußte also etwas geschehen sein, das ihn verstimmt, das ihn andern Sinnes gemacht hatte. Ich vermochte mir nicht zu denken, was es gewesen sein könne, und ich wußte mir keinen Rath. Freilich hielt ich die Maßregeln, von denen er gesprochen hatte, soweit sie den Verkauf der beiden andern Güter betrafen, für richtig; aber ein Entschluß, in solcher Verfassung vollzogen, mußte mir immer als ein unheilvoller erscheinen, und ich wagte nicht, ihn zu billigen, nicht, wider ihn zu sprechen. Dazu kam das unabweisliche Gefühl, daß Renatus sich in solcher heftigen, in solcher über das erlaubte Maß hinausgehenden Weise nicht geäußert haben würde, hätte er einen Andern, hätte er nicht eben mich zur Seite gehabt. Ich glaubte es zu sehen, daß mein Erschrecken, [88] meine Angst ihm eine Genugthuung bereiteten, ich hatte in diesen letzten Monaten so viel, ach, so unaussprechlich viel von ihm ertragen, und keine Sylbe und kein Laut in seiner ganzen Rede dachten meiner! Ich war nicht mehr für ihn vorhanden!

Oft, unsäglich oft hatte ich es empfunden, daß ich zu seinem Glücke nicht mehr nöthig sei. Jetzt traf es mich aus seinen Worten wie ein Schlag, und wie ein Blitz drang die nicht mehr zurückzuweisende Erkenntniß in mein Herz. Er wollte frei sein, frei vor allen Dingen, frei von dem Worte, das ihn an mich band! Ich war es, die er fliehen wollte, wenn er zum Regimente ging! Die Liebe, die er mir geschworen hatte, war der Irrthum, von dem er loszukommen wünschte; und es kostete ihn nichts, sich von dem Erbe seiner Väter loszureißen, wenn er sich damit nur von mir zu trennen vermochte.

Wir waren nahe bei einander. Er war stehen geblieben und sah, an einen der starken Stämme angelehnt, in den Laubgang hernieder. Dieselbe Sonne beschien uns noch, dieselben sanften Töne des lockenden Vogelsang berührten noch unser Ohr, aber es war mir, als hätte sich eine Kluft aufgethan zwischen mir und ihm, und als träte er fern und ferner von mir zurück. In jedem Augenblicke wollte ich die Frage thun. Drei, vier Mal versuchte ich es, aber immer fehlte mir dazu das Wort, und mit jeder Sekunde schien er mir fern und ferner zu treten, wuchs in mir die Angst, daß mein Ton ihn nicht mehr erreichen könne. Ich war meiner Sinne fast nicht mächtig. Nur das Einzige fühlte ich noch klar: auch ich mußte frei werden, und wenn auch durch den Wahnsinn oder durch den Tod, von dieser Stunde martervoller Pein.

Renatus, fragte ich ihn, und meine eigene Stimme klang mir wie eine fremde, und die Frage klang mir so fremd, als hätte ich nichts mit ihr zu schaffen, Renatus, Du sprichst von Deinen Irrthümern, von deren Folgen Du frei zu sein wünschest? [89] Siehst Du die Liebe, die Du mir geschworen hast, auch als einen Irrthum an? Willst Du frei sein auch von den Banden, die uns an einander ketten? Sprich es aus!

Renatus fuhr zusammen, aber er antwortete mir nicht, und, die Arme über die Brust verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet, starrte er finster vor sich nieder.

Was da in meiner Seele vorging! Wie könnte ich Ihnen das beschreiben? Ich hatte mir gesagt, daß er mich nicht mehr liebe, ich hatte ihm angeboten, ihm seine Freiheit wiederzugeben, und, denken Sie nicht übel von mir, weil ich es Ihnen eingestehe, ich erwartete, ihn zu meinen Füßen niedersinken zu sehen, und meine Arme waren wie meine Seele offen, ihn liebend und verzeihend zu umfangen. Indeß Renatus regte sich nicht, und wie von einem inneren Feuer schnell und hoch emporgetrieben, schoß ein Gefühl des Zornes in mir auf. Da er mich nicht mehr liebte, sollte er künftig mit Beschämung an mich denken, wollte ich den Triumph genießen, ihn zu demüthigen, und ich hatte es bis dahin nicht geahnt, welche Kräfte der Grimm und die Empörung uns verleihen können.

Ich blieb sehr ruhig sitzen, als er vor mir stand. Sieh' nicht so finster drein, Renatus, sagte ich. Es ist eine böse Stunde über Dich gekommen, aber ich habe mich Dir ja angelobt für gute und für böse Stunden, ich will Dir helfen, über diese hier hinauszukommen. Es ist gut, daß sie mich nicht unvorbereitet trifft. – Ich mußte innehalten, denn das Klopfen meines armen Herzens versetzte mir den Athem und ich brauchte eine kleine Zeit, ehe ich wieder meiner Herr geworden war.

Du willst frei sein, sagte ich, Du möchtest ein neues Leben leben! – Ich streifte den Ring von meinem Finger, den ich seit sieben Jahren, seit sieben langen Jahren nicht von mir gelassen hatte, und reichte ihm denselben hin. – Nimm das [90] Pfand zurück, das Dich an die Vergangenheit bindet, ohne Deine Liebe begehre ich Dein nicht. Ich gebe Dich frei!

Renatus trat mit rascher Bewegung auf mich zu. Sein Auge belebte sich, aber ich sah es, ich konnte mich nicht darüber täuschen, es war kein Schmerz, es war eine aufzuckende Freude, die es erglänzen machte. – Behalte ihn, o, behalte den Ring, bat er, als ein Andenken an mich, und ich will den Deinigen heilig halten in Bewunderung Deines edlen, großen Herzens!

Ich konnte ihm nicht antworten; ich schüttelte verneinend mein Haupt. Ich hätte es nicht vermocht, den Ring wieder an meiner Hand zu tragen. Er war mir einst ein Pfand des Glücks gewesen, er wäre mir jetzt eine mahnende Erinnerung an ein langes Leid geworden. Aber ich war es so gewohnt, ihn zu tragen, meinen Finger von dem kleinen Reif umspannt zu fühlen; es fehlte mir etwas, es wurde mir kalt, es fiel mir Alles, Alles auseinander, da ich ihn fortgegeben, da Renatus ihn zurückgenommen hatte. Es war ein Zauberring für mich gewesen, nun war der Bann gelöst und die Entzauberung brach schnell heran.

Ich war mit meinen Gedanken, mit meiner Kraft zu Ende. Ich sah das Spielen der Blätter, ich fühlte den Sonnenschein, ich hörte die Vögel singen; es bedeutete mir nichts mehr. Ich athmete, das war Alles! Nicht einmal mein Leiden fühlte ich. Nur eine Stumpfheit, nur eine Leere empfand ich. Es war mir Alles ein Räthsel, es war mir Alles klar und doch so unverständlich. Ich hätte nicht sagen können, ob ich wache, ob ich träume.

So saß ich eine Weile. Die Zeit kam mir sehr lang vor. Ich wunderte mich, daß die Sonne noch immer schien, daß die Vögel noch immer sangen. Es war mir, als hätte ich Ewigkeiten durchlitten und durchlebt.

Renatus sprach zu mir. Er sagte mir, wie er seit Jahren [91] vor der Stunde sich gefürchtet hätte, in welcher der Irrthum unserer Herzen uns deutlich werden würde. Er habe lange gefühlt, daß er in jugendlicher Verblendung den Frevel begangen habe, mich an sich zu ketten, ehe er sich seines eigenen Wesens recht bewußt geworden sei. Er gestand mir, daß er mich nie geliebt, daß er sich vergebens bemüht habe, sich mit der Freundschaft, der Verehrung, der Bewunderung zu begnügen, die er für mich fühle, die er mir bewahren werde ....

Ich fühlte ein Verlangen, laut aufzulachen, aber ich unterdrückte es, denn mit diesem Lachen hätte ich dem Wahnsinne Raum gegeben, der mit seinen grauen, verwirrenden Flügeln sich auf mein Haupt herniedersenken wollte.

Ich ließ Renatus sprechen fort und fort. Es war der Anfang der Befreiung, die er sich bereitete. Mit lebhaften Worten schilderte er mir die Leiden, die Schmerzen, die er um mich getragen hatte. Er um mich! – Ich unterbrach ihn nicht; auch nicht, als er es mir ausmalte, das Glück, das er sich einst mit mir geträumt, das er ersehnte, das er von der Zukunft sich erhoffte.

Ach, er kannte die Liebe, er kannte sie sehr wohl! Und angstvoll, von Minute zu Minute harrend, strebte ich, zu erkennen, wer ihn fühlen lehren, was er nicht für mich gefühlt. Die Liebe hatte er ertödtet in meiner Brust; wie ein böser Geist stieg aus ihrer Asche die Eifersucht, diese niedrigste der Leidenschaften, in mir empor. Ich sehnte mich danach, den Namen Eleonore von seinem Munde zu vernehmen, denn mich verlangte nach einem Gegenstande für den Haß, der in mir brannte, aber ich hatte mich betrogen. Er hatte Eleonore Haughton nicht geliebt. Nur seine Phantasie hat sie beherrscht, nur seine Eitelkeit hat sie beschäftigt. Sie war für ihn zu mächtig, wie meine Liebe für ihn zu mächtig gewesen ist – und nicht einmal der elende Trost war mir gegönnt, das Wesen hassen [92] zu dürfen, das er, ich erkannte es in jener unheilvollen Stunde, das er liebte und auf das sein Sinn gerichtet war.

Ich war sehr elend, sehr unglücklich, mein theurer Freund!

Als Renatus endlich zu sprechen aufhörte, schien er eine Antwort zu erwarten, aber was sollte ich ihm sagen? Ich erhob mich und wollte gehen. Er hielt mich bei der Hand zurück. Das dünkte mir der Gipfel seiner Herzenshärtigkeit.

Ich zog meine Hand aus der seinigen. Du bist jetzt frei, was willst Du noch von mir? fragte ich ihn.

Deine Vergebung! sagte er, und dem bittenden Klange seiner Stimme konnte ich nicht widerstehen. Wie eine leuchtende Flut strömten sie auf mich ein, alle die Erinnerungen jener goldenen Tage der Jugend. Die Fülle meines einstigen Glückes, die Gewalt meines Schmerzes überwältigten mich. Ich breitete meine Arme aus, ich warf mich an seine Brust, und an seinem Herzen, an seinem treulosen Herzen weinte ich um ihn – um mich!

Matt wie eine Sterbende, riß ich mich endlich von ihm los. Ach, er hielt mich nicht! Wo willst Du hin? fragte er mich, da ich, nicht wissend, was ich that, mich nach dem Dorfe wendete. Wo willst Du hin?

In die Verbannung! gab ich ihm zur Antwort. War die Welt mir doch öde und leer, wohin ich immer ging. Er bot mir seinen Beistand an, er wollte mich begleiten. Die kleinste Hülfsleistung von ihm wäre mir wie eine Schmach erschienen. Ich hieß ihn gehen. Er trug Bedenken, mich zu verlassen. Ich bin des Alleinseins lange schon gewohnt! versicherte ich ihm.

Dir gegenüber habe ich nur zu gehorchen! sprach er, und mir die Hand noch einmal reichend, die zurückzuweisen ich zu stolz war, ging er, ohne sich auch nur noch einmal nach mir umzusehen, langsam die Höhe hinab.

Trockenen Auges blickte ich ihm nach. Es war mir Alles [93] werthlos, Alles gleichgültig, selbst mein eigenes Unglück. Nur das Eine fühlte ich, ich konnte mein Haupt unter seinem Dache nicht mehr zur Ruhe legen, ich konnte ihn nicht wiedersehen.

Als ich in das Schloß kam, sagte man mir, Renatus sei ausgeritten und werde erst am Abende wiederkehren. So sehr war ich an seine rücksichtslose Grausamkeit gewohnt, daß ich es ihm Dank wußte, mir Freiheit für den einen Tag geschafft zu haben. Ich konnte Vittoria, ich mochte Cäcilie nicht um mich haben. Ich bat meiner Mutter, sich mit mir zurückzuziehen; ich sagte ihr Alles, Alles! – Auch sie begriff es, daß ich nicht bleiben konnte, auch sie wünschte, sich zu entfernen; nur so schnell, wie ich es begehrte, konnte es für sie und mich und für Cäcilie nicht ausgeführt werden; und ehe ich über diesen Abend hinaus in seinem Hause geblieben wäre, hätte ich mein Haupt auf freiem Felde betten und des Himmels Sterne mir zum Zelte machen mögen.

Meine Mutter sah meine Angst. Es fiel ihr ein Auskunftsmittel ein. Am folgenden Tage sollte, wie wir wußten, eine meiner näheren Bekannten ihr Vaterhaus verlassen, um nach dem Fräuleinstift zum heiligen Grabe aufzubrechen, in welchem der König ihr eine der freigewordenen Stellen gnädig zuertheilt hatte. Ich konnte ihren Wohnsitz noch vor der Nacht erreichen, und sie hatte, da sie nur mit ihrem Mädchen reiste, einen Platz für mich in ihrem Wagen; sie hatte es mir sogar angeboten, sie zu begleiten, falls ich die Hauptstadt und unsere Freunde wiederzusehen wünschte.

Wie mir zu Muthe war, als ich das Schloß verließ, welches ich mich gewöhnt hatte, als meine Heimath zu betrachten – ich finde keine Worte, es Ihnen auszudrücken. Vom Leben scheiden, ist für den Gläubigen nicht schwer, die Hoffnung leiht ihm ihre tragenden Schwingen; aber sich loszureißen von all seinem Glauben, von seinem Lieben, von all seinem Hoffen[94] und in das Leben, in die kalte, fremde Welt hinauszugehen, das, mein theurer Freund, das ist sehr schwer, sehr bitter, und ich habe es ertragen.

Unsere Reisetage gingen still dahin. Ferdinanden's Verlobter war auf dem Schlachtfelde gefallen, sie war vereinsamt wie ich, und doch die Glücklichere, denn ihr Schmerz war rein. Wir fuhren die ganzen Tage, wir rasteten die Nächte; sie fühlte keine Neigung und ich hatte nicht die Kraft, unsere Freunde in der Hauptstadt wiederzusehen. So langten wir im heiligen Grabe, im Stifte an, und so habe ich es nach kurzem Aufenthalte unter dem Schutze einer der Stiftsdamen wieder verlassen und mich derselben mit Bewilligung meiner Mutter für den Besuch von Pyrmont angeschlossen. Meine Gesundheit, die nie stark gewesen ist, hat sehr gelitten, der Arzt verlangte für mich den Gebrauch jener Quellen, und ich durfte mich seinem Rathe nicht widersetzen, denn ich habe eine Mutter, die von meinem Siechthume leiden, die mein Tod betrüben würde. Ich muß ein Leben zu erhalten suchen, das mir völlig werthlos ist.

Am Beginne jedes Morgens frage ich mich mit schmerzlicher Ermüdung: was soll mir dieser Tag? Ich werde mich dies fragen bis an mein Lebensende! Die Liebe, wie ich sie fühlte, ist eine Blüthe, die, einmal entblättert, nicht wieder blüht, und wenn ich zurückblicke in die Vergangenheit und ich finde alles verwelkt, was ich in mir gepflegt um seinetwillen, der es nicht verdiente, und wenn ich mich frage: wie konnte das geschehen, wie durfte er es wagen, wie vermochte er es zu thun? so finde ich keine Antwort in mir, wie ich kein Verschulden in mir finde. Nur das Lied des Dichters fällt mir immer ein, und Tag und Nacht klingt sein trauriges Wort: ›Mußt es eben leiden!‹ in meiner Seele wieder.

Wenn Gott Erbarmen mit mir hat, wenn er mein Gebet erhört und mir es nicht zu fern steckt, meines Daseins Ziel, [95] dann, mein verehrter, mein theurer Freund, Sie Einziger, der schon seit Jahren meinen Kummer in selbstloser Güte zu theilen nicht verschmähte und gegen den mein Herz zu erschließen mir jetzt ein trauriger Genuß ist, dann lassen Sie mir diese Worte auf den Grabstein setzen; und so lange der rohen Willkür und dem Leichtsinne eines Mannes noch Gewalt gegeben ist über eines Weibes liebend Herz, wird ihnen der Wiederhall in mancher Brust nicht fehlen.

Leben Sie wohl, mein theurer, väterlicher Freund! Sie haben mir einst gestanden, daß ich Ihnen den Glauben an die höchsten Güter des Menschen wiederzugeben so glücklich gewesen bin, und Sie haben mir damit einen Trost gewährt, an dem ich mich jetzt oft zu halten genöthigt bin, wenn mein ganzes Dasein mir als ein verfehltes vorkommt, wenn ich mich frage: Wozu habe ich gelebt und wozu soll ich leben? –

Ihnen, mein Freund, bin ich doch etwas werth, zu etwas gut gewesen, und ich weiß Ihnen für die Ermuthigung, welche diese Gewißheit mir gewährt, nicht besser zu danken, als indem ich Ihnen mich mit allem meinem Kummer nahe. Nehmen Sie, der, wie Sie mir selber sagten, das Leben von seinen Höhen bis zu seinen Tiefen kennt, und den diese Kenntniß nachsichtig gemacht hat, nehmen Sie mich duldsam auf und denken Sie in irgend einer guten Stunde an die armeHildegard

[96]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Man soll im Zorn nicht handeln, im Zorn keine Entschlüsse fassen! so lautet eine alte Regel; aber jede Regel scheint nur um ihrer Ausnahme willen da zu sein, und Jeder erfährt es wohl einmal in seinem Leben, daß sein Zorn ihn aus dem trägen Gange seiner Unentschlossenheit emporgerissen, und ihn wie mit einem heftigen Spornstoße zu einem Ansprunge und in einen neuen Weg getrieben hat, den eingeschlagen zu haben man sich später freut. Renatus wenigstens meinte, an sich eine solche Bemerkung machen zu können.

Sieben ganze Jahre hatte er sich in dem völlig unwahren Verhältnisse zu Hildegard bewegt, weil er sich es beständig vorgehalten, daß es einem Manne, einem Edelmanne, nicht anstehe, ein gegebenes Wort zu brechen. Nun es geschehen war, nun da er Hildegard, er täuschte sich darüber nicht, endlich dazu genöthigt hatte, ihn seiner Verpflichtung gegen sie zu entlassen, nun fühlte er sich so leicht, so frei, und trotz seines edelmännischen Bewußtseins so völlig in seinem Rechte, daß er dieses Wohlbehagens nicht wieder verlustig zu werden wünschte.

»Mag zum Teufel gehen, was nicht mehr zu halten ist!« hatte er in seiner Entrüstung zu Hildegard gesagt, und je mehr er auf seinem Ritte darüber nachsann, um so mehr beschloß er, jenen in der Zorneshitze gethanen Ausspruch zu einer Wahrheit zu machen. Es war sein beeinträchtigtes Menschenrecht, das ihm jene Worte eingegeben hatte; weßhalb sollte er anstehen, es zu wahren? –

[97] Die Zeiten, in welchem der Adel selbstherrlich auf seinen Gütern gesessen hatte, waren in seinem Vaterlande für immer dahin. Er hatte keine Unterthanen mehr, die von ihm abhingen und über die er zu Gericht saß. Er und sie waren gleichmäßig Bürger des Staates geworden, fast in allen Fällen derselben Gerichtsbarkeit unterworfen; aber Einen Weg gab es noch, auf welchem der Edelmann sich der Vorrechte seines Standes, denn solche waren freilich noch genug vorhanden, voll bewußt werden konnte: es war die militärische Laufbahn. Der Offizierstand war noch eine besondere Kaste, der Offizier hatte noch seinen besonderen Gerichtsstand, und je mehr die bürgerliche Gesellschaft seit der französischen Revolution im Staate an Bedeutung gewonnen, um so entschiedener hatten in Deutschland, und namentlich in Preußen, die Edelleute sich im Heere zusammengeschlossen.

Weßhalb sollte Renatus sich mit der Sorge für einen großen, ihm zwar Ansehen verleihenden, aber auf lange hinaus keine Vortheile versprechenden Besitz belasten, wenn Ansehen und Ehre ihm schon aus der großen Adelsverbindung im Heere erwuchsen, der er sich auch künftighin nur anzuschließen brauchte, um neben seinen angeborenen Ehren auch noch der ganz besonderen sogenannten militärischen Ehre theilhaftig zu werden und für sich eine Menge von Rechten und von Schranken aufgerichtet und benutzbar zu finden, die alle darauf berechnet waren, auf künstliche Weise dem Adel jene bevorzugte Stellung zu erhalten, die auf natürliche Weise vor dem Urtheile der gesunden Vernunft und vor dem Bewußtsein des Bürgerstandes nicht mehr zu behaupten war.

Sein Vater hatte die Güter mit Schulden belastet, hatte des Sohnes mütterliches Erbe aufgezehrt; aber er hatte ihn, wie Renatus jetzt erkannte, wahrscheinlich eben deßhalb frühzeitig in das Heer, als in die ihm angemessene Laufbahn, eingeführt. [98] Es war nicht des jungen Freiherrn Schuld, wenn seine Vorfahren nicht durch Stiftung eines Majorats der ungemessenen Willkür des Einzelnen Schranken gesetzt hatten, es konnte also auch nicht seine Pflicht sein, herzustellen, was er nicht zerstört, aufzurichten, was er nicht untergraben hatte. Es war genug, daß er unter der Verschwendung seines Vaters litt, daß er Fehler büßte, die er nicht begangen hatte. Und endlich, was änderte sich denn in seiner Stellung, wenn er jene Rathschläge befolgte, welche ihm von Erfahrenen gegeben worden waren? Er blieb der Freiherr von Arten-Richten, gleichviel, ob zu diesem Richten noch Neudorf und noch Rothenfeld gehörten oder nicht. Und wenn es vollends möglich war, sich durch Entäußerung der beiden andern Güter mit weniger Sorgen zu einem größeren Wohlstande als dem gegenwärtigen emporzuarbeiten, so wäre es ja gegen alle Klugheit und Vernunft gewesen, sich nicht dazu entschließen zu wollen.

Er war in heftiger Aufregung von seinem Hofe fortgeritten; aber je weiter er sich von demselben entfernte, je mehr ließ er dem Pferde Freiheit, seinen Schritt zu wählen, und während er so langsam durch den Wald hinritt, gediehen seine Meinungen und Vorsätze immer mehr zur Reife. Auf den Beistand des Königs, auf den Hildegard und sein Oheim ihn hingewiesen und den zu erbitten, beide ihm Hoffnung gemacht hatten, durfte er jetzt nicht rechnen. Er selbst war dem Könige ganz unbekannt, und sein Vater hatte seit dem Religionswechsel der Baronin Angelika die Gunst des streng protestantischen Herrschers nicht mehr besessen. War dem jungen Freiherrn daran gelegen, sie wieder zu erwerben, so bot sich ihm, bei der entschiedenen Vorliebe, welche der König für den Soldatenstand hegte, in dem Heere die beste Gelegenheit dazu; kurz, Renatus mochte die Sache ansehen, wie er wollte, er konnte nach seiner Ansicht gar nichts Angemesseneres thun, als im Heere bleiben; und in diesem Falle [99] war der Verkauf der Nebengüter, die Verpachtung von Richten durch die Umstände geboten und nothwendig, und das Nothwendige mußte er thun, gleichviel, wer es ihm zuerst als ein solches dargestellt hatte.

Es war am Abende, als der Reitknecht seines Freundes mit dem von Richten herbeigeholten Mantelsacke des jungen Freiherrn nach Brastnick wiederkehrte. Er brachte ihm ein kurzes Schreiben der Gräfin Rhoden mit. Renatus saß in dem Familienkreise seines Gastfreundes beim Abendessen, als der Diener ihm den Brief aushändigte. Er erkannte die Handschrift und steckte ihn in die Brusttasche.

Ein Billet-doux? scherzte der Hausherr.

Durchaus nicht! entgegnete Renatus, nur irgend eine Nachricht von meines verstorbenen Vaters alter Freundin, von der Gräfin Rhoden!

Erst später in der Nacht, als Renatus sich in seinem Zimmer allein befand, die Männer hatten lange beim Weine gesessen, öffnete er den Brief der Gräfin. Er enthielt nur die wenigen Reihen:

»Wenn Sie diese Zeilen erhalten, wird meine Tochter Richten bereits verlassen haben. Mit welchen Empfindungen ich Ihnen dieses schreibe, sage Ihnen Ihr eigenes Herz. Ich habe mir erlaubt, meine Tochter in Ihrem Wagen nach Ramsdorf fahren zu lassen: sie wird ihre Freundin in das Stift begleiten. Für einige Tage bin ich, wegen der Ordnung meiner Angelegenheiten, noch auf Ihre Gastfreundschaft angewiesen, die mir jetzt nicht leicht zu tragen sein wird; und ist es mit Ihren Geschäften nicht unvereinbar, so wäre es vielleicht für uns Alle eine Erleichterung, wenn Sie den Besuch bei Ihrem Freunde so lange ausdehnen wollten, bis ich mit meiner jüngeren Tochter Ihr Schloß verlassen haben werde. Ich will dazu thun, diesen Zeitpunkt möglichst zu beschleunigen.«

Anrede und Unterschrift waren durchaus förmlich gehalten, [100] aber in der Stimmung, in welcher Renatus sich befand, focht der Brief ihn wenig an. Man hatte mit ihm über seine in Aussicht stehende Heirath mit der ältesten Gräfin Rhoden gescherzt, und er hatte alle darauf hinzielenden Bemerkungen mit der Versicherung zurückgewiesen, daß davon gar nicht die Rede sei. Als man derselben nicht glauben wollen, hatte er unumwunden eingestanden, daß er vor dem Feldzuge allerdings eine Anhänglichkeit für sie gehabt habe, aber die Gräfin sei ja älter als er, sei kränklich, und daß nach seiner Heimkehr von jener blöden Jugendschwärmerei nicht mehr die Rede gewesen sei, könne man am besten daraus abnehmen, daß er sich eben noch völlig frei befinde, während ihn doch nichts abgehalten haben würde, sich zu verloben und zu verheirathen, hätte er dazu irgend einen Antrieb in sich verspürt. Er rühmte dabei die Mutter als seine älteste und theuerste Freundin, welcher Gastfreundschaft zu gewähren ihm ein Glück gewesen sei. Er sprach von den unschätzbaren Eigenschaften der ältesten Tochter, erwähnte der ihn entzückenden Fröhlichkeit der jüngeren Gräfin, sagte, daß er die beiden Schwestern wirklich als seine eigenen Schwestern liebe, und die Aufnahme, welche diese Ansprüche bei seinen Genossen fanden, ließ ihn deutlich erkennen, daß man im Allgemeinen seine Verheirathung mit Hildegard als eine unpassende betrachtet haben würde.

Man bezeichnete eine solche Zufriedenheit, sich in der Voraussetzung getäuscht zu haben, daß Renatus sich in der Ueberzeugung bestärkte, das Richtige und das Berechtigte gethan zu haben; und wie man ihm von verschiedenen Seiten zu dieser und zu jener Heirath anrieth, ihm diese und jene Tochter aus den Familien des benachbarten Adels als die für ihn schickliche Frau bezeichnete, genoß er seiner Freiheit mit wirklichem Vergnügen, obschon keines der erwähnten Mädchen den Wunsch, es zu besitzen, in ihm hervorrief.

Auch am Morgen, als er frischen Sinnes erwachte, fühlte [101] er keine Reue über seine Handlungsweise. Er beklagte Hildegard, als ob er gar nicht an ihrem Mißgeschicke betheiligt wäre, und als er dann den kleinen Brief der Gräfin wieder in die Hand nahm, that es ihm leid, daß diese von ihm gehen wollte. Er hatte eine Weile sogar den Gedanken, noch an demselben Tage nach Hause zu reiten, um es zu verhindern; aber das Wiedersehen nach dem eben Statt gehabten Bruche und die unvermeidlichen mündlichen Erklärungen mußten nothwendig eine erschütternde Scene herbeiführen, eine jener Scenen, vor denen Renatus eine wahre Scheu trug. Er beschloß also, schriftlich abzumachen, was er der Gräfin zu sagen wünschte, und wie sie sich kurz zusammengefaßt hatte, that er es auch.

»Meine theure Mutter!« schrieb er ihr, »denn eine Mutter sind Sie dem verwaisten Knaben ja gewesen, lange ehe er daran denken konnte, diesen Namen durch ein engeres Anschließen an Sie sich zu verdienen, gehen Sie nicht im Unmuthe von mir fort. Der Bruch, der gestern geschehen ist, wie plötzlich er Ihnen auch erschienen sein mag, war nach meinem Empfinden längst ein nothwendiger geworden, und ich zweifle nicht, daß selbst Hildegard und Sie ihn als einen solchen anerkennen müssen. Wenn mich mit Recht der Tadel trifft, daß es mir an Muth gefehlt hat, gleich, als ich den Irrthum meines Herzens einsah, und das ist lange her, ihn auch auszusprechen, so trifft Sie, theure Mutter, doch auch der Vorwurf, daß Sie, die Sie des Menschen Herz und die Welt, und meine und Hildegard's Unerfahrenheit wohl kannten, uns vor sieben Jahren nicht abgehalten haben, ein Bündniß einzugehen, das so wenig Aussicht auf eine baldige Erfüllung darbot. Aber wir leiden in diesem Augenblicke Alle gemeinsam, wir dürfen nicht mit einander rechten. Lassen Sie uns vielmehr gemeinsam danach streben, dieses nothwendige Leid so viel als möglich zu mildern und so viel als möglich dem Auge der Welt zu entziehen.

[102] Ich werde Richten in kurzer Zeit verlassen. Gönnen Sie mir die Gunst, Sie bis dahin in meinem Schlosse zu behalten. Wir waren Freunde, ehe wir Verwandte zu werden hofften; lassen Sie uns Freunde bleiben, da jene Hoffnung sich leider nicht erfüllt, und mein Herz wird bemüht sein, Sie und die geliebte Cäcilie, und hoffentlich einst auch Hildegard, mit mir und meiner Handlungsweise auszusöhnen. Lassen Sie mich Sie in Richten wiederfinden! Aber was Sie auch beschließen, rechnen Sie auf mich wie auf Ihren Sohn, denn ich werde nicht aufhören, mich als Ihren Sohn zu fühlen.«

Er war mit dem Schreiben sehr wohl zufrieden, ein Bote war schnell bei der Hand, und ohne weiteren Aufenthalt machte man sich darauf gegen Mittag zu dem beabsichtigten Besuche auf den Weg.

Weil die ganze Familie seines Wirthes Theil an dem Ausfluge nehmen sollte, hatte man in dem viersitzigen Wagen nicht Plätze genug; man nahm also ein Gig zu Hülfe, dessen Renatus und sein Freund sich bedienten.

Der schöne Sommertag, die hübsche Hausfrau, die fröhlichen Kinder, die aus dem rasch dahin rollenden Wagen so neugierig und so ungeduldig wie flügge werdende Vögel aus ihrem Neste in die Welt hinaussahen und mit ihren Anrufen, Zeichen und Winken den Vater aus der Ferne bald auf dieses und bald auf jenes Wunder aufmerksam machten, belustigten Renatus. Es lag in der Unschuld dieser Kinder für ihn, der an die kecke Frühreife Valerio's gewohnt war und sonst mit Kindern wenig oder keinen Verkehr gehabt hatte, etwas ungemein Reizendes; und nur wenn es ihm einfiel, daß Hildegard jetzt unterwegs sei und daß die Gräfin in Richten nun seine Antwort bald erhalten werde, legte sich ein Schatten über seine Heiterkeit und es fiel ihm Etwas schwer aufs Herz, daß er aufathmen und sich unwillkürlich mit der Hand über die Stirne fahren [103] mußte. Indeß sein Gefährte merkte nichts von dem dunkeln Boden, über dem die Fröhlichkeit des jungen Freiherrn aufwuchs, und man war im vollen Genusse des schönen Tages, des angenehmen Weges und des erfreulichen Beisammenseins, als ein schwerbeladener Lastwagen, der von der Höhe herunterkam, den Fahrenden nöthigte, scharf zur Rechten auszubiegen. Aber der Landweg war nur schmal, der Wagen mit Fässern und Kisten in der Mitte ungewöhnlich breit beladen, und wie der neben dem Wagen gehende Fuhrmann seine Pferde auch nach der linken Seite hinüberzerrte, die Räder des Frachtwagens und des Gig geriethen in einander, die Pferde des Frachtwagens zogen auf des Fuhrmannes Anruf mit scharfem Rucke an – ein Knack, und das leichte, schwache Rad des Gig fiel in Stücken von der Achse.

Es war ein unangenehmer Vorfall. Man war ein paar Meilen von dem Orte der Ausfahrt, ein paar Meilen von dem Gute entfernt, nach dem man sich begeben wollte. Einen besonderen Kutscher hatte man für den kleinen, nur zweisitzigen Wagen nicht innegehabt, und den Diener, der auf dem Wagen der Frauen und der Kinder saß, mochte man nach der eben gemachten Erfahrung nicht mit dem Pferde nach Hause senden, um ihn für alle Fälle zur Hand zu behalten.

Man fing an, sich in der Gegend umzusehen; man war kaum eine Viertelstunde von Marienfelde entfernt, und eben als der Besitzer des zerbrochenen Gefähres darauf dachte, sich dorthin zu wenden, um seinen Wagen unterzubringen, und wo möglich irgend einen anderen zur Fortsetzung der Fahrt zu borgen, ward in der Entfernung zwischen den Feldern ein Reiter sichtbar, der, als er die beiden Wagen auf der Landstraße halten und einen derselben zerbrochen sah, mit seinem tüchtigen Pferde schnell herankam.

Der Mann und sein Pferd sahen wie aus Einem Gusse [104] aus, so fest saß er in seinem Sattel, so gut paßten der große, starke Reiter und sein Schimmelhengst zusammen. Es war ein schönes, ein erbeutetes Pferd; und der Gutsbesitzer Steinert wußte sich etwas mit dem feurigem Andalusier, in dessen stark hervortretenden Adern unter der feinen Haut das arabische Blut ganz unverkennbar war. Es kam seiner Pferdezucht zu Statten.

Steinert erkannte seinen adeligen Gutsnachbar schon aus ansehnlicher Ferne, und mit der weithin schallenden Stimme, welche in manchem Kampfe ermuthigend an seiner Leute Ohr und in ihr Herz gedrungen war, rief er: Guten Morgen, Herr von Brinken! Haben Sie ein Unglück gehabt?

Steinert war während dessen nahe heran gekommen und erst jetzt erblickte er auch Renatus, der hinter dem Gig gestanden hatte. Ohne irgend an die Zurückweisung zu denken, welche er von dem jungen Freiherrn vor Jahren auf der Landstraße erfahren hatte, reichte er ihm die Hand hin, und mit einer Freundlichkeit, welche sein dunkel gebräuntes Gesicht angenehm erhellte, und seine Lippen unter dem dicken, bereits ergrauenden Schnurrbarte schön umspielte, rief er: Willkommen zu Hause, Herr von Arten! Ich hörte schon, daß Sie zurückgekommen wären.

Renatus konnte nicht anders, als die dargebotene Hand ergreifen und den Handschlag Steinert's erwiedern; aber es fiel ihm auch jetzt noch auf, daß Steinert ihn völlig als seines Gleichen behandelte. Nicht einmal Herr Baron nannte er ihn, sondern Herr von Arten, ganz schlechtweg. Es war jedoch für Renatus zu besonderen Betrachtungen in diesem Augenblicke nicht die Zeit. Denn Steinert war vom Pferde gestiegen, besah mit Kennerblick den Schaden an dem Wagen, und machte sofort den Herren den Vorschlag, mit ihm nach Marienfelde zu kommen, von wo er einen Knecht mit einem Baume zur Unterlage für das Gig abschicken wolle, damit man dasselbe nur erst nach dem Dorfe bringen könne, und später stehe dann den Herren sein [105] Fuhrwerk zum Weiterfortkommen zu Diensten. Man nahm das dankbar an.

Ein scharfer Pfiff, den Steinert über die hohlen Hände that, rief einen seiner Arbeiter vom Felde herbei, den man bei dem Fuhrwerke zurückließ; der Wagen, den Frau von Brinken und die Kinder inne hatten, setzte seinen Weg fort, und den Zügel seines Pferdes über den Arm nehmend, führte Steinert die beiden Edelleute den Weg nach seinem Hause zu.

Es ist hier für uns auf dem Lande nichts mit diesen kleinen, zerbrechlichen Wagen, sagte er, als Herr von Brinken die Bemerkung machte, daß nicht nur das Rad zerbrochen sei, sondern daß auch das Gig selbst bei dem Zusammenstoße eine Beschädigung erlitten habe, welche es nöthig machen werde, es zur Herstellung nach der Hauptstadt zu schicken. – Soll denn etwas Fremdes bei uns eingebürgert werden, so lasse ich mir noch eher den englischen oder den vlaemischen zweirädrigen Transportkarren gefallen; dessen Räder halten etwas aus, und unsere Pferde sind stark genug, ihn selbst die Höhen hinaufzuziehen, obschon er für die Ebene besser paßt. Ich habe mir, als ich aus dem Felde kam, ein paar solcher Karren versuchsweise zusammenschlagen lassen.

Herr von Brinken wünschte, sie zu sehen; Steinert war bereit, sie ihm zu zeigen. Er meinte, der Herr von Arten müsse diese Karren zur Genüge gesehen haben, und wie von selbst knüpfte sich daran die Frage, ob Renatus während der Feldzüge wohl Gelegenheit genommen habe, auf die verschiedene Art und Weise der Wirthschaft in den verschiedenen Gegenden und Ländern Acht zu geben.

Der junge Freiherr verneinte das mit der Bemerkung, er sei darauf nicht vorbereitet gewesen.

Schade! sagte Steinert. Da man denn doch zuletzt jeder Sache eine gute Seite abgewinnen soll, so kann es nicht in [106] Abrede gestellt werden, daß es uns und unsern Leuten vortheilhaft gewesen ist, uns auch einmal auf fremdem Boden und in fremder Wirthschaft umzuthun. Mir zum Beispiel sollen die mannigfachen Erfahrungen, die ich bei dem Hin- und Hermarschiren machen konnte, wie ich denke, nicht verloren gehen.

Wie sich das von selbst versteht, kamen die beiden Männer von den Feldzügen im Allgemeinen auf ihre einzelnen eigenen Erlebnisse zu sprechen, und man war mitten in den besten Kriegsgeschichten, als man auf dem Hofe in Marienfelde anlangte.

Von dem einstigen Schlosse stand jetzt nur der Mittelbau, und selbst der Thurm war von demselben abgebrochen. Das Haus sah dadurch eigentlich plump und unschön aus, dafür aber stand links von dem Teiche die große Brennerei. Die Scheunen, die Ställe und die Insthäuser waren aus guten Ziegeln gebaut, und was der Krieg auch hier zerstört hatte, das war, wie die vielen neuen Dachsteine, Fensterläden, Thüren und Zäune verriethen, längst wieder vollständig hergestellt worden.

Es war still auf dem Hofe, auch im Hause ließ sich Niemand sehen. Erst als der große Hund hell anschlug, guckte ein Mädchenkopf zum Fenster hinaus, und den Vater erblickend, trat die Tochter schnell zurück, um ihm entgegen zu eilen oder um der Mutter zu melden, daß er Fremde mit nach Hause bringe.

Steinert war unterdessen mit den beiden Gästen in dem Flur seines Hauses angelangt, und Renatus, der nie zuvor in diesem Hause gewesen war, fühlte sich mit Ueberraschung in einer ganz vertrauten Umgebung.

Auch hier in Marienfelde hingen sie rund umher an den Wänden, die Erntekränze jeden Jahres, wie Renatus sie in seines Vaters Amtshause hatte hangen sehen, als er noch ein Kind gewesen war; hier wie dort stand sie der Hausthüre gegenüber, die große englische Stehuhr, das Erbstück der Steinert'schen Familie, und tickte mit ihrem gewichtigen Pendelschlage [107] von Sekunde zu Sekunde die Tage und Jahre hinweg. Und als dann aus dem Zimmer zur Linken das große, starke, kaum siebenzehn Jahre alte Mädchen, die blonden Zöpfe um das Haupt gewunden, zum Vorschein kam und sich mit unbefangener Freundlichkeit vor den Gästen verneigte, glaubte Renatus vollends, einer Verzauberung zu unterliegen, denn gerade so, aber gerade so, hatte, wie er sich zu erinnern meinte, einst Steinert's Schwester ausgesehen, als sie jung gewesen war.

Und nun willkommen unter meinem Dache, mein lieber Herr von Arten und mein verehrter Herr Nachbar! sagte Steinert, während er den Beiden die Hüte abnahm. Lassen Sie Sich's bei uns gefallen, bis Ihr Wagen herkommt und man Ihnen Ihr Pferd vor meine Britschka gelegt haben wird; treten Sie näher, ich bitte! Nach dem Garten hinaus haben wir jetzt Schatten. Treten Sie näher! – Und sich zur Tochter wendend, fragte er: Eveline, weiß die Mutter, daß ich zurückgekommen bin?

Eveline hatte nicht zu antworten nöthig, denn die Hausfrau erschien bereits in der Thüre, und der Tochter den Knaben hinreichend, den sie, um schneller fortzukommen, auf dem Arme getragen hatte, bewillkommte auch sie die Gäste mit guter Art.

Als das Kind des Vaters ansichtig wurde, rief es ihn laut an und streckte, sich von der Schwester losmachend, die derben Arme nach ihm aus, so daß Steinert ihn zu sich und bei der Hand nahm.

Der Bursche ist ein Nachschößling, sagte er lachend, während er ihn küßte und ihn mit Vaterfreude in die Höhe hob. Er ist unser ganz besonderes Friedenspfand, und weil er sich gleich bei seiner Geburt als einen tüchtigen Kerl erwiesen hat, habe ich ihm denn auch die allerbesten Namen ausgesucht.

Herr von Brinken, selbst ein zärtlicher Vater, freute sich des Jungen, der kaum zwei Jahre zählte und auf seinen Beinen schon wie eingewurzelt da stand.

[108] Wie heißt er denn? fragte Renatus.

Junge, wie heißt Du? wiederholte der Vater. Sag's selber, aber deutlich, damit man Ehre mit Dir einlegt!

Gebhard Leberecht Steinert! brachte der Kleine zwar noch mit schwerer Zunge, aber mit so dreister Entschlossenheit hervor, daß er die Erwachsenen alle lachen machte, und Renatus unwillkürlich ausrief: In Dir steckt ja der ganze Husar!

Steinert nickte mit dem Kopfe. Ja, für den Nothfall, Herr von Arten. Im Uebrigen haben wir des Krieges und ich für mein Theil des Soldatenwesens nun genug gehabt, und ich denke, meine Jungen sollen es nicht nöthig haben, sich lange mit dem Wehrstande abzugeben, sondern im Nährstande und ruhig bei der Arbeit bleiben können.

Während sie noch sprachen, schlug die Uhr im Hausflur die Mittagsstunde und auf dem Hofe läutete die Glocke. Eveline, welche bald nach dem Eintritte der Mutter das Zimmer verlassen hatte, kehrte jetzt zurück.

Ist angerichtet? fragte Steinert, und auf die bejahende Antwort nöthigte er die Fremden, es sich auf gut Glück an seinem Tische gefallen zu lassen. Man nahm den Vorschlag dankbar an.

Der Tisch war in dem großen Saale zu ebener Erde gedeckt, und seine Größe und Schwere zeigten, daß er hier seine feste Stelle haben mußte. Glänzendes, selbstgewebtes Leinenzeug bedeckte ihn; man hatte den Gästen zu Ehren auch einen Blumenstrauß auf die Tafel gestellt, aber Silberzeug war nicht, wie sonst, vorhanden. Was man davon besessen hatte, und der Vorrath im Hause war ansehnlich genug gewesen, das war beim Ausbruche des Krieges auf den Altar des Vaterlandes niedergelegt worden, und auch jetzt noch brauchte man das Geld zu anderen Dingen, als zum Ankaufe von Werthgegenständen, die sich nicht verzinsten.

[109]

Die Wirthin, welche trotz ihrer fünfundvierzig Jahre noch wie das Leben selber aussah und durch die Geburt ihres Leberecht, auf den beide Eltern einen wahren Stolz besaßen, eher erfrischt als angegriffen worden war, die Wirthin und Steinert nahmen die Mitte des Tisches ein, die beiden Fremden saßen zu ihren Seiten, und außer den Kindern kamen einer nach dem andern noch einige junge Leute in ihren Arbeitsröcken, mit hohen Stiefeln in das Zimmer, die sich mit flüchtigem Gruße auf ihre Plätze setzten. Nur Einen von ihnen, einen hübschen, kräftigen Mann, der von Eveline mit einem Händedrucke begrüßt ward, stellte Steinert, ehe Jener sich neben der Tochter niederließ, als deren Verlobten vor, für den er sich hier in der Gegend schon seit längerer Zeit nach einem passenden Ankaufe umsehe.

Renatus wurde es bei der Bemerkung plötzlich heiß. Der also ist's, dachte er, für den sie auf meine Güter spekuliren! Und er konnte sich der alten, feindseligen Empfindung nicht erwehren. Aber Niemand ahnte, was in seiner Seele vorging, sie waren Alle munter und gut aufgelegt.

Die Hausfrau hatte in der Eile noch rasch einen Fisch aus dem Teiche nehmen und herrichten lassen, eine süße Speise war eben so schnell bereitet worden, an Erdbeeren und Kirschen gab es eben jetzt Ueberfluß, und so war denn mit der tüchtigen alltäglichen Kost des Hauses ein vollständiges Mahl zu Stande gekommen, das Frau Steinert mit freier Gastlichkeit ihren Gästen darbot, und auch der Wein fehlte beim Nachtische nicht.

Eveline selbst war aufgestanden, ihn aus dem Wasserkübel herbeizuholen, und als Steinert die erste Flasche entkorkt und den goldig klaren Rheinwein in die Gläser gefüllt hatte, welche die Tochter herumgab, erhob er sich und sagte, sich zu Renatus wendend: Es ist das erste Mal, Herr von Arten, daß Einer von Ihnen auf meinem Grunde und Boden an meinem Tische sitzt, und ich freue mich darüber. Wir sind jetzt drei Jahre [110] lang Kriegskameraden gewesen, lassen Sie uns nun auch künftig gute Nachbarn werden und stoßen Sie mit mir darauf an – er hielt das Glas mit dem funkelnden Weine hoch empor – daß wir hier zu Lande diesen Wein immer und immerdar für uns allein trinken! Es hat Blut genug gekostet, ihn uns wieder zu gewinnen! Der freie deutsche Rhein und der Friede! –

Hoch, hoch! erklang es von allen Seiten. Die Mutter, der künftige Tochtermann, die Wirthschafter, von denen auch zwei in dem letzten Feldzuge mitgewesen waren, erhoben sich und kamen zu dem Hausherrn und zu den Gästen, mit ihnen anzustoßen. Eveline, welche die eigentliche Wärterin des Jüngsten machte, war schnell in die Nebenstube geeilt und hatte den Leberecht herbeigeholt, damit er sein Hoch auch mitrufen und seines Tröpfchens Wein nicht entbehren solle; und als Steinert ihm sein Glas hinhielt, that der Bursche einen langen Zug und wollte sich zu des Vaters Freude das Glas, das er mit beiden Händen fest umklammert hatte, nicht entreißen lassen.

Die Zufriedenheit, der Lebensmuth, die Herzensgüte leuchteten jedem Mitgliede des Hauses aus den Augen. Man mußte mit diesen Menschen fröhlich werden, man konnte der kleinen Verstöße gegen die höhere Gesellschaftssitte und ihren sogenannten Ton gar nicht gedenken. Es war Alles anders, als Renatus es in seinem Hause gewohnt war, Alles derber, naturwüchsiger, aber es schien dafür auch Alles auf eine lange, gesunde Dauer angelegt und berechnet zu sein, und während Steinert's männlich schöner Freimuth und seine Würdigkeit des jungen Freiherrn Herz fast wider dessen Willen bewegten und gewannen, meinte er zwischen all dem lauten Sprechen und mitten durch das helle Lachen der Hausfrau und ihrer Tochter, doch immer die schweren Pendelschläge der alten englischen Uhr zu hören, und es klang ihm, als riefen sie immerfort: Sie kommen empor und Du herab!

Er suchte den Gedanken zu verscheuchen, aber es gelang [111] ihm nicht. Das Landleben, die Einsamkeit machen mich schwermüthig, und Hildegard's krankhafte Melancholie hat mich angesteckt und schwarzsehend gemacht, sagte er sich endlich. Es ist Zeit, daß ich unter Menschen und in die Welt und in das Leben zurückkehre! – Und doch entging es ihm nicht, wie Steinert, als man von der Tafel aufgestanden war und die Wirthschafter sich entfernen wollten, sie zurückhielt, mit Jedem von ihnen kurze und bestimmte Abrede nahm, wie sie alle voll Eifer und voll Theilnahme bei der Sache waren und dann still geschäftig ihres Weges gingen. Darin war freilich auch ein Leben, und Steinert's Welt war unter diesen Menschen, die er heranbildete, während sie seine Angelegenheiten in seinem Dienste förderten. Aber, dachte Renatus, man muß nichts Höheres kennen, um sich darin zu befriedigen, man muß sich nicht als einer bevorzugten Kaste angehörend empfinden, um seine Untergebenen als seines Gleichen behandeln zu können, und man muß als ein Arbeiter geboren sein, um vorauszusetzen, daß Jedweder für die Arbeit auf der Welt sei.

Inzwischen war der zerbrochene Wagen des Herrn von Brinken in den Hof gekommen und Steinert hatte den Befehl gegeben, das Pferd, wenn man es gefüttert haben werde, vor einen seiner kleinen Wagen vorzulegen. Während man noch damit beschäftigt war, erkundigte Steinert sich bei dem jungen Freiherrn, was er denn wegen seiner Wirthschaft beschlossen habe; und von dem klugen und ehrlichen Gesichte des Mannes, wie von seiner unverkennbaren Theilnahme doch allmählich überwunden, sagte Renatus: Es sind mir Rath- und Vorschläge der verschiedensten Arten zugekommen, noch aber bin ich unentschieden. Sie kennen ja die Güter. Anfangs der nächsten Woche bin ich bestimmt in Richten. Kommen Sie herüber, sehen Sie Sich die Güter und die Wirthschaft einmal an. Ich möchte Ihre Meinung hören, ehe ich mich endgültig entscheide.

[112] Steinert lächelte. Der verstorbene Freiherr stand ihm in diesem Augenblicke leibhaftig vor Augen. Es war die alte, fürstliche Weise des Edelmannes, zu befehlen, wo er zu bitten nicht für angemessen fand, und sich einzubilden, daß er demjenigen eine Ehre erweise, dessen Meinung er zu hören fordere, um dann mit der eigenen, weit geringeren Einsicht über jene zu Gericht zu sitzen. Aber er ließ den jungen Mann seine üble Angewohnheit nicht entgelten, und von einer gewissen Anhänglichkeit an das Arten'sche Geschlecht, von der Liebe für die Güter, welchen seine Voreltern und er selber durch so lange Jahre ihre Kraft und Arbeit zugewendet hatten, wie von dem Gedanken an seinen eigenen Vortheil gleichmäßig bestimmt, versprach Steinert dem Freiherrn, wenn es seine Zeit erlaube, an einem festgesetzten Tage nach Richten zu kommen, obschon, wie er sagte, dies kaum nöthig sei.

Denn, fügte er hinzu, ich weiß, Sie haben meinen Freund Tremann in der Stadt gesprochen, und seine Ansicht ist auch die meinige. Sie haben keine Wahl, Herr von Arten! Sie können die Güter nicht wohl mehr halten! Verkaufen müssen Sie! Wir wollen aber einmal sehen, ob wir über Rothenfeld nicht Handels einig werden können. Das Gut ist groß, es ließe sich sehr wohl in zwei hübsche Theile theilen. Den einen Theil möchte mein künftiger Schwiegersohn gern übernehmen, der eigenes Vermögen hat und sich mit Eveline nach dem eigenen Herde sehnt, und auf dem andern könnte man allmählich zu bauen beginnen, damit mein Sohn bei seiner Heimkehr doch auch Dach und Fach vorfindet. Die Kinder sind arbeitsam, fortkommen werden sie, wenn's auch Anfangs Mühe kosten wird, und wir behielten sie doch gern in unserer Nähe!

Der Wagen, welcher die Gäste weiterbefördern sollte, war nun vorgefahren. Die ganze Familie begleitete sie vor die Thüre hinaus. Steinert selbst sah nach, ob Alles in Ordnung, ob von [113] dem kleinen Gepäck der beiden Edelleute nichts vergessen worden sei. Man sagte ihnen herzlich Lebewohl, die Hausfrau bat, bald wieder, wo möglich auf der Rückfahrt vorzusprechen, auch Leberecht blieb ihnen sein Adieu und seinen schönen Gruß mit der Hand nicht schuldig, und Renatus wie dem Herrn von Brinken die Rechte schüttelnd, rief Steinert ihnen noch ein »Auf Wiedersehen!« nach.

Renatus aber trug jetzt nach demselben kein Begehren mehr. Sein eben erst erwachtes Wohlgefallen an dem früheren Diener seines Hauses war schnell vorübergegangen. Sein Verlangen, aus dieser Gegend fortzukommen, war lebhafter als je.

Ein wackerer Mann, sagte Herr von Brinken, nachdem sie den Hof verlassen hatten, und es war hübsch, wie er sich durch Ihren Besuch geehrt fand. Ich liebe es an solchen Leuten, wenn sie ihres Ursprunges nicht vergessen, und, wie er es that, besonders vor denjenigen, welche ihnen dienen, daran denken.

Alles Berechnung! entgegnete der junge Freiherr mit wegwerfendem Tone. Er speculirt auf Rothenfeld und möchte mein Zutrauen gewinnen.

Er ist übrigens ein tüchtiger Wirth, bemerkte darauf Herr von Brinken.

Ja, es scheint ihm wohl zu gehen, er hat Glück, versetzte Renatus, während der Andere sich die kurze Reisepfeife stopfte. Der junge Freiherr rauchte nicht.

Herr von Brinken paffte seinen Taback an. Er hatte manche bürgerliche Gewohnheiten angenommen, seit er während des Krieges selbst zu wirthschaften angefangen hatte, weil es ihm an Wirthschaftern gemangelt.

Sie fuhren gegen den Wind, es dauerte lange, bis der Schwamm Feuer fangen wollte, bis die Pfeife brannte, und den ersten Zug aus derselben mit sichtlichem Behagen genießend, wiederholte Herr von Brinken: Ein tüchtiger Wirth! Wenn Sie [114] verkaufen wollen, Arten, so werden Sie mit dem Steinert vielleicht am besten fahren. Denn was aus einem Gute zu machen ist, das weiß er daraus zu machen. Er wird nicht leicht zurückgehen, wenn er ein Angebot gethan hat, und wird zahlen, was er kann.

Renatus antwortete darauf nicht. Es war auch von der ganzen Angelegenheit weiter nicht die Rede.

[115]
8. Capitel
Achtes Capitel

Noch vor der von ihm festgesetzten Zeit langte der Freiherr in Richten wieder an. Er hatte nirgends rechte Ruhe.

Vittoria empfing ihn, wie immer, mit der größten Zärtlichkeit; sie und Valerio hatten es kein Hehl, daß sie sich der Entfernung Hildegard's erfreuten, und Renatus war zum Oefteren genöthigt, die übermüthige Laune des jungen Burschen zurückzuweisen, der sich darin gefiel, Hildegard in allen ersinnlichen tragikomischen Stellungen zu zeichnen, und ihre Mienen wie ihre Ausdrucksweise mit der Meisterschaft nachzuahmen, die ihm von früh auf eigenthümlich gewesen war.

Die Gräfin hatte trotz des Schreibens von Renatus die Vorkehrungen für ihre Abreise von Richten gemacht; indeß da dieser eben unerwartet zeitig von seinem Ausfluge heimkehrte, fand er sie und Cäcilie noch im Schlosse. Er begab sich, sobald er Vittoria begrüßt hatte, zu ihr. Sie schrieb grade an die entfernte Tochter. Cäcilie saß am Fenster und machte einen Hut zurecht, den sie auf der bevorstehenden Reise zu tragen dachte.

Als Renatus gemeldet wurde, entfuhr ihren Lippen ein freudiger Ausruf. Sie stand auf, um ihm, wie sie das gewohnt war, entgegen zu gehen, aber ein Blick der Mutter bannte sie an ihren Platz und hieß sie schweigen.

Renatus bemerkte das im Eintreten. Sie thun mir Unrecht, liebe Mutter! war alles, was er sagte, nachdem er ehrerbietig ihre Hand geküßt und sich auf dem Sessel zu ihrer Seite niedergelassen hatte.

[116] Die Gräfin war eine gefaßte und viel erfahrene Frau, in diesem Augenblicke konnte sie jedoch den rechten Ton nicht finden. Das Herzeleid ihrer Tochter hatte sie sehr tief erschüttert und trotz dem Briefe des jungen Freiherrn drückte es sie, daß sie Richten noch nicht hatte verlassen können.

Ich hatte gehofft, sagte sie, gehofft und gewünscht, uns diese Begegnung und dieses Wiedersehen ersparen zu können; indeß Sie wissen es, ich habe keine Wohnung in Berlin, und ich kann die Antwort meiner Cousine Welding, bei der ich abzusteigen und zu bleiben denke, bis ich eine passende Wohnung für uns gefunden haben werde, vor acht bis zehn Tagen nicht erhalten.

Es lag in dieser Mittheilung der Gräfin das stillschweigende Geständniß ihrer beschränkten Vermögensverhältnisse. Obwohl Renatus diese von jeher kannte, kränkte es die Gräfin, derselben gerade jetzt gedenken zu müssen, und es nahm sie gegen den jungen Freiherrn ein, daß er ihr auch diese Mißempfindung verursachte.

Renatus ließ sich jedoch durch die geflissentliche Kälte und Zurückhaltung der Gräfin nicht beirren. Seine im Grunde gute Natur machte sich in diesem Falle, wie überall, wo er sich nicht durch fremde Ansprüche beeinträchtigt und deßhalb zur Abwehr und Vertheidigung gezwungen glaubte, liebenswürdig geltend.

Sie thun, liebe Mutter, sprach er, als hätten Sie mein Schreiben nicht erhalten. Ist es denn nicht genug, daß ich sehen muß, wie sehr das beklagenswerthe Erlebniß, das uns Allen nicht zu ersparen war, Sie angegriffen hat, daß Cäcilie sich von mir wendet? Glauben Sie, daß ich mit leichtem Herzen vor Ihnen stehe, daß es mich nichts kostet, Sie nach Hildegard zu fragen?

Die Augen wurden ihm feucht. Er seufzte, reichte der Gräfin seine Hand hin und sagte bittend: Bestrafen Sie mich [117] nicht dafür, daß ich mit zwanzig Jahren mich selbst nicht besser kannte, nicht weiser war. Ich glaubte in jenem Augenblicke, nach innerster Nothwendigkeit zu handeln, ich handle jetzt nach reifster Ueberlegung, und – liege ich denn auf Rosen?

Die Gräfin schwieg, aber sie entzog ihm ihre Hand nicht. Sie hatte den andern Arm auf die Lehne des Sopha's gestützt und verbarg ihr Gesicht in ihrem Tuche. Die zerstörten Hoffnungen ihres ältesten Kindes machten ihre Augen fließen. Die Mutter in Thränen, Renatus so unglücklich zu sehen, das konnte Cäcilie nicht ertragen.

Sie stand auf, knieete vor der Mutter auf dem Ruhekissen nieder und sagte, während sie zärtlich ihre Arme um sie schlang: Liebe Mutter, sieh ihn doch nur an, er weint! – Und da die Gräfin ihrer Aufforderung nicht gleich entsprach, rief Cäcilie mit jener anmuthigen Zuversicht, welche die Kinder so unwiderstehlich macht und welche manche Frauen bis in das Alter nicht verläßt: Komm, Renatus, komm, umarme die Mutter! Sieh ihn nur wieder an, liebe Mutter, es ist ja unser Renatus! Er kann ja nicht dafür, wenn er die arme Hildegard nicht liebt! Wenn er nun im Kriege geblieben wäre, hätte Hildegard sich doch auch beruhigen müssen, und wir wären noch weit, ach, weit unglücklicher gewesen! – Er lebt ja doch! – Sie wendete sich von der Mutter zu dem Freunde und legte die Hände auf seine Schultern. Er hatte sich aufgerichtet und sah ihr in das Antlitz.

Du bist sehr gut, Cäcilie! sagte er, während er ihre Hände ergriff und küßte.

Du auch! entgegnete sie, indem sie ihn umarmte und ihm ihren Mund darbot.

Liebe, liebe Cäcilie! wiederholte er, und sie küßten einander herzlich.

Wir können ja nicht in Unfrieden von einander gehen, [118] rief sie; es wird ja ohnehin schwer genug sein, wenn man sich künftig nicht mehr sieht!

Ihr geht nicht fort, die Mutter bleibt noch bei mir! versicherte der junge Freiherr.

Ich muß wohl! erwiederte die Gräfin; aber die Antwort hatte nicht mehr den fremden, gezwungenen Ton, mit welchem sie Renatus zuerst empfangen hatte, und da eine Bewegung, wie man sie eben durchgemacht, nicht lange dauern kann, so gewann man denn jetzt auch bald wieder so viel Ruhe, daß der Freiherr die Frage thun durfte, ob Hildegard lange im Stifte zu bleiben denke und ob man schon eine Nachricht von ihr habe.

Die Gräfin verneinte das Letztere und gab ihm die begehrte Auskunft. Eine Frage, eine Antwort knüpfte sich an die andere. Da Renatus sich von der Verpflichtung befreit sah, sich mit Hildegard verheirathen zu müssen, beurtheilte er sie nachsichtiger als sonst, ja, er dachte mit sorgendem Mitleid an sie. Es that ihm leid, daß es ihm nicht möglich gewesen war, sie glücklich zu machen; alle seine Aeußerungen waren mild, er klagte nur sich selber an, forderte Nachsicht für sich, und obschon die Gräfin entschlossen gewesen war, auch zwischen sich und dem jungen Freiherrn die Trennung aufrecht zu erhalten, die zwischen ihm und seiner Braut erfolgt war, wurde im Verlaufe des Gespräches ihr Ton doch völlig umgestimmt. Es geschah ihr unwillkürlich, daß sie Renatus, wie sie es seit seiner frühesten Kindheit gewohnt gewesen war, wieder mit Du ansprach. Sie verbesserte es sofort, aber Renatus beschwor sie, ihm diese Gunst nicht zu entziehen.

Wenn über einem Hause, sagte er, lange ein Unwetter gedroht hat und der Blitz, den man gefürchtet, endlich zerstörend niedergefahren, ist es dann weise, daß man in der hereingebrochenen Verwirrung blindlings aus einander läuft? Oder ist es nicht besser, daß man sich verbindet, um den Folgen des [119] geschehenen Unglücks so weit nur immer möglich ihre Macht zu rauben?

Er erinnerte die Gräfin daran, daß sie ihm einst, lange ehe er sich mit Hildegard versprochen, einmal zugesagt hatte, er solle die Stütze ihres Alters, der Freund und Bruder ihrer Töchter sein. Er nahm dies auch jetzt noch als sein Recht in Anspruch. Er bestand darauf, daß die Gräfin Richten nicht jetzt gleich verlassen dürfe; er versicherte, daß nicht er allein, sondern daß auch Vittoria darüber untröstlich sein würde, die mit Liebe an Cäcilien, mit Verehrung an der Gräfin hange und gegen welche Hildegard mit ihrem strengen Pflichtgefühl wirklich nicht immer gerecht gewesen sei. Er sprach und sagte nur, was er in der That empfand, und er erreichte damit, was die größte Berechnung vielleicht nicht errungen haben würde.

Die Gräfin hörte ihn ohne jede Unterbrechung an, und mußte viele seiner Behauptungen gelten lassen. Sie hatte ohnehin ihrem gekränkten Mutterherzen und ihrem beleidigten Ehrgefühle den ersten vollen und bittern Ausdruck nicht gestatten dürfen, weil sie sich genöthigt fand, noch einige Zeit in dem Schlosse zu verweilen, wenn sie es nicht auf gut Glück als eine Fliehende verlassen und den böswilligen Vermuthungen einen noch größern Spielraum vergönnen wollte, die nach jedem ähnlichen Zerwürfnisse wie giftige Schwämme aus der Erde aufschießen, daß man Mühe hat, sie zu zertreten, um ihr Wuchern nicht überhand nehmen zu lassen. Wer aber, sei es durch was es wolle, unfrei ist, nimmt an seinem Rechtsgefühle Schaden, ist gezwungen, bald hier, bald dort ein Zugeständniß zu machen, und kommt dann allmählich dahin, sich seine Unfreiheit wegläugnen zu müssen, um als freie Entschließung gelten zu lassen, was man von der Nothwendigkeit zu thun getrieben wird. Sich frei erhalten, ist daher ohne alle Frage das erste und das höchste Gebot der Sittlichkeit.

[120] Die Gräfin gab den Bitten des Freiherrn nach, weil sie es mußte, aber es kam ihr hart an. Sie ging mit ihm und mit Cäcilien zu Vittoria hinunter, sie ließ es sich gefallen, daß man die Angelegenheit in dem Beisein derselben noch einmal durchsprach, sie überwand sich sogar zu einem Danke, als die Baronin ihr versicherte, wie glücklich sie sich fühlen würde, wenn die Gräfin und Cäcilie auch nach der Entfernung ihres Sohnes noch bei ihr verweilen wollten.

Die Gräfin war eben eine mittellose Frau, und es war eine stillschweigende Entthronung vor sich gegangen. Sie war plötzlich wieder der Heimath beraubt, deren sie sich für ihren Lebensabend sicher geglaubt hatte, und die Sorge für ihre und ihrer Töchter Zukunft drückte sie jetzt weit schwerer, als in jenen Tagen, in welchen sie mit ihnen, ohne bessere Aussichten als die gegenwärtigen zu haben, in der Residenz gelebt hatte. Sie war eine Matrone geworden, Hildegard war nicht mehr jung, beide Töchter hatten sich an eine Menge von Bedürfnissen gewöhnt, die zu befriedigen sie künftig keine Aussicht hatten, und beide waren also auf den Glücksfall einer annehmbaren Heirath angewiesen. Für Hildegard war auf eine solche vernünftiger Weise jetzt nicht mehr zu rechnen, und wo würde sich für Cäcilie eine solche bieten? Man saß schweigsam und verstimmt beisammen.

Es hatte fast den ganzen Tag geregnet, nun am Abende ließ der Regen nach, aber das Erdreich war naß und dampfte im Sonnenuntergange; von den Bäumen tropfte es langsam hernieder. Die Luft in dem Zimmer war drückend schwül, Vittoria hatte sich an das Klavier begeben. Sie sang mit Selbstgenuß italienische Stanzen, zu welchen sie die Melodieen während des Singens erfand. Weder die Gräfin noch die beiden Andern hörten ihr zu.

Die Gräfin dachte immer auf das Neue darüber nach, in welcher Weise sie das Geschehene ihren Freunden darstellen, wie [121] sie vor ihnen ihr gegenwärtiges Verweilen in dem Schlosse rechtfertigen solle. Dazwischen beschäftigte sie der Wunsch, für ihre älteste Tochter in einer der fürstlichen Hofhaltungen eine Aufnahme, eine Anstellung zu finden, und so dem nicht mehr jungen Mädchen einen Lebensunterhalt und eine angemessene gesellschaftliche Stellung zu verschaffen, was durch die Gnade, welche die Prinzessin für sie hegte, nicht unmöglich schien, sobald sich nur eine freie Stelle in ihrem Hofhalte fand.

Renatus und Cäcilie standen an dem Fenster und sahen in den Garten hinaus. Er fragte, ob man während seiner Abwesenheit Besuche im Schlosse gehabt habe, ob sie mit Valerio ausgeritten sei. Die Fragen lagen ihm aber offenbar nicht sehr am Herzen. Cäcilie, die ihre Schnellkraft bei der Begegnung zwischen ihrer Mutter und dem jungen Freiherrn erschöpft hatte, gab kurze Antworten, und das Gespräch war allmählich ganz in's Stocken gerathen, als mit Einem Male die untergehende Sonne plötzlich aus den Wolken hervorbrach, mit ihrem glühenden Roth die ganze Gegend überstrahlend.

Grade den Fenstern von Vittoria's Zimmer gegenüber stand in einer gewissen Entfernung ganz einsam die schönste Edeltanne des Gartens, ein Baum, der in der ganzen Gegend eben so wohl durch seine Höhe als durch seinen regelmäßigen Wuchs und das pyramidenartige Aufsteigen seiner Aeste berühmt war. Wie nun die Sonne sich tief und tiefer neigte, daß sie hinter der Tanne zu stehen kam, brachen sich ihre Strahlen in den Tropfen, die an jeder Nadel hingen, und schnell, wie durch einen Zauber angefacht, schimmerte und funkelte der Baum von seinem breitesten Aste bis hinauf zu seinem Wipfel in dem vielfarbigen Glanze von Myriaden Lichtern. Es war ein wundervoller Anblick, eines jener Zauberfeste, in welchen die Natur vor den Augen der Menschen ein Traumbild verwirklicht, das sie in derselben Weise nicht leicht wiederholt und auch nicht zu [122] wiederholen braucht, weil Niemand, der es gesehen hat, es je vergißt. Entzückt von dieser Herrlichkeit und gleichsam fürchtend, die Schönheit, wie das im Märchen und im Traume geschieht, mit dem Aussprechen eines Wortes zu zerstören, hatte Renatus schweigend die Hand seiner Gefährtin ergriffen, und selbst von dem Lichte des scheidenden Tages übergossen, rief Cäcilie: Ach, ein Weihnachtsbaum – und am Johannistage! Das muß Glück bedeuten! setzte sie hinzu. Indeß ihr fröhlicher Ausruf schien wirklich den Zauber aufzuheben, denn der Lichtglanz verminderte sich, die Farben wurden blasser, die einzelnen Flammen erloschen; schnell, wie die Herrlichkeit aus dem Nebel aufgetaucht war, entschwand sie auch wieder, und eine graue matte Dämmerung hüllte die ganze Gegend ein, noch ehe Cäcilie ihre Erwartung, daß dies sicherlich ein Glück verkünde, zum zweiten Male völlig ausgesprochen hatte.

Glück? wiederholte ihr Gefährte, und schwermüthig geworden, fügte er hinzu: Wir könnten es brauchen!

So standen sie noch eine kleine Weile neben einander, aber länger hielt es Renatus in dem Zimmer nicht mehr aus. Komm in's Freie, sagte er; es liegt mir wie ein Reifen um das Haupt, wie ein Reifen um das Herz! Komm hinaus – ich denke, draußen muß mir besser werden!

Er trat in den Garten hinaus, Cäcilie folgte ihm. Sie gingen neben einander in den breiten Wegen zwischen den Beeten hin. Indeß, obschon sie die Alleen und die buschigen Gänge mieden, kam keine Erfrischung über sie. Die Luft war voller Elektricität, sie lastete schwer auf ihnen, selbst sprechen konnte Renatus nicht. Er wußte nicht, was ihm war, er war aufgeregt und abgespannt zu gleicher Zeit. Nun er mit Cäcilie im Garten war, meinte er, es sei vorher im Zimmer besser gewesen; aber auch das mochte er ihr nicht sagen, und da zwischen fiel es ihm ein, daß es schon dunkle und daß er mit ihr allein sei. [123] Er war freilich oft genug mit ihr Abends einsam umhergegangen, ohne daran besonders zu denken; indeß damals war sie auch seine Schwägerin gewesen. Jetzt war sie das nicht mehr. Es that ihm leid, daß er dieses Anrecht an sie verloren hatte. Er stellte sich vor, wie es sein werde, wenn die Gräfin und Cäcilie von Richten fortgegangen sein würden, wie sie in der Stadt leben und Cäcilie sich hoffentlich dort vortheilhaft verheirathen werde, denn sie war liebenswürdig und gut und hübsch, sehr hübsch. Sie ging auf dem schmaler gewordenen Pfade, ihre Kleider mit beiden Händen in die Höhe hebend, um sie vor der Nässe des Weges zu bewahren, schweigend vor ihm her. Obschon es dunkelte, konnte er doch noch sehen, wie fein der Hals auf ihren Schultern saß, wie kräftig ihr Oberleib sich aus den vollen Hüften hervorhob, und wie schön ihr Fuß und ihr Knöchel gebaut waren. Sie war recht ein Mädchen, wie ein Mann sich es zum Weibe wünschen mußte: froh, gut und gesund.

Hätte ich sie statt Hildegard's mir erwählt, wie Manches wäre nicht geschehen, wie Vieles wäre anders, wäre besser geworden! dachte er, und er wußte es nicht, daß sich ein lautes Ach! seiner Brust entrang.

Cäcilie aber hörte es, und sich umwendend, fragte sie ihn: Was fehlt Dir, Renatus?

Ach, rief er noch einmal, ich sollte es nicht sagen, denn es ist unmännlich, es auszusprechen, aber ich bin schon lange mit mir selbst zerfallen, ich bin recht unglücklich!

Du? Du bist unglücklich – aber weßhalb denn jetzt noch? erkundigte Cäcilie sich, während sie sich zu ihm gesellte und ihren Arm unaufgefordert in den seinigen legte.

Er antwortete ihr nicht, und so gingen sie mehrmals um den großen Rasenplatz herum. Er fühlte mit Vergnügen ihren schönen entblößten Arm auf dem seinen ruhen, er bog sich zu ihr, um ihre Schulter zu berühren, und wenn sie den Kopf zu [124] ihm emporhob und er sich neigte, so daß seine Lippen nicht fern über ihrer Stirn schwebten, mußte er sich zurückhalten, daß er sie nicht küßte. Er hatte bisher diese Empfindung überströmender Zärtlichkeit niemals neben ihr gehegt, er hatte sie oft genug geküßt, ohne dabei etwas zu denken, ohne dabei besonders warm zu werden. Heute, wo er ein wahrhaftes Verlangen danach trug, sie zu umarmen, wagte er es nicht, und seine Unruhe wurde immer größer. Er schlug den Rückweg nach der Terrasse ein. Cäcilie schüttelte mißbilligend ihr Haupt.

Hildegard hatte doch Recht, sagte sie mit Einem Male; Ihr Männer wißt nicht, was ihr wollt, und zwar weder im Kleinen, noch im Großen. Erst konntest Du's im Zimmer nicht ertragen und wir mußten in den nassen Garten hinaus; nun, da es hier draußen aussieht, als wollte es frischer werden, als könnte der Wind aufstehen und man könnte Luft schöpfen, nun soll man hinein! – Sie zuckte mit den Schultern, schien weiter sprechen zu wollen, unterdrückte ihr Wort und sagte dann nach einem längeren Schwanken dennoch: Und hast Du es denn mit Dir selbst nicht eben so gemacht? Erst bestandest Du darauf, Dich mit Hildegard zu verloben, die für Dich viel zu alt war und, so gut sie sonst auch ist, nie für Dich gepaßt hat; dann, als sie Deine Braut war, liebtest Du eine Andere, wolltest frei werden – das merkte auch ich Dir an, sobald Du den Fuß nur aus dem Wagen gesetzt hattest – und nun Du frei bist und Dir die Gräfin Eleonore holen kannst, nun bist Du auch nicht glücklich! Was willst Du denn eigentlich?

Wie kommst Du auf Eleonore? rief Renatus auffahrend. Was weißt Du von ihr?

Alles! entgegnete Cäcilie von seinem Tone ganz betroffen. Hildegard hat ja der Mutter Alles anvertraut, und sie am letzten Tage noch darum gebeten, daß sie jetzt es mir auch sagen sollte.

Daran erkenne ich Hildegard! stieß Renatus hervor.

[125] Sie waren während dessen ganz in die Nähe des Schlosses gekommen, ohne weiter mit einander ein Wort zu wechseln. Als sie auf dem Punkte standen, einzutreten, sagte Cäcilie: Siehst Du, Renatus, Unglück habe ich, nicht Du! Ich wollte Dir eine Liebe thun, Dich erheitern, Dir sagen, daß ich mich freuen würde, Dich endlich einmal recht froh, recht glücklich und auch recht reich zu sehen, und statt dessen erzürne ich Dich gegen mich. Ich mag's im Leben machen, wie ich will, ich treffe nicht das Rechte. Nicht bei der Mutter, nicht bei Dir! Ich habe eben kein Glück und kein Geschick!

Es kam ihm vor, als bebe ihre Stimme; er machte sich einen Vorwurf daraus, daß er ungerecht, daß er hart gegen sie verfahren sei, und sich zu entschuldigen und sie aufzuklären, sprach er: Ich habe Eleonore Haughton nie geliebt, Cäcilie! Sie hat mich beschäftigt eine kurze Zeit hindurch, sie hat mich verwirrt durch wenig Stunden; aber sie hat mich nie geliebt und ich habe sie nie geliebt – niemals, Cäcilie, betheuerte er, und Hildegard hat das sehr wohl gewußt!

Aber weßhalb hat sie mir's denn sagen lassen? rief Cäcilie.

Weißt Du's nicht? fragte er und schlang den Arm um ihren Leib.

Sie antwortete ihm nicht; er fühlte aber, wie das Herz ihr unter seiner Hand erbebte. Sie konnte nicht vorwärts, nicht zurück. Sie wollte ihn verlassen, aber obschon es ihr ein Leichtes gewesen wäre, sich von ihm los zu machen, kam sie nicht von der Stelle.

Weißt Du's nicht? fragte er noch einmal; und sie fester umschlingend und sie an sich ziehend, sprach er, nur für ihr Ohr vernehmbar: Wie solltest Du, da ich's ja selbst erst jetzt erkenne!

Ach, rief Cäcilie, ich war ja so unglücklich, als Du in's Feld gegangen bist!

[126] Damals, damals schon hast Du mich geliebt? klang es mit unterdrücktem Jubel aus seiner Brust hervor.

Immer, immer! das war alles was Cäcilie unter seinen glühenden Küssen hervorzubringen vermochte.

Er hatte sich in der Nische unter dem Portale, die der Regen am Tage nicht hatte erreichen können und die tief im Schatten lag, niedergelassen und Cäcilie auf sein Knie gezogen; sie umfaßte ihn mit beiden Armen. Der letzte Sang der Nachtigall, der voll emporströmende Duft der Rosen und Levkojen berauschten ihn, und sie immer und immer wieder an sich pressend, rief er: Komme jetzt, was mag, wenn Du mir nur bleibst!

Er mußte sich endlich mit Gewalt ermannen, um Herr über sich zu bleiben, und mit einer nie gekannten Seligkeit im Herzen umschlang er Cäcilie noch einmal, ehe er mit ihr in das Zimmer trat, in welchem Vittoria und die Gräfin beim Scheine der Lampe ihrer warteten.

[127]
9. Capitel
Neuntes Capitel

Nun, Signora, habe ich richtig prophezeit? fragte am nächsten Morgen die treue Gaetana, als sie mit breitem Kamme das noch immer üppige Haar der Baronin Vittoria schlichtete und ihr dann die reichen Flechten um das schöne Haupt wand. Habe ich richtig prophezeit, daß Alles sich zum Guten wenden werde, sobald wir nur die Gräfin mit dem bösen Auge nicht mehr im Schlosse haben? Ist nicht Alles wie umgewandelt? Ist unser Herr Baron nicht freudestrahlend? Jubelt unser Valerio nicht? Ist die theure Signora Cäcilie nicht glückselig, und wird nicht die Frau Gräfin selber es bald erkennen, daß erst jetzt die Dinge sich fügen, wie sie sein mußten? Nur Geduld, nur ein Bißchen Geduld ist nöthig! habe ich immer gesagt. Jetzt sehen Sie es selbst, meine theure Signorina! – Geduld ist nöthig, das ist Alles!

In der That schien es, als sei im Schlosse ein neues Leben aufgegangen. Renatus empfand wirklich zum ersten Male jene volle Liebesleidenschaft, welche den ganzen Menschen in Bewegung bringt, und da ein helles Licht seine Strahlen überall, soweit ihm keine Schranke entgegensteht, verbreitet, meinte er, von seiner Leidenschaft aufgeklärt, auch die Vergangenheit jetzt besser zu verstehen.

Er erinnerte sich ganz deutlich, wie ihm die Heftigkeit und die Inbrunst aufgefallen waren, mit denen die vierzehnjährige Cäcilie ihn umarmt hatte, als er sich vor dem russischen Feldzuge [128] von ihr getrennt. Er bewunderte die Kraft des jungen Kindes, die Festigkeit, mit welcher Cäcilie durch alle die Jahre ihrer ganzen Umgebung ihre Liebe verschwiegen hatte, und er schätzte sie nur um so höher, wenn sie ihm versicherte, sie habe es sich nie eingestanden, daß sie ihn liebe, weil das eine Sünde gewesen sein würde, so lange er der Verlobte einer Anderen war. Nur beneidet habe ich Hildegard, sagte sie offenherzig, denn ihr fiel, weil sie die Aeltere war, Alles von selber zu: erst der Mutter ganz besondere Liebe und dann auch noch die Deine. Was Hildegard nur sagen, wie sie sich verwundern wird? wiederholte Cäcilie danach immer auf das Neue. Ihr Glück erschien ihr offenbar durch den Vergleich mit dem Loose ihrer Schwester nur noch größer, und der Gedanke, daß es Hildegard's Schmerz noch steigern könne, sich durch die eigene Schwester so schnell in dem Herzen des Geliebten ersetzt zu finden, kam in diesen Stunden der Freude bei Cäcilien nicht in Betracht. Sie hatte an Hildegardens Glück stets mit Entsagung gedacht, mochte diese jetzt das Gleiche zu thun versuchen; denn vergessen und vergeben konnte Cäcilie es der Schwester nicht, daß dieselbe ihre wohlgemeinten Trostbezeigungen mit Bitterkeit von sich gestoßen hatte.

Renatus verdiente seinen Namen, wie er einmal äußerte, jetzt in voller Wahrheit. Er schien sich wirklich neu geboren und ein Anderer geworden zu sein. Alles Unentschiedene, alles Schwankende war mit Einem Male von ihm genommen. Wie im Triumphe hatte er am verwichenen Abende Cäcilie zu der Gräfin geführt, und ihr wie der nicht minder überraschten Vittoria seine Liebe für Cäcilie und seine Absicht, sofort seine Verlobung mit ihr bekannt zu machen, offenbart.

Die Gräfin hatte Bedenkzeit, hatte Ruhe zur Ueberlegung gefordert; aber alles was sie erlangen können, war das Zugeständniß gewesen, daß Renatus sich anheischig gemacht, in den ersten achtundvierzig Stunden keinem seiner Verwandten oder [129] Freunde zu schreiben, oder vielmehr nur, keinen seiner Briefe nach der Stadt zu schicken; denn daß die Gräfin wirklich einen Einspruch thun könne, daß sie daran denken könne, ihm die Hand des begehrten Mädchens zu verweigern, während er bereits die Tage bis zu der Stunde zählte, in welcher er die Geliebte besitzen würde, hielt er für unmöglich.

Er war von einer brennenden Ungeduld verzehrt, als die Gräfin ihm am Morgen den gewohnten Spaziergang mit Cäcilie verweigerte, als sie es ihm rundweg abschlug, ihn mit der Tochter allein verkehren zu lassen, ehe sie ihren Entschluß gefaßt habe. Sie hielt es ihm vor, wie sie Alle ja eben jetzt noch unter den Folgen seiner zu schnell und in der Erregung eines Augenblickes geschlossenen Verlobung zu leiden hätten, und wie es also für ihn doppelt geboten sei, sich sorgsam zu prüfen, ehe er sich zum zweiten Male binde. Auch sie erinnerte ihn an den Eindruck, welchen die Gräfin Haughton auf ihn gemacht habe, an die Gerüchte, welche sich über sein Abenteuer mit ihr bis nach Berlin verbreitet hatten, und sie bekannte ihm unumwunden, daß sowohl die natürliche Rücksicht auf das Empfinden ihrer ältesten Tochter als die Sorge um Cäciliens Zukunft sie anstehen lasse, eine Entscheidung zu treffen. Sie nannte ihn jedem neuen Eindrucke zugänglich, sie zweifelte, ob er treu zu sein vermöge, und sie machte es ihm endlich zu einem Vorwurfe, daß er mit seiner Erklärung gegen Cäcilie, mit seiner Werbung nicht gewartet habe, bis die Gräfin das Schloß verlassen hatte, und nicht mehr durch seine Gastfreundschaft in ihren Maßnahmen gehindert war.

Trotz der würdigen und festen Haltung, mit welcher sie ihm entgegentrat, war sie aber innerlich in einen Kampf mit sich verwickelt, der ihr schwerer fiel, als sie verrieth. Ihr Zutrauen zu Renatus hatte wirklich einen Stoß erlitten, sie mißtraute seinem Herzen, sie klagte ihn der härtesten Selbstsucht, der[130] Schwäche an, und wäre sie reich, wäre sie auch nur wohlhabend gewesen, so hätte sie nicht angestanden, dem jungen Freiherrn die Hand ihrer zweiten Tochter, nach der Beleidigung, welche er der ältesten Tochter zugefügt hatte, unbedenklich zu verweigern. Sie sah voraus, in welcher Weise man es beurtheilen werde und müsse, wenn sie in eine Ehe zwischen Renatus und Cäcilie willige; sie fürchtete sich vor dem Zwiespalt, in welchen diese Ehe sie mit ihrer ältesten Tochter und diese mit Cäcilie und Renatus bringen müsse. Sie sagte sich, daß die geringste Bürgersfrau sicherlich einer solchen unerwarteten und wenig zarten Bewerbung ihre Zustimmung versagen würde; aber sie war eben keines schlichten Bürgers Frau, sie war die Gräfin Rhoden, sie hatte sich und zwei Töchter zu versorgen, und sie war noch mittelloser, als sie es vor dem Kriege gewesen war.

Eine Bürgersfrau konnte daran denken, mit ihren Töchtern gemeinsam sich des Lebens Nothdurft zu erwerben. Eine Bürgersfrau brauchte vielleicht in solcher Lage und in solchem Augenblicke auf nichts als auf ihr beleidigtes Mutterherz und auf die Empfindung ihrer Töchter Rücksicht zu nehmen, denn Bürgermädchen, wenn sie kein Vermögen besitzen, werden von Jugend an darauf hingewiesen, sich selbst zu helfen, sie können arbeiten, um ihrem Ehrgefühle zu entsprechen, arbeiten, um ihren Kummer zu übertäuben, arbeiten, um sich eine getäuschte Liebeshoffnung aus dem Sinne zu schlagen – aber Hildegard und Cäcilie, die Gräfinnen Rhoden, konnten das doch nicht.

Sie hatten eine gute, standesmäßige Erziehung erhalten, d.h. sie besaßen, wie die wohlhabenden Frauen überhaupt, von einer Menge von Dingen, von Kunst, von Literatur und Wissenschaft genau so viel Kenntnisse, als unerläßlich waren, über die ernsthaften Leistungen Anderer falsch und oberflächlich aburtheilen zu können; aber sie hatten nichts so gründlich erlernt, daß es sie irgendwie befähigte, darauf eine Zukunft zu bauen, und sie [131] hatten vor allen Dingen nicht arbeiten, das Leben nicht als eine ernste, fortdauernde Arbeitszeit betrachten lernen.

Die Leistungen, welche Hildegard während des Krieges über sich genommen hatte, waren von der Begeisterung des Augenblickes erzeugt und getragen worden. Sie hatte dieselben mit vielen Andern getheilt, sie waren eine anerkannte, eine bewunderte und bis zu einem gewissen Grade auch eine absehbare Thätigkeit für Andere gewesen. Mit der Arbeit um die eigene Existenz, um das tägliche Brod war es nicht dasselbe. Das Ende einer solchen ist schwer vorauszusehen, Niemand bewundert, kaum irgend Jemand theilt oder versteht sie in den gesellschaftlichen Kreisen, denen die Gräfinnen angehörten. Wenn sich in ihnen auch Männer fanden, welche ihr Einkommen durch die Dienste erwarben, die sie dem Fürsten oder dem Staate leisteten, so trat doch das Arbeitenmüssen der Ehre der Frauen, nach den Begriffen ihrer Standesgenossen, offenbar zu nahe; und dienen konnten Frauen ihres Ranges nach denselben Anschauungen eben nur den Fürsten, welche über ihnen standen. Es war nicht anders, die Gräfin mochte es ansehen, wie sie wollte, sie mußte ihr beleidigtes Herz, sie mußte ihr Ehrgefühl überwinden, weil der Ehrbegriff ihrer Umgangsgenossen die Arbeit für entehrend erachtete, und Hildegard mußte sich darein ergeben, ihren früheren Verlobten den Gatten ihrer Schwester werden zu sehen. Die Mutter durfte es nicht hindern, daß Cäcilie sich mit einem Manne verheirathete, zu dessen Charakter ihr das rechte Vertrauen fehlte. Ihre Armuth zwang sie, um der Standesehre willen zu thun und geschehen zu lassen, was allen ihren Gefühlen, was ihrer Ueberzeugung widersprach.

Es kam ihr deßhalb sehr gelegen, als Vittoria sich zur Vermittlerin zwischen den Wünschen ihres Stiefsohnes und den Bedenken von Cäciliens Mutter machte. Obschon es ihr weh that, hörte die Gräfin es gern an, wenn die Baronin ihr aus [132] einander setzte, wie übel die Gräfin jetzt daran sei. Im Tone der Anklage gegen Renatus stellte Vittoria es ihr vor, daß Hildegard durch den langen, nicht öffentlich erklärten Brautstand mit Renatus vorzeitig gealtert habe, daß die Mutter und die Töchter durch ihr langes Verweilen in dem Hause eines unverheiratheten Mannes, wenn dieses nicht seine Heirath mit einer der Töchter zur Entschuldigung habe, in einem bedenklichen Lichte erscheinen müßten. Sie erinnerte daran, daß man, falls sich selbst am Hofe der Prinzessin eine freie Hofdamen-Stelle finden sollte, diese doch meist nur mit jungen und hübschen, vor Allem aber mit recht gesunden Mädchen zu besetzen pflege, damit die Herrinnen ohne jede Rücksicht über ihre dienenden Damen verfügen könnten; und schließlich gab sie der Mutter zu bedenken, wie das Zerwürfniß zwischen ihren Töchtern ja bereits ein altes, wie es eben jetzt nur völlig zum Aussprechen gekommen sei, und daß es doch in jedem Falle weiser und rathsamer erscheine, die geliebte Cäcilie auf Kosten der älteren Schwester glücklich werden zu lassen, als beide mit gebrochenem Herzen und ohne Liebe für einander in bedrängter Lebenslage dauernd neben sich zu behalten.

Einen Menschen von der Nothwendigkeit dessen zu überzeugen, was zu thun er innerlich entschlossen ist, hält nicht schwer, und Cäciliens unter Thränen lächelnde Augen, vereint mit den Vorstellungen der Baronin und den dringenden Bitten, und den festen Betheuerungen des jungen Freiherrn, trugen denn auch bald den Sieg davon.

Weil Renatus sein früheres Verlöbniß geheim gehalten hatte, war er und war die Gräfin jetzt der Meinung, daß man die neue Verbindung nicht schnell genug veröffentlichen könne. Aber man mußte doch eine Form dafür finden, das Auffallende des Vorganges denjenigen, welche die Verhältnisse mehr oder weniger kannten, wenn auch nur einigermaßen zu erklären oder annehmbar [133] zu machen; und die Gräfin, welche vor allen Dingen um Hildegard besorgt war, hatte schnell einen Plan entworfen, der zu Gunsten dieser letzteren berechnet war. Man sollte, so forderte sie, aus Cäciliens früher und dauernder Neigung zu Renatus kein Geheimniß machen, man sollte auch eingestehen, daß dessen Liebe zu Hildegard nicht mehr so feurig als früher gewesen und daß er bei der Heimkehr von der Anmuth und von der nicht zu verbergenden Leidenschaft der jüngeren Schwester gerührt worden sei. Dann aber solle man die Dornenkrone der armen Hildegard in einen Heiligenschein verwandeln und erzählen, wie die Großmuth und die Entsagung dieser schönen Seele das Unheil, welches hereinzubrechen gedroht, durch ihren heldenmüthigen Entschluß verhindert, wie sie durch eine Entfernung, von welcher selbst die Mutter nichts gewußt, die Verwirrung gelöst und in einem zurückgelassenen Schreiben den Wunsch ausgesprochen habe, die beiden ihr theuersten Menschen, den Geliebten und die Schwester, verbunden und so glücklich zu sehen, als es zu werden ihr von Gott nicht beschieden gewesen sei.

Die Gräfin konnte sich in ihrer Rührung der Thränen kaum erwehren, als sie den schnell erfundenen Ausweg vor ihren erstaunten Hörern darlegte. Vittoria, die jetzt plötzlich ihr mütterliches Recht auf Renatus und ihre Freundschaft für Cäcilie geltend machte, so daß man sie bei keiner Besprechung und Berathung übergehen konnte, hatte Mühe ernsthaft dabei zu bleiben, und Cäcilie und Renatus, welche in der Erdichtung der Gräfin keine üble Rolle spielten, waren mit allem zufrieden und einverstanden, was sie auch nur eine Stunde früher an das ersehnte Ziel zu führen verhieß.

Sie waren beide sehr bereit, an Hildegard zu schreiben, ihre Nachsicht, ihre Verzeihung zu erbitten, ihr jede möglichen geschwisterlichen Dienste für die Zukunft anzubieten und ein [134] treues Zusammenhalten zu geloben; aber beide waren so voll von ihrem Glücke, so voll von Lebenslust und Hoffnung, daß sie sich in den Gemüthszustand des verlassenen Mädchens gar nicht hineinzuversetzen wußten und daß die Gräfin es endlich gerathener fand, die Briefe des Brautpaares an die Entfernte zu unterdrücken und die Darstellung des Geschehenen allein auf sich zu nehmen.

[135]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Die Plane und Vorsätze, mit welchen der Freiherr in Bezug auf seine Güter letztlich umgegangen war, erhielten durch seine neue Verlobung eine wesentliche Befestigung. Cäcilie, die seit ihrem fünfzehnten Jahre in dem Schlosse gelebt hatte und nur selten nach der Kreisstadt gekommen war, hegte, wie schon Hildegard ihm dies stets geschrieben hatte, eine Sehnsucht danach, die Hauptstadt, die schöne Welt, den Hof kennen zu lernen, und die Schilderungen, welche Renatus ihr von seinem Pariser Leben machte, steigerten jene Sehnsucht zu einem wahrhaften Verlangen. Vittoria ihrerseits, welche aus ihrem Kloster grades Weges nach Richten und in das Ehebett des greisen Mannes gekommen war, hatte der Einsamkeit nun auch die Fülle genossen. Sie begehrte nach einer Zerstreuung, wenn die Gesellschaft ihrer Freundin Cäcilie ihr entzogen und Valerio ihr genommen werden sollte; und weil man, wenn die Verlobten sich jetzt zwanglos in Vittoria's Zimmer gehen lassen durften, sich allseitig so wohl befand, so heiter war, so wurde ein solches Beisammensein auch für die Zukunft als das Erfreulichste und zugleich als das Einfachste in's Auge gefaßt.

Man hatte niemals an einen gemeinsamen Haushalt mit Vittoria denken können, so lange noch die Rede von der Heirath mit Hildegard gewesen war. Jetzt, da es sich von selbst verstand, daß die Mutter mit ihrer ältesten Tochter vereinigt bleiben würde, ward es eben so fraglos, daß Vittoria sich an das junge Paar[136] anschloß, und da keiner von diesen Dreien bisher jemals in der Lage gewesen war, sich ein Haus zu begründen, fanden sie ein lebhaftes Vergnügen darin, mit einander die Entwürfe für ihre Einrichtung zu machen, die Straße auszuwählen, in welcher man sich, wenn es möglich sei, niederlassen wolle, die Zahl der Zimmer, die Art ihrer Vertheilung durchzusprechen und die Weise im voraus festzusetzen, nach der man leben wolle.

Renatus hatte den berechtigten Wunsch, da er seine Güter verkaufen und im militärischen Dienste bleiben wollte, was beides noch kein Stammhalter seines Hauses jemals gethan hatte, durch ein würdiges Auftreten in der Hauptstadt es darzuthun, daß seine Umstände immer noch günstig wären, wenn er sich auch zu entschiedenen Schritten für ihre Befestigung und Sicherung bewogen finde. Selbst Tremann, der nicht zum Beschönigen derselben geneigt gewesen war, hatte es ihm ausgesprochen, daß seine Lage keineswegs eine verzweifelte, sondern eine haltbare und der Verbesserung fähige sei, wenn er sich zu den Maßnahmen entschließen könne, die er auszuführen jetzt im Begriffe stand.

Renatus empfand ein Zutrauen zu sich und zu seiner Zukunft, welche ihm bisher in den letzten Jahren völlig gemangelt hatte, und er dachte mit großer Heiterkeit an den nicht mehr fernen Zeitpunkt, in welchem er, aller seiner Sorgen entladen, nur seinem Dienste und seinem Glücke an der Seite einer geliebten Frau, in Gesellschaft seiner Stiefmutter und ihres Sohnes werde leben können.

Er freute sich auf die Rückkehr zu seinem Regimente, er freute sich auf den Beifall, welchen seine Frau bei seinen Kameraden finden werde. Er entwarf sich ein lockendes Bild von dem hübschen Hause, das er machen wolle, versprach sich, Vittoria und seiner Braut große Genugthuung von der Bewunderung, welche die musikalische Bildung der beiden Frauen, denn auch Cäcilie war unter der Baronin Anleitung eine vortreffliche [137] Sängerin geworden, am Hofe erregen mußte; und weil bei diesen Planen der Gedanke an das Landleben völlig ausgeschlossen war, so schwand des jungen Freiherrn Widerstreben gegen den Verkauf seines halben Besitzes endlich ganz und gar.

Ein paar Tage nach seiner Verlobung, gleich nachdem er die Meldung derselben an seine nächsten Anverwandten ausgeführt hatte, setzte er sich wohlgemuther, als er es bei solchem Anlasse jemals für möglich gehalten hatte, nieder, seinem Amtmanne zu schreiben, wie er sich entschlossen habe, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu biete, die beiden Nebengüter zu verkaufen, daß er aber nicht abgeneigt sei, ihm Richten, je nachdem man sich darüber einigen könne, zur Verwaltung oder zur Verpachtung zu überlassen. Bis über den Verkauf der Güter entschieden sein werde, wünsche er also, falls dem Amtmanne dies auch genehm sei, Alles beim Alten zu lassen, und es werde sich dann voraussichtlich so fügen, daß der neue Contract mit ihm, statt jetzt im Beginne des dritten Quartales, zu Ende desselben abgeschlossen und mit dem Anfange des letzten Quartales in Kraft gesetzt werden könne.

In derselben Stunde zeigte er auch Steinert an, daß er verkaufen wolle, weil er sich mit der Gräfin Cäcilie Rhoden verlobt habe, welche in der Stadt zu leben wünsche, wohin ihn selber die eigene Neigung für den Kriegsdienst und die Rücksicht auf die Erziehung seines Bruders ziehe. Könne er mit Steinert Handels einig werden, und zwar so, daß Steinert und der Baurath Herbert, der, wie er von dem Amtmanne gehört zu haben glaube, den Kauf mit Steinert gemeinsam unternehmen wolle, beide Güter an sich brächten, so werde ihm dies um seiner Insassen willen das Erwünschteste sein. Er werde dann die Leute, welche seit Hunderten von Jahren zu seinem Hause gehört hätten, in Steinert's Vorsorge, der den Leuten lieb und bekannt sei und ein Herz für sie habe, wohl berathen und wohl geborgen [138] wissen. Einer persönlichen Besprechung bedürfe es für's Erste deßhalb nicht, und leider habe er zu dieser, von dem Ablaufe seines Urlaubs bedrängt, auch nicht mehr die Zeit. Zudem befänden die sämmtlichen Akten sich augenblicklich in der Hauptstadt, in seines Oheims Händen. Dorthin gehe er und sei bereit, auf Anfrage, aus den Akten jede gewünschte Auskunft zu ertheilen, wie es sich denn auch von selbst verstehe, daß der Amtmann und der Justitiarius den Käufern Einsicht in die geführten Bücher gewähren würden, wenn sie etwa nach Richten kommen sollten, sich die gegenwärtige Sachlage anzusehen.

Er hatte ein angenehmes Selbstgefühl, als er diese beiden Schreiben durchlas. Es dünkte ihn, als sei er plötzlich ein ganzer Geschäftsmann geworden, und er begriff, wie der Freiherr sich an solche Verhandlungen allmählich gewöhnen und Geschmack an ihnen habe finden können. Es beruhigte ihn, daß er sich bei seinen Planen mit Antheil an das Loos seiner Leute erinnert hatte; er dachte, daß Steinert sich ohne alle Frage über seine bevorstehende Verheirathung erfreuen werde, und wenn derselbe dann, hier im Lande lebend und selbst arbeitend, mehr aus den Gütern herausschlagen konnte, als es den Freiherren von Arten möglich gewesen war, nun, so war das einmal nicht zu ändern, und er wollte es ihm gönnen, daß er vorläufig den Vortheil davon zog, wenn er die Güter hob. Vielleicht war es dem nächsten Herrn von Arten, vielleicht war es seinem Sohne einst beschieden, die Güter zurückzukaufen, wenn Renatus jetzt Ordnung in die Verhältnisse des Hauses brachte. Er selbst freilich mußte sich für die Vergangenheit und für die Zukunft zum Opfer bringen; aber in seiner militärischen Laufbahn, an Cäciliens Seite, in der Residenz, und mit einem immer noch bedeutenden Grundbesitz als Rückhalt, ließ das Leben sich ertragen.

Er fuhr mit leichtem Herzen an dem Tage auf das Gut eines Freundes, um dort, begleitet von der Gräfin und von [139] Vittoria, mit seiner Braut den ersten Besuch zu machen, und man hatte in dem Hause gute Sitte genug, es nicht merken zu lassen, wie überrascht man war, nicht Hildegard, sondern Cäcilie als des Freiherrn Erwählte zu empfangen. Die Gräfin selbst mußte das Gespräch darauf bringen, mußte die Frage aufwerfen, ob man sich nicht wundere, ihre zweite Tochter mit dem Freiherrn verlobt zu sehen, ehe sie ihre romantische Erklärung zu Hildegard's Bestem abgeben konnte; und weder Renatus noch Cäcilie wußten ihr dies Dank.

Die Mutter hat Hildegard immer vorgezogen! sagte Cäcilie, als sie sich mit Renatus allein befand. Nun müssen wir beide Hildegarden wieder zur Folie dienen und uns dafür bedanken, daß sie vor jenen Jahren Dich mit ihrer Leidenschaft um Deine vernünftige Ueberlegung zu bringen und sich mit Dir in dem Augenblicke zu verloben verstanden hat, als Du Dich von ihr loszumachen wünschtest. Die Mutter wird's noch dahin bringen, daß ich die Schwester hasse!

Beneidest Du sie, Cäcilie? fragte Renatus, auf dessen schon von Natur weichen und gütigen Sinn die Erziehung des Caplans noch verschönend und zur Nachsicht stimmend eingewirkt hatte, während sein Glück, sein erstes Liebesglück, ihm das Herz noch mehr erschloß. Hast Du Grund, sie zu beneiden?

Cäcilie antwortete ihm nicht, aber sie umschlang ihn und küßte ihm die Hand. Er war sehr glücklich in dem Besitze dieses Mädchens, dem er sich immer überlegen fühlte und das hinwiederum so liebevoll zu ihm emporsah.

[140]
11. Capitel
Eilftes Capitel

Niedergeschlagen und muthlos hatte der junge Freiherr vor einigen Monaten die Hauptstadt verlassen, nun kehrte er voll der besten Zuversicht in dieselbe zurück.

Er meldete sich bei seinen Vorgesetzten, und ward auf das Beste aufgenommen. Man lobte es, daß er sich nicht auf seine Besitzungen zurückziehen, sondern im Dienste bleiben wolle, denn der König sah es gern, wenn die jungen Männer aus den alten Familien im Heere ihren Weg machten; und die Stadt, die Straßen sahen für Renatus jetzt ganz anders aus, seit er sie mit dem Hinblicke auf eine künftige Häuslichkeit betrachtete. Obschon er sich vorgenommen hatte, sich Zeit zu lassen und nichts zu übereilen, konnte er der Neugier nicht widerstehen, in die verschiedenen Häuser einzutreten, in welchen Wohnungen zur Miethe ausgeboten wurden, ihre Räumlichkeiten anzusehen, um ihren Preis zu fragen, und sich Alles in das Notizbuch zu verzeichnen, das er eigens zu dem Zwecke mitgenommen hatte.

Er sprach dann noch in dem Laden eines Goldschmiedes vor, um für Cäcilie den Ring zu kaufen, den er ihr als Pfand ihrer Verlobung zu geben wünschte, und wie er nun die einzelnen Kasten mit den Geschmeiden vor sich stehen sah, fiel ihm bei einem Saphirschmucke plötzlich ein, wie schön die blauen Steine auf dem weißen Halse und an den vollen Armen der Geliebten aussehen würden. Es ist ein so natürlicher Wunsch, das, was man liebt, zu schmücken.

[141] Er erkundigte sich nach dem Werthe des Geschmeides, und er fand ihn hoch. Aber Cäciliens schöner Nacken, ihr reizendes, kleines Ohr ließen ihm keine Ruhe. Er meinte sie vor sich zu sehen, er konnte sich die Freude seiner Geliebten bei dem Empfange eines solchen Geschenkes lebhaft vorstellen, und es fiel ihm ein, daß sie ihm einmal, mehrere Wochen vor ihrer Verlobung, geklagt hatte, wie sie aber auch gar nichts von Schmuck besitze, da die Mutter alles, was sie der Art gehabt, schon sehr früh der älteren Schwester gegeben habe. Allerdings bekam Cäcilie einst den ganzen Arten'schen Familienschmuck; indeß das waren schwere Brillanten, wie nur eine Frau sie tragen konnte, und jetzt, da er daran dachte, kam Renatus erst wieder darauf, daß der Freiherr den Familienschmuck seiner Zeit Vittorien gegeben hatte, die berechtigt war, ihn, wenn sie wollte, der Frau ihres Stiefsohnes durchaus vorzuenthalten. Es fiel ihm dabei aber auf, daß Vittoria, welche in früheren Jahren an diesen Brillanten so viel Wohlgefallen gehabt und einzelne Stücke des Schmuckes immer getragen hatte, sich desselben gar nicht mehr bediente, und er nahm sich vor, deßhalb einmal Nachfrage zu thun.

Inzwischen jedoch mußte Cäcilie durchaus irgend etwas geschenkt bekommen, und der Goldschmied hatte nicht den ersten Liebenden vor sich, der zwischen seines Herzens Lust und seinen vernünftigen Bedenken einen Vermittler zu Gunsten der ersteren zu finden wünschte. Nach kurzem Zureden, kurzem Verhandeln erstand Renatus den Schmuck und befahl, ihn mit dem Ringe, wohl verpackt, nach seinem Gasthofe zu senden. Es war ein Geschenk, wie seiner Zeit der verstorbene Freiherr es der Gräfin Angelika darzubringen vollauf berechtigt gewesen war. Für Renatus jedoch war die Ausgabe viel zu groß, und er hielt sich das auch selber vor; aber, sagte er sich, wenn man im ersten goldenen Sonnenscheine des Glückes nicht einmal seinem Herzen folgen soll, so lohnt es sich ja nicht, zu leben!

[142] Froh über die Freude, welche er der Braut zu bereiten jetzt gewiß war, ging er nach der Wohnung seines Oheims. Er meinte, so gut aufgelegt, wie er sich jetzt eben fühlte, mit den Vorstellungen und Einwendungen, welche derselbe, als Hildegard's geschworener Freund und Verehrer, ihm sicherlich nicht vorenthalten werde, am leichtesten fertig werden zu können, und es war ihm sehr erwünscht, als er auf seine Anfrage die Antwort erhielt, daß der Graf zu Hause, und ihn zu empfangen bereit sei.

Der Graf stand mitten im Zimmer, als Renatus bei ihm eintrat. Er sah nicht übel aus, aber er stützte sich auf einen Stock, und wie es dem Neffen schon auffiel, daß er ihm nicht wie sonst entgegenkam, daß er ihm nicht die Hand reichte, fiel es ihm noch mehr auf, daß der Graf eine sonderbare Art sich zu bewegen angenommen hatte. Er trug sich immer noch sehr gut, indeß seine Haltung sah so absichtlich aus, und erst als er nach seinem Lehnsessel gegangen war, sich fest niedergesetzt und seine Beine in eine bequeme Lage gebracht hatte, sagte er: Nun, mein Lieber, Du kommst wohl, Dir meinen besonderen Glückwunsch zu Deiner neuen Verlobung abzuholen? Seit wann bist Du denn zurückgekehrt?

Es fuhr wie ein kalter Luftzug über den jungen Freiherrn hin. Der Anblick seines Oheims hatte ihn, er wußte selbst kaum, weßhalb, erschreckt; der unverkennbare Spott in seinem Tone beleidigte ihn. Er hatte sich indessen darauf gefaßt gemacht, hier auf Tadel und Mißbilligung zu stoßen, zu welchen, er läugnete sich das keineswegs, seine Handlungsweise Jedem, der die Verhältnisse nicht wie er selber kannte, auch ein volles Recht gab. Er überwand also seine Mißempfindung und sagte: Ich habe Ihnen, lieber Onkel, denke ich, nicht nöthig, eine lange Rechtfertigung meines Thuns zu machen! Sie sind ein Menschenkenner und kennen mich und Hildegard – wir paßten nicht zu [143] einander! Mich dünkt also, wie der Augenblick einer solchen Einsicht auch schmerzlich sein mag, man hat sich immer glücklich zu preisen, wenn man sie gewinnt, ehe es zu spät ist, den Folgen seines Irrthums vorzubeugen! Wir paßten wirklich in keiner Weise für einander, selbst die Gräfin Rhoden gibt uns dies jetzt zu!

Er hatte sich einen Sessel genommen, ohne daß der Graf, der solche Form der Höflichkeit sonst nie vergaß, ihn dazu aufgefordert hatte. Nun, als Renatus seine Behauptung wiederholte, sagte sein Oheim: Eure Unzusammengehörigkeit streite ich Dir nicht ab, mein Lieber, wennschon ich Dir damit kein Compliment zu machen glaube!

Onkel! fuhr Renatus auf. Aber der Graf, der bis dahin mit voller, kräftiger Stimme gesprochen hatte, senkte diese plötzlich, und seine kalte Hand auf die des jungen Freiherrn legend, sagte er: Gemach, mein Lieber, und mäßige Dich! Du siehst, ich bin noch etwas angegriffen, Deine Brust ist stärker, als die meine.

Renatus schwieg, weil seine gute Erziehung ihn dem älteren Manne gegenüber Rücksicht nehmen hieß; aber er preßte die Hand unwillkürlich fest um den Griff des Säbels zusammen, den er zwischen seinen Knieen hielt, und er nahm sich vor, sein Herz vor dem kranken Bruder seiner Mutter im Nothfalle eben so fest zusammenzufassen.

Du sagst, hob der Graf nach kurzem Schweigen an, Ihr hättet nicht für einander gepaßt, und ich streite Dir dies, ich wiederhole es, nicht ab. Aber, mein Lieber, wer zwang Dich, oder vielmehr, was berechtigte Dich, vor sieben Jahren, als Du noch sehr unfertig und völlig unselbständig warst, das Schicksal eines schon damals sehr reifen und im edelsten Sinne in seiner Bildung abgeschlossenen Mädchens an Dich zu binden? Erinnere Dich, daß ich Dich damals, weil ich Deinen leicht beweglichen Arten'schen Sinn sehr wohl erkannte, vor dem Umgange mit den Rhodens warnte!

[144] Renatus war keiner Antwort fähig. Zum zweiten Male gelang es seinem Oheim, ihn durch die Dreistigkeit seiner Heuchelei und Unwahrheit förmlich zu erschrecken. Er mußte erst Herr über sein Erstaunen werden, ehe er die Bemerkung machen konnte, daß er sich jener Warnung seines Onkels sehr wohl und sehr oft erinnert, ja, daß er sie als eine durchaus berechtigte anerkannt habe, denn er sei damals in der That, wie der Graf es für ihn besorgt habe, ohne selbst recht zu wissen, wie, in die Verlobung mit dem älteren und fertigeren Mädchen hineingezogen worden.

Ohne zu wissen, wie? sprach der Graf ihm immer in demselben Tone spöttelnden Tadels nach. Mich dünkt, mein Lieber, dies zu behaupten, hättest Du kein Recht! Ein Mädchen von dem Seelenadel Hildegard's konnte es nicht glauben, daß es nur auf ein leeres, empfindsames Spiel von Dir gemünzt war! – Er machte eine jener berechneten Pausen, welche Arglistige so wohl zu benutzen verstehen, und fuhr dann fort: Hildegard hat mir geschrieben. Ich wußte alles, was vorgegangen war, noch ehe ich die seltsame Kunde erhielt, daß Du Hildegard's Entfernung kaum abgewartet hattest, um Dich mit ihrer leiblichen Schwester zu verloben. Hildegard wird das nie verschmerzen, und wirklich, mein Lieber, es ist keine Heldenthat, mit dem Lebensglücke eines reinen, edlen Mädchens sein Spiel zu treiben!

Er hatte sich in eine tugendhafte Entrüstung hineingesprochen, in welcher er sich offenbar sehr wohl gefiel, denn er zupfte sich den Hemdkragen und das Jabot zurecht, fuhr sich mit der Hand aus alter Gewohnheit nach dem Haupte und durch das Haar, obschon dieses zu einer solchen, seine Fülle ordnenden Bewegung gar keine Veranlassung mehr bot, und lehnte sich behaglich in den Sessel zurück.

Seine letzte, wiederholte Behauptung war dem jungen [145] Freiherrn aber doch zu viel geworden, und sich erhebend, sagte er, die schöne Oberlippe unter dem blonden Schnurrbarte in die Höhe werfend: Diese Bemerkung aus Ihrem Munde überrascht mich sehr!

Was soll das heißen? fragte der Graf kurz und be stimmt.

Es soll Sie nur an Seba Flies erinnern, entgegnete der Freiherr in derselben Weise, für deren einstige Seelenreinheit, für deren Seelenadel mir die Freundschaft, welche meine Mutter für sie hegte, ohne alle Frage eine Bürgschaft sein darf!

Der Graf lachte hell auf. Wie man, einmal von dem rechten Wege entfernt, sich gleich ganz und gar verliert! rief er aus. Das ist in der That naiv! ein Cavalier und ein Judenmädchen! Wer fragt danach? – Aber das Verhalten eines Edelmannes gegenüber einer Dame seines Standes, das ist etwas Anderes! Das Judenmädchen konnte, ohne die Ueberspanntheit, mit der es sich mir völlig in die Arme warf, es gar nicht für möglich halten, daß es die Meine werden könne; und hätte Seba es gewollt, sie hätte auch nach dem Abenteuer mit mir, von dem damals Niemand etwas wußte, unter ihres Gleichen noch Männer genug zur Auswahl haben können, denn sie war schön und reich! Aber eine Hildegard, eine Gräfin Rhoden war berechtigt, auf das Wort eines Edelmannes zu vertrauen! Alle Welt wußte von Eurer heimlichen Verlobung, sieben Jahre ihres Lebens sind Dir geweiht gewesen – es ist unerhört! Verlaß Dich aber darauf, man wird dies übel, sehr übel vermerken! Der König ist gegen solche Handlungsweise äußerst streng! Von dem Darlehen auf Deine Güter ist unter diesen Umständen natürlich keine Rede mehr! Es war dabei sehr wesentlich auf die Gunst gerechnet, deren Hildegard genießt, und ....

Der Freiherr konnte es bei aller Selbstbeherrschung länger nicht ertragen. Ich denke weder Sie noch Hildegard in meinen [146] Angelegenheiten zu bemühen, sagte er. Ich bedarf des königlichen Darlehens nicht!

Wie das? fragte der Graf.

Ich verkaufe Rothenfeld und Neudorf, ich verpachte Richten, denn ich werde im Dienste bleiben, schon um meiner Familie willen!

So? sagte der Graf mit einer leisen Kopfbewegung, während Renatus sich nach seinem Czako umsah.

Er war erbitterter, als er sich je gefühlt hatte. Sich von einem Wüstlinge, wie der Graf es gewesen war, so lange seine Kraft für die Befriedigung seiner Gelüste ausgereicht hatte, sich von einem Verräther des Vaterlandes, von einem Ehrlosen zu Sitte, Pflicht und Ehre ermahnen zu lassen, empörte den Freiherrn. Er hätte ihm mit Einem Worte seine ganze Verachtung aussprechen, ihm sagen mögen, wie er des Grafen Heuchelei verabscheue; aber über dieses vollberechtigte Empfinden des Freiherrn trug Eine Erwägung den Sieg davon und nöthigte ihn, nach seiner Meinung, zum Schweigen.

Er hatte aus seiner innersten Natur heraus, aus jenem warmen und menschlichen Gefühle, dessen er fähig war, wo seine Standesvorurtheile ihm nicht den Sinn und das Herz verengten, den Grafen an seine Schandthat gegen Seba gemahnt; indeß er selber erkannte, bei seiner Anschauungsweise, sobald sein Oheim ihn daran erinnerte, daß zwischen Seba und der Tochter eines alten, gräflichen Hauses allerdings eine wesentliche Verschiedenheit obwalte. In der Gesellschaft, welcher die beiden Männer angehörten, wog des Grafen ehrloser Verrath an Seba sicherlich nicht so schwer, als der für Renatus zu einer inneren Nothwendigkeit gewordene Treubruch gegen eine Gräfin Rhoden, und die Männer sowohl als die Frauen seines Standes waren der Mehrzahl nach ohne Frage eher geneigt, den Grafen, als seinen Neffen freizusprechen. Er hatte also das verdrießliche [147] Bewußtsein, einen Schlag gegen seinen Gegner ausgeführt zu haben, den Jener so geschickt von sich abgewendet hatte, daß er sich aus dem Angegriffenen in einen Angreifenden verwandeln können, und Renatus kannte seinen Oheim darauf, daß dieser ihm nicht vergessen, nicht verzeihen werde, was eben jetzt zwischen ihnen vorgegangen war. Er wußte, daß er von jetzt ab den Grafen als seinen Feind betrachten müsse, und er fühlte auch den nie ganz besiegten Widerwillen gegen denselben in sich so groß geworden, daß er, gereizt, wie er es war, jetzt ein für alle Mal seine Stellung gegen den Oheim zu nehmen beschloß.

Er stand aufrecht vor dem Grafen, der seine bequeme Lage nicht verließ, und sagte, während er seine Handschuhe anzog, in einer Weise, welche sein Oheim noch nie zuvor von ihm vernommen hatte: Wir haben, wie ich sehe, wenig Aussicht, uns zu verständigen, und ich wußte das im voraus, da ich Ihre Vorliebe für Cäciliens Schwester kannte. Ich kam auch nicht, mich wegen meiner Handlungsweise zu rechtfertigen, sondern weil es mir lieb gewesen wäre, sie Ihnen, dem Bruder meiner Mutter, einsichtlich zu machen, und weil ich Sie um die Rückgabe der Akten ersuchen wollte, die in Ihren Händen zurückgeblieben sind.

Da ich von dem Tage Deiner Ankunft nicht unterrichtet war, habe ich sie gestern, wohl versiegelt, Deinem Chef zur Uebergabe an Dich zustellen lassen, denn ich verreise morgen, antwortete der Graf mit gleicher Kälte.

Renatus dankte, ohne sich nach dem Reiseziele seines Oheims zu erkundigen, und wollte sich entfernen; aber der Graf sagte von selbst, daß er eine Badekur beabsichtige.

Renatus fragte also pflichtschuldigst, wohin er zu gehen beabsichtige.

Man hat mir zu einem Stahlbade gerathen, und ich habe [148] mich für Pyrmont entschieden. Ich bleibe etwa sechs Wochen dort. Wirst Du bei meiner Rückkehr hier sein?

Ohne alle Frage!

Du denkst also nicht, Dich versetzen zu lassen?

Wie käme ich dazu? fragte der Freiherr, sichtlich von der Frage überrascht.

Ich meinte, daß Deine Vermögensverhältnisse und auch die Rücksicht auf die arme Hildegard es Dir vielleicht wünschenswerth erscheinen ließen, nicht in der Residenz, nicht eben hier zu leben.

Durchaus nicht! entgegnete der Neffe sehr bestimmt. Ich denke vielmehr, mich mit meiner ganzen Familie hier niederzulassen, und bin schon heute darauf ausgegangen, eine Wohnung zu suchen, in der ich uns und meine Stiefmutter und meinen Bruder bequem einrichten kann!

So, so! wiederholte der Graf in dem früheren Tone, und eine Prise nehmend, setzte er hinzu: Auf Wiedersehen also, auf Wiedersehen, mein Lieber!

Renatus gab ihm dieses Lebewohl zurück, und sie trennten sich, ohne sich die Hand zu geben, wie zwei Fremde, wie zwei Feinde.

[149]
12. Capitel
Zwölftes Capitel

Welch eine Welt ist das! rief Renatus innerlich aus, als er sich wieder auf der Straße befand. Aber es gilt, sich durchzuschlagen! fügte er hinzu – und sich durchzuschlagen, war er glücklicher Weise ja gewohnt.

Sein Lebensmuth war entschieden im Wachsen. Er war in sich beruhigt über die Haltung, welche er gegen seinen Onkel behauptet hatte, und wenn er es sich recht überlegte, war es für ihn kein Unglück, vielmehr ein Gewinn, daß es zu einem entschiedenen Bruche zwischen ihm und dem Grafen gekommen war.

Der Graf liebte es, sich als einen Beschützer darzustellen; er hatte in den Zeiten der Franzosenherrschaft sich an ein zweideutiges Vermittleramt gewöhnt, er war müßig, sah viele Leute, beobachtete, wie alle diejenigen, die kein gutes Gewissen und in ihren eigenen Lebensverhältnissen mancherlei zu verbergen haben, äußerst scharf; was konnte also für des jungen Freiherrn Familie aus einem Zusammenhange mit diesem Manne Heilsames erwachsen?

Den Schutz und Einfluß des Grafen irgendwie in Anspruch nehmen zu wollen, war sein Neffe weit entfernt; er sah auch nicht ab, daß er jetzt noch in die Lage kommen könne, desselben zu bedürfen. Seine Vermögensverhältnisse ordnete er in der durchgreifendsten Weise selbst, mit dem Kommandeur seines Regimentes hatte er immer auf das beste gestanden, und er hatte gleich bei dem ersten Besuche von demselben erfahren, daß wirklich [150] eine große Anzahl von Dienstentlassungen und von Abschiedsgesuchen im Werke, also für das Heraufrücken der jüngeren Offiziere die günstigsten Aussichten vorhanden seien. Wozu konnte ihm der Oheim denn auch nützen? Ihn, der Cäcilie nicht freundlich, der Vittoria feindlich gesinnt war, der von der inneren Familiengeschichte des Arten'schen Hauses weit mehr als gut war wußte, nicht in seiner Familie aufnehmen zu dürfen, dünkte den Freiherrn ein wesentlicher Vortheil zu sein. Wendete Hildegard sich von der Schwester ab, schloß die Mutter sich mehr an die ihr bleibende, als an die verheirathete Tochter an, so waren das Dinge, die eben nicht zu ändern waren, und auf einen recht verträglichen Verkehr zwischen Vittoria und jenen beiden Frauen hatte Renatus sich ohnehin nicht Rechnung machen dürfen. Es war also am besten, wie es sich eben gefügt hatte, und er konnte, nachdem der Einzug seines Regimentes vorüber war, gleich an seine wichtigsten Geschäfte, an die Vorkehrungen für seine Verheirathung gehen.

Man hatte die Hochzeit, um nicht in zu später Jahreszeit reisen zu müssen, auf die ersten Tage des Oktober verlegt; Renatus hatte also für seine Besorgungen keinen weiten Spielraum vor sich. Er war froh, als er in einer ihm passenden Gegend eine Wohnung gefunden hatte, welche ihm die nöthigen Bequemlichkeiten für alle Betheiligten neben jenen größeren Räumen darbot, deren man für eine schickliche Geselligkeit bedurfte. Nur für Valerio wollte sich, wenn man ihm, wie seine Mutter es gewünscht hatte, einen Erzieher annahm, kein rechtes Unterkommen in dem Hause finden, und wie jeder, der an neue Verhältnisse herangeht, nach dem alten Sprüchworte oft gezwungen ist, aus der Noth eine Tugend zu machen, ließ Renatus sich von dem ihm nahe befreundeten Adjutanten seines Regiments-Chefs, mit dem er gelegentlich von seinen Planen, von seiner Einrichtung und von seinen kleinen Verlegenheiten [151] sprach, dahin überreden, daß es für den durch mütterliche Schwäche in jedem Betrachte verwöhnten Knaben fraglos das Angemessenste sein würde, ihn von Hause zu entfernen, und daß Renatus also mit seiner ursprünglichen Idee, ihn einer öffentlichen Erziehungs-Anstalt zu übergeben, das Richtige für ihn getroffen habe. Die Kadettenhäuser waren nach den Kriegen in ihren Einrichtungen wesentlich verbessert worden; Valerio zu einem Studium zu überreden, welches ihn für den bürgerlichen Staatsdienst geschickt machen konnte, hielt Renatus bei der Art des Knaben nicht für angebracht, und da es in einer neuen, jungen Ehe in keinem Falle bequem war, einen solchen frühreifen Burschen zum täglichen Gesellschafter zu haben, machte Renatus seine Stiefmutter und den Knaben mit seiner Absicht bekannt, ihn in eine der militärischen Erziehungs-Anstalten zu bringen, um ihn sein Heil einmal im Heere, dieser Zufluchtsstätte adeliger Mittellosigkeit und jüngerer Brüder, versuchen zu lassen.

Mitten in diesen Vorkehrungen kamen denn allmählich auch die großen Wagen voll Hausrath und voll Möbeln an, welche Renatus, um der neuen Wirthschaft und dem neuen Hause das alte, würdige Gepräge zu geben, von dem Schlosse nach der Stadt kommen ließ. Renatus wollte die großen Spiegel, sofern sie sich in die kleineren Zimmer des städtischen Hauses einfügen ließen, er wollte die schönen Möbel und Geräthschaften, die guten, alten niederländischen Landschaften, die italienischen Statuetten und vor Allem die Bilder seiner Eltern und Großeltern nicht entbehren; er wollte die alten werthen Erinnerungen mit sich in die neue Lebenslage hinübernehmen. Er hing an diesen Gegenständen, er hatte zudem auch in dem Palaste der Herzogin erfahren, wie wohlthuend das Althergebrachte in der Ausstattung eines Hauses wirke, und mochte der neu erworbene Reichthum der emporgekommenen bürgerlichen Gesellschaft ihr auch jede Art von Luxus zugänglich machen, gegen die Würdigkeit einer solchen [152] überkommenen Einrichtung erschien alles kalt, was der Tapezierer und die Magazine an Neuigkeiten liefern konnten.

Mit wachsendem Behagen sah er aus den leeren Räumen, die er gemiethet hatte, allmählich die schöne Wohnung entstehen, in welcher es ihm mit der Geliebten wohl werden sollte, und es fügte sich eigen, daß er eben an dem Tage, an welchem er die letzten Schränke in die Zimmer seiner zukünftigen Frau stellen ließ, einen Brief Cäciliens erhielt, in welchem sie ihm erzählte, daß sie gestern, wo man zu einer größeren Gesellschaft in die Nachbarschaft gefahren sei, zum ersten Male den Schmuck habe anlegen wollen, den er ihr gesendet. Er sei jedoch für alle ihre Kleidungsstücke viel zu prächtig gewesen, und sie habe sich also das Vergnügen vorläufig versagen müssen.

Daran hatte der Bräutigam allerdings nicht gedacht; indeß nun er darauf, wenn auch sicher absichtslos, hingewiesen wurde, mußte dem Mangel nothwendig abgeholfen werden. Renatus hatte sich es ohnedies von der Gräfin erbeten, für Cäcilie die ganze Ausstattung besorgen zu dürfen, damit der älteren Schwester nichts von dem, was ihr bestimmt gewesen sei, entzogen werde. Die verhältnißmäßige Dürftigkeit Cäciliens rührte den Liebenden deßhalb nur noch mehr, und da die leeren Schiebladen und Schränke nach einem Inhalte förmlich zu verlangen schienen, machte er sich ein Fest daraus, sie in einer Weise anzufüllen, welche der Geliebten nichts zu wünschen übrig lassen und der jungen Frau von Arten die Möglichkeit gewähren sollte, ihrem Stande gemäß in den Kreisen aufzutreten, in denen zu leben sie fortan bestimmt war.

Während er Kleiderstoffe und Spitzen, Shawls und Mäntel, Federn und Blumen, Fächer und Handschuhe auswählte und mit fast weiblicher Sorgfalt in die Schränke räumte, sah er mit vorgenießender Freude die Geliebte schon damit bekleidet; und weil er eben daran dachte, beschloß er, noch an diesem Tage [153] sich um den Familienschmuck, den der Freiherr nach Vittoria's Angabe bei dem Ausbruche der Freiheitskriege in der königlichen Hauptbank niedergelegt haben sollte, erkundigen zu gehen. Den Niederlegungsschein hatten die Frauen in Richten nicht auffinden können; es mußte aber in der Bank wohl zu ermitteln sein, wann der Schmuck übergeben worden war, und Renatus machte sich also dorthin auf den Weg.

Die Bankbeamten nahmen die Anfrage des Offiziers, des Mannes mit altem Namen, sehr zuvorkommend auf; man fand auch den Niederlegungstag, wie es sich gebührte, genau verzeichnet, aber der Rücklieferungsschein lag daneben, und er ergab, daß auf des Freiherrn eigene handschriftliche Anordnung der Schmuck nach Jahresfrist dem Hofjuwelier des Königs Behufs einer Umfassung ausgehändigt worden war. Das war kurz vor dem Tode des Freiherrn gewesen, und sorglos, wie Vittoria in allen solchen Dingen sich erwies, schien es nicht unmöglich, wenn schon es auffallend gewesen wäre, daß die Diamanten sich noch in dem Gewahrsam des Juweliers befinden konnten. Indeß diese Erwartung zeigte sich als trügerisch. Der Juwelier hatte die Brillanten im Auftrage des Freiherrn verkauft; die Berechnung darüber war vorhanden, eben so die Quittung des Bankhauses, an welches man den Erlös nach des Freiherrn Bestimmung ausgezahlt hatte. Der reiche Arten'sche Familienschmuck, dieses Erbe, an welchem man von Geschlecht zu Geschlecht gesammelt hatte, war dahin, und Renatus durfte sich nicht einmal mit dem Gedanken trösten, daß es, wie so mancher andere Schmuck, für die Befreiung seines Vaterlandes hingegeben worden war.

Es war ihm lieb, daß sein Dienst ihn an diesem Tage ganz in Anspruch nahm; er mochte an den Schmuck nicht denken, und es blieb ja auch nichts übrig, als sich die Angelegenheit aus dem Sinne zu schlagen. Er freute sich nur, daß er für Cäcilie die Saphire schon gekauft hatte, er würde sonst vielleicht[154] des Muthes dazu ermangelt haben, und ganz ohne Schmuck durfte seine junge Frau in der Gesellschaft auch nicht auftreten, wenngleich in diesen Zeiten sich gar Viele solcher Zier aus Vaterlandsliebe entäußert hatten.

Mit jedem Tage, den Renatus vorwärts ging, befestigte sich jetzt seine Zuversicht, daß Alles sich nothwendig zum Besten wenden werde, und in der That nahten auch die Verhandlungen über den Verkauf der Güter sich einem günstigen Abschlusse.

Es war noch in der ersten Hälfte des September gewesen, als Paul von der einen Seite und Steinert von der anderen nach der Provinzial-Hauptstadt kommend, in dem einstigen Flies'schen Hause eingetroffen waren, das der Baurath Herbert an sich gebracht hatte, als Herr Flies nach der Residenz gezogen war. Von Hause aus vermögend und durch Eva's väterliches Erbe unterstützt, wie durch ihre Sparsamkeit und Tüchtigkeit gefördert, war Herbert von den Zeitereignissen verhältnißmäßig weniger als die beiden anderen Männer in seinen Umständen bedroht und beeinträchtigt worden. Auch die Feldzüge hatte er nicht mitgemacht. Ein unglücklicher Fall, den er bei Besichtigung eines Baues einst gethan, hatte ihm einen Armbruch und in dessen Folge eine Schwäche des rechten Armes zugezogen, die ihn zwar in seiner Thätigkeit nicht behinderte, es ihm aber doch unmöglich gemacht haben würde, die Waffen zu tragen. Er und seine Eva hatten sich also seit ihrer Verheirathung nicht viel getrennt, und wenn die fünfzigjährige Frau den Titel und das Ansehen ihres Mannes auch sehr wohl zu tragen wußte, so war ihr von der frischen Fröhlichkeit des Landmädchens doch noch genug geblieben, um es Jedem wohl und behaglich werden zu lassen, der unter ihrem Dache weilte.

Jetzt besonders, wo ihr Aeltester, der, wie ihres Bruders Sohn, kaum dem Knabenalter entwachsen, in das Feld gezogen, nun endlich wieder in die Heimath zurückgekehrt war und wo [155] sie Adam und Tremann zu Gästen hatte, war sie recht in ihrem Elemente. Die schönen Augen blickten hell aus den weißen Spitzen ihrer neuen Haube hervor, die breiten rosa Bindebänder umgaben das rundeste Kinn; und die Grübchen in den freilich etwas zu stark gewordenen Wangen blieben den ganzen Tag sichtbar, weil die glückliche Hausfrau aus dem still zufriedenen Lächeln nicht herauskam. Jeder sollte es ganz nach seinen Bedürfnissen und Wünschen bei ihr haben. Der Bruder mußte seine Leibgerichte auf dem Tische finden, der Sohn sollte es merken, daß es, wie schön es in Frankreich, in Berlin und in all den großen Städten und schönen Gegenden auch gewesen sein mochte, doch im Vaterhause stets am besten sei; und daneben wollte Eva es dem Herrn Tremann auch beweisen, daß man in der Provinz ebenfalls zu leben wisse.

Die beiden Töchter, von denen die ältere auf Eva's ausdrückliches Verlangen den Namen Angelika erhalten hatte und von der man in der Familie immer behauptete, sie sehe der verstorbenen Baronin ähnlich, weil Eva vor der Geburt dieses Kindes immer und immer daran gedacht hatte, daß dieses zweite Kind, wenn es ein Mädchen sei, den Namen der Baronin führen solle, welche einst Eva's und Herbert's Hände in einander gelegt hatte – die beiden Töchter gingen in stiller Geschäftigkeit die Treppe hinauf und hinab. Sie trugen das Sonntagsgeräthe, das feine Krystall und die eingekochten Früchte auf die Tafel, die oben im Saale schon gedeckt war; und unten in der Küche glänzte der Rehrücken, welchen Steinert von Marienfelde mitgebracht hatte, schon in bräunlicher Farbe an dem sich rastlos drehenden Spieße, als in dem Arbeitszimmer des Bauraths die drei Freunde noch berathend bei einander saßen.

Die Gutskarten, die Akten waren freilich schon bei Seite gelegt, die Bedingungen des Kaufkontraktes, die Termine der Uebernahme und der Zahlungen nach des Freiherrn Vorschlägen [156] verabredet worden; auch die verschiedenen Abkommen unter den drei Männern, welche die Güter gemeinsam kaufen wollten, waren zum Abschluß gelangt. Die Steinbrüche jenseit Rothenfeld, der Torfstich zwischen Rothenfeld und Neudorf sollten ebenso wie die Bewirthschaftung der Güter und die Errichtung der Fabrik auf gemeinsame Kosten unternommen und betrieben werden. Herbert selbst wollte die Leitung der Steinbrüche und die Bearbeitung und Verwerthung des Materials auf sich nehmen. Steinert's künftiger Schwiegersohn, der in einer torfreichen Gegend heimisch und des Torfstiches kundig war, sollte unter Herbert's Beistand zunächst die für solches Beginnen nöthigen Kanalarbeiten machen lassen, durch welche man dem ohnehin zu feuchten Boden von Rothenfeld eine zweckmäßige Ableitung zu verschaffen hoffte; und sobald als thunlich sollten dann vornehmlich Oelpflanzen auf den Gütern angebaut werden, da es eben auf die Gründung einer Oelfabrik in großem Maßstabe abgesehen war, zu deren Vorstand man Steinert's Sohn bestimmte. Tremann lieferte den bei Weitem größten Theil der Kapitalien für dieses Unternehmen und behielt sich, des kaufmännischen Betriebes in allen Fächern Meister, die Oberleitung über dasselbe aus der Ferne vor, während seine Bankgeschäfte in der Hauptstadt ihren ungestörten Fortgang hatten und ihn nach allen Seiten hin in den weitverzweigtesten Verbindungen erhielten.

Endlich war man so weit gediehen, daß Herbert die sämmtlichen Papiere zusammenlegen konnte; die Geschäfte waren abgethan. Steinert füllte sich die kurze Pfeife, an die er sich, wie mancher Andre, im Felde gewöhnt hatte, Paul brannte sich eine der Cigarren an, die er von Jugend auf in Amerika hatte rauchen lernen und deren Gebrauch sich jetzt mehr und mehr auch in Europa zu verbreiten anfing. Nur Herbert rauchte nicht. Er hatte eine Flasche Wein geöffnet, schenkte davon in die bereit stehenden Gläser und sagte: Auf gutes Gelingen und daß es [157] uns und den Unserigen wohl werde auf dem neuen Besitzthume!

Uns? wiederholte Tremann. Denken Sie denn Sich selbst nach einem der Güter überzusiedeln?

Herbert lächelte. Ich denke zwar nicht daran, sagte er; aber Sie wissen, es heißt im Sprichwort: was die Frau will, das will Gott! Und ich werde, wie es mir scheint, allmählich aus der Stadt und auf das Land geführt werden. Meine Eva ist die Sehnsucht nach Feld und Flur nie recht los geworden. Obschon wir den großen Garten am Hause beibehalten und ich ihr hier auf dem Hofe die schönsten Hühnerställe und einen Taubenschlag gebaut, ihr auch alle Sorten von Gethier hineingesetzt habe, fehlt ihr doch, wie sie behauptet, die freie Natur. Seit nun von dem Ankaufe von Rothenfeld die Rede war, läßt's ihr vollends keine Ruhe mehr, und ich denke, wenn mein Sohn gut einschlägt, wenn er seine Studien beendet hat und sich Vertrauen erwirbt, so mag er hier künftig den Baumeister an meiner Stelle machen. Er soll meine Arbeiten fortführen, meine Kundschaft erben, und er mag uns denn als Altentheil das Rothenfelder Amtshaus ausbauen, wohin meiner Eva Gedanken jetzt doch unablässig wandern werden.

Steinert nickte dem Plane Beifall zu. Daß dies wahr werde, Schwager! sagte er und stieß auf's Neue mit ihm an, während er sich mit der Hand den Rauch von Tremann's Cigarre gegen das Gesicht wehte, um ihren Geruch zu prüfen. Woher beziehst Du das Kraut? fragte er.

Direkt von der Havannah, antwortete Paul. Willst Du davon haben, so stehen Dir tausend Stück zu Diensten.

Steinert meinte, er wolle ihn nicht berauben. Der Andere versicherte, daß er in jedem Monate frische Zufuhr haben könne, da er Freunde in der Havannah habe, die ihn wohl versorgten und mit denen er in fortdauernder Verbindung stehe. Er schreibe ihnen ohnehin in wenigen Tagen, und wenn Steinert's Sohn,[158] wie es ja im Werke sei, seinen Rückweg über die westindischen Inseln einschlage, so könne der am füglichsten eine gute Ladung für die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft zu besorgen übernehmen.

Der Junge wird sich wundern, sagte Steinert, und es glitt ein selbstzufriedenes Lächeln über sein braunes Gesicht, wenn er erfährt, daß wir die Güter kaufen! Und, daß ich es Euch ehrlich eingestehe, oft ist es mir selbst eine Art von Wunder, wie die Welt sich um uns her gewandelt hat. Ich habe noch den Großvater des jetzigen Freiherrn gekannt. Der saß noch im Vollen und wie ein Fürst in seinem Schlosse. Wenn der jetzt aufstehen müßte! oder wenn mein Vater aufstehen könnte!

Ja, nahm Herbert, als jener mit einem nachdenklichen Kopfschütteln seine Rede plötzlich abbrach, ja, nahm Herbert das Wort, das Hofhalten verstanden sie vortrefflich. Noch als ich nach Richten kam, hatte Alles dort einen schönen und würdigen Anstrich. Man betrachtete es gern, und doch hatte man schon damals das Gefühl, daß die Axt geschliffen sei, den Baum zu fällen. Was man sah, waren schöne Dekorationen, vor denen und hinter denen zwei ganz verschiedene Stücke spielten, und eben darin lag etwas, was die Phantasie beschäftigte und verwirrte und dem man sich nur schwer entzog. Es war gut für mich, daß der Kirchenbau mich zu Euch nach Rothenfeld hinüberbrachte und in gesunde Luft. Mehr Liebe als an diesen Kirchenbau habe ich sicherlich an keine meiner Aufgaben je gewendet.

Die Erinnerung an seinen Jugendtraum stieg wie ein leuchtendes Gewölk vor seinem inneren Auge auf; indeß es zog schnell vorüber, und eben Herbert war es, der gleich darauf die Frage aufwarf, was man denn jetzt mit der Kirche beginnen werde.

Steinert meinte, das sei selbstverständlich. Die protestantische [159] Kirche in Neudorf sei immer ein jämmerlicher Bau gewesen, aus Feldsteinen roh und elend zusammengefügt, der hölzerne Thurm seit lange dem Einsturze nahe. Innen hätten die Russen die Kirche arg verwüstet; sie sei danach, wie die Umstände der Gutsverwaltung es mit sich brachten, kaum auf das Nothdürftigste hergestellt worden. Nichts an der ganzen Kirche und an dem Pfarrhause sei niet- und nagelfest. Man müsse also die protestantische Pfarre, was auch ohnehin bei der Lage der Dörfer immer das Zweckmäßigere gewesen sein würde, von Neudorf nach Rothenfeld zu verlegen suchen. Die nöthigen Schritte bei der Regierung müsse Herbert, und wenn es etwa bis vor das Kultus-Ministerium und den König käme, Tremann zu thun übernehmen. Die Gemeinde würde sie sicherlich unterstützen, denn ihr, die sich eng und ärmlich habe helfen müssen, sei die prächtige und leere katholische Kirche stets ein Dorn im Auge gewesen, und es sei, da in der ganzen Gegend jetzt keine zehn Katholiken mehr zu finden wären, auch nicht die geringste Nothwendigkeit zur Erhaltung eines besonderen Gotteshauses für dieselben mehr vorhanden. Nur wegen der Arten'schen Familiengruft habe es noch Schwierigkeiten.

In wie fern? fragte Paul, der diesen Erörterungen bis dahin schweigend gefolgt war.

Der Freiherr verlangt als eine der Verkaufsbedingungen, daß der Zugang zu der Gruft von der Seite der Kirche vermauert werde, und er will, daß ihm und seinen Nachkommen für ewige Zeiten der Besitz dieser Gruft mit dem sie umgebenden, von dem eisernen Gitter eingehegten Garten, den die Gutsherrschaft als Onus unterhalten soll, zugesichert werde.

Paul schlug ungeduldig mit der flachen Hand auf den Tisch. Sie sind unverbesserlich, aber ganz und gar unverbesserlich! rief er aus. Sie haben die Geschichte der letzten dreißig Jahre vor sich und sie können sich das verdammte Wort »ewig« nicht [160] abgewöhnen; als ob sie nicht gerade daran zu Grunde gingen, daß sie sich in den nothwendigen Wechsel der Zeiten und der Dinge nicht fügen wollen! Dieser junge Arten sieht es jetzt mit eigenen Augen, was es mit den Dingen ist, die man für ewig gegründet zu haben glaubt. Sein Vater baute, einer Stimmung zu genügen, eine Kirche, die für ewige Zeiten dem katholischen Kultus und den religiösen Bedürfnissen seines Geschlechtes gewidmet sein sollte. Noch kein Menschenalter ist seitdem verflossen, und die Kirche wird unser, und wir berathen heute hier in kalter, verständiger Ueberlegung, was wir mit dem Prachtbaue machen sollen, in welchem die Aufregung eines Tages sich ein ewiges Denkmal zu setzen meinte. Noch weiß es jedes Kind im Dorfe, daß es die Herren von Arten gewesen sind, welche die Kirche auferbauten, denn bis heute ist ein Arten Besitzer derselben gewesen. Wer aber wird nach zwanzig, nach dreißig Jahren daran denken, davon wissen? Ludwig der Sechszehnte und Marie Antoinette sind guillotinirt, die Welt ist umgestaltet, ein Advokatensohn Kaiser und Beherrscher der Herrschenden, seine Brüder sind Könige geworden, und Alle sind sie niedergeworfen worden, als ihre Zeit vorüber gewesen ist – und dieser junge Edelmann will ein ewiges Erbbegräbniß für die Gebeine seiner Väter, für die Freiherren von Arten errichtet haben. Es ist abgeschmackt! – Er stand ärgerlich auf.

Du meinst also, daß man diese Bedingung nicht eingehen soll? fragte Steinert.

Warum nicht? Wenn der junge Arten die Unterhaltung der Gruft und des Gartens übernehmen will! Richten liegt dazu nahe genug, und die paar Ruthen Land können wir entbehren.

Es ist übrigens keine schwere Last, wendete Herbert ein, dem begreiflicher Weise an der Erhaltung alles dessen gelegen war, was zur Zierde der Kirche gereichte und mit ihrem Baue [161] organisch zusammenhing; es ist keine schwere Last, welche wir oder die Gemeinde mit der Erhaltung dieses Blumengärtchens auf uns nehmen würden.

Wir haben aber kein Recht, durchaus kein Recht, denen, die nach uns kommen werden, eine Pflicht, wie leicht sie uns auch bedünken mag, aufzuerlegen, da sie ihnen doch weniger leicht erscheinen könnte. Soll der Garten gepflegt werden, so mag's geschehen, so lange wir die Herren der Güter sind, und ich für meine Person habe keinen Grund, mich dem zu widersetzen. Aber was können unsere Kinder, oder was werden diejenigen, die vielleicht nach diesen die Güter erwerben, mit den Ewigkeitsgelüsten des Barons Renatus zu schaffen haben? Wir haben kein Recht, willkürlich übernommene Gefälligkeiten als Verpflichtungen auf Dritte zu vererben. Mag der Freiherr ...

Du denkst als Kaufmann schon an den Verkauf der Güter, ehe wir sie noch erworben haben, fiel Steinert ihm in das Wort, der wie ein rechter Landmann fest an seiner Scholle hing; da freilich kann von Dauer oder gar von Ewigkeit auch nicht die Rede sein, da ist nichts ewig!

Paul lachte. Adam der Siebenundsiebzigste! rief er, schnell wieder heiter geworden, den Freund an eine frühere Neckerei erinnernd. Aber beruhige Dich, mein alter Freund, es gibt ein Ewiges, es gibt unumstößliche, ewige Wahrheiten; nur daß gerade diejenigen, die für ihre Namen und für ihre Geschlechter und Gebeine so gern auf die Ewigkeit vertrauen, von diesen ewigen, unumstößlichen Gesetzen und Wahrheiten meist nicht gern sprechen hören und eben daran untergehen.

Was meinst Du damit? fragte Steinert, der trotz seines gesunden Verstandes immer nur langsam dachte und langsam faßte.

Es ist sicherlich eine ewige Wahrheit, daß zweimal zwei vier macht und daß ich drei von zwei nicht abziehen kann! gab Paul ihm mit der früheren Lebhaftigkeit zur Antwort. Ich habe [162] diese unumstößliche und ewige Wahrheit schon hier in diesem Zimmer einsehen lernen, als es noch dem alten Flies zum Laden diente und die Neger und die Palmen und die Elephanten auf seinen Uhren und Tafelaufsätzen mir eine kindische Sehnsucht nach den fernen Gegenden und Welttheilen einflößten, in denen ich die Neger und die Palmen und die Elephanten heimisch wußte. Aber was haben diese alten adeligen Geschlechter, die gleich den Herren von Arten arbeitslos den Tag am Tage leben und dafür die Möglichkeit einer ewigen Dauer erwarten, von jener ewig unumstößlichen Grundwahrheit begriffen? – Nichts!

Sie sind sehr streng, liebster Tremann! bemerkte Herbert, der um der Baronin Angelika willen eine gewisse Vorliebe für ihren Sohn bewahrt hatte, welche Steinert aus anderen Empfindungen und Erinnerungen gleichfalls mit ihm theilte.

Soll ich nachsichtig gegen das Unvernünftige sein? entgegnete Paul.

Du siehst nun aber doch, daß der junge Freiherr unserm vernünftigen Rathe zu folgen beginnt! gab Steinert ihm zu bedenken.

Weil das Wasser ihm bis an die Kehle steigt! sagte Paul. Er darf nicht stehen bleiben, er muß sich bewegen, er muß schwimmen oder untergehen. Wohl ihm, wenn er sich oben zu erhalten weiß!

Es entstand eine Unterbrechung in dem Gespräche. Nach einer kleinen Weile meinte Steinert: Ein guter Wirth ist der junge Arten freilich auch noch nicht!

Sieh, fuhr Paul auf, das ist's, was mich so empört! Es ist so einfältig, zwei Thaler für dasjenige auszugeben, was man für einen erlangen kann; es ist sinnlos, sich der Mittel für ein künftiges freies Wollen zu berauben. Es ist so dumm, so unverantwortlich dumm, ein Verschwender zu sein. Jeder Schulbube hat einem solchen gegenüber, mag er sein, was er immer [163] wolle, das unbestreitbare Recht, ihm sein »Drei von zwei kann ich nicht abziehen« in das Gesicht zu schleudern. Leichtsinnige Verschwendung ist nicht einmal ein Laster. Sie ist nur eine Dummheit, die aber den Charakter mit Nothwendigkeit verdirbt und die den Menschen, wenn er nicht von ihr abläßt, früher oder später ehrlos machen muß. Sie ist mir verächtlich!

Es widersprach ihm Niemand von den Andern. Sie waren beide auch Männer, welche die Arbeit kannten und an ihr den Erwerb hatten schätzen lernen, Männer, welche es wußten, was die innere Freiheit, die bürgerliche Unabhängigkeit werth sei; die ihren Stolz darein setzten, sie, wenn es sein mußte, auch mit schweren Entbehrungen zu erkaufen, und sie hatten sammt und sonders Freude an der Arbeit selbst, wie an ihrem Berufe. Steinert vor Allen war von dem seinigen so eingenommen, daß er unbedenklich annahm, ein Jeder müsse danach trachten, früher oder später aus den Städten auf das Land, in die freie Natur hinaus zu kommen, um wenigstens am Abende seiner Tage, wie er es nannte, mit dem Herrgott gemeinsam für des Lebens Nothdurft zu arbeiten, und um mit der Erde wie mit dem Himmel ordentliche Bekanntschaft gemacht zu haben, ehe man von ihr scheiden muß. Er kam also, wie sie nun länger bei einander saßen, mit großer Zufriedenheit auf den Gedanken seines Schwagers, sich vielleicht später in Rothenfeld anzusiedeln, zurück und fragte Tremann, ob ihn nicht auch bisweilen das Verlangen nach freier Natur überkomme, ob er nicht auch die Neigung hege, einmal Grundbesitz zu erwerben, wie ....

Wie meine Altvordern? fiel ihm Paul in die Rede, der vor diesen beiden Freunden einen solchen Scherz zu wagen kein Bedenken trug. Aber schon im nächsten Augenblicke sagte er: Es ist gewiß etwas Schönes und Erfreuliches darum, wenn wir ein Stück Erde unser eigen nennen können, und ich habe mich auch beeilt, sobald es für mich thunlich war, mir Haus [164] und Hof für mich und die Meinigen zu erwerben, denn eigenes Haus ist doppelte Heimath. Aber es ist zuletzt doch nicht der Boden, sondern es ist vor Allem unser Zusammenhang, unser Zusammenwirken mit den anderen Menschen, durch die wir uns den rechten Mittelpunkt für das eigene Dasein erschaffen. Wenn ich mir also auch nicht, wie Du, mein alter Freund, etwas auf das direkte Zusammenarbeiten mit einem höheren Wesen, das ich mir nun einmal nicht zu denken vermag, zu Gute thun kann, so erwächst mir doch aus meinem Berufe eine andere und vielleicht nicht geringere Genugthuung.

Gewiß! bekräftigte Herbert. Schon als ich Sie vorhin so beiläufig Ihrer Verbindungen in der Havannah erwähnen hörte, als handle es sich dabei um den Verkehr mit irgend einer Nachbarschaft, trat es mir wieder einmal entgegen, wie farbenreich das Leben eines Kaufmannes sein müsse.

Das Beiwort, welches Sie brauchen, verräth den Sinn des Künstlers, meinte Paul. Indeß es ist doch noch etwas Anderes, was mich von meinem Berufe so groß denken und ihn immer aufs Neue lieben macht. – Er hielt einen Augenblick inne und sagte dann: Der Handel ist für die Menschheit so nothwendig wie die Luft, die wir athmen, und wie diese ist er eine große, bewegende Kraft. Wie ein geübter Steuermann auf offenem Meere steht der Kaufmann in der Handelswelt fest auf seinem Platze. Die stille Mondnacht, die sanft hingleitende Woge dürfen seine Wachsamkeit nicht einschläfern, der Aufruhr der Elemente und das Toben des Sturmes seinen Sinn nicht verwirren; denn nicht allein sein eigenes Wohl und Wehe, das Wohl und Wehe Anderer ist seiner Hand anvertraut. Mitten im tobenden Kampfe, mitten im wilden Kriege muß er des Friedens und der Ruhe, in der Ruhe an die Möglichkeit des Kampfes denken. Er muß das Bedürfniß des Augenblicks erkennen, das Bedürfniß der Zukunft voraussehen. Um die eigene [165] Sicherheit, den eigenen Wohlstand zu begründen, muß er jeden vorhandenen Mangel zu errathen wissen und ihm abzuhelfen trachten. Wo ein Ueberfluß sich zeigt, wo eine Noth sich fühlbar macht, tritt er ein. Nord und Süd, Ost und West treffen in seinem Geiste zusammen, erhalten ihre Ausgleichung und ihre Vermittlung durch seinen unternehmenden Sinn, und wie er bei den großen geschichtlichen Ereignissen ihre Ausführung ermöglichen hilft, so begegnet er dem alltäglichen Anspruche in der entlegensten Hütte. Was der grübelnde Forscher entdeckt, was der tiefsinnige Denker ergründet, der Kaufmann versucht, es für die Allgemeinheit durch seine Thätigkeit nutzbar zu machen. Alles Vorhandene muß ihm dienen, weil auch er sich allem Vorhandenen dienstbar macht; und der Handel wird es auch jetzt wieder sein, der Kaufmann wird es sein, welcher jenen gewaltigen Erfindungen, welcher der Benutzung der Dampfkraft, wie sie in England und Amerika schon jetzt im Gange ist und wie wir sie in unserer Neudorfer Fabrik bald selbst anwenden werden, jene Ausbreitung über den ganzen Erdball sichert, durch welche sich Zustände und Verhältnisse entwickeln können, die wir noch kaum vorauszusehen vermögen, obschon sie vielleicht eine ganz neue Zeit für die Menschheit heraufzuführen geeignet sind.

Er brach nachsinnend ab; aber die beiden Anderen, von Paul's Begeisterung für seinen Beruf mit ihm fortgerissen, erwarteten schweigend, ob er nicht weiter sprechen würde. Es war selten, daß er sich in solcher Weise gehen ließ, denn er war durch seine große Thätigkeit gewohnt, sich in der Unterhaltung meist nur auf das Thatsächliche zu beschränken, und es überraschte ihn selbst, als er so warm geworden war.

Es muß wahrhaftig hier in diesem Zimmer liegen! rief er wohlgemuth, als Herbert seine schöne Wärme pries. Als Knabe schwärmte ich hier für eine Zukunft, die mir in nebelhaft wechselnden, aber stets sehr phantastischen Bildern vor den Augen [166] schwebte; nun, am erreichten Ziele, im Mannesalter schwärme ich für meinen Beruf und sehe in neuen Nebelbildern eine neue Zeit für die ganze Menschheit erstehen. Steinert begnügt sich doch wenigstens, mit einem Schöpfer gemeinsame Sache zu machen; ich möchte schaffen aus eigener Gewalt, und wer ein Kaufmann in großem Sinne sein will, muß in der That ein Stück Allwissenheit für sich zu erringen trachten, denn wir sitzen vor allen Anderen, wie es der Dichter singt, auch mit an dem sausenden Webstuhl der Zeit und wirken, wenn auch nicht der Gottheit, so doch der Menschheit lebendiges Kleid.

[167]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel

Am ersten Oktober sollte die Uebergabe der beiden Artenschen Güter an ihre neuen Besitzer vor sich gehen und gleichzeitig auch die Verpachtung von Richten an den bisherigen Amtmann ihren Anfang nehmen. Das veranlaßte den jungen Freiherrn, von seiner künftigen Schwiegermutter die Festsetzung des Hochzeitstages in die dritte Woche des Septembers zu begehren, und die Gräfin widersprach diesem Wunsche nicht.

Sie fand es natürlich, daß Renatus noch in der Kirche getraut zu werden wünschte, so lange sie sein eigen war, und ihr selbst war daran gelegen, so bald als möglich mit Hildegard zusammenzutreffen, die, aus dem Bade zurückgekehrt, nicht füglich länger bei ihrer Freundin in dem Stifte verweilen konnte.

Weil man es unter den obwaltenden Umständen in keiner Rücksicht angemessen fand, eine große Feierlichkeit bei der Hochzeit zu veranstalten, hatte man keine besonderen Vorkehrungen für dieselbe zu treffen. Renatus hatte seinen ältesten Oheim, den Majoratsherrn Grafen Felix Berka, aufgefordert, Zeuge seiner Vermählung zu sein; indeß derselbe hatte geschrieben, daß ein Unwohlsein ihn daran hindere. In früheren Jahren würde Renatus gegen eine solche Angabe keinen Zweifel gehegt haben; jetzt fragte er sich, ob sein Oheim wirklich krank sei oder ob er nur eine Krankheit vorschütze, um einem Begegnen mit dem Neffen und einem Besuche in Richten auszuweichen, und leider irrte er sich in dieser Voraussetzung nicht.

[168] Der Graf war immer ein guter Haushalter gewesen, und Erfahrung hatte ihn klug und noch vorsichtiger gemacht. Die Arten'sche Lebensweise hatte seinem Sinne nie zugesagt; er hatte die zweite, späte Heirath seines Schwagers, des Freiherrn Franz, eben so mißbilligt wie die frühzeitige Verlobung von Renatus, dessen jetzige Handlungsweise er vollends hart beurtheilte; und eben weil er gern auf seiner Hut war, weil er sich gern berühmte, ein tüchtiger Landwirth zu sein und wie ein solcher auch seinem einfachen Bauernverstande zu folgen, hielt er es für gerathen, die Hand von einem Wagen loszulassen, der von einer Höhe in das Hinunterrollen gekommen war.

Renatus hatte Tag und Stunde seiner Ankunft festgesetzt, Cäcilie und Valerio waren ihm bis zu dem bekannten letzten Anhaltspunkte entgegengeritten, und da der warme Mittag des sonnigen Herbsttages es ihm möglich gemacht hatte, das Verdeck seines Wagens zurückschlagen zu lassen, sah und erkannte er die Geliebte schon von Weitem. Er war glücklich, als er die schlanke und doch so volle Gestalt vom Pferde hob, glücklich, als er sie nach den Tagen eines schmerzlichen Entbehrens wieder in seine Arme schloß, als er sie neben sich im Wagen hatte und ihr von den mannigfachen Mühen und kleinen Plagen erzählen konnte, welche er für ihr künftiges Wohlbefinden in der gemeinsamen Heimath getragen hatte.

Indeß diese Zufriedenheit verminderte sich, als man auf die Arten'schen Güter kam; denn unwillkürlich drängte es sich dem jungen Freiherrn in den Sinn, daß dies gleichsam Cäciliens Brautfahrt sei und wie ganz anders sein Vater einst seine Mutter in Richten eingeführt habe. In mancher guten Stunde seiner Kindheit hatte die Mutter ihm mit gerührter Erinnerung davon erzählt, wie die Schulzen und Schulmeister der Dörfer, geführt von dem Neudorfer greisen Pfarrer und von der ganzen Schaar der Kinder gefolgt, sie unter der Ehrenpforte begrüßt, die man [169] an der Grenze der Güter zu ihrem Empfange aufgerichtet hatte. Wer aber von den Bauern und Instleuten machte heute in Neudorf und Rothenfeld Vorbereitungen für die am nächsten Morgen bevorstehende Hochzeit des jungen Freiherrn? Sie wußten, daß die Uebergabe der Güter in wenig Tagen vor der Thür stand, und wenn sie von dem jungen Herrn auf ihre Weise auch viel hielten, so war es ihnen doch willkommen, den jetzigen Amtmann los zu werden und es künftig wieder mit einem von den Steinert's zu thun zu haben, die auf den Gütern heimisch waren und es wußten, was möglich sei und was einmal nicht möglich sei.

Cäcilie konnte nicht begreifen, was ihren Bräutigam so ernsthaft stimme, was die weiche, wehmüthige Zärtlichkeit bedeute, mit der er sie umarmte und behandelte, und er liebte sie so sehr, daß er ihr's nicht sagte. Aber diese Liebe ward ihm selbst zum Troste und zur Beruhigung, denn in ihr, in seiner Reinheit, in seinem ungetheilten Empfinden konnte er seiner künftigen Gattin bieten, was sein Vater seiner Mutter nicht hatte gewähren können, und er gelobte es sich fest, daß Cäcilie glücklicher, als seine Mutter es gewesen, daß seine Ehe eine schöne und würdige werden solle. Sein Wille, seine Vorsätze waren die allerbesten.

Er hatte an dem Tage noch eine Menge alter Familienpapiere zu ordnen, die er mit sich nach der Stadt zu nehmen wünschte, und Cäcilie, vor der er kein Geheimniß hatte, leistete ihm dabei freundlich ihren Beistand. Dieses erste gemeinsame Arbeiten half ihm über das Unbehagen fort, das ihn bei dem Eintritte in die altbekannten Räume zuerst befallen hatte, denn eben aus dem Arbeitszimmer seines Vaters und aus den eigentlichen Wohnzimmern hatte er die Möbel und Kronleuchter, die Bilder und die Zierathen in seine künftige Wohnung hinüber genommen, und die leeren Gemächer starrten ihn mit kalter, [170] vorwurfsvoller Oede an. Er war froh, als er seine Arbeit beendet, als er die nothwendigen Besprechungen mit dem Amtmanne gehabt hatte, und als er gegen den Abend hin sein müdes Haupt in Vittoria's Zimmer an den Busen seiner Cäcilie lehnen, und an ihrer Schulter ruhen lassen konnte.

Die Gräfin sah er wenig. Sie war den ganzen Nachmittag in ihrer Wohnung geblieben, sie schrieb an Hildegard; die Neuvermählten sollten am anderen Tage die Briefe bis zur Hauptstadt mit sich nehmen.

Die Trauung war gleich auf den nächsten Mittag festgesetzt, denn Renatus hatte nur einen möglichst kurzen Urlaub fordern mögen. Der Morgen brach mit leichtem Nebel an, aber die strahlende Freude seiner Braut ersetzte für den Bräutigam das Licht der Sonne, das nicht recht zum Vorschein kam. Cäcilie ließ hier in Richten nichts zurück, wonach ihr Herz sich sehnen konnte, und ihre höchsten Wünsche sollten heute in Erfüllung gehen. Sie wurde wider all ihr Hoffen und Erwarten dem Manne verbunden, den sie von frühester Jugend an geliebt hatte, und sie kehrte mit der Aussicht auf die erwünschtesten Verhältnisse in die Stadt zurück, nach der ihre heimliche Sehnsucht nie erloschen war. Freilich sah sie den Schatten, der sich oft über des Geliebten klare Stirne senkte, aber sie beunruhigte sich darüber nicht. Es dünkte sie ganz natürlich, daß er, der andere Rückerinnerungen hatte, sich dieser eben heute nicht erwehren konnte. Sie glaubte, es sei der Gedanke an Hildegard, der ihn bewege, und sie mißgönnte das der Schwester nicht.

Sie sprach das dem Bräutigam auch aus. Er nannte sie ein schönes Herz, er küßte sie, er verhieß ihr, daß sie dieses Tages stets mit Freude denken solle, aber seine Wehmuth wollte doch nicht schwinden.

Ihn zu erheitern, schlug sie ihm vor, als Brautleute noch einen letzten Spaziergang zu machen. Er zeigte sich bereit [171] dazu. Arm in Arm gingen sie aus dem Parke in das Freie hinaus.

Der Sommer war sehr günstig gewesen. Große und lang andauernde Wärme hatte mit reichlichem Regen abgewechselt und das Wachsthum der Bäume wie das Reifen der Frucht ungewöhnlich gefördert. Alles war in diesem Jahre, wie der Amtmann es dem jungen Freiherrn im Frühlinge richtig vorausgesagt hatte, mächtig vorwärts gekommen, Alles früh geerntet worden; aber weil die Wärme noch im Herbste fortdauerte und überall noch neues Leben erschuf und das Vorhandene erhielt, merkte man es nicht sonderlich, daß die Felder schon kahl waren und das Laub an den Bäumen sich je nach seiner Weise roth und gelb gefärbt hatte. Wo es zur Erde fiel, wuchs noch überall frisches, neues Gras empor und verdeckte den Niederfall, so daß die welken Blätter nur wie Blumen aus dem Grün hervorsahen und das Abgestorbene selbst nur dazu beitrug, das Lebendige zu verschönen. Ueber den grünen Kronen der Eichen und Linden leuchteten die Wipfel schon herbstlich gelb, und feuerroth umgaben die Blätter des wilden Weines, mit seinen langstengligen violetten Trauben, den von unzähligen Silberfäden übersponnenen Schlehdorn, der auf den Rainen zwischen den einzelnen Feldern wuchs und grünte.

Der Tag hellte sich selbst gegen den Mittag nicht vollkommen auf, aber die Luft war mild. Der feine Nebel, der über der ganzen Gegend liegen blieb, hatte noch nichts Herbstliches an sich. Nur wie ein vorübergehender Gast zog er durch die Gegend, man fühlte, daß er noch nicht schwer und dicht genug sei, sich dauernd in ihr festzusetzen. Er zog gewiß in wenig Stunden fort.

Ach, auch Renatus zog in wenig Stunden fort, und wenn er wiederkehrte – war dies alles nicht mehr sein!

Wie ihr Weg sich wendete, kam der Duft der letzten Heumahd [172] zu ihnen herüber, traf der Geruch des abwelkenden Kartoffelkrautes hier und da den Sinn. Auf den frisch geackerten Feldern streiften Dohlenschwärme hüpfend umher, die Nahrung zu suchen, welche Pflug und Egge für sie aus der Tiefe hervorgeholt hatten, und schwangen sich dann rauschend in die Luft, im schnellen Fluge einen andern Acker zu besuchen. Hier sprang ein Hase mit gespitztem Ohr in weiten Sätzen durch ein Kohlfeld in das Weite, dort schoß aus einem Kartoffelfelde, dicht vor den Augen der Frauen, welche die Ernte in Säcke einsammelten, ein Volk Rebhühner, den Hahn an der Spitze, knatternd empor. Die Gänse auf dem nahen Stoppelfelde reckten darüber verwundert die Hälse in die Höhe, und bellend folgte ihnen der Hund des Verwalters, der die Aufsicht über die Ernte führte.

Welch prächtige Jagden hatte man zu des verstorbenen Freiherrn Zeiten auf diesen Feldern gehabt! Welch lustige Jagden noch in den Jahren, als Renatus mit seinem Regimente vor dem russischen Kriege nach Richten gekommen war!

Er mußte sich heute der rückblickenden Gedanken zu entschlagen suchen, sie thaten ihm nicht wohl; an den Genuß der Stunde mußte er sich zu halten suchen, und sie sahen ja auch so schön aus, diese rothblühenden Tabacksfelder, sie waren ihm schon in seiner Kindheit mit den fremdländischen Blättern und Blüthen eine Augenlust gewesen.

Die Vögel sangen noch in den Zweigen, aber sie lockten nicht mehr. Es war Alles erreicht, Alles gesättigt. Es lag die sanfteste Ruhe über der Gegend, jene Ruhe, die es errathen läßt, daß die Stunde des Schlummers nicht mehr fern ist und daß er sich bald herniedersenken werde. Die schwermüthige Empfindung des Freiherrn wurde immer mächtiger. Er hatte stets ein lebhaftes Gefühl für die Schönheit der Natur gehabt, und sie war ihm nirgends lieblicher, nirgends anmuthender erschienen, [173] als auf dem Boden, den er sein eigen genannt hatte bis auf diesen Tag. Jetzt erst gewahrte er, wie viel Antheil er in diesem letzten Sommer mittelbar an den wechselnden Beschäftigungen auf den Gütern genommen hatte, wie viel Freude das Wachsen und Gedeihen dessen, was sein gewesen, ihm, fast ohne daß er sich dessen bewußt gewesen war, bereitet hatte. Er mußte seiner Braut den Vorschlag zur Heimkehr machen, wenn er sie nicht erkennen lassen wollte, was in ihm vorging – und es war ja ihr Hochzeitstag.

Um zwei Uhr fuhr man nach der Kirche. Vorauf der Edelmann, mit welchem Renatus bei Steinert gewesen war, und ein anderer seiner näheren Bekannten aus der Nachbarschaft. Sie waren die Trauzeugen des freiherrlichen Paares. Dann die Gräfin und Vittoria mit ihrem Sohne: das Brautpaar machte den Schluß.

Sonst hatten die Landleute sich von der katholischen Kirche fern gehalten, heute war sie voll von Menschen. Sie waren aus allen drei Dörfern herbeigekommen, der Trauung beizuwohnen, den jungen Herrn noch einmal zu sehen; und sie, die trotz ihrer verhältnißmäßigen Armuth sich die lustige Hochzeit nicht leicht versagten, hatten Mitleid mit dem Freiherrn, der nicht mehr ihr Herr war. Es war anders gewesen vor jenen Jahren, als der Vater und vollends als der Großvater des jungen Freiherrn geheirathet hatten. Es lebten noch alte Leute, die von ihren Eltern davon erzählen hören, wie dazumal die Wagen vorgefahren waren vor das Schloß, wie das ganze Schloß und der Park erleuchtet gewesen waren und die großen Pechtonnen überall gebrannt hatten.

Etwas von diesen Erinnerungen mochte wohl auch in dem Geiste des Bräutigams wieder lebendig werden. Er war sehr ernst, das war natürlich; aber er war auffallend bleich. Was er dachte? Er konnte es in diesem Augenblicke nicht sagen; [174] indeß Cäcilie verstand ihn, und es ging ihr tief zu Herzen, als der Geistliche sie für die Ehe einsegnete und sie den festen treuen Druck von des Geliebten Hand empfand.

Auf gute und auf böse Tage, für Leben und Tod sollte dieses unauflösliche Testament sie verbinden, und Renatus wußte was er damit übernahm, und war in sich entschlossen, es zu halten. Seit er zu einem eigenen Urtheile gekommen war, hatte er immer groß von der Ehe gedacht, und seine Liebe für Cäcilie machte ihm zum Glücke, was er ohnehin als seine Pflicht erkannte.

Durch das hohe Portal des schönen Baues fiel hell die Sonne herein, als das Brautpaar, vom Altar kommend, in das Freie trat. Sie war zum ersten Male an diesem Tage zum Durchbruche gekommen.

Das soll uns ein gutes Zeichen sein, sagte Renatus zärtlich, fasse Muth wie ich, wir werden glücklich sein!

Die Worte erschreckten Cäcilie. Sie hatte nie an ihrem Glücke gezweifelt, sie war glücklich und es freute sie Alles: der Sonnenschein und die Glückwünsche der beiden sie begleitenden Freunde, welche sie Frau Baronin nannten, und der Zudrang der Frauen aus den Dörfern, die ihr schönes Hochzeitskleid so nahe als möglich sehen wollten, und das oft wiederholte: Leben Sie wohl, gnädiger Herr! Leben Sie wohl, gnädiger Herr! – bei dem die Alten weinten und das dem Freiherrn fast das Herz zerriß.

Während man noch unter dem Portale stand und der Wagen vorfuhr, fielen die Augen der jungen Frau auf das Gärtchen, welches die Gruft umgab. Die weißen Rosen, welche der verstorbene Kaplan dort nach dem Kriege neu gepflanzt hatte und zu deren Füßen er begraben worden war, blühten, von dem milden Herbste begünstigt, noch in voller Pracht. Auch Renatus hatte seine Blicke dorthin gewendet. Sollte dieser kleine Raum [175] doch bald das Einzige sein, was ihm von dem Besitze der beiden großen Güter Neudorf und Rothenfeld verblieb; und als errathe seine junge Frau, was in seinem Innern vorging, sprach sie den Wunsch aus, eine von diesen weißen Rosen zum Andenken mit sich zu nehmen.

Valerio eilte, einen Zweig zu brechen, und reichte ihn der Schwägerin, wie er Cäcilie mit Selbstbewußtsein nannte; als sie die Blume aber an ihrer Brust befestigen wollte, hielt Renatus sie davon zurück. Die weiße Rose hatte in dem Artenschen Geschlechte, wie Mamsell Marianne ihm als Knaben erzählt, immer eine traurige Bedeutung für die Frauen gehabt; er wollte nicht, daß seine Frau sich heute, eben heute mit den weißen Rosen schmücken sollte, die vor der Familiengruft erwachsen waren, und ihr die Rose abnehmend, steckte er sie in das Knopfloch seines Rockes. Selbst den Schatten einer übeln Vorbedeutung wollte er von dem Weibe abwenden, das er liebte und das sich und seine Wohlfahrt ihm für die Zukunft anvertraute.

Das Mittagbrod war, weil die eigentlichen Empfangszimmer jetzt der gehörigen Einrichtung entbehrten, in dem Ahnensaale hergerichtet worden. Man hatte ihn mit Laub und Blumen freundlich aufgeschmückt, aber er war zu groß, viel zu groß für die kleine Tafel, für die geringe Anzahl von Personen, und Renatus wie seine beiden Freunde empfanden dieses Mißverhältniß lebhaft. Die Trinksprüche, welche sie auszubringen für Pflicht erachteten, die Erinnerung an die Ahnenreihe, die man eben in diesem Raume bei solchem Anlasse wachzurufen kaum unterlassen konnte, hatten etwas Peinliches für alle Theile, und die schlecht verhehlte Traurigkeit, die bei jedem Anlasse hervorbrechenden Thränen der Gräfin, waren auch nicht dazu angethan, dem jungen Freiherrn die Seele zu befreien. Er wußte, wem vor Allen diese Thränen flossen. Das Einzige, was ihm das [176] Herz erhob, war Cäciliens ungetrübte Freude, war die Hingegebenheit, mit welcher sie in seine Arme sank.

Er war froh, als er am andern Tage sein Schloß verlassen hatte, als die Grenzsteine der Arten'schen Güter hinter ihm lagen und er mit seinem jungen Weibe einem eigenen, neuen Leben entgegenging. Das öde gewordene Schloß hatte allen heimathlichen Reiz für ihn verloren, es war ihm nur noch eine traurige Mahnung an bessere Tage gewesen, und er hatte die Stunde, es zu verlassen, kaum erwarten können.

Die jungen Eheleute legten den Weg nach der Residenz so schnell zurück, als die damaligen Verhältnisse es gestatten wollten. Cäciliens tüchtige Gesundheit hatte eine solche Anstrengung nicht zu scheuen, und Renatus war nicht mehr sein eigener Herr. Der Dienst nöthigte ihn, Zeit und Stunde einzuhalten.

Voll der hellsten Erwartungen langte die junge Frau in der Hauptstadt an, und ihres Gatten Liebe hatte all ihr Hoffen zu übertreffen gewußt. Gegen das weite, in jedem Sinne unwirthlich gewordene Schloß nahm sich das wohnliche Stadthaus um so freundlicher aus, und selbst den Freiherrn wollte es bedünken, als genieße er die Gegenstände, welche er aus Richten hieher verpflanzt hatte, hier mehr als dort, weil man sie näher beisammen hatte. Cäcilie aber, die sich erst jetzt als die Besitzerin dieser Einrichtung zu denken anfing, die nebenher ihrem Gatten für die vorsorgliche Großmuth zu danken hatte, mit welcher er allem ihrem Bedürfen begegnet war, kannte in ihrer Freude keine Grenze, und das Bewußtsein, hier von jetzt an unumschränkte Herrin zu sein, Alles nach eigenem Gefallen und Ermessen ordnen und bestimmen zu können, gab ihr schnell ein gewisses Selbstgefühl, das ihr sehr wohl anstand.

Wohin Renatus mit seiner jungen Gattin in den ersten Tagen kam, auf den Spaziergängen, bei den Fahrten im Parke, im Theater und in dem zufälligen Zusammentreffen mit seinen [177] näheren Bekannten, sah er es mit Genugthuung, wie die Blicke der Männer ihr wohlgefällig folgten, wie die unverhohlene Aeußerung ihres Vergnügens ihr schnell die Neigung aller derjenigen Personen gewann, welche sich an der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit eines Andern zu erfreuen vermögen; aber es entging ihm daneben nicht, daß die Frauen ihr die gleiche Gunst nicht angedeihen ließen. Ihr selber fiel es auf, wie geflissentlich man sich danach erkundigte, ob ihre Mutter auch nach der Hauptstadt kommen werde, ob sie der Trauung beigewohnt habe, oder ob dieselbe bei ihrer leidenden Tochter im Stifte gewesen sei. Und ehe Cäcilie noch auf solche Fragen Antwort ertheilen konnte, war man in der Regel in eine so übertriebene Lobpreisung der abwesenden Schwester verfallen, daß sie zu einer Kränkung für Cäcilie wurde.

Es ist unerträglich! rief Renatus ungeduldig aus, als er seine Frau einer ihrer Anverwandten zugeführt hatte, welche Ober-Hofmeisterin und von dem Könige wohl gelitten war. Diese Heiligsprechung Deiner Schwester soll mir und Dir ein Vorwurf sein, und wir danken sie ohne Frage eben so wohl Hildegarden selbst als Deiner Mutter und meinem Oheim Gerhard! Wir werden nöthig haben, auf unserer Hut zu sein!

Cäcilie, welche die Welt nicht kannte, wollte davon nichts hören. Sie war in dem Besitze ihres Gatten so wohlbefriedigt, daß sie der Schwester, welche solch ein Glück entbehrte, jede Anerkennung, daß sie ihr alles, was dieselbe nur irgend erfreuen konnte, von ganzem Herzen wünschte, und ein förderliches Ereigniß kam dazu, Cäciliens unbedingtes Vertrauen in ihre Zukunft zu erhöhen und zu festigen.

In den Regimentern, welche eben jetzt erst aus Frankreich zurückgekehrt waren, fand die erwartete Entlassung der älteren Offiziere Statt, und da auch einige jüngere Offiziere nach dem beendeten Feldzuge den Abschied forderten, erhielt Renatus kurz [178] nach seiner Hochzeit und wenige Tage, nachdem die Uebergabe seiner Güter an ihre neuen Eigenthümer erfolgt war, seine Ernennung zum Major.

Er hatte darauf mit einer gewissen Sicherheit rechnen können, dennoch überraschte ihn das Zutreffen dieser Voraussicht angenehm. Er gewann damit eine neue, selbsterworbene Bedeutung in dem Augenblicke, in welchem er auf den größeren Theil seiner ererbten Güter hatte verzichten müssen, und der Besitz des neuen Grades würde ihn noch mehr befriedigt haben, wäre durch die Erlangung desselben nicht seinem Selbstgefühle eine Beschränkung auferlegt worden, die er vielleicht in keinem andern Zeitpunkte als eine solche angesehen haben würde, gegen die er aber eben jetzt empfindlich war.

Er war sehr jung Offizier geworden, hatte im Felde die fortschreitenden Grade und frühzeitig die Schwadron erhalten; aber er war der Gesellschaft gegenüber und überall, wo er sich nicht im militärischen Dienste befunden hatte, der Freiherr von Arten geblieben. Niemand hatte ihn Lieutenant oder Rittmeister genannt, seine persönliche Bedeutung als ein Edelmann aus altem Hause hatte über seinem Amte gestanden. Er hatte auch seinen Dienst immer nur als eine freiwillig übernommene Leistung angesehen, von der er sich entbinden konnte, sobald es ihm beliebte, sich auf seine Güter zurückzuziehen und dort in der vollen Unabhängigkeit des grundbesitzenden Edelmannes seine Tage zu verleben. Das Gehalt, welches er als Offizier bezogen, war ihm stets unwesentlich erschienen neben den standesmäßigen Bedürfnissen eines Freiherrn von Arten-Richten, und er hatte sich und Anderen oft den Ausspruch seines Vaters wiederholt: daß ein Edelmann immer dem Könige ein Opfer bringe, wenn er, fern von seinen Gütern im Heere dienend, auf alle die Annehmlichkeiten verzichte, deren er in seinem Schlosse und auf seinem Grund und Boden sicher sei, während er in der Stadt [179] zu einem Geldaufwande genöthigt werde, welcher in gar keinem Verhältnisse zu seinem Solde stehe.

Jetzt aber war das alles anders geworden. Renatus konnte zwar noch an jedem Tage den Abschied nehmen, um als ein Landedelmann auf seinem Grunde und Boden zu leben; aber die Ausdehnung dieses Grundes und Bodens war nicht mehr die alte, er war kaum noch zum dritten Theile sein eigen, und selbst über dieses Drittheil seines einstigen Besitzes hatte er nicht mehr die Möglichkeit einer völlig freien Verfügung. Nur im Schlosse und im Parke konnte er noch nach seinem Belieben schalten, und auch das Schloß war jetzt nicht mehr die alte wohnliche und prächtige Heimath, nach welcher seine Gedanken, wo er sich auch befunden hatte, immer gern gewandert waren. Die Eindrücke, welche er in seiner letzten Anwesenheit in Richten empfangen hatte, waren ihm sehr quälend gewesen. Die bloße Vorstellung, durch Neudorf und durch Rothenfeld als ein Fremder hinfahren zu sollen, widerstrebte ihm. Er mochte auch mit dem Amtmanne nichts zu thun haben, der für sechs Jahre jetzt in Richten Herr war, er würde sich in seinem Parke wie ein Gefangener erschienen sein, da er außerhalb desselben nicht mehr unumschränkt gebot, mit Einem Worte, er mochte nicht mehr gern an Richten denken, es hatte aufgehört, die Heimath für ihn zu sein, und sein Majorsgehalt war jetzt nicht mehr ein unwesentlicher Theil in seinen Einkünften, er war auf dasselbe mit seinen Bedürfnissen zum Theile angewiesen. Die Pferde, der Diener, welche der Staat jedem Offizier hält, waren ihm jetzt eine Erleichterung, die er nicht wohl entbehren konnte. Er mußte darauf sehen, sich auszuzeichnen, wenn er vorwärts kommen, wenn er seine gesellschaftliche Stellung behaupten wollte, und vorwärts kommen hieß jetzt für den Freiherrn im militärischen Dienste Stufe um Stufe ersteigen. Er war mit seiner Zukunft an den Dienst gekettet. Er lebte, wo der Dienst es [180] forderte, er ging, wohin man ihn schickte, er that, was man ihm gebot, er trug das Kleid, welches der Geschmack des Königs ihm vorzuschreiben für gut befand, er durfte an des Königs Rock nach freier Wahl nichts ändern, und er mußte ihn hinwiederum ändern und ihn anlegen, wie des Königs Willkür es bestimmte. Er schnitt sein Haar, wie es befohlen war, und Zeit und Stunde waren nicht mehr sein. Er war in keinem Sinne mehr sein eigener Herr, kein freier Mann mehr, nicht mehr der wahre Freiherr von Arten-Richten. Er war der Major von Arten, er war ein Diener – wenn auch eines Königs Diener geworden, und es lebte genug von dem alten freiherrlichen Stolze seines Hauses in ihm, ihn seine Abhängigkeit in einzelnen Augenblicken bitter und schwer empfinden zu lassen.

Er konnte es Anfangs nicht verschmerzen, daß man ihn nicht mehr als Baron, nicht mehr als Freiherr von Arten ansprach, daß man ihn nicht mit seinem Namen, sondern mit seinem Titel anredete, um ihm eine Ehre zu erweisen; er hätte wie sein Vater und dessen Väter alle nur er selber, nur Herr auf seinem Schlosse sein mögen – aber es war zu spät. Er hatte keine Wahl mehr, er mußte vorwärts!

Vorwärts ging er also, und die umgestaltende Ueberlegung, die Trösterin aller derjenigen, welche einer Beschönigung für ihre Verhältnisse bedürfen, kam auch ihm zu Hülfe, indem sie ihn antrieb, seinen besonderen Fall in dem Lichte einer allgemeinen Nothwendigkeit zu betrachten.

Er sagte sich, daß seit Jahrhunderten der Adel in allen europäischen Staaten sich um die Throne geschaart, und in den Dienst der Fürsten begeben habe, mit denen er auf diese Weise ein wenn auch nicht ausgesprochenes Schutz- und Trutzbündniß eingegangen sei. Die Fürsten und der Adel standen jetzt fast immer und fast überall für einander ein, waren, wie Renatus dessen eben erst in Frankreich Zeuge gewesen war, auf einander [181] angewiesen und standen und fielen mit einander. Renatus folgte also gleichsam einem Naturgesetze, wenn er sich der Minderheit so fest als möglich anschloß, in welcher er geboren worden war, jener Minderheit, die sich das Herrschen als ihr angestammtes Recht zuschrieb und sich nur erhalten konnte durch Einigkeit in sich und Einigkeit wider alles, was sich ihr widersetzte.

Er war, als er sich noch im vollen Besitze aller seiner Güter geglaubt hatte, nur mit Widerstreben in das Heer getreten, und die Zeitverhältnisse hatten ihm in demselben zu bleiben geboten, obschon sein Sinn von Natur dem Kriege eben so wenig als der strengen Disciplin geneigt gewesen war. Jetzt aber waren das Heer, der Dienst ihm eine Zuflucht und ein Anhalt, jetzt bedurfte er des königlichen Schutzes, der Gnade seines Herrn. Er wünschte, für sich und die Seinigen die persönliche Gunst des Königs zu erwerben. Er hatte es in Frankreich kennen gelernt, welche Vortheile es gewähren kann, sich in dem Kreise der Gnadensonne zu bewegen, und wie er bei dem Beginne seiner Ehe voll der besten Vorsätze für dieselbe gewesen war, so war er bei der Uebernahme seines neuen Amtes auch entschlossen, mit Selbstverläugnung ein unbedingt ergebener Diener seines Herrn und Königs zu sein.

[182]
Fünftes Buch
1. Capitel
[183] [185]Erstes Capitel

Unser Leben würde sehr leicht sein, wenn wir uns an dem Tage, an welchem wir es aus Ueberzeugung oder aus Nothwendigkeit umgestalten wollen, nicht eben auf demselben Boden befänden und auf ihm weiter gehen müßten, aus welchem unsere ganze Vergangenheit erwachsen ist; es würde gar leicht sein, wenn unser neues Gewand bei dem Fluge, mit dem wir uns emporzuschwingen denken, nicht hier an den dürren Aesten eines alten Baumstammes hängen bliebe, den vielleicht einer unserer Altvorderen gepflanzt und den rechtzeitig aus unserem Wege fortzuräumen wir verabsäumt haben; wenn nicht dort Gestrüpp und Ranken, in deren Bereich wir uns umhergetrieben, unsere freie Bewegung hinderten; wenn wir es allein mit uns und mit der Zukunft, statt mit der Gesammtheit, der wir angehören, und mit ihrer und unserer ganzen Vergangenheit zu thun hätten. Das sollte der Major von Arten an sich selbst erfahren.

Allerdings fand er es in keiner Weise schwer, sich in seinem Regimente so zu stellen, wie er es beabsichtigte. Man hatte ihn immer gern gehabt; er besaß nichts von jener herausfordernden Selbständigkeit, welche einen Mann unbequem für seine Vorgesetzten oder drückend für seine Untergebenen macht, und in einer Zeit, in welcher in der Armee der militärische Geist und das Gamaschenwesen, im Gegensatze zu dem bürgerlichen Geiste und dem auf den Universitäten noch nicht unterdrückten Freiheitssinne, [185] mit großer Geflissenheit begünstigt wurden, konnten der Diensteifer und die peinliche Genauigkeit, mit welchen der Major von Arten auch die kleinlichsten Dienstvorschriften zur Ausführung zu bringen strebte, nicht unbeachtet bleiben. Dazu wollte es das Glück, daß einer der königlichen Prinzen Inhaber des Regiments war, daß Renatus also seine Thätigkeit unter dessen Augen entwickeln konnte und daß der Prinz selber ihn dem Könige mit einem anerkennenden Worte vorzustellen sich geneigt erwies.

Es war schon im Beginne der kalten Jahreszeit, als man zu Ehren eines von seinen Reisen nach Rußland zurückkehrenden Großfürsten noch eine der großen Paraden abhielt, welche sonst in diesen Monaten nicht mehr Statt zu finden pflegten. Die Straßen, welche nach den Linden führten, waren für den Verkehr gesperrt, und die Fremden, welche in ihren eigenen Wagen, denn von der Zeit der Eisenbahnen war man noch weit entfernt, während dieser Stunden in der Hauptstadt eintrafen, hatten Noth, nach den Unter den Linden gelegenen Gasthöfen zu gelangen. Sie mußten ihre Fuhrwerke jenseit der abgesperrten Straßen unter Aufsicht ihrer Leute stehen lassen und ihren Weg nach den gewählten Häusern zu Fuß zu finden suchen.

So langte denn während jener großen Parade, als die allgemeine Aufmerksamkeit der Menge sich auf den König und den russischen Gast gewendet hatte, welche, von ihrem prächtigen Gefolge begleitet, langsam an den regungslos da stehenden Reihen der Regimenter vorüberritten, in dem berühmtesten Gasthofe jener Tage auch eine Fremde ohne ihren Wagen an. Der Diener, welcher sie begleitete, forderte zwei herrschaftliche Zimmer und zwei Stuben für die Dienerschaft, nebst einem Unterkommen für den Reisewagen, mit dem die Kammerfrau jenseit des gezogenen Cordons zurückgeblieben war.

Die Fremde war in einen langen und weiten Reisemantel [186] eingehüllt, ein tiefgehender Hut, ein dichter Schleier verbargen ihr Gesicht; aber ihre hohe Gestalt und ihre gebieterische Haltung kennzeichneten sich trotzdem. Sie hörte der flüchtigen Verhandlung, welche ihr Diener mit dem Besitzer des Hauses pflog, schweigend zu und folgte dann dem Wirthe, der, mit sicherem Blicke eine vornehme Frau in seinem neuen Gaste erkennend, ihr mit Dienstbeflissenheit voranschritt, um ihr die von ihr gewünschten Räume anzuweisen.

Aber kaum in ihrem Zimmer angelangt, warf sie, noch ehe ihr Diener oder der Wirth ihr dabei Hülfe leisten konnten, Hut und Mantel von sich, und sich zu dem Wirthe wendend, fragte sie, Französisch sprechend, ob er ein Verzeichniß der Fremden besitze, welche sich in diesem Augenblicke in der Stadt befänden.

Betroffen von der Jugend der Fremden wie von ihrer Schönheit, die trotz ihrer Blässe und den Leidensspuren in ihrem Antlitze noch etwas Ueberwältigendes hatten, bejahte der Wirth die Frage, und alle seine andern Anerbietungen von sich weisend, befahl sie ihrem Diener, mit dem Wirthe hinab zu gehen, und ihr das betreffende Blatt herbei zu schaffen.

Unruhig schritt sie während dessen in dem saalartigen, großen Gemache auf und nieder. Sie trat an das Fenster und blickte hinaus; aber weder die fremde Stadt, noch das kriegerische Gepränge, das sich vor ihren Augen entwickelte, selbst nicht der Schall der Musik vermochten ihre Aufmerksamkeit auch nur für Sekunden zu fesseln. Gleichgültig, als hätte sie in eine Oede oder in die Dunkelheit hineingeschaut, wendete sie sich in das Zimmer zurück, und nur nach ihrer Uhr sah sie zu verschiedenen Malen, als vergesse sie von einer Minute zu der andern, was sie gesehen habe, und als hange doch Alles für sie daran, genau zu wissen, wie weit die Stunde vorgeschritten sei.

Mit einer Ungeduld, welche sich in jeder ihrer Bewegungen verrieth, trat sie ihrem Diener entgegen. Sie nahm ihm das [187] Zeitungsblatt aus der Hand, und es mit raschem Auge durchfliegend, blieb ihr Blick endlich auf einer Stelle des Verzeichnisses haften. Sie las sie zwei, drei Mal, als wolle sie sich ihrer Sache sicher machen, als wolle sie die Namen nicht vergessen, und das Blatt auf den Tisch niederlegend, befahl sie dem Diener, während sie die Notiz in ihr Taschenbuch verzeichnete, ihr den Mantel zu reichen.

Zögernd blieb der Alte stehen. Sie wollen wieder fort, Mylady? fragte er mit sichtlicher Besorgniß. Vier Tage und vier Nächte sind Sie in keinem Bette gewesen! Sie halten es nicht aus, Sie haben wahrlich Ruhe nöthig, Mylady!

Hast Du die Phrase auch gelernt? rief sie, und ein eisiges Lächeln glitt über ihr stolzes, schönes Antlitz. Sei ohne Furcht, Du sollst schlafen diese Nacht; jetzt aber komm!

Sie hatte ihren Mantel selbst über ihre Schultern geworfen, und der Thüre zuschreitend, gebot sie dem Alten, einen Lohndiener anzunehmen, der sie nach dem Gasthofe führen könne, dessen Namen sie dem Diener angab.

Der Alte aber trat ihr in den Weg. Mylady, sagte er, nur das nicht, nur das thun Sie nicht! Ich habe die selige Frau Gräfin noch auf meinem Arme getragen und das Wappenschild über der Thüre befestigt, als wir sie verloren haben. Was Sie von mir verlangt haben, ich habe es gethan, Mylady, und ich habe mich nicht unterfangen, zu fragen, was Sie beabsichtigten, denn das war nicht meines Amtes. Aber heute, heute beschwöre ich Sie: gehen Sie den Weg nicht, den Sie jetzt eben gehen wollen – gehen Sie ihn nicht! Es ist Ihr Untergang, Mylady!

Sie blieb stehen; das gab dem Alten Muth. Lassen Sie mich gehen, schreiben Sie, Mylady! Ich will eilen, schneller, als Sie jetzt durch die abgesperrten Straßen und durch die Menschenmenge dringen können ....

[188] Ich kann nicht – kann nicht schreiben! rief die Herrin ungeduldig.

So will ich ihm sagen, daß Sie hier sind, will ihn holen ....

Du? – ihn? Sie lachte. Du – ihn – wenn meine flehenden Bitten, meine verzweifelnden Thränen ihn nicht halten konnten?

Aber was hoffen Sie, was wünschen, was wollen Sie denn jetzt, Mylady?

Sie gab ihm keine Antwort, und mit festem Schritte an ihm vorübergehend, verließ sie das Gemach. Der Alte folgte ihr mit einem schweren Seufzer nach.

Durch Seitenstraßen, auf weiten Umwegen führte der Lohndiener sie nach dem Gasthofe, dessen Namen man ihm aufgegeben hatte. Es war gegen den Mittag hin, die Kellner in dem Hause mit Vorbereitungen für die Mahlzeit beschäftigt. Das Kommen der Fremden ward nur von dem Hauswart bemerkt. Sie selber erkundigte sich, ob derjenige, den sie suchte, zu Hause sei. Der Hauswart verneinte es, wußte aber, daß er zur Mahlzeit wiederkehren werde.

Oeffnen Sie mir sein Zimmer, ich werde ihn erwarten! befahl die Dame in einem Tone, welcher es deutlich verrieth, sie sei gewohnt, daß man ihr gehorche. Trotzdem zögerte der Hauswart, ihr Folge zu leisten, und erst die Weisung des ihm bekannten Lohndieners bestimmte ihn, dem Verlangen der Fremden zu willfahren.

Fest entschlossen, wie ihr ganzes Wesen sich kund gab, betrat sie das Gemach. Sie schien ruhiger zu werden, als sie sich in demselben befand. Sie legte den Mantel und den Hut von sich und setzte sich nieder. Sie hatte das noch nicht gethan, seit sie ihren Wagen verlassen hatte. Ihr Diener und der Führer entfernten sich auf ihren Wink.

Wie sie vorhin rastlos auf und nieder gegangen war, blieb [189] sie jetzt regungslos auf dem erwählten Platze sitzen. So oft ein Fußtritt auf der Treppe hörbar wurde, so oft man sich von außen im Vorübergehen dem Zimmer näherte, schreckte sie zusammen, schien sie sich erheben zu wollen; indeß sie überwand sich, und die Hand auf die Lehne des Sessels gepreßt, die Lippen fest geschlossen, hielt sie ihr Auge mit höchster Spannung auf die Thüre gerichtet, während ihre Wangen noch blässer wurden und ihr Busen sich unter ihrer wachsenden Aufregung angstvoll hob und senkte. Denn abermals kam es die Treppe hinauf, wieder schritt es den Gang entlang, wieder näherte sich Jemand mit raschem Schritte dieser Thüre, und diesen Schritt, den kannte sie.

Mit beiden Händen fuhr sie sich nach dem Kopfe, nach dem Herzen, als sich draußen eine Hand auf den Drücker legte. Jetzt öffnete die Thüre sich, jetzt trat er ein!

Und wie sie sich erhob, wie sie hoch aufgerichtet vor ihm stehen blieb, da wich auch aus seinen Wangen ihm das Blut, und wider seinen Willen erschreckend über die Verheerung, welche die kurze Spanne Zeit in dieses Weibes hoher Schönheit angerichtet hatte, rief er, die Hände wie zur Abwehr gegen sie erhoben: Eleonore – Sie hier?

Indeß sein Anblick, der Ton seiner Stimme schienen sie zu beruhigen; gleichviel, was er auch sagte, sie sah, sie hörte ihn doch! Sie ließ sich auf den Sessel niederfallen, ihre Arme sanken schlaff herab, und mit einer Weichheit, welche gegen ihre bisherige Gewaltsamkeit noch auffallender erschien, sagte sie, während ihr Auge auf ihm ruhte: Und wo soll ich denn sonst sein?

Die furchtbare Wahrheit ihres Tones machte ihn fassungslos. Wie er auch gewohnt war, sich zu beherrschen und seine Worte zu erwägen, dieses Mal wußte er nicht, was er damit that, als er noch einmal die Frage aufwarf: Wie kommen Sie hierher? Was wollen Sie, Eleonore?

[190] Was ich will? – Dich sehen! gab sie ihm zur Antwort, und als habe sie jetzt alles erreicht, was sie wünsche und begehre, stützte sie das Haupt auf ihre Hand und blieb schweigend sitzen.

Unentschlossen, was er thun solle, ging der Abbé in dem engen Raume auf und nieder. Draußen rief der harte, lang anhaltende Ton einer Glocke die Gäste des Hauses zur Tafel; auf den Treppen, auf den Gängen wurde es lebhaft; laute, lachende Stimmen erklangen und verhallten und wurden durch neues Sprechen und durch fröhliches Lachen ersetzt. Innen war es todtenstill.

Endlich schien der Abbé seiner wieder Meister geworden zu sein. Er trat an die Erschöpfte heran, nahm sie bei der Hand und sagte: Sie sind krank, Eleonore! Und dies ist nicht der Ort, an dem wir einander wiedersehen, einander Rede stehen können. Ermannen Sie Sich! ein Wagen soll sofort zu Ihren Diensten sein. Lassen Sie mich Sie nach Ihrer Wohnung hingeleiten, dort ....

Sie hob ihre mächtigen Augen zu ihm empor, und langsam mit dem Haupte nickend, rief sie: Ja, ich bin krank, sehr krank! Wie soll ich auch leben ohne meine Seele, die Du mir entwendet hast? Wie soll ich leben, wenn Du Dich mir entziehst, der Du mir alles zu ersetzen angelobtest, was ich um Dich verloren und verlassen habe? Wollte ich nicht leben, um Dich zu sehen, ich wäre lange, lange schon gestorben!

Die Thränen, welche sie bis dahin mühsam zurückgehalten hatte, brachen jetzt hervor; sie verhüllte ihr Antlitz. Der Abbé, da er sich von ihr nicht beobachtet sah, schloß, vom Schmerze überwältigt, seine Augen. Dann fuhr er sich mit der Hand flüchtig über die bleich gewordene Stirne, und sich zu ihr niedersetzend, bat er, indem er ihre Rechte in die seinige nahm, daß sie ihn hören möge.

Sie schüttelte verneinend das Haupt. Ich habe Dich nur [191] zu oft gehört, sagte sie, was kannst Du mir noch sagen, das ich zu glauben vermöchte? Ich habe Dich gehört, als Du mir vorgehalten, Eleonore Haughton sei nicht dazu geschaffen, das Loos des gewöhnlichen Weibes zu theilen! Wer war es, als Du, der mir den Stolz im stolzen Herzen nährte, daß ich nur Einen, nur Einen als meines Gleichen ansah, mit dem mich hinwegzusetzen und mit dem hinwegzuschreiten über das Wollen und Wünschen aller Andern mir als ein verlockendes Ziel erschien? Losgetrennt von der Welt, wie Du es bist, trenntest Du auch mich von ihr los! Festgewurzelt in Deinem Glauben, zerstörtest Du mir den meinen! Und als ich, verschmäht von dem Manne, auf dessen Liebe Du mich verwiesen hattest, obschon Du wußtest, daß ich ein Verbrechen begehen würde in dem Augenblicke, da ich sie mir zu eigen machte; als ich, ausgestoßen von der Gesellschaft, in welcher ich bis dahin heimisch gewesen war, zurückgewiesen von den Edeln des Landes, deren Pair ich bin, als ich mich da gedemüthigt und verzweifelnd in die Einsamkeit meines Schlosses zurückzog – wer hieß Dich damals meinem Hülferufe folgen? Wer hieß Dich ....

Ihre Stimme war lauter geworden, je länger sie sprach; der Abbé versuchte vergebens, sie zu beruhigen, beschwor sie vergebens, zu bedenken, daß man sie in den Nebenzimmern hören könne. Sie beachtete seine Worte, seine Vorstellungen nicht.

Laß mich! rief sie. Mag die ganze Welt es wissen, daß ich elend bin, weil ich mich elend und verlassen fühle! – Oder hast Du ihn vergessen, den Tag, fragte sie, und noch jetzt glitt ein seliges Lächeln über ihre Züge, hast Du den schönen Tag vergessen, an dem Du mir gestanden hast, daß Du nie geliebt und daß Du mich liebtest? Hast Du vergessen, daß ich Dich auf meinen Knieen angefleht, hinzunehmen alles, was ich bin und habe, mein zu werden als mein Gatte und mein Herr, und daß ich sie gefühlt auf meinem Haupte, Deine heißen [192] Thränen, daß ich sie noch fühle, Deine heißen Küsse, unter denen ich zu vergehen wünschte? Hast Du es vergessen, wie Du mich mit heiligem Eide schwören lassen, daß ich nie einem Manne angehören würde, weil Du geschworen, keines Weibes Mann zu sein? Hast Du das alles, alles ganz vergessen, Mann?

Der Abbé war aufgestanden und hatte sich von ihr entfernt. Er preßte seine Hände gegen seine brennende Stirn, auch sein Herz schlug ihm gegen die Brust, daß es ihm den Athem versetzte; aber des Mitleids mit sich selbst von Jugend auf entwöhnt, hatte er es auch für Eleonore nicht.

Wir müssen zu Ende kommen, sagte er, sich mit Gewalt beherrschend, wenn wir nicht Beide, Beide untergehen sollen! – Er hielt inne, und mit jener grausamen Offenheit, die sich nicht scheut, Alles zu bekennen, weil sie nichts mehr zu verlieren hat und fürchtet, sprach er: Es ist wahr, wie Du es sagtest, Alles wahr! – Ich habe mit dem bestimmten Zwecke, Dich der Mutterkirche wiederzugeben, mein Auge über Dir gehabt, seit ich Dich kannte! Ich habe Dir früh gestanden, daß ich zu Großem Dich berufen glaubte, ich habe danach gestrebt, Dein Vertrauen zu gewinnen, Deine Seele zu beherrschen! Aber wann hat je die Stunde geschlagen, in welcher ich es Dich vergessen machen gewollt, daß ich für mich von Dir nichts zu begehren hatte? Du wußtest, wer und was ich war! Du sahst das Kleid, das mich von der großen Menge trennte, Du wußtest, daß ich ein Diener unserer Kirche bin! Habe ich sie je vor Dir verborgen, die Dornenkrone der Entsagung, die wir tragen als das Siegeszeichen unserer Selbstüberwindung? War ich es, der von Liebe zu Dir gesprochen hat? War ich es, der die heißen Wünsche Deines Herzens angefacht? Ich hielt Dich für ein Höheres geschaffen! Du solltest sie kennen lernen in ihrer Nichtigkeit, die Gunst der Mächtigen, die trügerischen Freundschaften der Welt, die urtheilslose Gesellschaft Deiner Standesgenossen,[193] um zu ermessen, was es heißt, in fester Gliederung einer unwandelbaren Einheit anzugehören, die, ein geheimnißvolles Wesen, der Menschen Schicksale mit kluger Herrschaft lenkt! Ja, ich liebte Dich – ich liebe Dich noch, das fühle ich an dem Verlangen, das ich hege, Dich einzureihen in den Kreis der Herrschenden! Aber – Du bist kleiner, als ich Dich geglaubt! Du hast sie nicht verstanden, jene Liebe, die ich für Dich hege! Nicht mein Wille, Deine Sinne haben Dich bestrickt, daß ich kaum wußte, wie ich Dich und mich erretten sollte aus dem Sturme, den Du über uns heraufbeschworen! Mit aller Gewalt mußte ich Dich und mich hinflüchten zu den Füßen des Gottes, der für uns gestorben ist, um es zu vergessen, daß ich ein Mann bin, ein Mensch, und Du ein schönes Weib! Ich mußte Dich meiden, um Deiner selbst willen! Denn rein solltest Du niederknieen, ein reines Weib, zu den Füßen der unbefleckten Jungfrau, der Du Dich angelobt in jener Stunde, da ich Dich aufgenommen in den Schooß der Kirche, die jetzt über Dich und mich ihre schützenden Fittige ausgebreitet hat und zu deren Werkzeug Gott Dich sicher auserkoren hat! Ich habe für Dich gethan, was ich gemußt, was mein Glaube mir geboten! Ich kann nichts weiter für Dich thun – ich gehöre nicht mir selber an!

Hoch und erbarmungslos stand er ihr gegenüber, aber er wagte seine Blicke nicht auf sie zu richten. Er wendete sich von ihr ab. Sie glaubte, daß er sich entfernen wolle, und aufspringend aus der tiefen Versunkenheit, mit welcher sie ihn angehört hatte, warf sie sich ihm zu Füßen, und mit ihren Armen seine Kniee umklammernd, rief sie: Ich sterbe, wenn Du von mir gehst!

Er zuckte zusammen vor dem Jammerlaute, aber er erhob sie mit fester Hand, und mit einer Ruhe, die ihn älter erscheinen machte, als er war, versetzte er: Jeder von uns muß in sich [194] den Tod erleiden, um ein neues Leben zu beginnen, und das wirst auch Du. Glaubst Du, ich habe sie nie gefühlt, diese Schmerzen der Entsagung? Glaubst Du, ich habe sie nie gekannt, die Angst vor der eigenen Ohnmacht und die Zweifel an des Höchsten Kraft verleihender Hülfe? Glaubst Du, ich habe nicht gesorgt um Dich, nicht zu Gott gefleht für Dich? Wähnst Du, daß meine Seele nicht bei Dir ist, wenn Dein Auge mich nicht sieht? – Er hatte ihre Hände in die seinen genommen, jetzt hob er sie in die Höhe, und den Blick zum Himmel gewendet, bewegte er seine Lippen in lautlosem Gebet. Die Gräfin stand ihm wie gebrochen gegenüber. Als er geendet hatte, legte er seine Hände segnend auf ihr Haupt, und machtlos und schweigend sank sie vor ihm nieder, seine Kniee noch einmal in Thränen zu umfassen.

Er ließ sie einen Augenblick gewähren, dann führte er sie nach dem Sessel und ging hinaus. Sie war betäubt vor Schmerz. Draußen fand der Abbé den Diener der Gräfin. Er befahl ihm, einen Wagen herbeizuschaffen; der Alte hatte schon dafür gesorgt.

In das Zimmer zurückgekehrt, trug der Abbé selbst dafür Sorge, die Gräfin einzuhüllen. Sie ließ es willenlos geschehen. Kommen Sie, Gräfin, sagte er, hier ist Ihres Bleibens nicht! – Er nahm ihren Arm in den seinen, und mit dem weltmännischen Anstande, dessen Niemand mehr Meister war, als er, führte er sie die Treppe hinab und nach ihrem Wagen. Sie mochte erwartet haben, daß er sie begleiten werde, denn erst, als er sie hineingehoben hatte und, ihr die Hand noch einmal reichend, von der Thüre desselben zurücktreten wollte, erwachte sie aus ihrer Versunkenheit, und sich emporrichtend, rief sie: Wann, wann sehe ich Sie wieder?

Nicht eher, bis Sie es verlernten, für Sich selbst zu wünschen und zu hoffen, nicht eher, bis Sie den Schleier genommen [195] haben, der Sie abtrennt von dem irdischen Verlangen! Auf Wiedersehen also in dem ewigen Rom! sagte er fest und feierlich; und dem Kutscher das Zeichen gebend, daß er fahren solle, ging der Abbé mit ruhigem Schritte und hochgehobenen Hauptes in sein Gemach zurück. Eine Stunde später hatte er die Stadt verlassen und seinen Weg gen Süden fortgesetzt.

[196]
2. Capitel
Zweites Capitel

Renatus hatte, als die Parade beendet war, sein Pferd dem Reitknechte übergeben, um noch einige Besuche und Gänge abzumachen. Er befand sich bereits wieder auf dem Heimwege, als er vor dem Gasthofe, in welchem die Gräfin abgestiegen war, einen Miethswagen halten sah, mit dem es etwas Besonderes auf sich haben mußte, denn der Wirth und die Kellner umgaben ihn mit unverkennbarem Erschrecken. Es kamen die Wirthin und ein anderes Frauenzimmer aus dem Hause herbei, man rief nach einem Sessel, nach einem Arzte, und mit jener Neugier, welche man in einem müßigen Augenblicke empfindet, trat Renatus, der zur Zeit seiner Rückkehr aus Frankreich selbst in dem Hause gewohnt hatte, an den Besitzer desselben heran und fragte, was es gäbe.

Ach, versetzte dieser, eine junge, vornehme Dame, die vor zwei Stunden bei uns angekommen ist, hat gleich danach zu Fuße das Haus verlassen und wird uns nun ohnmächtig oder vielleicht gar todt in diesem Wagen nach Hause gebracht. Ihr Diener ist hinauf gegangen, ihre Kammerfrau zu holen, und wir versuchen eben, wie wir sie am besten von der Stelle bringen.

Er wendete sich dabei wieder zu seinen Leuten, und von der Seltsamkeit des Vorfalles angezogen, trat Renatus an die andere Seite des Wagens heran, um hinein zu sehen. Kaum aber hatte er die Gestalt erblickt, die ganz zusammengesunken und bleich wie eine Todte mit geschlossenen Augen dalag, als [197] er die Thüre des Wagens aufriß und mit dem Ausrufe: Eleonore, um Gottes willen, wie kommen Sie hieher? Was ist geschehen, Eleonore? in den Wagen sprang und sie in seinen Armen in die Höhe hob.

Die Umstehenden traten vor Verwunderung zurück; nur der Wirth sah es, wie die Fremde vor des Freiherrn lautem Anrufe matt und langsam die Augen aufschlug und, als habe sie ihn erkannt, ihr Haupt auf seine Schulter legte.

Niemand wußte, was er von dem Vorgange denken solle; aber als nun vollends die Leute der Gräfin herbeigekommen waren, als der Diener und die Kammerfrau den Freiherrn bei seinem Namen nannten, als die Letztere Gott dafür dankte, daß er den Baron hieher geführt habe, da schien dem Wirthe plötzlich die Einsicht in die obwaltenden Verhältnisse zu kommen, und den Kellnern ein Zeichen gebend, daß sie sich entfernen sollten, leistete er in Person, mit den Leuten Eleonorens, dem Freiherrn den Beistand, dessen er bedurfte, um die ihrer selbst nicht Mächtige in das Haus und in ihre Gemächer zu tragen.

Die Kranke war entkleidet, war zu Bette gebracht, ein Arzt herbeigeschafft; aber von ihr selber konnte man keine Art von Auskunft über ihr Befinden erhalten. Sie vermochte ihre wandernden Gedanken nicht zusammen zu halten, obschon sie Renatus wiedererkannt hatte und nach ihm verlangte, wenn sie in einzelnen Augenblicken ihrer Sinne Herr war.

Er und der alte Diener hatten den Arzt, so weit als nöthig, mit den obwaltenden Verhältnissen bekannt gemacht, und wie derselbe sich auch weigerte, in diesem ersten Augenblicke ein festes Urtheil auszusprechen, ließ er es doch errathen, daß man es hier mit mehr als einem vorübergehenden Leiden, daß man es allem Anscheine nach mit einer ernsten und schweren Krankheit zu thun haben werde. Er wollte sich, nachdem er seine Verordnungen gemacht hatte, entfernen, und Renatus schickte sich [198] an, ihn zu begleiten; aber Eleonore bemerkte es, als der Freiherr seine Hand aus ihrer in Fieberhitze glühenden Rechten zog, und ihn festhaltend, rief sie angstvoll: Sie dürfen nicht fort! Sie nicht! Nein, Sie nicht!

Es lag etwas völlig Irres in ihrem Blicke und in ihrem Tone, das ihn entsetzte. Er hatte ein unbegrenztes Mitleid mit dem schönen, einst so selbstgewissen Mädchen, das er so hülflos vor sich sah; aber auch seine eigene Lage macht ihm Sorge. Daß es für ihn, nach den vereinzelten Gerüchten, welche über seine Beziehungen zu der Gräfin in Umlauf gekommen waren, nicht möglich sei, ihren Krankenpfleger zu machen, darüber wäre er mit sich ganz im Klaren gewesen, auch ohne die Anwandlung von Eifersucht, mit welcher seine junge Frau die Gräfin Haughton stets betrachtet hatte.

Er hätte viel darum gegeben, wäre er nicht so unvorbereitet, so plötzlich in dieses Abenteuer hineingezogen worden, hätten die Leute in dem Gasthofe es nicht gesehen, wie er die Gräfin, wie sie ihn wiedererkannt, wäre der Arzt nicht Zeuge gewesen, wie Eleonore ihn nicht lassen wollen, wie sie sein Bleiben gefordert hatte, als habe sie ein Recht darauf. Er konnte es sich nicht verbergen, daß er jedem in die Verhältnisse nicht Eingeweihten als der Mann erscheinen mußte, dem Eleonore gefolgt war, der an ihrer Krankheit Schuld trug, und er hatte eben erst die langjährige Verlobung mit Hildegard aufgelöst, hatte sich eben erst verheirathet, eben erst seine Frau in die Gesellschaft eingeführt, deren Verhalten gegen seine junge Gattin ihm ohnehin nicht wohlwollend erschienen war.

Die Kranke sich und ihrem Schicksale zu überlassen, daran dachte er nicht; aber er sann darüber nach, wem er sie übergeben, wen er in die Lebens- und Herzensverhältnisse der Unglücklichen, so weit er selber sie zu beurtheilen im Stande war, einweihen dürfe, ohne sie dadurch gegen Eleonore einzunehmen, [199] und er konnte Niemanden finden. Die Gräfin Rhoden war nicht in der Stadt, Cäcilie, wie sehr er sie auch liebte und ihr vertraute, war Eleonoren nicht gewachsen. Sie konnte er unmöglich zur Pflegerin Eleonorens machen, von ihr konnte er für diese keinen Anhalt hoffen; er mochte auch den Schatten dieses düsteren Geschickes nicht auf die ersten, schönen Tage seiner Ehe fallen lassen, er mochte die harmlose Fröhlichkeit seines jungen Weibes nicht stören und nicht missen.

Wie er nun so, zwischen einer berechtigten Selbstsucht und seinem Mitgefühl getheilt, vor- und rückwärts blickte, drängte sich ihm unwillkürlich der Gedanke in die Seele, daß seiner Familie von der Annäherung an die verstorbene Herzogin von Duras nichts als Unheil gekommen sei. Er grollte dem Tage, an welchem die Herzogin zuerst sein Vaterhaus betreten hatte, er verwünschte es, sie in Paris aufgesucht zu haben. Er begriff kaum, wie er überhaupt auf den Gedanken verfallen war. Hatte er doch sein Leben lang niemals vergessen können, wie heiter die Herzogin stets gewesen, als seine Mutter in dem Flies'schen Hause schon zum Tode krank darnieder gelegen hatte; wie sie an nichts gedacht, als an sich und ihr Behagen, während die treue Seba Tag und Nacht am Lager seiner Mutter gesessen und wie ein freundlicher Schutzgeist an demselben Wache gehalten hatte.

Wie Jemand, der im Dunkeln, seines Weges ungewiß, angstvoll umhergetastet hat, plötzlich stehen bleibt und sich zurecht zu finden trachtet, wenn ihn aus der Ferne ein Lichtschein die rechte Straße ahnen läßt, so hielt Renatus plötzlich inne: denn jetzt wußte er, wo er Hülfe finden könnte. Eine Frau wie Seba that Eleonoren Noth, eine Frau wie Seba fehlte an diesem Krankenbette. Seba hatte die volle Einsicht in das Menschenleben, welche duldsam und barmherzig macht. Sie hatte die Schmerzen seiner Mutter in ihrem Busen treu bewahrt; [200] seine Mutter hatte ihres starken Verstandes, ihres großen Herzens in den Tagebüchern oft erwähnt, die in den Besitz ihres Sohnes übergegangen waren und die ihn bestimmt hatten, Seba aufzusuchen, als er vor neun Jahren zuerst nach der Hauptstadt gekommen war. Aber was lag alles zwischen dem heutigen Tage und jener fernen Zeit! –

Freilich hatte er nur mit tiefstem Bedauern, nur mit innerstem Widerstreben die Mittheilungen seines Oheims über dessen Liebeshandel mit Seba angehört und geglaubt; indeß er hatte sie doch geglaubt! Er hatte sie auf das Wort eines Mannes hin geglaubt, dessen Charakterlosigkeit er kannte, dessen frevelhaften Leichtsinn in Bezug auf Frauen, ja, dessen niedrige Sinnlichkeit ihm immer ein Gegenstand der Abneigung und des Mißtrauens gewesen waren. Er hatte Seba, von der er nichts als Gutes wußte und erfahren hatte, ohne eine Anfrage an sie, ohne sie zu hören verurtheilt. Seine Schwiegermutter, die sie schätzte, seine damalige Verlobte, die an Seba hing, hatte er von ihr entfernt, sich selber in schnöder Weise von ihr losgesagt, und das alles, weil ein Mann mit den leichten und sichern Umgangsformen der vornehmen Gesellschaft sich schamlos berühmt hatte, die Gunst dieser Frau besessen zu haben, als sie noch ein halbes Kind gewesen war. Als ob es eine Heldenthat oder eine große Kunst gewesen wäre, das Vertrauen der Unschuld zu gewinnen und zu mißbrauchen! Und Seba hatte vielleicht einst eben so elend, eben so verzweifelnd, mit sich und mit dem Leben gerungen, wie jetzt die unglückselige Eleonore, die in ihren Phantasieen bald die heilige Jungfrau zu ihrem Beistande anrief, bald mit flehendem Verlangen den Namen des Mannes aussprach, den sie liebte und von dem sie, wie sie immer wiederholte, ihre Seele wiederhaben wollte.

Alle diese Gedanken und Erinnerungen zogen in rascher Folge durch sein aufgeregtes Hirn, während er an dem Lager [201] der Kranken saß. Der Zeiger der Uhr, welche auf dem Spiegeltische zwischen den beiden Vasen voll künstlicher Blumen stand, rückte mit melancholischer Sicherheit von Minute zu Minute vorwärts, und jede Minute steigerte mit der Unruhe und der Angst des Freiherrn ein nicht abzuweisendes, lastendes Schuldbewußtsein in seinem Innern. Er, der meist immer mit sich wohl zufrieden gewesen war, der sich stets mit selbstischer Leichtigkeit zurechtzusetzen gewußt, wenn er sich in irgend welchem inneren Zwiespalt befunden hatte, konnte heute dies Schuldbewußtsein nicht überwinden, und es bezog sich nicht auf eine bestimmte Person oder auf eine bestimmte Handlung, es war eine allgemeine Unzufriedenheit mit sich selbst, die sich seiner bemächtigte.

Er fühlte sich schuldig gegen Seba, er war weniger als jemals darüber beruhigt, daß er den Grafen Gerhard einst so nahe an sich herangelassen hatte. Er warf sich seine frühe Verlobung mit Hildegard vor, er tadelte sich, daß er Eleonoren von derselben nicht gleich unterrichtet, daß er dem Abbé, ohne ihn genau genug zu kennen, sein Vertrauen gewährt hatte; und er bereute das alles hauptsächlich, weil er, der danach getrachtet hatte, sich in dem ihm angeborenen Kreise unter seines Gleichen recht festzusetzen und auszubreiten, jetzt, da er einer Leidenden die Hand bieten, sie aufrichten und tragen wollte, sich es eingestehen mußte, daß es ein trügerischer Boden sei, auf dem er sich bewege, und daß er Niemanden, aber Niemanden in seiner genzen nächsten Umgebung und Verwandtschaft habe, von dem er in einem außergewöhnlichen Falle auf einen außergewöhnlichen Beistand rechnen dürfe.

An wen von allen seinen Standesgenossen sollte er sich wenden, um Hülfe zu fordern für eine junge Gräfin Haughton, die, von der Liebe für einen katholischen Geistlichen über alle Schranken der gesellschaftlichen Zucht und Sitte fortgerissen, [202] ihren Glauben gegen ihre Ueberzeugung abgeschworen hatte, und nun in halbem Irrsinne ihren Bekehrer mit ihrer Leidenschaft verfolgte?

Es war in Eleonorens Lage und Verhalten Alles dazu angethan, jene Frauen abzustoßen, welche in die Bewahrung ihres guten Rufes, in die strenge Unterordnung unter die hergebrachte Sitte, und in das Beharren innerhalb der ihnen durch ihren Stand und ihre Geburt angewiesenen Schranken ihre Ehre setzten. Renatus hatte von frühester Jugend an aus voller Ueberzeugung die engen und unwandelbaren Formen und Gesetze der sogenannten guten Gesellschaft als ein Heilsames und Nothwendiges anerkannt. Er hatte es von den Frauen seines Standes als ein Unerläßliches gefordert, daß sie selbst den geringsten übeln Schein zu meiden suchen sollten, und er würde noch in dieser Stunde jedem, auch dem leisesten Zweifel an einer zu ihm und seinem Hause gehörenden Frau, als Edelmann, auf edelmännische Weise zu begegnen für seine Pflicht erachtet haben.

Hier aber lag nun Eleonore, dem härtesten Urtheile gerechten Anlaß bietend, unglücklich und verlassen, und doch nicht schuldig.

Immer und immer wieder kam Renatus auf die eine Frage zurück: Wen soll ich rufen, ihr beizustehen und mir zu helfen?

Einen Priester seiner Kirche? Der Arzt hatte dies eben so entschieden verboten, als die Zulassung eines protestantischen oder englischen Geistlichen, auf welchen die Dienerschaft der Kranken ihre Hoffnung gerichtet hatte. – Eine der älteren Frauen seiner Bekanntschaft? Man war gegen ihn selber nicht ohne Voreingenommenheit, wie konnte er hoffen, für Eleonore ein gerechtes, ein nachsichtiges Urtheil zu gewinnen? Wie konnte er erwarten, von denen, welche sich für makellos, für eine besondere und bevorzugte Menschenklasse betrachteten, das Erbarmen mit [203] den Irrthümern und Fehlern eines Mädchens zu erlangen, das sich eben durch dieselben von dem Herkommen ihres Hauses und ihres Standes so auffallend entfernte!

Und er selber? Nun, er hatte es ja auch für Pflicht erachtet, selbst den Schein des Unrechtes von sich fern zu halten, weil die Welt berechtigt sei, nach dem Scheine zu urtheilen – und der Schein war ganz entschieden gegen ihn. Heute, jetzt verstand er es, weßhalb der Heiland, an den er glaubte, nicht die Pharisäer und Schriftgelehrten zu seinen Schülern und Aposteln auserkoren hatte, weßhalb er sich mit seiner Lehre von der Liebe und von der Vergebung zu den Armen hingewendet, die der Liebe und der Vergebung sich selber bedürftig gefühlt hatten; heute verstand er zum ersten Male, was Christus hingezogen zu der Sünderin.

Nur Seba konnte ihm helfen, und was es ihn auch kostete, ihr zu nahen, gegen die er sich versündigt hatte, er mußte ihren Beistand fordern.

Vorsichtig, um Eleonore nicht zu erwecken, die in Schlaf versunken war, zog er seine Hand aus der ihrigen, und ihren Leuten die nothwendigen Weisungen zurücklassend, machte er sich zu Seba auf den Weg.

Es war zwei Uhr vorüber, als er an Tremann's Thüre den öffnenden Hauswart fragte, ob Fräulein Flies zu Hause sei. Die Herrschaft speise, gab man ihm zur Antwort, und Herr Tremann habe streng befohlen, daß man während der Mahlzeit Niemanden melden dürfe. Der Freiherr schützte dringende Geschäfte vor; der Hauswart blieb bei seiner Weigerung, bis die Unruhe, welche Renatus nicht verbergen konnte, jenen anderen Sinnes machte. Er zog eine Schelle, welche in das Innere des Hauses ging; der Diener kam heraus, und auf die Erklärung, daß der Herr Major das Fräulein zu sprechen wünsche und sich nicht abweisen lasse, forderte der Diener des [204] Freiherrn Karte, nöthigte ihn, in das Vorzimmer einzutreten, und entfernte sich dann, den Bescheid für ihn zu holen.

Wie sie das gelernt haben! sagte Renatus unwillkürlich und mit Erstaunen; als ob die Gewöhnung an Bequemlichkeit und an jene häuslichen Einrichtungen, welche vor unwillkommenen Störungen und Ansprüchen bewahren, das Vorrecht einer besonderen Menschenklasse wäre. Wie sie das gelernt haben! Der alte Flies sprang noch behende von seinem Tische auf, wenn man im Laden schellte – und nun gar für Unsereinen!

Es blieb ihm jedoch zu diesen Betrachtungen nur kurze Zeit, denn der Diener brachte ihm die Antwort, daß die Herrschaft ihn zu empfangen bereit sei, und ging vorauf, ihn nach Seba's Zimmer zu geleiten.

Er fand sie seiner bereits wartend; aber sie war nicht allein. Paul war bei ihr; denn nach den Erfahrungen, welche Graf Gerhard ihn bei Anlaß von Seba's Briefen hatte machen lassen, und nach der Weise, in der Renatus sich von dem Flies'schen Hause zurückgezogen, meinte Paul seine Freundin vor jeder Begegnung mit diesen beiden Männern, so viel an ihm war, behüten, oder ihr bei einer solchen doch mindestens zur Seite stehen zu müssen. Es lag daher auch wenig Ermuthigendes in seinem Tone, als er den Freiherrn fragte, welchem Zufalle man die Ehre seines Besuches zu verdanken habe.

Auf Paul zu treffen, wo er darauf gerechnet hatte, Seba allein zu finden, war dem Freiherrn nicht willkommen; aber er überwand sich, weil die Nothwendigkeit ihn dazu zwang, und ohne auf eine Entschuldigung zu sinnen, sagte er mit der Sicherheit derjenigen, welche es gewohnt sind, für sich um ihrer Stellung und ihrer Persönlichkeit willen schließlich doch immer eine gute Aufnahme zu finden: Sie haben ein Recht, diese Frage in solchem Tone an mich zu richten, und ich würde, ehe ich es gewagt hätte, Fräulein Flies nach einer so langen Versäumniß [205] aufzusuchen, mich sicherlich vor ihr zu rechtfertigen getrachtet haben, wäre der Anlaß, der mich heute, der mich eben jetzt nöthigte und trieb, mich an Fräulein Flies zu wenden, nicht ein plötzlich eingetretener, und hätte ich Zeit, an etwas Anderes zu denken, als an die Hülfe, die ich von ihr für eine Unglückliche zu fordern gekommen bin!

Seba hatte ihn genöthigt, sich niederzusetzen, und den Faden seiner Mittheilungen wieder aufnehmend, sagte er: Sie werden Sich, ich weiß es, wundern, daß ich mich eben an Sie wende...

Nein, Herr Major, fiel Seba ihm mit ihrer sanften Würde in die Rede, o nein! Sie sind nicht der Erste meiner Freunde, der mich versäumte und mir wiederkam, der mich in seinem Glücke vergaß und sich an mich erinnerte, wenn er mich brauchte. Ich habe dies, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das sie noch immer sehr schön erscheinen ließ, ich habe dies aber immer als mein besonderes Adelsdiplom betrachtet, und Ihr heutiger Besuch, Ihr Anspruch an mich sind mir eine Bestätigung desselben. Seien Sie also will kommen – sie hielt ihm ihre Hand hin – in der That willkommen, Herr Major! Und nun, was wünschen Sie von mir?

Renatus küßte ihr die Hand, die sie ihm dargeboten hatte; aber das Roth der Scham trat ihm auf die Stirne, denn Paul war Zeuge der freundlich vornehmen Verzeihung, mit der sie ihren einstigen Freund behandelte, der Gnade, welche Seba ihm angedeihen ließ. Indeß Renatus mußte dies zu vergessen, sich darüber fortzusetzen suchen, und Seba und Paul erleichterten, nachdem die Erstere sich die ihrer würdige, aber unerläßliche Genugthuung bereitet hatte, ihm dies beide durch ihre Fragen und durch die Art, in welcher sie seiner Mittheilung ihr Ohr liehen.

So schnell, so gedrängt und so schonend, als es nur möglich war, suchte Renatus sie von den Verhältnissen der Gräfin, von [206] dem, was er selber mit ihr erlebt hatte, in Kenntniß zu setzen. Er hatte dabei seiner Verheirathung, er hatte Cäcilien's wie Vittoria's zu gedenken, und von dem Eifer seiner Mittheilungen fortgerissen, sagte er: Sie werden meine Stiefmutter, Sie werden meine Frau ja kennen lernen. Keiner von beiden, ich darf das zuversichtlich sagen, würde der gute Wille fehlen, der Gräfin beizustehen, aber der gute Wille ersetzt die Kraft, die Einsicht, die Erfahrung nicht. Sie sind meiner theuren Mutter einst ein solcher Trost gewesen – nehmen Sie Sich der Gräfin Haughton an.

Seba antwortete ihm nicht gleich, als er geendet hatte; das beunruhigte ihn.

Sie zögern? fragte er. Sie wollen oder Sie können ihr nicht beistehen?

Ich sinne nur darüber nach, entgegnete ihm Seba mit jener Einfachheit, deren nur die höchste Bildung und die höchste Güte fähig machen, ich sinne nur darüber nach, wie ich es anfange, gleich jetzt mit Ihnen zu Ihrer Kranken hinzufahren. Sie sagen mir, daß Sie nach Hause müssen, um Frau von Arten nicht zu beunruhigen, und ich habe für den Nachmittag eine andere Verabredung getroffen.

Das ist leicht zu ändern, bedeutete ihr Paul, der gewohnt, das Steuer zu führen, es unwillkürlich und überall, bei kleinen wie bei großen Anlässen ergriff; und die Schelle ziehend, befahl er dem Diener, daß man anspannen, schnell anspannen, und ihm aus dem Comptoir einen Boten senden solle. Dann schlug er dem Freiherrn vor, die Baronin durch ein paar Zeilen über sein Ausbleiben zu beruhigen; er selber übernahm es, Seba von ihrer genommenen Abrede zu befreien, und während diese sich entfernte, um sich anzukleiden und Davide von ihrem Ausgehen zu benachrichtigen, blieben Paul und Renatus in Seba's Wohnzimmer zurück.

Die zwei Worte an die Baronin von Arten waren schnell [207] geschrieben, der Bote damit fortgeschickt, und Renatus ward es nun mit einer peinlichen Empfindung inne, daß er sich mit Paul allein befand. Indeß auch jetzt wieder kam der Letztere ihm zu Hülfe.

Wie nannten Sie den Namen der jungen Gräfin? fragte er, um eine Unterhaltung einzuleiten. Ich mochte Sie vorhin in Ihrer Mittheilung nicht unterbrechen und habe ihn nicht verstanden.

Gräfin Eleonore Haughton! antwortete der Freiherr.

Paul besann sich. Den Namen habe ich schon gehört, meinte er; und plötzlich sich erinnernd, sagte er: Irre ich nicht, so ist die Gräfin bei unserm Hause accreditirt und uns in dem Creditive warm empfohlen; aber ich vermuthete in jener uns zugewiesenen Dame natürlich keine junge Frau, noch weniger ein junges Mädchen, und darum fiel mir der Name nicht gleich am Anfange auf.

Renatus erwiederte darauf nichts; das Gespräch drohte in's Stocken zu gerathen, und doch mochte er sich nicht immer wieder von Tremann vorwärts helfen lassen, mochte er nicht eben diesem Manne gegenüber den Anschein auf sich laden, als fehlten ihm die Leichtigkeit und Sicherheit, welche sein Vater in so hohem Grade besessen hatte, oder als fühle er sich in der Gesellschaft Paul's nicht frei. Er suchte nach einer neuen Anknüpfung; die lange Parade am Morgen, die erschütternde Begegnung mit der Gräfin, das Wieder sehen von Seba, kurz, alles, was er in den wenigen Stunden durchgemacht und durchempfunden, hatte ihn jedoch ermüdet, und zu der unerfreulichen Ahnung, daß er durch Eleonorens Ankunft in den Bereich neuer Verwicklungen getreten sei, gesellte sich noch der Gedanke, wie Paul sich jetzt nicht nur im Besitze dieses Hauses, sondern zum Theil auch bereits in dem Besitze der Arten'schen Güter befinde. Das befing Renatus vollends. Er konnte, wie er sich auch mühte, keine jener allgemeinen, [208] gleichgültigen Bemerkungen machen, mit denen man sonst einem Fremden gegenüber einige Minuten gemeinsamen Wartens auszufüllen pflegt. Aber diese Unbeholfenheit wurde ihm immer drückender, ja, sie steigerte sich allmählich bis zum Verdrusse über sich selbst, bis zu einer Angst; und als müsse er sich von derselben um jeden Preis befreien, als müsse er es durchaus erklären, was ihn beschäftige, sagte er plötzlich mit einer durch die Umstände in keiner Weise gerechtfertigten Lebhaftigkeit: Sie sehen, ich habe Ihren Rath befolgt; Rothenfeld und Neudorf sind verkauft!

Paul neigte kaum merklich das Haupt. Und Sie sind im Militär geblieben, fügte er hinzu, und haben die Frucht dieses Entschlusses, wie ich mit Vergnügen hörte, schnell genug geerntet. Man hat Ihnen zu gratuliren; Sie sind früh Major geworden!

Er hatte die Absicht gehabt, Renatus mit dieser Wendung von den ihm unerfreulichen Erinnerungen auf ein anderes Gebiet zu lenken, auf welchem ihm Gutes widerfahren und erwachsen war. Ueber diesen war jedoch mit der ersten Stunde, in welcher er sich zu dem Verbleiben in der militärischen Laufbahn entschlossen hatte, die rastlose Unzufriedenheit des Ehrgeizes gekommen, die sich nicht an dem Erreichten zu erfreuen vermag, wenn Anderen das Gleiche zu Theil geworden ist, und Tremann's Anerkennung von sich weisend, entgegnete Renatus: Ich bin nicht wesentlich früher als Sie im Heere vorwärts gekommen; Sie waren ja auch zu Ende des ersten Feldzuges bereits Major!

Während des Krieges war die Gelegenheit mir günstig, bemerkte Paul; das Avancement in der Landwehr machte sich bei den ungeheuren Verlusten, die wir erlitten hatten, schnell.

Und wieder hatte trotz der beiderseitigen guten Absicht das Gespräch nach diesen wenigen Worten noch einmal sein Ende erreicht. Es war, als läge eine unausfüllbare Kluft zwischen [209] ihnen, die zu überschreiten keiner von beiden die Brücke fand. Renatus meinte, es sei in seinen Verhältnissen geboten, seine Würde mit Zurückhaltung zu behaupten, und Paul fand keinen Grund in sich, dem Freiherrn eine besondere Zuvorkommenheit zu beweisen. Indeß die Unfreiheit, welche auf dem Anderen lag, fing Paul, dessen ganze Natur auf Freiheit gestellt war, zu belästigen an. Das Mitleid, welches er mit Renatus hegte, konnte ihn nicht verhindern, dieses Beisammensein beschwerlich zu finden. Unwillkürlich zog er die Uhr hervor, um zu ermessen, ob Seba noch nicht kommen, der Wagen noch nicht fertig sein könne. Das entging Renatus nicht, und als wolle er wenigstens in diesem Falle seine gesellschaftliche Ueberlegenheit behaupten, sagte er, sich gewaltsam überwindend, um eine neue Unterhaltung anzuknüpfen: Sie sprachen, als ich Sie bei meiner Rückkehr hier aufzusuchen veranlaßt war, von Einbußen und Verlusten, welche Ihr Haus während Ihrer Feldzüge erlitten hätte. Derlei stellt sich wahrscheinlich auch in Ihrer Lage so leicht nicht wieder her. Wie ist es Ihnen ergangen, was haben Sie gethan, seit ich Sie damals sah?

Paul's schönes Antlitz hellte sich auf. Es war ihm eine Erleichterung, daß Renatus sich von seiner Befangenheit loszumachen trachtete, und da er, wie alle tüchtigen Menschen, trotz der Enttäuschungen, denen Niemand mehr als eben solche unterworfen sind, doch immer wieder zum Glauben an den Menschen und zum Hoffen auf das Gute in der Natur desselben geneigt war, sprach er freundlich, wenn auch über die Art der Frage unwillkürlich lächelnd: Für Unsereinen, der mit seinem Thun und Lassen auf sich selbst gewiesen ist, läßt sich eine solche Frage nicht rundweg, nicht mit Einem Worte abthun. Indeß ich darf wohl sagen: ich habe nicht gefeiert! – Dann, als besorge er, den Freiherrn mit solch kurzem Bescheide wieder in das frühere Unbehagen zurückzuwerfen, fügte er hinzu: Es sind nicht allein [210] die großen Unternehmungen, es sind eben so wohl die kleinen täglichen Erfolge, welche uns vorwärts bringen; und das Wachsen, das Gedeihen vollzieht sich überall in der Regel geräuschloser und weniger sichtbar, als das Zerstören und das Zugrundegehen. Es liegt für den Dritten, für den Zuschauer daher vielleicht kein besonderes Interesse darin, uns auf unserm Wege zu begleiten, unserm immer gleichen und doch in sich sehr wechselreichen Arbeiten zuzusehen, selbst wenn es, wie dies meist der Fall ist, mit den allgemeinen Nothwendigkeiten eng genug verbunden ist. Wir haben keinen Rang, keine äußeren Anerkennungen, als diejenigen, welche das Urtheil unserer Standesgenossen und Mitbürger uns zu Theil werden läßt; denn jene Titel und Orden, welche der König einem Gewerbtreibenden gelegentlich verleiht, zählen nicht vor den Tüchtigen und Verständigen unter uns. Wir schaffen uns unsern Namen, unsere Stellung in der kaufmännischen wie in der bürgerlichen Welt aus eigener Machtvollkommenheit. Unsere tägliche Arbeit wird erst merkbar, wenn sie ihre Ernte getragen hat, obgleich wir uns derselben stets bewußt sind und unserer Freude an unsern mit tausendfachen Sorgen schwer errungenen Erfolgen nicht entbehren. Und da es uns an Sorgen und Hoffnungen dabei durchaus nicht mangelt, so brauchen wir nach Erregungen und Zerstreuungen nicht zu suchen, uns Lust und Pein nicht erst zu schaffen. Das hat auch sein Gutes, besonders für denjenigen, der in der freien Arbeit an und für sich schon seine wahre Befriedigung genießt!

Er brach ab, weil er besorgte, mit der Schilderung seiner Zustände wider seinen Willen ein Gegenbild zu denen des Freiherrn geboten zu haben; und in der That lag in des Kaufmanns stolzer Selbstgenügsamkeit ein Vertrauen zu dem Leben und in die Zukunft verborgen, um welches der Freiherr ihn beneidete. Er konnte sich jedoch nicht überwinden, ihm dies auszusprechen, [211] und ohne eine Bemerkung auf Paul's Auseinandersetzungen hinzuzufügen, sagte er: Und Sie sind auch verheirathet? Sie haben Kinder?

Ja, ich habe einen Knaben und Aussicht auf ein zweites Kind. Dazu genieße ich das Glück, Fräulein Flies, die mir und meiner Frau eine Mutter gewesen, und die ja leider unvermählt geblieben ist, in meinem Hause eine Heimath bieten zu könne; und wir befinden uns in einer Lage, in welcher wir uns in vollster Freiheit nach eigenem Bedürfen regen und bewegen können. – Er hielt abermals inne und sagte danach: Das ist freilich nichts Besonderes, das haben hundert Andere auch, das ist viel und wenig, wie man es betrachtet. Mir genügt es! Ich könnte also Ihre erste Frage wohl mit dem schlichten Worte beantworten: es geht uns Allen in jedem Sinne wohl!

Nicht so, Seba? fragte er, sich mit seinem hellen Blicke und seiner volltönenden, männlichen Stimme, deren bloßer Klang erfrischend wirkte, an die Freundin wendend, welche, für die Ausfahrt angekleidet, eben in das Zimmer trat.

Gewiß! entgegnete sie; aber weßhalb soll ich das besonders erst versichern?

O, rief Renatus, und eine weiche, schmerzliche Empfindung, wie er sie diesen Menschen gegenüber, wie er sie in solcher Weise überhaupt noch nie gefühlt hatte, bewegte ihn und drohte, ihn zu überwältigen, o, bereuen Sie diese Versicherung nicht! Es ist ein Segen und es ist sehr selten, Glückliche zu sehen!

Seine Erschütterung überraschte die beiden Anderen, und ein Blick des Einverständnisses zwischen ihnen bezeugte, was sie dachten. Indeß die Meldung des Dieners, daß der Wagen vorgefahren sei, trat eben jetzt dazwischen.

Renatus, sich schnell ermannend, bot Seba seinen Arm; [212] Paul begleitete sie. Als sie eingestiegen war, wendete Renatus sich zu Jenem und sagte, indem er, was er sonst nie gethan hatte, ihm die Hand reichte und schüttelte: Leben Sie wohl, und erhalte der Himmel Ihnen Ihr Glück und Ihre Zufriedenheit! Leben Sie wohl!

Auf Wiedersehen! entgegnete Paul, ihm den Händedruck vergeltend. Und in das Haus zurückkehrend, dachte er: Wenn er ein Einsehen hätte – wie gern wollte man ihm helfen!

[213]
3. Capitel
Drittes Capitel

Die Zeit und das Leben waren damals noch nicht so bewegt, daß ein Ereigniß wie die Ankunft und Erkrankung einer vornehmen Fremden mit den diese Erkrankung begleitenden auffallenden Nebenumständen in der Residenz unbeobachtet und unbesprochen hätte bleiben können. Der und jener Vorüberkommende hatte gesehen, wie man die Kranke aus dem Wagen gehoben, wie ein Major in voller Uniform dabei behülflich gewesen war; und die augenblicklichen Mitbewohner des Gasthofes hatten sich bei den Kellnern erkundigt, was es mit der Kranken für eine Bewandtniß habe. Die Fragen waren, wie das in solchen Fällen stets geschieht, über die ersten Antworten hinausgegangen, die nächsten Antwortenden hatten mit Vermuthungen zu ergänzen gestrebt, was sie an Wissen entbehrten, und schon an einem der folgenden Tage brachte die verbreitetste Zeitung der Stadt unter ihren allgemeinen Berichten die Kunde: daß eine vornehme Engländerin, die Gräfin E. H....ton, deren Abenteuer am französischen Hofe wie in der vornehmen Welt ihres Vaterlandes viel von sich reden machen, in der Hauptstadt angekommen sei, wohin ein Herzensverhältniß sie gezogen habe. Wider ihr Erwarten habe sie aber den Mann, welchem sie gefolgt sei, einen höheren preußischen Offizier, bereits anderweitig verheirathet gefunden und sei aus Verzweiflung darüber wahnsinnig geworden. Der Name des sie behandelnden Arztes schloß diesen Bericht.

Die bürgerliche Gesellschaft las über denselben hinweg, wie [214] man im Allgemeinen über derlei achtlos fortgeht; aber in den Kreisen, in denen Renatus lebte, und in denen man gewohnt war, sich um die Vorgänge an den verschiedenen Höfen zu bekümmern, fiel die Nachricht auf.

Man erinnerte sich, daß vor ungefähr drei Viertel Jahren eine junge Engländerin vom französischen Hofe verwiesen worden war. Man entsann sich, daß es die berühmte Schönheit, die Gräfin Haughton-Lauzun gewesen sei, die Nämliche, welche nach den Berichten der englischen Zeitungen in London am Hofe zu der üblichen Vorstellung nicht zugelassen worden, und später zum Katholicismus übergetreten war. Eine der Hofdamen, welche mit der gräflich Rhoden'schen Familie verwandt war, hatte damals von ihrem bei der preußischen Gesandtschaft in Paris beschäftigten Bruder die briefliche Mittheilung erhalten, daß der Freiherr von Arten in die Abenteuer der Gräfin Haughton verwickelt, daß er einer ihrer Liebhaber gewesen sei; und die in der Zeitung angegebenen Buchstaben paßten auf die Gräfin.

Das machte die Neugier rege. Man ließ sich die Fremdenblätter holen; unter den »Eingetroffenen« fand sich, zu allgemeiner Genugthuung, der Name der Gräfin Haughton, und als die Schwester eben jenes Gesandtschafts-Sekretärs zufällig bei ihrer Spazierfahrt die Linden entlang fuhr, sah sie, daß man vor und neben dem betreffenden Gasthofe die Straße, um das Rollen der Wagen abzudämpfen, weit hinaus mit Stroh beschüttet hatte.

Abends erzählte die Hofdame der Ober-Hofmeisterin in dem Zimmer ihrer Herrin von dem romantischen Ereigniß, und so leise sie auch sprachen, hatte die Prinzessin doch ein Wort davon gehört. Sie verlangte, zu wissen, wovon die Rede sei. Die Ober-Hofmeisterin, froh, einen Gegenstand der Unterhaltung für die unbeschäftigte Prinzessin zu haben, erzählte, was sie wußte.

[215] Die Prinzessin sagte, sie habe der Sache schon früher erwähnen hören, als sie im Auftrage des Königs das Fräulein-Stift zum heiligen Grabe besucht, und dort zu ihrem Erstaunen die Gräfin Hildegard von Rhoden gefunden habe, die nach ihrem Wissen mit dem Freiherrn von Arten seit vielen Jahren versprochen gewesen sei. Sie wunderte sich, wie Hildegard's Mutter, nach der Weise, in welcher der Freiherr sich gegen Hildegard benommen hatte, und nach den Gerüchten über ihn, die ihr doch kaum verborgen geblieben sein konnten, den Muth besessen habe, ihm die zweite Tochter anzuvertrauen.

Die Hofdame, welche mit Hildegard in gleichem Alter und eine Freundin von ihr war, wagte die bescheidene Bemerkung, Hildegard habe sich für die Schwester aufgeopfert, als sie deren Leidenschaft für ihren Verlobten wahrgenommen habe. Die Prinzessin, ein Vorbild der ehelichen Treue und der Mutterliebe, schüttelte mißbilligend das schöne Haupt.

Wie traurig ist es, daß selbst ursprünglich edle Naturen, denn ich habe früher nur Günstiges von dem Baron von Arten gehört, sich zu solchen Verirrungen hinreißen lassen können, die ihre Strafe in sich selber tragen. Die Zeit bleibt sicherlich nicht aus, in welcher die Gräfin Hildegard ihr Schicksal als das glücklichere zu preisen haben wird! Wenn Sie ihr schreiben, so sagen Sie ihr, daß ich ihrer denke und daß ich sie zu sehen hoffe, wenn sie wiederkehrt.

Mit diesem Ausspruche der Prinzessin war für die Personen, welche zu ihrem Hofstaate gehörten, die Weise vorgezeichnet, in welcher man die Angelegenheiten der Arten'schen und der Rhoden'schen Familie aufzufassen hatte; und da man einmal auf dem Wege war, sich mit ihnen zu beschäftigen und sie zum Gegenstande der Unterhaltung zu machen, gab es in den nächsten Tagen kaum einen Theetisch, kaum ein Plauderstündchen, in welchem sie nicht den Stoff für weit zurückreichende Erinnerungen, [216] für eben so weit gehende Vermuthungen und Voraussichten geboten hätten.

Von der Rhoden'schen Familie hatte man wenig zu sagen. Das Leben, die Ehe der Gräfin waren einfach und tadellos gewesen; um so reicheren Stoff aber boten die Ueberlieferungen aus dem Arten'schen Hause für die sagenbildende Kraft der Menschen dar. Die Eigenartigkeit des Fräuleins Esther, die Schönheit der früh gestorbenen Amanda von Arten, die sich in einer heimlichen Leidenschaft zu einem Manne niederen Standes verzehrt haben sollte; der Tod der Baronin Angelika, welcher ein Liebeshandel das Herz gebrochen, den ihr Gatte mit der Herzogin von Duras unterhalten hatte, waren Dem und Jenem aus persönlichen Anschauungen und Erinnerungen bekannt, und man war nicht abgeneigt, eine Art von sittlicher Gerechtigkeit darin zu finden, wenn die Nichte der Herzogin an einer unglücklichen Liebe für den Sohn der Baronin zu Grunde ging, ohne daß man diesen deßhalb nachsichtiger beurtheilt hätte. Selbst die Entschuldigungen, welche man ihm angedeihen ließ, dienten nicht zu seinem Segen.

Man beklagte ihn, daß er von einem Vater erzogen worden war, der, obschon er ein vollkommener Cavalier gewesen sei, doch sich selbst nicht zu zügeln verstanden und noch an der Schwelle des Greisenalters eine junge Nonne aus vornehmem Hause aus dem Kloster entführt hatte. Man wußte darüber freilich nichts Genaues, aber man hatte von einem päpstlichen Dispens sprechen hören, den zu erwirken der Freiherr Franz lange Jahre in Italien gelebt hatte und der mit einem namhaften Theile des Arten'schen Vermögens erkauft worden war. Die junge Frau sollte den greisen Gatten leidenschaftlich geliebt und das Gelübde gethan haben, fortan die Witwentrauer nicht mehr abzulegen. Man war gespannt, zu sehen, ob sie diesen Vorsatz auch in der Residenz, auch in dem Hause ihres Stiefsohnes [217] zur Ausführung bringen werde, in dem sie, wie man berichtete, gerade in diesen Tagen erwartet wurde. Und da nun Jeder, in dessen Beisein von diesen Gerüchten die Rede war, sich die Lücken und Unwahrscheinlichkeiten in denselben auf seine Weise und mit seiner verbindenden Kraft zu ergänzen strebte, so erwuchs um den Kern von Wahrheit, der diesen Behauptungen überall zum Grunde lag, eine Dunstschicht von Einbildungen, die sich in dem Bewußtsein der Leute um so fester setzten, je weniger die Personen, um welche diese Märchen sich bewegten, eine Ahnung von ihrem Vorhandensein besaßen und in der Lage waren, sich gegen diese Erfindungen zu erheben und zu vertheidigen.

Was Renatus anbetrifft, so hatte er eben in diesen Tagen vollauf mit der Wirklichkeit zu thun. Cäcilie war doch noch tiefer, als er es befürchtet hatte, durch die Ankunft der Gräfin erschüttert worden, und wenn es ihm auch gelungen war, sie bald völlig über den Vorfall zu beruhigen und sie die Sache in ihrem rechten Lichte erkennen zu machen, so fügte es sich doch nicht glücklich, daß gerade jetzt auch Vittoria mit ihrem Sohne von der einen Seite anlangte, während von der anderen die Gräfin Rhoden mit Hildegard in der Hauptstadt eintraf.

Vittoria, die in allen praktischen Angelegenheiten unbehülflich wie ein Kind geblieben war, wollte in ihren Zimmern eingerichtet sein und mißfiel sich in ihnen, während sie über die ihr bevorstehende Trennung von Valerio sich untröstlich zeigte. Alles in ihrem jetzigen Dasein war ihr fremd und dünkte ihr quälend. Sie hatte niemals in einer Stadt gelebt. Die beiden von Renatus mit Vorsorge für ihren besonderen Gebrauch ausgewählten Zimmer dünkten sie eng und niedrig, denn sie verglich sie unwillkürlich mit den großen, hohen Sälen ihres Klosters und den stattlichen Räumen des Arten'schen Schlosses. Die ihr fremde Heizungsweise belästigte sie, die Häuserreihen, [218] die ihr den Horizont verengten, machten sie traurig, sie verlangte mit einer krankhaften Ungeduld nach Luft, nach Licht; und wollte man sie nicht in Thränen ausbrechen sehen und in schwermüthigem Brüten sich selber überlassen, so blieb nichts übrig, als auf ihre Zerstreuung zu denken, wie denn, nach des jungen Freiherrn Ansicht, Cäcilie ebenfalls Zerstreuung nöthig hatte.

Weder das Alleinsein mit Vittoria, in welchem, wie natürlich, Eleonore Haughton den einzigen Gegenstand der Unterhaltung machte, noch die Begegnungen mit der Mutter und der Schwester, bei denen derselbe Gegenstand und noch andere, eben so unerfreuliche Erörterungen zur Sprache kommen mußten, konnten dem aufgeregten Gemüthe der jungen Frau zu einer Besänftigung gereichen, und Renatus selber fühlte das Bedürfniß, sich, wenn auch nur für einzelne Stunden, von den peinlichen Eindrücken, von den Sorgen abzuziehen, die auf ihm lasteten.

Er hatte gehofft, Hildegard werde sich wenigstens für die erste Zeit von seinem Hause fern halten, und er hatte dies nicht erst besonders gefordert, weil es ihm das Natürliche gedäucht hatte. Aber er kannte weder die Neigung gewisser Frauen, sich und Anderen das Leben möglichst schwer zu machen, noch die furchtbare Berechnung, welcher eben solche Frauen fähig sind. Er hatte es nicht vorausgesehen, daß Hildegard, um die von ihr übernommene Rolle großmüthiger Entsagung aufrecht zu erhalten, sich und dem jungen Ehepaare die Marter eines unnützen Zusammenkommens auferlegen würde; er hatte noch weniger erwartet, daß die Mutter ein solches Verhalten als nöthig bezeichnen und also es begünstigen werde.

Renatus saß, von der Parade kommend, mit Cäcilien beisammen, als die beiden Frauen, von deren Ankunft in der Stadt man noch nicht unterrichtet worden war, sich zum ersten Male in dem neuen Haushalte melden ließen. Mit einer Befangenheit, [219] mit einer Bestürzung, welche in diesen Verhältnissen sehr erklärlich waren, erhoben die jungen Eheleute sich, den Eintretenden entgegen zu gehen. Cäcilie warf sich der Schwester in die Arme und barg, in Thränen ausbrechend, ihr Gesicht an Hildegards Brust, während Renatus, nachdem Cäcilie sich aufgerichtet hatte, die Hand seiner Schwägerin ergriff und sie an seine Lippen führte.

Sei willkommen in unserm Hause und gönne mir es, Dir als ein Bruder zu vergüten, was ich Dir gethan! Das war alles, was er sagte, aber obschon er sehr blaß geworden, war seine Stimme doch vollkommen fest und ruhig.

Hildegard hatte ebenfalls die Farbe gewechselt; indeß das Lächeln, mit dem sie in das Zimmer gekommen war, wich weder vor Cäciliens Thränen, noch vor ihres Schwagers Worten von ihren Lippen; und sich zu der Mutter wendend, sprach sie: Hatte ich nicht Recht, daß wir, ohne sie darauf vorzubereiten, hieher gegangen sind? Ihr solltet es gleich sehen, daß ich nicht um meinetwillen komme, Ihr solltet nicht darüber in Zweifel sein, wie ich für Euch gesonnen bin, und daß die Rücksicht auf Eure gesellschaftliche Stellung mir wichtiger ist, als mein eigenes Empfinden. Wer darf Euch tadeln, wenn ich für Euch bin? Aber wie geht es Euch? Es scheint, die Stadtluft thut Euch nicht recht wohl. Nicht wahr, liebe Mutter? Cäcilie sieht nicht gut aus und Renatus auch nicht!

Sie machte es mit diesem Nachsatze für den Freiherrn zu einer Unmöglichkeit, ihr auf ihre ersten Erklärungen zu antworten, und weil Cäcilie sich von der Herablassung der Schwester, von ihrem verzeihenden Erbarmen eben so gepeinigt fühlte, als der Freiherr ihr Betragen beleidigend fand, beeilte die junge Frau sich, der Unterredung ein Ende zu machen, indem sie die Mutter und die Schwester aufforderte, sich in ihrem Hause umzusehen.

[220] Die Wohnung des Freiherrn war sehr ansehnlich und immer noch reich ausgestattet. Sie mußte für prächtig gelten, wenn man sie mit den Möglichkeiten der Gräfin Rhoden verglich, und die Mutter hielt ihr Wohlgefallen an den Einrichtungen, welche Renatus getroffen hatte und in denen sie ihre Tochter wiedersah, auch nicht zurück, so daß Cäciliens unschuldige Besitzesfreude sich an der Theilnahme der Mutter steigerte, und ihr Gatte sich für seine Mühe wohl belohnt fand.

Nur Hildegard ging langsam hinter den Anderen her und musterte die einzelnen Gegenstände mit dem Augenglase in der Hand. Ach, die Lehnsessel aus dem lieben Bilder-Cabinette! rief sie. Ach, also auch die antiken Statuetten aus der Mutter Wohnzimmer habt ihr von Richten fortgenommen! sprach sie. Wie nur die guten, alten Familienbilder sich hier in der Stadt behagen mögen? scherzte sie; und jedes ihrer Worte, jede ihrer Bemerkungen war ein Nadelstich für den Freiherrn.

Es that ihm wehe, wenn sie erwähnte, wie öde die Zimmer jetzt in seinem Schlosse sein müßten, es verdroß ihn, wenn sie die neuen Anschaffungen mit einer auffälligen Verwunderung bemerkte, und das Blut stieg ihm zu Kopfe, als sie zum zweiten Male gegen ihre Mutter den Ausspruch that, daß Cäcilie und Renatus wirklich ganz artig, aber ganz artig eingerichtet wären. Schon trat ein Wort des ausbrechenden Zornes ihm auf die Lippe, aber er unterdrückte es wieder. Er hatte jenen edeln Sinn, der eine Buße entschlossen auf sich nimmt, wo er ein Unrecht gegen Andere begangen hat, und seine Mißempfindung gewaltsam überwindend, brach er, um nicht in der Rede stecken zu bleiben, den begonnenen Satz zu der Frage um, ob Hildegards angeborene Kurzsichtigkeit in dem Grade zugenommen habe, daß sie ihr den Gebrauch eines Augenglases jetzt selbst im Zimmer nöthig mache.

Wundert Dich das? entgegnete sie ihm. Ich habe viele [221] Nächte durchwacht und viele Tage durchweint; das dient den Augen nicht!

Dann, als sie sich überzeugt hatte, daß auch diese Bemerkung ihres Eindrucks auf Renatus, auf den einst geliebten und eben deßhalb jetzt gehaßten Mann nicht verfehlte, reichte sie ihm, als wolle sie ihn zerstreuen und ihm ihre ruhige Stimmung darthun, das Augenglas hin und sagte, plötzlich in den Ton gleichmüthigster Unterhaltung übergehend: Ich habe jetzt sogar weit stärkere Gläser nöthig, und Dein Onkel, der sich meiner in Pyrmont mit der größten Güte angenommen, hat mir dieses schöne Lorgnon geschenkt. Sein und mein Auge tragen ganz gleich weit, und wir sehen auch geistig die Dinge und die Menschen häufig unter gleichen Gesichtspunkten an. Er ist vorgestern zurück gekommen; wir waren eben bei ihm.

Ihr wart bei ihm? fragte Renatus, und heute schon? Ist denn der Onkel krank?

Nicht eigentlich, gab Hildegard zur Antwort; er ist schmerzensfrei und heitern Geistes. Das Bad hat ihm sehr wohlgethan, nur das Gehen wird ihm schwer. Doch hält der Arzt die leichte Lähmung für vorübergehend und ungefährlich.

Die Lähmung? wiederholte der Freiherr, seit wann ist der Onkel denn gelähmt?

Wußtest Du das nicht? fragte Hildegard, statt ihm zu antworten. O, das ist nicht hübsch von Dir! Das Uebel zeigte sich ja gleich nach seinem Anfalle, er suchte nur, es zu verbergen, weil er die Anderen nicht zu beunruhigen wünschte! Aber man sieht es, daß Du Dich um unsern guten Grafen wenig kümmerst, und er nimmt doch so viel Theil an Dir! Das Erste, wovon der Onkel mit uns sprach, war nicht sein Befinden, sondern seine Sorge um Cäcilie und um Dich!

Renatus hob das Haupt empor, und der neuen Schwägerin mit einem scharfen Blicke ins Auge sehend, fragte er bestimmt: [222] Was soll das heißen? Was hat der Onkel zu besorgen für mich und meine Frau?

Hildegard seufzte, und die Stimme senkend, sprach sie: Die Unüberlegtheit, mit welcher Eleonore Dir gefolgt ist, die Rücksichtslosigkeit, mit der sie sich in dem ersten Gasthofe der Stadt unter ihrem eigenen Namen einquartierte, beunruhigen ihn um Euretwillen, und ....

Und Du hast hoffentlich, fiel Renatus ihr in die heuchlerische Rede, da Du die Wahrheit kennst, es dem Onkel gleich gesagt, daß Eleonore nicht mir gefolgt ist, daß ich gegenwärtig mit ihr in keinem andern Zusammenhange stehe, als in demjenigen, in welchen ein Zufall mich verstrickte, ein Zufall, den ich nicht einmal beklagen darf, denn Cäcilie ist eben so verständig als meiner Liebe sicher, und die Gräfin Haughton wäre hier sehr verlassen, hätte sich Seba Flies ihrer nicht auf meine Bitte angenommen!

Seba Flies? rief Hildegard mit einem allerdings begreiflichen Erstaunen, Du hast Deine alte Bekanntschaft mit der Flies wieder aufgenommen? Das ist ja etwas völlig Neues! – Und sich von dem Schwager zu der Mutter wendend, sagte sie: Stelle Dir vor, Mama, Renatus hat sich mit der Flies, vor der er mich einst mit Recht gewarnt hat, wieder in Verbindung gesetzt, hat ihr die Gräfin Haughton anempfohlen! – Du hast also wohl auch Cäcilie zu ihr hingeführt? Das ist sonderbar!

Renatus war empört über Hildegard, denn sie reizte und kränkte ihn mit einer Art von Wollust, weil sie von ihm auf die Schonung und Rücksicht rechnen durfte, die er ihr mehr als jedem Andern angedeihen zu lassen durch die Verhältnisse gezwungen war.

Das ist sonderbar, höchst sonderbar! wiederholte sie; aber Du bist freilich oftmals unbegreiflich! fügte sie hinzu.

[223] Ich finde es nicht unbegreiflich, entgegnete Renatus, daß man, so lange man jung und unreif ist, sich von augenblicklichen Eindrücken zu unbesonnenen Handlungen fortreißen läßt, und nicht sonderbar, daß ein Mann, wenn er zur Einsicht in seine Irrthümer gekommen ist, ihren nachtheiligen Folgen, so weit er es vermag, vorzubeugen und seine Ungerechtigkeiten gut zu machen trachtet! Ich habe Cäcilie noch nicht zu Seba führen können, aber ich denke es zu thun, sobald die Gräfin Haughton Seba's Beistand weniger bedürfen wird!

Du bist natürlich Herr, zu thun und zu lassen, was Dich gut dünkt, meinte Hildegard, welche in der Aeußerung des Freiherrn über seine jugendlichen Irrthümer eine für sie kränkende Anspielung auf ihre Vergangenheit gefunden hatte; und Du hast Dir ja auch die Freiheit, nach Deiner wechselnden Erkenntniß zu verfahren, immer und in allen Lebensverhältnissen unbedenklich zuerkannt! Nur wundern wird man sich über diese Sinnesänderung, und der Onkel nicht am wenigsten!

Sie erschrak, als sie diese Worte ausgesprochen hatte, denn Renatus überflog sie mit einem Blicke voll stolzen und triumphirenden Erstaunens, vor dem sie unwillkürlich die Augen niederschlug. Du bist sehr eingeweiht in die Ansichten und in die Geheimnisse des Onkels, sagte er. Gleichviel aber, ob die Beichte, die er Dir offenbar gethan hat, seiner von Dir gerühmten Sinnesänderung vorausgegangen oder ob sie eine Folge der Bekehrung gewesen ist, die Du an ihm gemacht hast, in jedem Falle bist Du um die Mitwissenschaft derartiger Geheimnisse nicht zu beneiden! Ich für meinen Theil finde solche Geständnisse empörend, und ich würde es einem Manne nie verzeihen, der sich unterfinge, sie einer mir in irgend einer Weise angehörenden Frau nach seinem Belieben aufzudrängen! Die Mitwissenschaft um solche Dinge ist keine Ehre für einen Mann, und für eine Frau ....

[224] Die Gräfin hinderte ihn durch ihr Dazwischentreten, das vernichtende Wort auszusprechen, das auf seinen Lippen schwebte.

Sie hatte bisher anscheinend nur auf Cäciliens Mittheilungen hingehört, doch war ihr nichts von der Unterredung der beiden Andern und von der immer bitterer werdenden Wendung entgangen, welche sie genommen hatte. Einzig der Wunsch, es zu keinem öffentlichen Zerwürfnisse in ihrer Familie kommen zu lassen, hatte sie bis dahin abgehalten, das unerfreuliche Gespräch zu unterbrechen, und eben das nämliche Verlangen war es jetzt wieder, welches sie bestimmte, sich mit einer plötzlichen Frage um das Ergehen Seba's in das Mittel zu legen.

Renatus antwortete darauf, wie seine gegenwärtige Gereiztheit es ihm eingab. Er sprach, ohne im Grunde viel davon zu wissen, von der ausgezeichneten Verehrung, deren Seba genieße, von den würdigen Verhältnissen, in denen sie sich bewege. Er erwähnte ihrer günstigen Vermögenslage, ihres glücklichen Familienkreises, und er hegte bei jedem seiner Worte die geheime Hoffnung, daß es Hildegard zuwider sein, daß es sie wo möglich noch mehr verletzen werde, als er Verletzungen von ihr erlitten hatte.

Die Mutter nahm alle seine Nachrichten mit Güte auf. Sie äußerte ihre Genugthuung darüber, sich in Seba, mit der sie zu den Zeiten des Tugendbundes viel verkehrt hatte, nicht getäuscht zu haben; sie nannte es sogar einen glücklichen Gedanken, daß Renatus Seba zu der Kranken hingerufen habe, da sie hülfreich sei und sicherlich bereitwillig bei Eleonoren ausharren werde, bis sie selber, sie und Hildegard, die Pflege der Gräfin Haughton übernehmen könnten, wozu sie gleich in den nächsten Tagen, wenn sie nur ihre nöthigsten Einrichtungen getroffen haben würden, gern erbötig wären.

Dieses Anerbieten seiner Schwiegermutter brachte Renatus für den Augenblick um seine Fassung, obschon es, das konnte er nicht läugnen, in vielfachem Betrachte eben so natürlich als [225] zweckentsprechend war. Wenn die Mutter und die Schwester seiner jungen Frau, wenn die Gräfin Rhoden, deren Charakter über jeden Zweifel erhaben und deren gesellschaftliche Stellung eine so wohl begründete war, sich der Gräfin Haughton annahmen, mußten alle Gerüchte, welche über Eleonore wie über ihre Beziehungen zu dem jungen Freiherrn im Umlaufe waren, davor verstummen, und Eleonore hatte für den Fall ihrer Herstellung an der Gräfin gleich den Anhalt, dessen sie bedurfte. Er hätte daher den Vorschlag seiner Schwiegermutter, als ein glückliches Ereigniß, mit tausend Dank begrüßt, wäre Hildegard in demselben nicht betheiligt gewesen und hätte er nicht auf das unwiderleglichste gefühlt, daß die Feindschaft zwischen dieser und zwischen ihm eine unversöhnliche sei, daß Hildegard ihn und Cäcilie hasse, daß die Mutter, aus einem sehr erklärlichen Mitgefühle für ihre weniger glückliche Tochter, Partei für diese nehme und daß also auch die Hülfsleistung, zu der man sich für die Gräfin Haughton erbot, ohne alle Frage nur dazu benutzt werden würde, einen neuen Heiligenschein für Hildegard daraus zu machen.

Es ist ein unvergeßlicher, es ist oft ein entscheidender Moment für einen Menschen, wenn er sich zum ersten Male eingestehen muß, daß er Feinde, unversöhnliche Feinde habe, wenn er es in sich fühlt, wie er diejenigen zu hassen vermag, an deren Haß gegen ihn er nicht mehr zweifeln kann, und es war ein doppelt schmerzlicher Augenblick für den im Grunde seines Wesens guten und nicht charakterfesten Freiherrn, der bisher nur selten auf Widerstand gestoßen war. Er hatte in seiner frühen Jugend keines fremden Menschen Hülfe nöthig gehabt. Er war überall gern gesehen worden, weil er nichts zu begehren gebraucht, er hatte es also auch nicht gelernt, wie man sich mit seinen berechtigten Ansprüchen denen gegenüber zu behaupten hat, die aus irgend einem Grunde nicht gewillt sind, [226] jene Ansprüche anzuerkennen und zu befriedigen. Nach der Lehre seiner Kirche hatte er unwillkürlich an dem Glauben festgehalten, daß, wie vor Gott, so auch den Menschen gegenüber, die Reue genug thue für den Irrthum, und die Buße für den Fehl. Er hatte sich über sein Verhalten und über sein Unrecht gegen Hildegard in keiner Weise verblendet, er hatte nur nicht sich allein, nicht sich ausschließlich für den Schuldigen betrachtet, sondern vielmehr erwartet, daß auch Hildegard es allmählich einsehen werde, in wie weit sie selber zu ihren schmerzlichen Erlebnissen die Veranlassung geboten habe, und eben deßhalb hatte er sich der Hoffnung hingegeben, früher oder später zu einer Ausgleichung mit ihr gelangen zu können, über welcher, wie auf einem neuen Unterbau, sich ein schönes und friedliches Familienleben errichten lassen würde. Hildegard's Güte, ihr liebevolles Gemüth, ihre Hingebung für Andere, ihre Entsagungs- und Opferfähigkeit waren seit ihrer Kindheit in der Familie und von Fremden immerdar bewundert worden; sie hatte ihren Verlobten auch beständig und mit einer Vertrauen fordernden Kraft auf diese ihre Tugenden und Eigenschaften hingewiesen, und er hatte also darauf gerechnet, daß sich dieselben auch in diesem besonderen, in seinem besonderen Falle bewähren würden. Nun fand er sich plötzlich in dieser Voraussetzung auf das Unerbittlichste getäuscht.

Eine Viertelstunde des Beisammenseins mit Hildegard hatte es ihm unwiderleglich dargethan, daß er in ihr eine Feindin besitze, daß sie für ihre Feindschaft in dem Grafen Gerhard einen Bundesgenossen gewonnen habe, und daß die Gräfin Rhoden, trotz ihrer Mutterliebe für Cäcilie, sich, wie gesagt, verpflichtet halte, vor allen Dingen auf die Wohlfahrt der noch unverheiratheten, der unversorgten Tochter oder, wie sie es in der Sprache der Gesellschaft bezeichnete, auf das Empfinden und die Beruhigung ihrer armen Hildegard Rücksicht zu nehmen, die [227] sich nur in Thaten der Entsagung und in Werken der Liebe genug thun konnte.

Er hätte nicht gleich, nicht mit Sicherheit anzugeben vermocht, was er davon befürchtete, wenn die Gräfin Rhoden und Hildegard sich mit Eleonore in Verbindung setzten, er hatte nur die Ueberzeugung, daß er es zu hindern suchen und daß er vor allem Andern darauf denken müsse, sich in seinen Angelegenheiten vor jeder Beeinflussung durch die Familie zu bewahren. Obschon er bei seinem Wiedersehen mit Seba dieser von seiner Frau gesprochen, hatte er damals nicht die bestimmte Absicht gehabt, ein Umgangsverhältniß zwischen seinem und dem Tremann'schen Hause einzugehen; jetzt aber fühlte er sich dazu geneigt, denn er übersah mit jener Klarheit, die uns bei entscheidenden Anlässen oft in ungewöhnlich hohem Grade und plötzlich zu Gebote steht, wie er dadurch eine Scheidewand zwischen sich und seinem Oheim aufrichtete, die nicht leicht zu übersteigen war, und daß er eben dadurch auch Hildegard von sich entfernen werde. Er wollte vor allen Dingen Ruhe und Frieden in seinem Hause haben. Seine Frau sollte nicht, wie einst seine Mutter, von heimlicher Böswilligkeit beunruhigt werden, und weitergehend, als es in diesem Augenblicke nöthig gewesen wäre, lehnte er den Beistand seiner Schwiegermutter wie den seiner Schwägerin entschieden ab. Er sagte, daß Eleonore noch auf lange Zeit hinaus vor jedem sie aufregenden Eindrucke bewahrt bleiben müsse und daß es eine Undankbarkeit gegen Seba's Alles vergessende und vergebende Güte sein würde, wollte man sie wie einen Nothbehelf behandeln, den man beseitige, sobald man seiner nicht ganz unumgänglich bedürfe, eine Undankbarkeit, deren er sich gegen sie zum zweiten Male nicht schuldig machen wolle.

Die Gräfin hörte ihm mit ihrer gewohnten Ruhe zu; wer sie aber näher kannte, den vermochte diese Gelassenheit nicht über ihren Unmuth zu täuschen. Es war ein gutgemeinter Vorschlag, [228] sagte sie, und Du hast sehr Recht, mein Sohn, ihn abzulehnen, wenn er Deinen Absichten nicht entspricht. Ob Du aber meine Tochter grade jetzt, grade in Deinen gegenwärtigen und besonderen Verhältnissen, zu Seba Flies und in das Haus von Tremann führen sollst, das, meine ich, würde doch erst reiflich zu erwägen sein. Ich bekenne Dir, ich bin nicht dafür.

Und darf ich fragen, was Sie dawider haben? erkundigte sich Renatus, dem ein Etwas in dem Tone seiner Schwiegermutter sehr empfindlich auffiel.

Du hattest sonst, und ich habe dies nur zu begreiflich gefunden, eine Abneigung dagegen, mit diesem Herrn Tremann in Berührung zu kommen! entgegnete sie ihm, ihre Worte nachdrücklich bezeichnend.

Renatus fühlte, daß er erröthete, und das bestimmte ihn, sich gegen die verweisenden Ermahnungen seiner Schwiegermutter aufzulehnen. Es mußte heute, gleich heute, ein für alle Mal entschieden werden, wer der Herr in seinem Hause sein solle, und entschlossen, nöthigenfalls seine ganze Vergangenheit an die Sicherung seiner Zukunft zu setzen, sagte er: Es ist nicht gut, liebe Mutter, daß Sie mich an alle die Fehler und Irrthümer erinnern, die ich mir habe zu Schulden kommen lassen! Schieben Sie dieselben auf Rechnung meiner sehr einseitigen Erziehung, aber glauben Sie mir, daß ich gesonnen bin, sie abzulegen und, so viel an mir ist, zu vergüten!

Es ist also Dein Vorsatz, Dich – sie hielt inne, als sträube sich ihre Empfindung dagegen, das Wort auszusprechen – dem Sohne Deines Vaters, den Dein Vater nicht anzuerkennen doch sicherlich seine guten Gründe hatte, jetzt brüderlich zu nähern und meiner Tochter in diesem Abkömmlinge einer Dienstmagd den Schwager zuzuführen? – Darauf war ich wirklich nicht gefaßt!

Renatus, der die leicht bewegliche Empfindlichkeit seiner [229] Mutter geerbt hatte, wurde jetzt eben so bleich, als er vorhin mit Röthe übergossen worden war. Es ist nicht meine Absicht, sagte er, vor der Welt ein brüderliches Verhältniß mit Paul Tremann aufnehmen zu wollen, das eben vor ihr einmal nicht zu Recht besteht! Aber es ist mein Vorsatz, mein fester Vorsatz, einen Mann, von dem ich nur Gutes und Ehrenvolles weiß, einen Mann, dem ich das Höchste schulde, was ein Mensch dem andern schulden kann, und der sich mir, ganz abgesehen davon, soweit ich seiner anderweit bedurfte, dienstgefällig und mit ehrlichem Rathe bewährt hat, künftig nicht mehr, bloß um deßhalb von mir zu weisen, weil er der uneheliche Sohn meines Vaters ist.

Die Gräfin schüttelte mißbilligend das Haupt. Wähle Deine Ausdrücke etwas vorsichtiger, lieber Renatus, sagte sie; meine Töchter sind an solche Unumwundenheiten Gottlob nicht gewöhnt!

So wird Cäcilie sich daran gewöhnen müssen, sie ist eines Soldaten Frau! entgegnete der Freiherr, der, gleichmäßig von seinem Zorne wie von dem Bewußtsein fortgetrieben, daß er viel weiter gegangen war, als er je beabsichtigt hatte, den Anschein einer völligen Geistesfreiheit aufrecht zu erhalten wünschte.

Cäcilie ist nur nicht mit Dir allein in diesem Zim mer! bedeutete ihn die Gräfin, indem sie sich erhob.

Hildegard war schon vorher aufgestanden und an das Fenster getreten, als die Unterredung sich auf Paul gewendet hatte. Sie machte sich an Cäciliens Nähtisch mit der Betrachtung ihrer Stickerei zu thun. Die junge Frau blickte verlegen und bittend bald die Mutter, bald den Gatten an. Sie war beständig dem Weinen nahe, und ihr unverkennbarer Kummer machte Renatus gegen die Gräfin und gegen Hildegard noch unversöhnlicher.

Die Gräfin sah nach der Uhr, Hildegard sagte, sie habe die Mutter bereits daran erinnern wollen, daß es Zeit zum [230] Gehen sei, weil man mit dem Mittag auf sie warten werde. Cäcilie fragte, ob sie nicht zu Hause äßen, die Mutter verneinte es, sagte jedoch nicht, wohin sie geladen sei, und Cäcilie zog es vor, sich danach nicht zu erkundigen.

Das unbehagliche Gespräch war plötzlich und mit einem entschiedenen Mißtone abgebrochen worden, man redete nur noch von den allergleichgültigsten Dingen, während der Diener den Damen die Mäntel in das Zimmer brachte. Als er sich entfernt hatte, fragte Cäcilie, ob ihre Mutter die Baronin Vittoria nicht begrüßen, ob man nicht noch einen Augenblick zu ihr gehen wolle; aber Hildegard bestand darauf, daß es zu spät sei, daß man sich beeilen müsse.

So gelangte man in das Vorzimmer. Mit einem Male blieb die Gräfin stehen. Du wirst also, sagte sie, sich zu Renatus wendend, voraussichtlich in nicht zu ferner Zeit Cäcilie zu Seba und zu Tremann bringen, der sich ja wohl auch verheirathet hat, und es ist ihre Pflicht, sich Dir, auch wo es ihr schwer fallen wird, durchaus zu fügen! Wolltest Du mich aber, damit ich diesen in der That für Dich sehr auffallenden Schritt doch zu erklären und vor der Gesellschaft zu begründen im Stande bin, vielleicht wissen lassen, welches der große Dienst oder welches die große Aufopferung ist, für die Du Tremann Dich verpflichtet fühlst, so würdest Du mich verbinden, und Cäcilien würde Deine Forderung dann vielleicht auch weniger überraschend dünken!

O! rief Renatus, für den es in diesem Augenblicke der Ueberreizung keine Zurückhaltung mehr gab – o, Cäcilie wird, wenn es sie anders glücklich macht, mein Weib zu sein, gewiß mit Freuden zu dem Manne gehen, dem ich meine Erhaltung, dem ich mein Leben zu verdanken habe!

Dein Leben? fragten die drei Frauen wie aus einem Munde.

Ja, mein Leben! wiederholte der Freiherr, dem es plötzlich [231] wohler und frei um's Herz ward, als er den ersten Schritt zu der Genugthuung gethan hatte, welche er aus Hochmuth seinem Retter bisher schuldig geblieben war. Ohne Tremann's männliche Entschlossenheit, ohne seinen Muth läge ich begraben unter den Tausenden, die bei Möckern ihren Tod gefunden haben! Und er sah meinem, unserem Vater in dem Augenblicke, in welchem er mir zu Hülfe eilte, so vollkommen gleich, er rief mich so völlig mit meines Vaters Stimme an, daß ich lange wähnte, eine Vision gehabt zu haben, daß ich erst, als ich ihn später, als ich ihn in Ruhe wiedersah, zu der Erkenntniß kam, daß es ein sterblicher Mensch wie ich, daß es Tremann und nicht mein Schutzgeist in der ehrwürdigen Gestalt meines damals eben erst dahingegangenen Vaters gewesen war, der den Todesstreich von meinem Haupte abgewendet hatte! –

Es war gesagt. Nun war es ausgesprochen, und doch hatte Renatus auch jetzt noch nicht die Kraft besessen, sich in voller Wahrheit von dem früheren Märchen loszureißen; er hatte sich einer Unwürdigkeit nicht zeihen mögen.

Es entstand eine Pause. Cäcilie hing sich an ihres Gatten Arm, die Gräfin war unentschlossen, was sie sagen sollte, Hildegard's Mienen verriethen ihren Zweifel an dem Sachverhalte. Die Mittheilung war Allen so spät, so unerwartet gekommen, daß man nicht wußte, wie man sich ihr gegenüber eigentlich zu verhalten habe, und die kühle Weise, mit welcher sie von der Mutter und von Hildegard aufgenommen wurde, lähmte den Aufschwung, zu dem die Seele des Freiherrn sich eben erst erhoben hatte.

Das verändert die Sache freilich! meinte die Gräfin endlich, das sind Gründe, die man gelten lassen muß und die man anzugeben vermag! Hüte Dich aber, daß Deine schöne Dankbarkeit Dich nicht zu weit führt, lieber Sohn! Sei vorsichtig auch in diesem Punkte! Wir sprechen bald einmal davon, recht bald!

[232] Sie umarmte die Tochter, umarmte auch den Sohn, und man trennte sich mit dem herkömmlichen »Auf Wiedersehen!« –

Die Frauen hatten aber die Schwelle des Hauses noch nicht überschritten, als Hildegard ihren Arm in den der Mutter legte und, sich an sie schmiegend, leise sagte: Mama, sei ruhig, ganz ruhig über Deine Hildegard, Du wirst sie nicht mehr klagen hören, nicht mehr weinen sehen, Gott hat es wohl mit mir gemeint! Das war nicht der Mann, mit dem ich glücklich werden, das war nicht das Haus, in dem ich Frieden finden konnte! Renatus hat doch im Grunde seines Vaters, hat doch den Artenschen Sinn, der sich zu allem demjenigen hingezogen fühlt, was unseren Begriffen von Sitte und von wahrer Würde widerspricht! Ich wäre an seiner Seite zu Grunde gegangen wie die Cousine Angelika an seines Vaters Seite, das sehe ich immer klarer ein! Laß uns hoffen, Mama, daß Cäcilie weniger fein empfindet, und vor allen Dingen, liebe Mutter, laß uns ihr zur Seite stehen und über ihr wachen. Sie wird das, wie ich fürchte, nöthig haben.

[233]
4. Capitel
Viertes Capitel

Die mehr oder weniger großen Kreise von Menschen, welche sich als eine durch gewisse Ueberzeugungen, Sitten oder Lebensgewohnheiten zusammengehörende Gesellschaft betrachten, sind in der Regel sehr geneigt, sich von einem ihrer Mitglieder einen bestimmten Anstoß geben und von diesem in irgend eine beliebige Bahn hineinschieben zu lassen, in der sie dann, je nach den Fähigkeiten der Einzelnen, vorwärtsschreiten und die Bewegung, zu der sie getrieben worden sind, wie eine von ihnen selbst ausgegangene eifrig fortzusetzen pflegen. Denn wie die Gemeinschaft, die Masse in gewissem Sinne Gedanken erzeugt und schöpferisch belebend auf den Einzelnen zurückwirft, so empfängt sie noch häufiger ihre Gedanken und Meinungen von einer einzelnen Person, und es sind leider nicht immer die Edelsten und Besten, nicht immer die Unparteiischen, nicht immer die Selbstlosen, welche den Ton angeben und bestimmen. Irgend ein Zufall, irgend eine Schicksalsgunst, irgend ein das billige Mitleid anregender Unglücksfall, vermögen einem bisher mißachteten Charakter nicht nur Verzeihung, sondern eine Anerkennung, eine Geltung und einen Einfluß auf seine Umgebung zu verschaffen, die erlangen zu können er sich vielleicht nie träumen ließ und die geschickt zu nutzen er nichtsdestoweniger sehr wohl versteht, oder doch sehr bald erlernt.

Hildegard Rhoden und ihr Freund Graf Berka waren kaum von ihren beiderseitigen Reisen wieder in die Residenz zurückgekehrt, [234] als sie es bemerken konnten, daß sie von ihren Umgangsgenossen mit einer ungewöhnlichen Zuvorkommenheit empfangen und aufgenommen wurden und daß man ihnen eine Stellung, eine Theilnahme und eine Bedeutung einräumte, welche beide in einem solchen Grade nie zuvor besessen hatten. Bei jedem Antrittsbesuche, welchen Hildegard ihren Freundinnen und Bekannten machte, erwähnte man des Wohlwollens, mit welchem die Prinzessin sich nach ihr erkundigt, und der großen Billigung, mit der sie Hildegard's edles Verhalten aufgenommen habe. Man freute sich, Hildegard so gefaßt, so erholt zu sehen, man behandelte sie mit jener Achtsamkeit und Schonung, welche man einer Genesenden entgegenbringt. Man schwieg von Renatus, wie das in diesem Falle auch natürlich war, und wenn man gelegentlich einmal seiner jungen Frau gedachte, so geschah es nur, um die arme Cäcilie zu bedauern, weil das große Opfer, welches ihre Schwester ihr gebracht, weil Hildegard's edle Entsagung für die arme Cäcilie doch im Grunde eine völlig fruchtlose, ja, vielleicht ein Unglück gewesen sei.

Die edle Hildegard und die arme Cäcilie, das waren für diesen Augenblick gleichsam die Stichworte und Erkennungszeichen des gesellschaftlichen Kreises geworden, der sich um die Prinzessin bewegte, und wenn Cäcilie auch nicht die entfernteste Ahnung davon hatte, daß man sich dort darin gefalle, sie als eine unglückliche Gattin, als einen Gegenstand des Mitleids zu betrachten, so fand doch ihre ältere Schwester sich um so schneller darein, die Rolle, welche sie bis dahin nur in der Familie gespielt hatte, fortan auch in der Gesellschaft durchzuführen, da der Zufall ihr dies, wenn auch auf Kosten ihrer Schwester, möglich machte.

Renatus hatte nach der Art, in welcher der erste Besuch seiner Schwägerin in seinem Hause verlaufen war, darauf gerechnet, daß ein solcher sich nicht so bald wiederholen, ja, daß er vielleicht gar nicht wieder erfolgen würde. Er hatte sich aber [235] in dieser Voraussetzung getäuscht. Die Mutter und die Tochter kamen beide schon an einem der nächsten Tage wieder, um die Baronin Vittoria aufzusuchen. Sie wünschten, wie Hildegard es ausdrücklich bezeichnete, es den lieben Geschwistern darzuthun, daß sie die neulichen kleinen Mißverständnisse so leicht genommen hätten, wie man dies unter nahen Anverwandten thun müsse, und obschon der Freiherr wußte, was er von diesen Versicherungen zu halten habe, bewog ihn seine Rücksicht auf dasjenige, was er als den Familienanstand und die gute Sitte bezeichnete, sein inneres Abmahnen zu besiegen und den Schein eines freundlichen Verhältnisses zwischen seinem und dem Hause seiner Schwiegermutter aufrecht zu erhalten. Das war aber alles, was Hildegard für sich und ihre Absichten bedurfte.

Jeder, der es sehen wollte, konnte sich jetzt also davon überzeugen, daß die Untreue des Freiherrn und Cäciliens, wie man es doch mindestens bezeichnen mußte, sehr unschwesterliches und keineswegs edles Betragen auf Hildegard's großherzige Gesinnung keinen Einfluß geübt hatten. Sie behandelte das junge Paar mit der größten Freundlichkeit, sie war es, die seine Vertheidigung übernahm, wo man Miene machte, es anzugreifen; sie bestimmte den Grafen Gerhard, den Neuvermählten auf alle Fälle mit einem Besuche zuvorzukommen, und wo immer in Cäciliens Abwesenheit von ihr die Rede war, machte die ältere Schwester sich zu ihrer Lobrednerin und Beschützerin.

Sie gab es den Leuten zu bedenken, daß die arme Cäcilie kein leichtes Leben habe. Es sei für eine junge Frau nichts Kleines, gleich in den ersten Tagen ihrer Ehe eine Erfahrung zu machen, wie Eleonorens Ankunft sie der armen Cäcilie auferlegt; es sei auch keine geringe Aufgabe, mit einer Schwiegermutter wie die Baronin Vittoria sich in das rechte Verhältniß zu setzen und die Anwesenheit ihres Sohnes ruhig hinzunehmen.

Fragte man sie, was diese letzte Andeutung besagen wolle, [236] so brach Hildegard stets plötzlich ab, schien erschrocken über die Aeußerung zu sein, die ihr entfahren war, und ging mit unverkennbarer Geflissenheit zu der Schilderung von Vittoria's phantastischen Lebensgewohnheiten über, bei deren Ausmalung sie gegen ihre sonstige schwermüthige und elegische Weise eine gute Laune und einen Humor zu entwickeln verstand, welche die Hörer unterhielten und sie zum Wiedererzählen des Vernommenen verleiten mußten.

Vittoria hatte noch keine Besuche in der Stadt gemacht, als über sie bereits die widersprechendsten Gerüchte im Umlauf waren. Man unterhielt sich lachend davon, daß sie sich trotz der vierzehn Jahre, seit denen sie im Norden lebe, noch nicht an das Klima habe gewöhnen können, daß sie beim Beginne des Winters, am Tage schlafend und in den Nächten wachend, sich förmlich in ihren Zimmern vergrabe, um von der schlechten Jahreszeit so wenig als möglich gewahr zu werden; daß sie sich nur von Früchten und von Süßigkeiten nähre, daß sie unter dem Vorgeben, um ihren verstorbenen Gatten immer noch zu trauern, beständig schwarz, und zwar in einem nonnenartigen Gewande einher gehe, während diese Schwarze Tracht ihr doch als eine Buße für ihre Flucht aus dem Kloster auferlegt worden sei; und neben diesen aus mißdeuteter Wahrheit und aus absichtlicher Erfindung zusammengesetzten Erzählungen tauchten hier und da bedenklichere Gerüchte auf, welche sich in anderer Weise mit der Baronin Vittoria zu thun machten. Sie bezogen sich auf ihre eheliche Treue, auf ihr früheres und auf ihr gegenwärtiges Verhältniß zu ihrem Stiefsohne, auf ihre Feindschaft gegen Hildegard, auf ihre außerordentliche Freundschaft für ihre Schwiegertochter und endlich auch auf ihren Sohn, der sich jetzt bereits in der großen militärischen Erziehungs-Anstalt befand.

Woher die Gerüchte stammten, welche den Ruf und die [237] Ehre Vittoria's so empfindlich antasteten und dem Hause des jungen Freiherrn selbst in jedem Betrachte zu nahe traten, das wußte Niemand zu sagen; aber man nahm sie nichts desto weniger als alte, ganz bekannte Thatsachen auf. Hildegard und die Gräfin Rhoden hatten, wie man versicherte, wohl gelegentlich über Vittoria's Eigenheiten einmal gescherzt, indeß von ihnen war ein Wort des ernsten Tadels gegen Cäcilien's Schwiegermutter, so weit man sich erinnerte, nicht ausgegangen. Daß Graf Gerhard, der so streng auf Ehre hielt und in allen Dingen so vorsichtig zu Werke ging, nichts wider die Stiefmutter seines Neffen geäußert haben könne, davon waren alle, die ihn kannten, überzeugt, und doch empfanden Renatus und Cäcilie immer auf's Neue, daß man sie mehr und mehr mit einer peinigenden Neugier beobachtete, daß man sich in einer sonderbaren Weise nach der Baronin Vittoria erkundigte und daß überall und immer die Frage aufgeworfen wurde, ob der Freiherr denn für sich und die Seinigen eine Vorstellung am Hofe nachzusuchen denke.

Die Lage wurde beiden Gatten unbequem. Man that im Grunde durchaus nichts Entschiedenes wider sie, aber sie trafen nirgends auf einen festen Boden, und überall war es, als wachse ein Unkraut unter ihren Schritten auf, das sich ihnen hemmend und hindernd um die Füße legte. Wollten sie es nicht weiter wuchern, sich nicht davon völlig umgarnen lassen, so mußten sie es mit festem Auftreten niederzuhalten suchen. Es war ohnehin Zeit, sich in die große Gesellschaft einzuführen, wenn man überhaupt sich ihr anzuschließen beabsichtigte, und Renatus wünschte, wie schon erwähnt, sowohl für Cäcilie als für Vittoria einen sie zerstreuenden und unterhaltenden Umgang. Als man jedoch daran gehen wollte, die ersten gemeinsamen Besuche abzustatten, fand es sich, daß Vittoria durchaus nicht für das Leben in der Gesellschaft oder gar am Hofe mit ihrer Toilette eingerichtet war.

Dem Uebelstande mußte abgeholfen werden, denn Renatus [238] hielt sich den alten Grundsatz vor, daß, wer den Zweck wolle, auch die Mittel wollen müsse. Man ging also guten Muthes daran, eine neue und vollständige Ausstattung für Vittoria zu beschaffen, und diese selbst bezeigte wider alles Erwarten des Freiherrn eine große Freude daran. Weil sie niemals eine Stadt bewohnt, niemals das für die meisten Frauen so verführerische Vergnügen genossen hatte, reich versehene Magazine zu besuchen und sich in ihnen in freier Wahl nach ihrem Bedürfniß zu versorgen, reizte und erfreute sie alles, was ihr vor die Augen kam. Allerdings blieb sie ihrem Vorsatze, die Trauerfarbe in ihrer Kleidung niemals abzulegen, treu, aber auch für eine solche Tracht war es möglich, einen großen Geldaufwand zu machen, und Vittoria besaß, wenn er bisher in ihr auch niedergehalten worden war, den Sinn ihres Volkes für das Reiche und das Prächtige, das obenein ihrer besonderen Art von Schönheit sehr entsprechend war.

Sie hatte das Verlangen, in der großen Welt zu leben, zwar seit dem Tode ihres Gatten lebhaft gehegt, aber sie war es doch nicht gewesen, welche die Veranlassung zu der Ausführung dieses ihres Wunsches gegeben hatte, und eben deßhalb sah Renatus es als seine Pflicht an, ihr bei ihren jetzigen Ausgaben keine kleinliche Beschränkung aufzuerlegen. Er würde sich geschämt haben, die Witwe seines Vaters, die Baronin Vittoria, die neben dem Namen seines Hauses den stolzen Namen der Giustiniani trug, nicht ihrem Stande gemäß und nicht nach ihrer Neigung auftreten zu lassen, und er hatte daneben, da der Schönheitssinn seines Vaters auch auf ihn übergegangen war, eine wirkliche Freude daran, Vittoria in einer Weise gekleidet und geschmückt zu sehen, welche die immer noch auffallende Schönheit derselben zur rechten Geltung kommen ließ.

Jetzt erst, da Vittoria in die Gesellschaft gehen sollte, fing auch sie nach dem Schmuck zu fragen an, welchen ihr verstorbener [239] Gatte ihr einst als ihr Eigenthum und als das Erbe des Hauses übergeben hatte, und Renatus konnte sich nicht überwinden, ihr oder gar seiner Frau das Geständniß zu machen, wie von dem vielbesprochenen Arten'schen Familienschmucke jetzt nicht mehr ein Stein vorhanden sei. Er meinte der Ehre seines Vaters damit zu nahe zu treten, und, wie er mit sich in seinem Innern deßhalb auch prüfend und überlegend zu Rathe ging, es war nicht persönliche Eitelkeit, auch nicht einmal der Wunsch, seine Frau und seine Stiefmutter in reichem Schmucke erscheinen zu lassen, sondern ganz eigentlich die Rücksicht auf das Andenken seines Vaters, es waren seine Kindesliebe und ein Gefühl für das, was er sich und seinem Hause schuldig sei, die ihn bewogen, sowohl für Vittoria als für Cäcilie heimlich Ankäufe von Schmuck zu machen. Sie kamen natürlich den einstigen Familien-Diamanten, wie die Baronin Angelika sie aus ihres Gatten Hand empfangen hatte, in keiner Weise gleich; indeß Cäcilie hatte die alten Brillanten niemals, Vittoria sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen, und Renatus hatte also keine große Mühe, es den beiden Frauen glaublich zu machen, daß der verstorbene Freiherr während der Kriegsjahre einige der Werthstücke verkauft und daß er selbst jetzt den übrig gebliebenen Brillanten, Behufs der Theilung zwischen seiner Frau und seiner Mutter, eine neue Fassung habe geben lassen. Es gewährte ihm dabei eine Freude, zu sehen, wie wenig Vittoria zur Habsucht geneigt war, wie bereitwillig sie die Hälfte des, wie sie glauben mußte, ihr allein zu Recht gehörenden Schmuckes an die Schwiegertochter abtrat; und da nebenher auch Cäcilie ein außerordentliches Vergnügen über den Besitz dieser Diamanten kund gab, so schlug sich Renatus endlich die Sorge wegen dieser neuen und für seine gegenwärtigen Verhältnisse viel zu großen Ausgaben aus dem Sinne. Er tröstete sich damit, daß die Vorsehung, welche ihm so mannigfache, unerwartete Hindernisse [240] bereitet und Prüfungen jeder Art auferlegt habe, ihm doch endlich auch auf irgend eine unvorherzusehende Weise zu Hülfe kommen, daß sie es ihm möglich machen müsse, die guten und festen Vorsätze, die er schon in früher Jugend für seine einstige Ehe gehegt hatte, zur Ausführung zu bringen, damit er sich jenes schöne und würdige Familienleben aufrichten könne, welches ihm von jeher als das Ziel vorgeschwebt hatte, nach welchem vor Allem der wahre Edelmann zu streben habe. Daß ihm für diesen idealen Bau die beiden Hauptbedingungen: der feste Boden gesicherter Vermögensverhältnisse oder die Fähigkeit der zu jeder Entbehrung bereiten Selbstbeschränkung, fehlten, daran allerdings dachte der Freiherr nicht.

Mit seinem Namen, mit seinen Verbindungen und bei seiner militärischen Stellung fand er für seine Vorstellung bei Hofe keine Schwierigkeit; dennoch war der Empfang, welcher ihm und seiner Familie in den verschiedenen Hofstaaten zu Theil ward, je nach den, in den einzelnen Schlössern herrschenden Gesinnungen und Lebensgewohnheiten, sehr verschieden. Daß er von Seiten der Prinzessin, welche sich zu Hildegard's Beschützerin gemacht und deren Gunst Graf Gerhard sich erworben, auf keine günstige Stimmung für sich rechnen konnte, hatte sich Renatus im voraus gesagt. Aber die Gnade, welcher die Gräfin Rhoden sich von Seiten der Prinzessin von jeher erfreut hatte, machte es trotzdem für Cäcilie und für ihren Gatten zu einer Pflicht der Dankbarkeit, die Vorstellung bei der Prinzessin nachzusuchen, und Renatus, der in dem Regimente diente, dessen Chef eben der Gemahl der Prinzessin nach dem Kriege geworden war, fand sich damit ab, daß er wenigstens doch die Zufriedenheit und Geneigtheit dieses Letzteren besitze und es in seiner Gewalt habe, sie durch die strengste Pünktlichkeit im Dienste in immer höherem Grade zu verdienen.

Diese Pünktlichkeit im Dienste war es auch, welche den [241] König auf den jungen Major von Arten aufmerksam hatte werden lassen. In der ganzen Garde gab es bei den Cavallerie-Regimentern kaum eine andere Schwadron, deren Exercitien so vollendet, in welcher der Mann und sein Pferd so Eins, in der die Leute eine so in einander gefestete Masse und jeder Knopf und jede Schnalle so der strengsten Dienstvorschrift entsprechend gewesen wären, als in der des Majors von Arten. Aber wenn die Armee und ihre äußere Stattlichkeit auch der Stolz des Königs und die Freude an der regelrechten, seelenlosen Front jetzt nach den Kriegen noch mehr als vor denselben seine eigentliche Liebhaberei geworden war, so bestimmte doch der strenge, bis zur Uebertreibung gehende Ordnungssinn des Königs, aus welchem der ganze militärische Gamaschendienst entsprang, seine Anschauungen und Ansichten auch nach andern Seiten. Er erkannte überall nur mit Widerstreben die Nothwendigkeit oder die Berechtigung zu einer Ausnahme von der festen Regel an. Feste Gesetze für eine möglichst einförmige Menschenmasse, das war es, was ihm als Ideal vorschweben mochte. Er verabscheute jene Selbständigkeit des Einzelnen, welche sich ihre Lebensverhältnisse nach eigenem Bedürfen zu gestalten unternimmt; und wie er selber einst in seiner Ehe dem Volke nach den zügellosen Zeiten seines Vaters ein treffliches Vorbild der guten Sitte geliefert hatte, so verlangte er, daß auch von seiner Umgebung kein böses Beispiel gegeben, daß der Anstand und die Zucht in den Familien mit Gewissenhaftigkeit aufrecht und heilig erhalten und überall dasjenige vermieden werden sollte, was von sich sprechen machen, was Aufsehen oder gar ein Aergerniß erregen konnte.

Es waren also nicht eben besondere Anstrengungen dazu nöthig, den Major von Arten in der guten Meinung des Königs zu beeinträchtigen. Man bedurfte dazu keiner Künste, keiner Verleumdung, keiner Unwahrheit, die Sache machte sich ganz [242] von selbst. Die Prinzessin, welche nach dem frühen Tode seiner Gemahlin dem Könige nur noch näher getreten war, erwähnte nur einmal zufällig und bedauernd der armen, guten Gräfin Rhoden, die nun nach so langer Entfernung von der Hauptstadt unter so traurigen Verhältnissen wieder in dieselbe zurückgekehrt sei.

Der König, dessen nach Fürstenweise wohlgeschultem Gedächtniß nicht leicht eine Thatsache verloren ging, von der er einmal hatte sprechen hören, und der ebenfalls nach Fürstenweise von den Stadt- und Familienneuigkeiten unter der Hand gut unterrichtet zu sein liebte, meinte sich zu erinnern, daß die Tochter der Gräfin mit dem jetzigen Major von Arten frühzeitig versprochen worden war; und wie dann eine Frage nun die andere gab, erfuhr der König alles, was man über die Familiengeschichte der Freiherren von Arten wußte, vermuthete und fabelte. Das war aber durchweg danach angethan, dem Könige zu mißfallen.

Nicht hübsch, gar nicht hübsch von dem Major, sagte er, ein Mädchen Jahre lang warten und dann sitzen zu lassen! Auch von der Schwester nicht hübsch, gar nicht hübsch!

Er belobte die Prinzessin dafür, daß sie sich Hildegard's angenommen habe. Müssen sehen, dem Mädchen eine Versorgung, einen andern Mann zu schaffen! – Schade um den Major! sonst ein tüchtiger Offizier! fügte er in seiner abgerissenen Redeweise noch hinzu und erkundigte sich dann, was denn aus der Italienerin, aus der ehemaligen Nonne geworden sei, welche der Vater des Majors seiner Zeit aus dem Kloster entführt und aus Italien mitgebracht habe.

Man berichtete dem Könige, daß die Baronin im Hause ihres Stiefsohnes lebe, daß dieser den Sohn aus seines Vaters zweiter Ehe dem Kadettenhause übergeben habe, und wie von selbst schlossen sich die Erzählungen über die dem Major von [243] Arten sicherlich sehr unerwartete und unbequeme Ankunft und über das Erkranken der zum Katholizismus bekehrten Gräfin Haughton an jene Mittheilungen an. Der König, der in seiner protestantischen Strenggläubigkeit den Religionswechsel an sich, besonders aber den Uebertritt von Protestanten zum Katholizismus ungern sah, schüttelte mißbilligend das Haupt.

Könnte auch was Klügeres thun, als die Arten'sche Genie-Wirthschaft fortzusetzen! Schickt sich nicht, schickt sich nicht für einen Offizier! wiederholte er noch einmal, indem er sich erhob, und das Urtheil über die Arten'sche Familie war mit diesen Worten für den ganzen Hof nur noch entschiedener als durch die Prinzessin ausgesprochen. Nur Einer ließ sich nicht davon bestimmen, nur auf den ältesten Sohn des Königs, auf den jungen, geistreichen und phantastischen Kronprinzen übte diese ganze Unterhaltung eine gerade entgegengesetzte Wirkung aus.

Er liebte die Künste und die Wissenschaften, er war ein Verehrer der alten italienischen Musik, seine Vorliebe für Italien und für die Gebräuche der katholischen Kirche war schon damals eine entschiedene, und es hatte daher eben nur der Erwähnung bedurft, daß die Baronin Vittoria von Arten eine entflohene Nonne und eine Meisterin im Vortrage der alten italienischen Kirchenmusik sei, um dem Kronprinzen das Verlangen nach ihrer Bekanntschaft einzuflößen. Eine ehemalige Nonne die alten, tiefsinnigen Melodieen des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts inmitten der aufgeklärten und zum Theil so nüchternen Gesellschaft singen zu hören, bot für die Phantasie des lebhaften, jungen Prinzen einen reizenden Gegensatz dar, und die Erscheinung der verwittweten Baronin war wie dazu geschaffen, die Gerüchte über ihre Vergangenheit zu bestätigen.

Vittoria selber fühlte sich überrascht, als sie sich zum ersten Male in ihrem Leben in der reichen Tracht erblickte, welche die Etiquette bei den großen Hoffesten den Eingeladenen vorschreibt. [244] Das schwere Schleppkleid ließ ihre Gestalt größer erscheinen, als sie war, ihre Büste, ihr Nacken zeigten noch die vollendete Schönheit der italienischen Formen, und was die Zeit ihrem mächtigen Antlitze an Frische geraubt hatte, das ersetzte der Ausdruck ihrer Augen, das vermißte man nicht, wenn die Lebhaftigkeit des Gespräches ihre Wangen mit jener feinen Röthe färbte, welche eben auch nur den Südländern eigen ist.

Der Kronprinz, der über das Alter Vittoria's nicht unterrichtet gewesen war, hatte in ihr, wenn auch nicht eine alte, so doch eine wesentlich ältere Frau zu finden erwartet, und er war daher erstaunt, in ihr noch eine wirkliche Schönheit zu erblicken. Ihre stolze, edle Haltung gefiel ihm wohl, der weiche, tiefe Ton und die vollendete Reinheit, mit welchem sie ihre Muttersprache redete, erfreute sein gebildetes und für jeden Wohlklang sehr empfängliches Ohr, und als er dann am dritten Orte Vittoria einmal mit Cäcilie gemeinschaftlich singen zu hören die Gelegenheit gehabt, hatte er seine Freude über diesen seltenen Genuß so offen und warmherzig ausgesprochen, daß man überall, wo man auf die Anwesenheit des Kronprinzen sich Rechnung machen durfte, die Arten'sche Familie einlud, sicher, den Prinzen durch den Gesang der beiden Frauen angenehm zu unterhalten.

Plötzlich und wider sein Erwarten fand Renatus sich also auf diese Weise in eine Parteistellung gebracht, die er nicht gesucht hatte und die er nicht gewählt haben würde, hätte er es in seiner Hand gehabt, sie nach seinen Wünschen zu bestimmen. Er hatte seine Plane auf ein Vorwärtskommen im Militairdienste und auf die Anerkennung und Gunst des Königs gebaut; aber diese letztere ward ihm nicht zu Theil. Es hatte bei der einmaligen Einladung, mit welcher der König ihn beehrte, sein Bewenden; auch an dem Hofe der Prinzessin wurden Renatus und die Seinen nicht in der Weise, wie sie es wünschen mußten, aufgenommen; dafür aber empfingen alle diejenigen sie mit [245] offenen Armen, welche zu dem näheren Umgangskreise des Kronprinzen gehörten.

Renatus, der sich den vorsichtigen Intriguen seiner Schwägerin und seines Oheims gegenüber in die Nothwendigkeit versetzt sah, sich nach einem Stützpunkte und Anhalte umzuthun, und der, wie alle leicht bestimmbaren Menschen, sehr dazu geeignet war, dasjenige als seine freie Entschließung zu betrachten, was ihm von der Gewalt der Umstände abgezwungen oder aufgenöthigt ward, kam dadurch bald dahin, sich zu überreden, wie es für ihn, wie es für jeden jungen und vorwärts strebenden Mann gerathener sei, sich mit seinen Hoffnungen einem gleichalterigen Fürsten anzuschließen, als deren Erfüllung allein von der augenblicklichen Gunst eines älteren Mannes abhängig zu machen, und die Frauen bestärkten ihn in dieser Ansicht. Sie waren beide in ihrem Innern herzlich froh, die Gräfin Rhoden und mehr noch Hildegard und den Grafen Gerhard so viel als möglich zu vermeiden. Ihnen sagte der jüngere, lebenslustige Theil der Gesellschaft besser zu, als die ernsthaften Unterhaltungen in den Gemächern der Prinzessin, und Renatus, der es in den Tuilerieen und in den Sälen der Herzogin von Duras wohl erlernt hatte, sich in den durch Geist und Anmuth verfeinerten Umgangsformen eines gebildeten Hofes mit Leichtigkeit zu bewegen, fand sich in der Nähe des jungen, immer angeregten, jedem neuen Eindrucke offenen, leicht bewegten und die Andern mit sich fortreißenden Prinzen völlig wie in seinem Elemente.

Es focht ihn schon nach wenig Monaten nicht mehr besonders an, daß sein inneres Zerwürfniß mit seinen und seiner Gattin Anverwandten Niemandem verborgen war. Er suchte die Gesellschaft des Grafen Gerhard und die der Gräfin Rhoden nicht, aber er vermied sie eben so wenig und hinderte auch ihre Anwesenheit in seinem Hause nicht. Es war ihm sogar nicht unwillkommen, wenn sie sich überzeugten, daß ihre heimliche [246] Feindschaft ihn nicht beeinträchtigt habe, daß er sich, wenn auch nicht in der ihren, so doch inmitten der ihm erwünschtesten Gesellschaft viel begehrt, bewege und daß auch ihm die Gunst eines Mächtigen nicht fehle.

Es freute ihn, wenn Hildegard es hörte, wie man Cäciliens blühende Frische, ihren kindlichen Frohsinn und ihren Gesang bewunderte; es freute ihn, wenn er seinem Oheim und seiner Schwiegermutter sagen konnte, daß der Kronprinz am Abend zum Thee bei ihm erscheinen werde, weil man heute eine alte Messe in seinem Hause singe; und daß die Art der Geselligkeit, in die Renatus, wie er sich sagen durfte, fast ohne all sein Zuthun hineingezogen worden war, ihn zu einem größeren Haushalte und zu mannigfachen Ausgaben veranlaßte, den zu führen und die über sich zu nehmen eigentlich nicht in seinen Absichten gelegen hatte, darüber durfte er sich kein Bedenken und keinen Vorwurf machen. Er that ja nur, was von einem Manne in seiner Stellung und in seinen Verhältnissen gebieterisch gefordert ward; er that nur, was die Erfahrensten ihm auf andern Gebieten zu thun stets gerathen hatten. Er durfte die Mittel nicht schonen, wenn sie dem richtigen Zwecke galten, und wie er Rothenfeld und Neudorf hatte verkaufen müssen, um die Capitalien für den Betrieb der Richtener Wirthschaft flüssig zu machen, so mußte er jetzt kein kleinliches Bedenken dagegen tragen, sich ein paar Tausend Thaler, deren er für sein breiteres Leben durchaus bedürftig war, auf Wechsel zu verschaffen.

Sich einer solchen geringfügigen Summe wegen aus der Gesellschaft zurückzuziehen, auf die errungenen Vortheile zu verzichten, den heimlichen Gegnern das Feld zu räumen, statt ihnen die Stirn zu bieten, das hätte gegen alle Regeln der Kriegskunst arg verstoßen; und vollends sich freiwillig aus der Nähe des Kronprinzen zu verbannen, freiwillig allen den Aussichten zu entsagen, welche die beginnende Gunst desselben für die Zukunft [247] verhieß, das wäre, wie Renatus meinte, eine unverantwortliche Unklugheit gewesen, eine Unklugheit, deren er, ohne ein Unrecht an seiner Familie zu begehen, sich nicht schuldig machen durfte.

Er konnte sich sagen, daß er sich jetzt in völlig geregelten Verhältnissen befinde. Er hatte ein festes Gehalt, ein sicheres, wenn auch nur allmähliches Avancement im Heere vor sich, sein Gut war den Umständen nach in vortheilhafte Pacht gegeben, seine Einnahmen waren keineswegs unbeträchtlich. Nur seine Ausgaben waren allerdings in diesem letzten halben Jahre über alles Voraussehen groß gewesen; aber man hatte nicht in jedem Jahre sich neu einzurichten, nicht in jedem Jahre die völlige Ausstattung für zwei Frauen und für den Bruder zu beschaffen, nicht in jedem Jahre sich in der Gesellschaft festzusetzen, und so lange man sich eine so genaue und strenge Rechnung legte, als er es that, hatte es nach seiner Ansicht ohnehin mit seinen Verhältnissen nicht das mindeste Bedenken; denn nur die achtlose, die sorglose Wirthschaft war seinem Vater so gefährlich, so verderblich geworden. Und es handelte sich ja nur um wenig Monate. Schon im Laufe der nächsten Zeit, wenn die Gesellschaft aus einander ging, und namentlich in den Sommermonaten ließen sich sehr leicht Ersparnisse machen, mittels deren das neue, kleine Anlehen zu bezahlen war. Renatus war deßhalb ganz unbesorgt. Er hätte es für eine ganz unnöthige Grausamkeit gehalten, seine Frau oder seine Stiefmutter mit der Erwähnung dieser Thatsachen in dem unschuldigen und fröhlichen Lebensgenusse, dem sich beide zum ersten Male überlassen durften, irgendwie zu stören. Er hatte sie dazu zu lieb, der Beifall, den sie ernteten, that ihm selbst zu wohl, und er fühlte sich auch Mann genug, sie, ohne daß sie etwas davon ahnten, an solchen kleinen Klippen still vorbei zu führen.

Hätte er über Eleonorens Schicksal nur eben so ruhig sein können!

[248]
5. Capitel
Fünftes Capitel

Seba hatte während des Krieges an manchem Krankenbette gewaltet und gewacht; sie hatte dabei manchem Kummer, manchem tiefen Schmerze, mancher Trauer und schwerem Herzeleid begegnen und es mit ihren Kranken tragen lernen; aber eine ähnliche Verzweiflung, wie sie sich in Eleonorens Fieberphantasieen kundgab, war nie vor ihr laut geworden, und nur in den traurigen Erinnerungen an ihre eigene Jugend fand sie die Kraft, deren sie an diesem Krankenbette bedurfte.

Viele, viele Tage vergingen, ohne daß Eleonore zu irgend einem klaren Bewußtsein gelangte. Sie hatte in den letzten Monaten so viel, so Gewaltiges erlebt, so große Erschütterungen durchgemacht, daß alles, was ihr begegnet war und was ihr augenblicklich begegnete, sich bei ihrer Schwäche in ihren Träumen und Fieberphantasieen durch einander wirrte. Bisweilen meinte sie in ihrem Schlosse zu sein und beschwerte sich darüber, daß man ihr Zimmer so verändert habe; dann wieder glaubte sie sich in Rom in einer Klosterzelle, und als sie eines Tages in zufälliger Bewegung mit ihren Händen nach dem Haupte faßte und die Fülle des Haares vermißte, das man ihr auf des Arztes Anordnung während ihrer Krankheit abgeschnitten hatte, rang sich der laute Aufschrei: »Es ist vollbracht!« aus ihrem Herzen empor, und sich weit über ihr Lager hinausbeugend, umschlang sie Seba's Leib mit ihren Armen, und ihr Antlitz auf den Knieen ihrer Pflegerin verbergend, weinte sie bitterlich.

[249] Mit der leidenschaftlichsten Sehnsucht rief sie nach dem Abbé und verlangte doch, daß man sie vor ihm beschützen solle. Sie beschwor dann Seba, mit ihr aus den engen Mauern dieses Klosters zu entfliehen, heimlich mit ihr fortzugehen aus dem fremden Lande und sie nach ihrer Heimath zu bringen, unter den Schatten ihrer eigenen Bäumen, an das Ufer des Flusses, der durch ihre Wiesen floß. Sie nannte sich bald eine mächtige Königin, bald eine Gefangene.

Wer darf mich halten? Wer hat Gewalt über mich, wenn ich frei sein will? rief sie in wilder Heftigkeit und flehte im nächsten Augenblicke, daß man ihr ihre Seele wiedergeben solle, damit sie nicht wie ein Schemen unter den Menschen umherzuirren brauche. Das Fieber war im Abnehmen, aber die Vorstellungen der Kranken blieben verwirrt, und die Besorgniß, daß eine dauernde Störung der Denkkraft zurückbleiben könne, hielt diejenigen, welche an dem Schicksale Eleonorens Antheil nahmen, in angstvoller Spannung.

Paul und Davide sahen es mit Sorge, wie Seba in der Frühe das Haus verließ und erst am Abende spät und ermüdet von der Kranken wiederkehrte; aber sie wußten es, daß es vergebens sein würde, sie von den Liebeswerken abzuhalten, die sie als ihre Lebensaufgabe betrachtete.

Ihr braucht mich nicht, sagte sie mit ihrer sanften Ruhe, wenn ihre Pflegekinder ihr doch bisweilen die Vorstellung zu machen versuchten, daß sie sich ihnen nicht so ganz entziehen, daß sie an sich selber denken, sich schonen solle. Ihr braucht mich nicht, denn Ihr seid glücklich. Ihr kennt Euren Weg und Euer Ziel; dort aber ist ein armes, völlig verirrtes Geschöpf. Wie sollte ich anstehen, ihm die Hand zu bieten, damit es nicht verloren geht? Wer wie ich sein eigenes Leben durch seine Schuld nicht zur reinen Schönheit gestalten, nicht zu einem in sich selbständig vollendeten machen konnte, der muß es für Andere [250] zu verwerthen und nützlich zu machen suchen; und Ihr wißt es ja, ich finde darin ein großes Glück. Vielleicht trägt die Natur den Sieg davon, vielleicht erhalten wir Eleonore dem Leben, vielleicht kann man sie sich selber wiedergeben. Sie ist so jung, sie ist ohne Liebe auferwachsen, und sie ist so schön! fügte sie dann stets hinzu und ging voll hoffender Beharrlichkeit immer wieder an das Krankenbett zurück.

Das Jahr war fast zu Ende, ehe Eleonore auch nur zu fragen anfing, wo sie sich befinde oder wer die Fremde sei, die neben ihrer alten englischen Amme an ihrem Lager weile; und noch eine geraume Zeit verging, ehe sie zusammenhängend über sich zu denken, ehe sie ihre Gedanken wieder mitzutheilen im Stande war.

Was der Beobachtung Seba's zuerst auffiel, war, daß Eleonore zwar an jedem Morgen und an jedem Abende mit tiefer Inbrunst betete, daß sie sich aber nie des Kreuzes dabei bediente, welches sie an einer goldenen, zugelötheten Kette an ihrem Halse trug; und die Sonne schien schon wieder frühlingswarm auf die Erde herab, als die Genesende sich eines Tages erkundigte, ob es ihr geträumt habe, daß der Freiherr von Arten bei ihr gewesen sei, als sie erkrankt war.

Man sagte ihr, daß ihre Erinnerung sie nicht täusche. Sie wollte wissen, weßhalb er nicht wiedergekommen sei. Als man ihr das Verbot des Arztes, irgend Jemanden zu ihr zu lassen, vorhielt, erkundigte sie sich, ob Seba vielleicht den Freiherrn kenne.

Er hat mich zu Ihnen geholt, mein Kind, antwortete ihr diese.

Sind Sie mit ihm verwandt? fragte Eleonore.

Nein, aber seine Mutter war meine Freundin, und als ich jung war, wie Sie jetzt, habe ich seine Mutter, die auch viel Kummer hatte, in meinem Vaterhause lange gepflegt.

[251] Eleonore gab sich damit zufrieden. Matt, wie sie es war, gehörten nur wenig Vorstellungen dazu, sie eine geraume Zeit zu beschäftigen, und erst nach langem Schweigen richtete sie sich ein wenig in die Höhe und sprach: Sie sagten, die Mutter des Freiherrn von Arten habe auch viel Kummer gehabt; Sie wissen also, daß ich Kummer habe?

Ihre Worte, Ihre unbewußten Klagen haben es mir verrathen, entgegnete ihr Seba; aber sorgen Sie Sich nicht darum. Was ich vernommen habe, hat mir Mitleid mit Ihnen, hat mir Liebe für Sie eingeflößt, und es ist bei mir wohl aufgehoben.

Sind Sie katholisch? forschte Eleonore weiter.

Nein, ich bin eine Jüdin, antwortete ihr Seba.

Eleonore sah sie ungläubig und wie erschreckend an, und als mache sie sich diesen Blick zum Vorwurfe, ergriff sie plötzlich die Hand ihrer Pflegerin und küßte sie zu wiederholten Malen. Seba hinderte sie nicht daran. Alles, was sie während Eleonorens langer Krankheit von Renatus über die Vergangenheit dieses Mädchens erfahren, alles, was Eleonorens Amme ihr über die Vorgänge in Haughton Castle gesagt, hatte Seba überzeugt, daß Eleonore einer völligen Umgestaltung ihres ganzen Wesens bedürftig sei, wenn sie nicht aus Verzweiflung über sich selber untergehen solle; und wie man ein Kind langsam und allmählich auf die Begriffe hinführt, die man ihm zu geben wünscht, wie man es so leitet und führt, daß es sehen muß, was man es sehen lassen will, so langsam und so vorsichtig leitete Seba die Gedanken ihres neuen Pfleglings auf den Pfad, auf welchem sie Heilung und Rettung für Eleonore finden zu können hoffte.

Weil sie selber sich gewöhnt hatte, das Leben eines Menschen in seinem ganzen Zusammenhange zu betrachten und Ursache und Wirkung einander gegenüber zu stellen, hatte sie die Kunst erlernt, sich es in den meisten Fällen klar zu machen, durch [252] welche Umstände ein Charakter sich eben so und nicht anders gebildet habe. Noch ehe also ihre Kranke im Stande war, sich über sich selbst auszusprechen, wußte die feinsinnige Pflegerin, was Eleonoren von Jugend auf gemangelt hatte, und sann darüber in stillem Herzen nach, wie sie diesem auf den reichen und prächtigen Höhen des Lebens geborenen und erzogenen Mädchen den Segen zuwenden könne, der in der Hütte des Armen dem Kinde selten fehlt – den Segen der selbstlosen Liebe, die selbstlos lieben lehrt.

Eleonore hatte ihre Mutter nicht gekannt, ihr Vater, der Marquis von Lauzun, war nicht der Mann gewesen, einem Kinde durch seine Hingebung die Mutterliebe zu ersetzen, und Arabella Warwell, zu deren strengen Grundsätzen und zu deren starkem Verstande Eleonoren's Mutter mit Recht ein großes Vertrauen gehegt hatte, war selbst eine Waise und in der Erziehung ihres Pfleglings von dem Gedanken geleitet gewesen, daß sie das verwaiste Mädchen vor allen Dingen dahin gewöhnen und bilden müsse, in sich selbst beruhen und den nachtheiligen Einflüssen widerstehen zu lernen, welche ihm von Seiten der Herzogin schon frühe drohten. Mit bewußter Absicht hatte ihre Erzieherin die junge Gräfin mißtrauisch gegen ihre Tante und gegen die Freunde derselben gemacht. Mit Geflissenheit hatte sie das ohnehin sehr selbstgewisse Mädchen darauf angewiesen, nur seinen eigenen Eingebungen, nur seinem eigenen Verstande zu folgen, und die glänzende Ausnahmestellung, in welcher Eleonore sich befand, die unausgesetzte Bewunderung und Huldigung, welche ihr von den Männern seit ihrem ersten Auftreten in der Gesellschaft dargebracht wurden, hatten die junge Gräfin mehr und mehr dazu verleitet, nichts zu begehren und zu bedürfen, als immer neue Nahrung für ihre eitle Selbstgenügsamkeit, immer neue Befriedigung für ihren ungemessenen Stolz.

Ihre Erzieherin war in Folge einer Herzenstäuschung unvermählt [253] geblieben, und wie sie, um sich für den Irrthum ihrer Jugend zu bestrafen, sich eben deßhalb zu einer unerbittlich scharfen Beobachterin gemacht hatte, war auch Eleonore durch sie gewöhnt worden, an die Menschen, und namentlich an die Männer, ideale Maßstäbe anzulegen und schonungslos über sie abzuurtheilen, wo sie diesen Maßstäben nicht entsprachen. Fräulein Warwell hatte gewünscht, Eleonore vor dem Mißgriffe zu bewahren, den sie selber einst begangen, als sie in einem geringen und unbedeutenden Manne die Eigenschaften zu finden geglaubt hatte, die sie in ihrem Gatten sich ersehnte; und alles, was sie für ihre Pflegebefohlene damit erreichte, war die Erweckung des Glaubens gewesen, daß kaum ein Mann es werth sei, von einem edeln, reinen Frauenherzen mit voller Hingebung geliebt zu werden, daß nur selten ein Mann es verstehe, den Werth einer großen weiblichen Seele und das Opfer ihrer Hingebung zu würdigen, und daß es das höchste, ja, das einzige Glück des Weibes sei, den Mann zu finden, den es in Bewunderung lieben, den es über sich stellen könne, während er in jedem Augenblicke wisse, was diese freiwillige Unterordnung des Weibes von ihm fordere und ihm auferlege. Mitten in einer auf den äußern Lebensgenuß, auf Befriedigung ihres weltlichen Ehrgeizes gestellten Gesellschaft hatte Eleonore einsam da gestanden, in hoher Selbstüberschätzung von dem Leben die Gewährung und Erfüllung ihrer idealen und überspannten Ansprüche erwartend, nach Liebe dürstend und doch in keiner Weise darauf vorbereitet, sich an die Liebe liebend hinzugeben.

So hatte der Abbé sie gefunden, und entschlossen, sich ihrer für seine Kirche zu bemächtigen, hatte er das traurige Werk ihrer Erzieherin vollendet, Eleonore ganz abzutrennen von dem Zusammenhange mit ihrer Umgebung, um sie sich desto leichter aneignen zu können. Daß seine Schönheit, seine persönliche Bedeutung Eleonorens Liebe für ihn erweckten, hatte er früh [254] gesehen, früh zu benutzen gewußt; selbst die Leidenschaft, die in ihm für die Gräfin erwacht war, hatte er seinen Zwecken dienstbar gemacht. Es hatte ihm das wollüstige Entzücken der Herrschsucht und den Genuß gewährt, den man empfindet, wenn man sich seinem Ziele nahe sieht, als er Eleonore, Dank seinen Rathschlägen, vom Hofe verwiesen, von dem Freiherrn, dem sie sich angetragen, verschmäht, völlig vereinsamt gefunden hatte; und erst als sie, aufgegeben auch von der Gesellschaft ihres Heimathlandes, sich hülferufend an ihn gewendet, war er vor ihr erschienen, erst da hatte er das Kreuz mit dem Bilde des Gekreuzigten vor ihr erhoben und es ihr als die Zufluchtsstätte dargeboten, in der er und sie sich begegnen, er und sie sich in einer ewigen und ausschließlichen Liebe zusammenfinden konnten.

Nicht aus Ueberzeugung, nur aus Leidenschaft für den Geliebten war Eleonore zu der katholischen Kirche übergetreten; nicht eine Befriedigung ihres Herzens, nicht eine neue Beseligung hatte sie in dem Anschlusse an den Katholizismus gesucht, sondern nur ihn, den Geliebten, der in diesem Glauben seine Welt zu haben behauptete, ihn, der ihr verheißen hatte, sich nie von ihr zu trennen, wenn sie ihn zu suchen käme, wo er seines Lebens, seines Geistes, seines Wirkens Heimath habe. Und als sie nun zu seiner Kirche sich hingewendet, da hatte er sich ihr entzogen, da hatte er das junge Weib, das man gewiegt hatte mit allen Ansprüchen auf der Erde höchstes Glück und das sich in der Lage wußte, es einem geliebten Manne und sich selbst in jedem Augenblicke bereiten zu können, von sich gestoßen mit der grausamen Lust der Willkür, der einzigen Freiheit, die sein Eid ihm gönnte.

Ich muß Dich fliehen, denn ich liebe Dich! hatte er ihr gesagt. Willst du mich wiedersehen, willst Du mich nicht verlieren, so mußt Du alles daran setzen, was Du hast und bist, so mußt Du der Welt entsagen, wie ich es gethan habe, und [255] eines unlöslichen Schwures Schranken müssen aufgerichtet werden zwischen uns, zwischen mir und Dir, denn wir sind Menschen!

Eleonore hatte ihm auch diesen Schwur geleistet! Was hätte ihre Liebe dem Abgotte ihres Herzens versagen können, so lange er an ihrer Seite war, so lange sein Blick, sein Wort sie beherrschten und in ihre Bande schlugen? Aber die Lebenslust in ihr war zu mächtig. Ihre Jugend, ihre Schönheit in der Gefangenschaft eines Klosters verblühen zu lassen, der Heimath, dem Ahnenschlosse ihrer Väter und vor Allem der königlichen Freiheit zu entsagen, deren sie sich theilhaftig gewußt und gefühlt seit ihrer frühesten Kindheit an, das war über ihre Kräfte gegangen. Auf ihren Knieen hatte sie den Abbé beschworen, sie von der Erfüllung des Eides zu entbinden, den er ihr auferlegt; mit inbrünstiger Liebe hatte sie von ihm begehrt, sich begnügen zu lassen mit ihrem Gelöbniß, daß sie niemals einem Andern angehören wolle, und ihr Leiter und Führer zu bleiben in der Welt und in der Freiheit, denen zu entsagen sie sich nicht entschließen konnte. Sie hatte kein Gehör bei ihm gefunden. Voll Mißtrauen in die Zulänglichkeit der eigenen Kraft, mit dem festesten Glauben an die Gewalt von Eleonorens Liebe hatte er sie verlassen – sicher, daß sie ihm folgen werde, wohin er immer gehe, bis er sie hingeführt haben würde zu dem Altare, auf dem sie ihre Zukunft opfern und sich und ihren reichen Besitz der Gemeinschaft einverleiben sollte, der er angehörte, und deren Unerbittlichkeit er sich verfallen wußte, wenn er ihren Erwartungen nicht entsprach, wie er's verheißen, wie man es von ihm erwartet hatte.

Seine Berechnung hatte ihn auch nicht getäuscht. Wie von einer Naturgewalt gezwungen, war Eleonore ihm nach Deutschland nachgeeilt, und noch einmal hatte er sich von ihr entfernt. Noch einmal hatte sie erkennen müssen, daß keine Gnade von [256] ihm zu hoffen sei, und überwältigt von der Größe ihres inneren Kampfes war sie zusammengebrochen, ihrer selbst nicht länger mächtig.

Es war Herbst gewesen, als die Krankheit sie er griffen, das Bewußtsein sie verlassen hatte; nun war es Frühling geworden. In einfacher Umgebung, unbewundert, von Niemandem beansprucht, fremd und in der Fremde, hülflos wie ein Kind, so lag sie da, und die warmen Sonnenstrahlen, die auf den Wänden wie die rieselnden Wellen eines lichten Stromes hin und wieder flossen, waren ihres Auges stille Freude. Sie war zufrieden, daß sie dieselben sehen konnte, daß sie noch athmete, daß der Erde dunkler Schooß sie noch nicht umfing.

Eines Morgens, als die Sonne auch wieder freundlich in ihr Zimmer schien, trat in der Frühe Seba bei ihr ein und legte ein paar Veilchen auf ihr Lager. Es sind die ersten unseres Gartens, sagte sie. Meiner Pflegetochter Söhnchen hat sie gepflückt und sendet sie Ihnen mit einem schönen Guten Morgen.

Eleonore nahm die Veilchen in die Hand; ihr Duft, ihre Form, ihr ganzer Anblick schienen ihr wie neu. Sie drückte sie an ihre Lippen und die Thränen traten ihr in die Augen.

Seba fragte, was sie so bewege.

Es rührt mich, antwortete ihr Eleonore, daß hier in der Fremde Blumen für mich wachsen und daß ein fremdes Kind sie für mich pflückt. Lieben Sie die Kinder?

Welche Frage! rief Seba. Wer sollte den Frühling, wer sollte die Hoffnung nicht lieben? In tiefster, eigener Entmuthigung hat die Beschäftigung mit Kindern mich aufgerichtet, und noch heute, wenn ich mich niedergeschlagen fühle, brauche ich nur auf die schöne Zuversicht hinzublicken, mit welcher die Kinder in das Leben schauen, um zu begreifen, daß schon in dem bloßen Wollen, Streben, Hoffen ein Glück verborgen liegt. Und nun vollends der Gedanke, wie leicht man solch ein Kind erfreuen [257] kann! Diesen holden, genügsamen Geschöpfen gegenüber besitzen wir ja eine wahrhaft göttliche Allmacht!

Eleonore seufzte und kaum hörbar sagte sie: Ich habe nie ein Kind bei mir gehabt, nie mit einem Kinde gespielt, und keinem Kinde je etwas zu Lieb gethan.

Armes Mädchen, sagte Seba, Sie sind eben einsam und ohne Liebe groß geworden; Sie werden viel nachzuholen haben, wenn Sie erst genesen sind!

Eleonore schüttelte traurig das schöne bleiche Haupt, Seba brach von dem Gespräche augenblicklich ab; indeß Eleonore blieb fort und fort mit dem Gedanken an den Knaben, der die Blumen für sie gesendet hatte, beschäftigt. Sie wollte wissen, wie alt er sei, sie wollte, daß Seba ihr beschreibe, wie er aussehe, und als diese von ihrer Uhrkette die Kapsel loslöste, in welcher sie das Miniaturbild ihres Lieblings trug, konnte Eleonore sich an dem blonden Lockenkopfe und an den hellen, braunen Augen des Kindes gar nicht satt sehen. Sie fragte nach des Knaben Mutter, nach seinem Vater, nach Seba's Verwandtschaft mit ihnen, nach ihrem Thun und Treiben, und Seba konnte es bemerken, wie die schlichte Darstellung dieses gesunden und beglückten Familienlebens die junge Gräfin, als etwas ihr völlig Unbekanntes, anzog und bewegte.

Am Abende, da Seba sie, wie immer, verlassen wollte, hielt Eleonore sie zurück. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben und Scheu zu hegen, es zu offenbaren. Endlich, als Seba sich erkundigte, ob sie irgend etwas wünsche, was sie ihr gewähren könne, fragte die Genesende: War meine Krankheit von der Art, daß meine Nähe Andern Nachtheil bringen konnte? Ist eine Ansteckung für diejenigen zu befürchten, die mich jetzt besuchen?

Seba verneinte es auf das bestimmteste. Da richtete sich Eleonore auf, ergriff die Hände ihrer Pflegerin und sagte: Sie [258] haben so viel für mich gethan; Herr Tremann und seine Frau haben mir so großmüthig durch alle diese langen Monate Ihre Pflege gegönnt, bitten Sie sie – Aber es war, als halte eine unbesiegliche Scheu sie von dem Aussprechen des Wortes zurück. Sie verstummte plötzlich, und erst als Seba ihre frühere Frage wiederholte, sagte Eleonore, während ein flüchtiges Roth ihre eingesunkenen Wangen färbte und ein verschämtes Lächeln ihren schönen Mund umspielte: Wenn es ihm nicht schadet, wenn es ihm gar nicht schadet, und wenn seine Eltern ihn mir einmal senden wollen – bringen Sie mir den Knaben mit!

Man hatte keinen Grund, ihr die Erfüllung dieses Wunsches zu verweigern, und Davide war so stolz auf ihres Knaben Schönheit, daß sie sich ein Fest daraus machte, ihn auch von Andern bewundert zu sehen. Schon am nächsten Tage also führte Seba ihn der Kranken zu. Der Kleine war keines der Kinder, die durch eine fremde Umgebung befangen werden. Wo er nur einen der Seinen bei sich hatte und man ihn gewähren ließ, war er zu Hause oder setzte er sich mit seinen schnellen und bestimmten Fragen doch sehr bald zurecht.

Eleonore, die des Deutschen nur wenig mächtig war, verstand den Knaben kaum, der noch unzusammenhängend sprach, aber sein bloßes Dasein war ihr eine Freude. Sie vergaß sich völlig, wenn sie zusehen konnte, wie er sich tummelte, sie strengte sich an, zu errathen, was er wolle, sie ließ aus ihren Koffern hervorholen, was ihn freuen, ihn einen Augenblick beschäftigen konnte, und wenn es geschah, daß der Knabe sich mit einem Worte, mit einem Verlangen an sie wendete, wenn es ihr gelang, ihn neben sich festzuhalten, so glänzte ein Ausdruck des Vergnügens in ihren Augen, der Seba rührte, weil er bei Eleonoren fast jedes Mal der Vorbote eines Seufzers und jener Schwermuth wurde, die sie bis dahin nicht verlassen hatte.

Kein Tag verging seitdem, ohne daß man ihr den Knaben [259] brachte; bald konnte auch Davide mit ihm bei Eleonoren verweilen, und man konnte daran denken, die Genesende an einem warmen Mittage in den Tremann'schen Garten fahren zu lassen, damit sie in Ruhe und Stille sich der Luft erfreue. Die verschiedenen Familienmitglieder leisteten ihr dabei abwechselnd Gesellschaft. Man holte ihr, weil sie es wünschte, das Töchterchen herbei, welches Davide ihrem Manne im Laufe des Winters geboren hatte, und obschon Eleonore noch sehr matt war, verlangte sie, daß man ihr den Säugling geben, daß man das schlafende Kind auf ihren Knieen ruhen lassen solle. Sie sagte nicht, was in ihrem Herzen vorging, aber es war für die sie beobachtende Familie kein Räthsel. Man ließ sie still gewähren, sie war Allen bereits werth geworden.

Davide, deren Mutterherz sich zu Eleonoren um der Liebe willen hingezogen fühlte, welche diese ihren Kindern entgegenbrachte, that schon nach wenig Tagen ihrem Gatten und ihrer Pflegemutter den Vorschlag, daß man die Gräfin ganz in ihr Haus übersiedeln möge, wo sie besser als in dem Gasthofe aufgehoben sein würde; indeß wider ihr Erwarten wies Paul vorläufig diesen Vorschlag noch zurück, und zu noch größerem Erstaunen der jungen Frau stimmte Seba ihm in seiner Meinung bei, daß es noch nicht an der Zeit sei, Eleonore von dem traurigen Gefühle ihrer Vereinsamung zu befreien. Sie waren beide der Ansicht, man müsse der Gräfin Zeit zur Einkehr in sich selber lassen. Daß sie es bereue, zum Katholizismus übergetreten zu sein, daß ihr Freiheitssinn vor dem Eide zurückschrecke, mit dem sie sich vor dem Abbé gebunden hatte, und das mit der beglückenden Empfindung des Genesens ihr Widerwille gegen den Eintritt in ein Kloster nur gewachsen sei, davon hatten verschiedene, ganz beiläufige, ganz unwillkürlich gethane Aeußerungen der jungen Gräfin Seba überzeugt. Es gab sich fast bei jedem Anlaß kund, wie schwer Eleonore es fühle, den alten Anhalt [260] ihres Daseins verloren und keinen neuen, ihr genügenden dafür gefunden zu haben.

Als Seba ihr angeboten, Miß Warwell herbeizurufen, hatte die Genesende dies abgelehnt. Ich habe mich freiwillig von ihr geschieden, sagte sie, und ihre in jedem Betrachte unduldsame Strenge kann und wird mir nicht verzeihen, was ich gethan habe. Sie ist abhängig von ihren vorgefaßten Meinungen, abhängig von Ueberzeugungen, die sie auf Treu und Glauben angenommen hat, abhängig auch vor allen Dingen von der Ansicht und dem Urtheile ihrer Umgebung. Ich habe mich losgesagt von ihr, mich abgeschworen von ihrer Kirche, ihre Gesellschaft hat mich ausgestoßen: ich bin für sie nicht mehr vorhanden! Und mit einer Bitterkeit, welche sich oftmals in Eleonorens Worten zeigte, setzte sie hinzu: Ich wollte ja frei sein! Nun bin ich frei, frei wie der Vogel in der Luft! Wen kümmert es, wohin er zieht und wo er endet?

Bisweilen fragte sie, ob Briefe für sie angekommen wären. Aber sie schien zufrieden, wenn man es ihr verneinte. Merkte sie dann, daß dies ihren neuen Freunden auffiel, so äußerte sie, gleichsam sich entschuldigend, sie habe Ruhe nöthig, sie müsse sich erst wieder daran gewöhnen, daß sie weiter leben solle. Und als Paul, dessen männliche Bestimmtheit von dem ersten Augenblicke an einen guten Eindruck auf sie machte, sie nach einer solchen Aeußerung einmal fragend ansah, sprach sie: Ich habe zu sterben geglaubt und war damit zufrieden; denn was soll ich noch im Leben und in einer Welt, der nicht mehr anzugehören ich geschworen habe? Und doch liebe ich noch diese Welt, doch freut mich noch die Luft und das Licht, doch entzückt mich das Lächeln Ihrer Kinder, und ich könnte weinen über die Güte, die Sie Alle mir beweisen; vor Schmerz und vor Freude weinen, wenn ich es hier sehe, wie glücklich man auf Erden sein kann!

[261] Als ihre Kräfte gewachsen waren, verlangte sie nach Renatus. Sie wollte ihm danken für all das Gute, welches ihr durch seine Vermittlung während der langen Leidenszeit zu Theil geworden war; aber das Wiedersehen that weder der jungen Gräfin, noch ihrem Freunde wohl. Sie konnten sich nicht in einander finden.

Ist das die strahlende Eleonore? Ist dieses Mädchen mit den sanften, hülfesuchenden Augen das königliche Wesen, dem meine Huldigung sich kaum zu nahen wagte? fragte Renatus sich in seinem Innern, und es war ihm, als habe er die Gräfin in einer ihr feindlichen Verzauberung vor sich, da ihr die stolze Umgebung fehlte, in der er sie bisher zu sehen gewohnt gewesen war.

Er hatte Mitleid mit ihr, aber er schämte sich fast der anbetenden Empfindung, mit der er einst zu ihr emporgeblickt, und sie hinwiederum hatte ihre gegenwärtige Lage nie schwerer als in des Freiherrn Gegenwart gefühlt. Sein Bedauern that ihr wehe.

Sie hätte den Freiherrn bitten mögen, sie zu meiden, hätte sie nicht gefürchtet, den Schein der Undankbarkeit oder den der Feigheit auf sich zu laden. Sie ließ es also geschehen, daß Renatus, um sich und Eleonore vor den Mißdeutungen der gegen sie erregten übelwollenden Neugier zu bewahren, auch seine Frau und seine Stiefmutter zu ihr brachte. Aber auch an dem Beisammensein mit diesen beiden Frauen fand Eleonore kein Gefallen. Sie konnte die Stunde nicht vergessen, in welcher sie sich dem Freiherrn zur Gattin angetragen hatte. Sie nannte es in ihrem Herzen eine durchaus berechtigte That, daß er sie zurückgewiesen hatte; dennoch vermochte sie die Mißempfindung gegen die Frau, um derentwillen sie, wie sie glauben mußte, verschmäht worden war, in sich nicht zu besiegen. Die Zuvorkommenheit, mit welcher Cäcilie ihr begegnete, kam ihr erkünstelt [262] vor und war es auch zum Theil, und die Erzählungen aus der Gesellschaft, durch welche sie und Vittoria die junge Gräfin zu unterhalten strebten, hatten keinen Reiz für diese letztere. Eleonore dachte nicht daran, an diesem Hofe zu erscheinen. Die Namen der Personen, auf deren Gunst oder Ungunst die Gattin und die Stiefmutter des Majors von Arten Gewicht zu legen hatten, waren für Eleonore Haughton ohne jegliche Bedeutung, und schon nach wenigen Besuchen bei der Kranken brauchte Renatus es seiner jungen Gattin nicht mehr zu versichern, daß er Eleonore zwar bewundert, aber nicht geliebt habe, daß er sie niemals hätte lieben können und daß sie überhaupt in ihrer Herzenskälte ihm nicht für die Liebe, nicht für die Ehe geschaffen zu sein scheine. Wurde doch Eleonore selber oftmals an sich irre, wenn sie es ihren Pflegern auszusprechen wünschte, was sie für sie fühlte, und wenn sich ihr das Wort, das sie von früher Jugend an mit seltener Gewalt bemeistert hatte, jetzt versagte, wo es sie drängte, sich ihnen zu erschließen und sich ihnen hinzugeben.

Was können wir für sie thun? fragte Seba oftmals, wenn sie und die Ihren das innere Ringen und Kämpfen in Eleonorens Seele wahrnahmen. Soll man so viel Schönheit, so viel Gaben in Einsamkeit verloren gehen lassen? Oder wie soll man es beginnen, sie mit dem Verstande einsehen zu lassen, was sie ahnend fühlt: daß sie verloren ist, wenn sie ihrer eigensten Natur entgegenhandelt?

Paul hörte diese Klagen, in denen Davide mit Seba stets zusammentraf, mit jenem zuversichtlichen Gleichmuthe an, der ihn fast nie verließ. Auch er hatte Theilnahme für Eleonore gewonnen, und es waren nicht nur ihre Schönheit, ihre Jugend und ihr Mißgeschick, welche sie in ihm erregten. Sie ist eine Kraft, sagte er einmal, aber eine Kraft, die sich noch nicht zu würdigen weiß, weil sie sich überschätzt. Dem Tode ist sie jetzt entrissen; ob sie dem Leben zu gewinnen ist, das steht dahin. [263] Ihre Gesundheit ist im Wachsen, sie bedarf Eurer nicht mehr wie sonst, überlaßt sie jetzt sich selbst.

Und soll es sie ermuthigen, wenn wir, denen sie ihre Neigung zugewendet hat, uns ihr entziehen? Soll sie, die ohnehin der übeln Erfahrungen so viele schon gemacht, auch an uns irre werden, an deren uneigennützige Freundschaft zu glauben ihr offenbar so wohl thut? wendete Davide ein, deren sanfte Seele doppelt für die Gräfin sorgte, weil sie neben Eleonorens Vereinsamung ihr eigenes Familienglück noch lebhafter empfand.

Paul zog die geliebte Frau in seine Arme. Kennst Du die Macht der Entbehrung und der Trennung nicht, obschon wir lange Jahre von einander fern gewesen sind? fragte er sie, oder soll ich, dem ihr es immer vorwarft, daß er von den mannigfachen Wahrheiten, die in der Bibel enthalten sind, zu wenig weiß, Euch an ihre Lehren mahnen? Soll ich Euch erst daran erinnern, daß nur dem Bittenden gegeben, nur dem Anklopfenden aufgethan werden soll? Sie muß hungern und dursten nach der wahren Liebe, ehe sie derselben mit Segen theilhaft werden kann. – Das Leben hat diesem Mädchen Alles, ohne sein Zuthun, gewährt. Es hat des Wünschens kaum bedurft, es hat das Verlangen, das Entbehren, das Ringen und das Kämpfen um die Befriedigung eines Bedürfnisses nie gekannt, und kein Mensch gedeiht, wenn er den eigentlichen Bedingungen des Daseins in solcher Art entzogen wird. Auch jetzt wieder ist Eleonoren unsere Theilnahme geworden ohne all ihr Zuthun, ohne ihr Verdienst!

O, rief Davide, fühlt sie das denn nicht?

Was will das sagen? entgegnete Paul. Sie genießt das Gute, das sich ihr bietet, aber es dünkt sie natürlich, daß man's ihr gewährt, daß wir es ihr leisten. Sie ist an mich empfohlen, sie ist jung und schön und reich, und der Freiherr von Arten war bei uns noch außerdem ihr Bürge. Laßt es sie empfinden, daß es freie Dienste sind, die sie empfängt.

[264]
6. Capitel
Sechstes Capitel

Bald nach der Ankunft Eleonoren's, nur wenige Tage, nachdem er Seba's Beistand für sie erbeten, hatte Renatus seine Frau und seine Stiefmutter in das Tremann'sche Haus geführt. Weil er damit in sich eine Selbstüberwindung vollzogen und in seiner Frau Familie deßhalb Widerstand gefunden hatte, war er des Glaubens gewesen, auf Tremann und die Seinigen jedenfalls einen sehr bedeutenden Eindruck durch seinen förmlichen Besuch hervorbringen und in der Art des Empfanges die Anerkennung für diese seine Leistung finden zu müssen. In dieser Erwartung hatte er sich jedoch getäuscht.

In dem reichen und angesehenen Kaufmannshause waren Besuche von Fremden an und für sich kein Ereigniß, auf das man irgend ein Gewicht legte. Paul's frühe Bekanntschaft mit dem Fürsten Staatskanzler, seine Reisen, seine Handelsverbindungen hatten ihm zeitig einen weiten Umgangskreis eröffnet, und weil beständig Leute, den verschiedensten Nationen angehörig, geschäftlich auf ihn angewiesen wurden, so fanden die Einheimischen an den Fremden und diese an jenen immer eine Gesellschaft, die ihnen Wesentliches zu bieten und in der man sich einer von dem umsichtigen und weltgewandten Hausherrn trefflich geleiteten Unterhaltung zu versehen hatte, welcher dann durch die Bildung und Liebenswürdigkeit der beiden Frauen noch ein erhöhter Reiz verliehen ward. Das Tremann'sche Haus galt daher mit Recht für das gastlichste der Stadt. Kaufleute, [265] Gelehrte, Beamte und Künstler trafen in demselben mannigfach zusammen, und wenn man mit dem Hofe selbst auch in keiner Verbindung stand, so gab es unter den Edelleuten, welche zu demselben gehörten, doch immer einzelne, die sich es zur Ehre rechneten, sich frei nach ihrem Gutdünken auch außerhalb der enggezogenen Schranken der Etiquette zu bewegen und sich einer Gesellschaft anzuschließen, in welcher allein die durch Bildung veredelte Sitte die Gesetze vorschrieb, die Aufnahme bedingte.

In einem Hause, in welchem man die Leute um ihrer alten Familiennamen willen eben so wenig suchte, wenn sie sonst keine Eigenschaften hatten, als man sie um ihres Adels willen mied, wenn sie in sich mehr besaßen, als nur eben ihre alten Titel, konnte man es nicht als eine besondere Ehre ansehen oder sich dadurch geschmeichelt fühlen, wenn der Major von Arten sich in demselben wieder meldete. Es war nur natürlich, daß er, der eine Kränkung gegen Seba gutzumachen und der sich noch dazu plötzlich Hülfe suchend bei ihr eingefunden hatte, seinen Dank für die Bereitwilligkeit auszusprechen kam, mit der man ihm die geforderte Hülfe gewährte, und wenn Seba und Davide die beiden Baroninnen trotzdem noch freundlicher als vielleicht manche andere Fremde bei sich aufnahmen, so geschah es in der ganz bewußten Absicht, es die Frauen nicht empfinden und nicht entgelten zu lassen, daß man sich früher, und bis jetzt mit vollem Rechte über Renatus zu beschweren gehabt habe.

Während dieser sich nun bemühte, seine lange Versäumniß vergessen zu machen und es kundzugeben, daß in seinem Innern eine gewisse Wandlung vorgegangen sei, begegnete Paul ihm mit jener ruhigen Zuvorkommenheit, welche dem Gebildeten, der viel mit Fremden zu verkehren hat, zur anderen Natur wird. Er war nicht gewohnt, die Gäste seines Hauses um irgend [266] etwas zu befragen, was ihm mitzutheilen sie sich nicht veranlaßt fühlten; er und die Seinigen kannten ohnehin die Arten'schen Familienverhältnisse genau genug, und da Renatus sich Paul ohne dessen Zuthun angenähert hatte, fand dieser, nachdem man darüber einig geworden war, daß Seba das Arten'sche Haus nicht besuchen würde, um die Möglichkeit eines Zusammentreffens mit dem Grafen Gerhard zu vermeiden, keinen Grund mehr in sich, den Freiherrn zurückzuweisen, besonders da eben Seba eine Vorliebe für denselben bewahrt hatte, welche sie geneigt machte, das Geschehene zu verzeihen und zu vergessen.

Man hatte also Renatus und die Seinigen zu einem der ersten Gesellschaftsabende eingeladen; Cäcilie und Davide, die ziemlich gleichen Alters waren, sagten einander zu, und Eleonoren's Krankheit hatte dann die Verbindung langsam fortgeführt. Renatus war gelegentlich zu Seba gekommen, sich nach dem Ergehen der jungen Gräfin zu erkundigen; man hatte es auch nöthig gehabt, von ihm über Eleonoren's Verhältnisse unterrichtet zu werden, und ohne daß es zu einem engeren Verkehre zwischen den beiden Familien gekommen wäre, waren sie auf diese Weise doch in einem Zusammenhange geblieben, der es den Einen wie den Anderen möglich machte, beständig von den Vorgängen innerhalb der beiden Häuser bis zu einem gewissen Grade unterrichtet zu sein.

Man wußte es in dem Tremann'schen Hause, daß Renatus mit seiner Schwiegermutter und mit Hildegard nicht auf gutem Fuße stehe; Davide erfuhr es von Cäcilien, welche Umstände die Mißverhältnisse zwischen ihr und den Ihrigen veranlaßt hatten, und wie selbst ihres Gatten Oheim wider sie Partei genommen habe. Cäcilie klagte, daß er ihnen dadurch mannigfach im Wege stehe, daß er sie großer Vortheile beraube; aber man sah den Freiherrn und seine junge Gattin immer heiter, und selbst mit der Baronin Vittoria schienen sie gut zurecht zu [267] kommen, obschon das Leben mit dieser, seit sie in die Stadt gezogen, nichts weniger als leicht war.

Vittoria hatte, wie sie behauptete, keine großen Bedürfnisse, sie machte, wie sie beständig sagte, nur sehr einfache Ansprüche; aber ihrer kleinen Bedürfnisse und ihrer einfachen Ansprüche waren viele, und sie hatte es nicht gelernt, sich die Befriedigung eines augenblicklichen Verlangens zu versagen, oder je zu überlegen, ob diese Befriedigung zu dem Kostenaufwande, den sie veranlaßte, in irgend einem Verhältnisse stehe.

Es war zum Beispiel allerdings nur natürlich, daß eine Frau von Vittoria's musikalischer Begabung und Bildung die Oper und die Concerte zu besuchen wünschte. Es ging ihr damit, wie sie es mit Entzücken nannte, ein neues geistiges Leben auf, und die schöne, sechsunddreißigjährige Frau war auch noch jung genug, es genießen zu wollen und auf eine neue Jugend, auf eine höhere künstlerische Ausbildung für sich denken und hoffen zu dürfen. Sie hatte sich bis dahin nur in alter Kirchenmusik und hier und da im Vortrage von Volksliedern ihrer Heimath versucht. Jetzt, seit ihrer Uebersiedelung in die Stadt, lernte sie die dramatische Musik, die großartigen musikalischen Dichtungen der Deutschen und der Franzosen kennen, und da eine jede Künstlernatur nothwendig das Verlangen hegen muß, sich ihrer Kraft bewußt zu werden, und zu gestalten und darzustellen, was sie in sich trägt, so bemächtigte Vittoria sich schnell, und mit aller Gewalt ihres Talentes, des neuen musikalischen Gebietes, das sich vor ihr aufthat. Vor allem waren es die Mozart'schen und die Gluck'schen Opern, von denen sie sich ergriffen fühlte; aber sie glaubte zu bemerken, daß ihr für den Vortrag derselben eine gewisse Fertigkeit fehle, die sie nur durch Uebung erlangen könne; und weil in jenen Tagen einer der Hauptträger dieser Opern, der erste Tenor der königlichen Bühne, zugleich ein gründlicher Musiker und ein gebildeter Lebemann [268] war, hatte sie bald gewünscht, seine Bekanntschaft zu machen, um sich von ihm Raths zu erholen.

Das erstere hatte sich fast ohne ihr Zuthun gemacht. Der beliebte Sänger war in der Gesellschaft gern gesehen; man traf ihn in den verschiedensten Kreisen, und da unter den Dilettanten der vornehmen Gesellschaft eine zweite Sängerin wie die Baronin Vittoria nicht zu finden war, fügte sich eine Annäherung der beiden ganz von selbst. Der Sänger – die Baronin nannte ihn, weil sein deutscher Familienname ihrem Ohre nicht gefiel, nach der Weise ihrer Heimath nur mit seinem Taufnamen: Signor Emilio – machte sich ein Vergnügen daraus, eine der Partieen, die er mit Vittoria in einer befreundeten Familie singen sollte, eigens mit ihr zu studiren. Sie empfand das als eine große Förderung, sie sprach ihm dies mit Wärme aus, und er ließ sich denn auch sehr bald überreden, der schönen, reich begabten Frau ausnahmsweise Unterricht zu ertheilen.

Niemand hatte daran ein Arg, Vittoria selbst war davon entzückt. Freilich vermochte Emilio, eben weil er bei dem Theater angestellt und durch seine Proben und Dienstgeschäfte sehr in Anspruch genommen war, die festgesetzten Stunden nicht immer regelmäßig einzuhalten; aber bei einer Frau, die so vollkommen frei über ihre Zeit gebot, wie die Baronin, hatte das wenig zu bedeuten. Sie war ohnehin dem Zwange, der Regelmäßigkeit und jedem Müssen abhold; sie mochte auch nicht immer singen, wenn Emilio zur Stunde kam, und dem beiderseitigen Hange zur Ungebundenheit Folge gebend, war zwischen ihnen von einem eigentlichen Unterrichte bald nicht mehr die Rede.

Emilio kam, wenn er eben konnte; man sang, man musicirte, wenn man eben mochte. Vittoria versäumte keine Oper und kein Concert, in welchem Emilio beschäftigt war; sie wurde durch ihn mit anderen Musikfreunden und Musikern bekannt gemacht, und in die vielfachen Uebungen hineingezogen, in denen [269] die Musikliebhaber der Hauptstadt sich damals schon ergingen. So bildete sich für Vittoria neben der Gesellschaft, in welcher sie durch ihre Verhältnisse und durch Renatus heimisch geworden war, noch ein weiterer Umgangskreis, in dem sie, wie sie behauptete, zum ersten Male ihre wahre Heimath gefunden hatte, und in dem sie um ihres Talentes und auch um ihrer Schönheit willen eine große Bewunderung erregte, einer enthusiastischen Aufnahme theilhaftig wurde.

Die Baronin Vittoria von Arten war bald in aller Leute Mund. Die Künstlerinnen, und die Hauptstadt war damals reich an großen Sängerinnen, waren von ihr und ihrer Anmuth schnell bestochen. Sie rühmten die gänzliche Anspruchslosigkeit, mit welcher sie sich ihnen hingab, sie waren bereit, der schönen, vornehmen Italienerin jeden Dienst zu leisten, und es kostete Vittoria also nur ein Wort, die ersten musikalischen Kräfte der Stadt in ihres Sohnes Hause zu versammeln. Der Freiherr fand das Anfangs eben so genußreich, als seinen Absichten entsprechend. Um sich ein Ansehen zu geben und um Vittoria eine Freude zu machen, setzte man regelmäßige Empfangsabende fest, an denen man musicirte, und deren Gäste zu sein die Prinzen selber nicht verschmähten. Aber man mußte den Künstlern, auf deren Mitwirkung man sich angewiesen sah, doch auch eine Entschädigung für ihre Mühe, eine Erwiederung für ihre Gefälligkeit bieten, und da Renatus nicht große Gesellschaften zu geben wünschte, in denen er seine Standesgenossen und die Künstler in auffälliger Art vereinen oder in einer hier nicht angebrachten Weise von einander hätte trennen müssen, ließ er es, wenn auch mit einem Widerstreben von seiner und seiner Gattin Seite, allmählich doch geschehen, daß Vittoria in ihren Zimmern Abends nach eigenem Ermessen ihre musikalischen Bekannten bei sich sah.

Anfangs war das nur bisweilen vorgekommen und die [270] Zahl ihrer Gäste war nicht groß gewesen. Man war jedoch damals überhaupt noch geselliger, als jetzt; es verging daher bald kaum ein Abend, an welchem Vittoria ihre Freunde nicht empfing. Eine Weile sah Cäcilie das mit an; da sie aber, Dank ihrer Erziehung, eine achtsame Haushälterin geworden war, fand sie sich bald veranlaßt, ihrem Manne die Mittheilung zu machen, daß Vittoria's Weise, ein offenes Haus zu haben, Ausgaben verursache, welche sie mit den ihr von Renatus für den gesammten Haushalt festgesetzten Summen nicht zu decken vermöge.

Renatus, dem es Ernst damit war, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen, erklärte also seiner Stiefmutter, daß er sie bitten müsse, eine Aenderung in ihrer Lebensweise einzuführen, und er gab ihr auch die Mittel und Wege an, wie eine solche ohne alles Aufsehen leicht einzuleiten sein würde, wenn sie sich entschließen wolle, ihre Abende gelegentlich außer dem Hause zuzubringen. Aber Vittoria, die von ihrem Gatten stets wie ein Kind behandelt worden, war auch ein Kind geblieben. Sie weinte, wo sie je auf einen Widerstand gegen ihren Willen stieß, sie hielt es Renatus, als er auch wieder einmal mit großer Schonung nur einige Rücksicht für sich forderte, in leidenschaftlicher Heftigkeit und jede Rücksicht vergessend als eine unedle Handlung vor, daß er ihr, die auf seine Großmuth angewiesen sei, das Gnadenbrod, welches er ihr reiche, zum Vorwurf mache; sie erinnerte ihn an die Liebe, die er einst für sie gehegt, sie gab ihm ihre freudlose Jugend zu bedenken, sie klagte seinen Vater und ihr Schicksal an, und aufgelöst in Thränen warf sie sich dann Renatus doch wieder in die Arme, der, in allen seinen Empfindungen beleidigt, sie endlich nur zu beruhigen suchen mußte, wollte er die Aufmerksamkeit seiner Leute nicht auf diese Scene ziehen.

Vittoria ließ sich danach zwei Tage lang nicht sehen; ihre [271] Dienerin meldete, daß sie krank sei. Erst am dritten Tage erhob sie sich; aber auf der Herrin Befehl wies Gaetana die Personen ab, welche gekommen waren, die Baronin zu besuchen. Nur Emilio wurde vorgelassen, und bald war er's allein, mit dem Vittoria fast allabendlich nach dem Theater den Thee in ihren Zimmern einnahm. Auch dagegen mußte der Freiherr Einspruch thun. So schwer es ihm fiel, mußte er es seiner Stiefmutter zu bedenken geben, daß eine solche Vertraulichkeit mit einem Manne, der in der Gesellschaft durch seine glücklichen Abenteuer von sich sprechen mache, nicht statthaft sei, und er hatte dabei natürlich neuen Thränen, neuen Scenen zu begegnen, die ihm mit jedem neuen Anlasse peinlicher und lästiger werden mußten.

Es kam Renatus hart an, aber er konnte sich jetzt der Ueberzeugung nicht mehr verschließen, daß sein Vater nicht wohl daran gethan habe, den Fehltritt Vittoria's zu verbergen und ihm die Sorge für eine Frau, deren leidenschaftliche Verirrung er gekannt hatte, ihm die Sorge für einen jungen Menschen aufzubürden, der nicht sein Bruder war und der, wie seine ganze Entwickelung es verrieth, mit der Begabung seiner Mutter auch ihre völlig rücksichtslose Phantastik ererbt hatte.

Das Selbstvertrauen und die Zuversicht, mit denen der Freiherr im Beginne seiner Ehe auf seinen neu errichteten Hausstand und in das Leben und in seine Zukunft geblickt hatte, hielten vor den oftmals wiederkehrenden Verdrießlichkeiten mit Vittoria nicht Stand. Er wünschte lebhaft, daß er sie nicht von Richten fortgenommen, daß er sie nicht zu seiner Hausgenossin gemacht hätte. Nun es aber einmal geschehen war, hielt er es doch nicht für gerathen, eine Aenderung herbeizuführen. Da er bereits, wie man es wußte, mit den nächsten Anverwandten seiner Frau und mit seinem Oheim, dem Grafen Gerhard, in keinem guten Einvernehmen lebte, konnte er sich [272] mit der Wittwe seines Vaters nicht wohl verfeinden, ohne die Meinung der Gesellschaft wider sich zu haben, welche durch die blendenden Eigenschaften Vittoria's sehr für dieselbe eingenommen war. Sie hatte sich zum Theil auf seine und auf Cäciliens Kosten den Ruf der höchsten Liebenswürdigkeit gewonnen, ihre Weise, sich gehen zu lassen, hatte etwas so Natürliches, daß man sie überhaupt für einfach und natürlich hielt, und Renatus, der eine gerechte Scheu trug, die unbesonnene und leidenschaftliche Frau aufsichtslos sich selber zu überlassen, ward auch noch durch andere Rücksichten abgehalten, sich von ihr zu trennen. Er mußte sich sagen, daß eine besondere Haushaltung für die Baronin ihm noch lästiger werden und ihm noch mehr kosten würde, als ihr Aufenthalt in seiner Familie. Er konnte es sich auch nicht verbergen, daß Vittoria, wenn er sie nicht mehr bei sich behielt, genöthigt ward, diese Trennung vor ihren Freunden als eine von ihr gewünschte darzustellen; und ob sie das nicht in einer Weise thun würde, welche für ihn und für Cäcilie nachtheilig werden konnte, dessen hielt Renatus sich bei ihrer Unvorsichtigkeit auch nicht versichert.

Seine Güte, seine Großmuth und seine rücksichtsvolle Schonung für Vittoria, seine Ehrfurcht vor seines Vaters Willen hatten ihm die Hände gebunden. Er konnte seine eigenen freundlichen und liebevollen Urtheile über sie nicht zurücknehmen, ohne von denen, vor welchen er sie ausgesprochen hatte, für einen Thoren gehalten zu werden; er konnte auch kaum Glauben für Anschuldigungen zu finden hoffen, welche seinem früheren Lobe entschieden entgegengestanden hätten, und er mußte jetzt zusehen, wie er mit den Folgen seiner unzeitigen Großmuth fertig werden konnte, auf die Vittoria in ihrem Leichtsinne sich zu verlassen gewohnt worden war. Er trug auch in diesem Falle die Folgen eines fremden Verschuldens; es war wieder die Rückwirkung an und für sich guter, aber nicht an rechter Stelle angewendeter [273] Empfindungen und Thaten, unter welcher er zu leiden hatte und die ihn mißtrauisch nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen sich selber zu machen begann.

Seine grübelnde Sinnesart, sein alter Glaube, daß er einmal nicht zum Glücke geboren sei, fingen wieder an, sich in ihm zu regen. Das rasche bewegte Leben während des Krieges hatte diesen Grundton seines Wesens übertäubt, der ihm, wie er glaubte, durch die Schwermuth angeboren sein mochte, mit welcher seine Mutter ihn unter ihrem Herzen getragen hatte. Nun, da er trotz seiner guten Vorsätze und seiner redlichen Bestrebungen, sich ein ruhiges und würdiges Leben zu errichten, immer auf neue Behinderungen stieß, tauchte jener melancholische Zug auf das Neue so stark in ihm empor, daß er die Nothwendigkeit fühlte, sich dagegen aufzulehnen, wenn er durch sein Schwarzsehen nicht Cäciliens ihn beglückende Heiterkeit zerstören wollte. Sie machte ihm ohnehin aus Liebe stets den Vorwurf, daß er in seinen Besorgnissen weiter gehe, als es nöthig sei. Sie übernahm es gutwillig, Vittoria in ihren Ansprüchen allmählich einzuschränken, sie bat ihren Gemahl, keine weiteren Erklärungen mit der Stiefmutter herbeizuführen, keine bindenden Versprechungen von ihr zu begehren. Sie erbot sich, Vittoria des Abends zum Ausgehen oder zu einer gemeinsamen Geselligkeit zu überreden, sie verhieß, in ihrer Wirthschaft solche Ersparungen zu machen, daß man die Möglichkeit behielte, der Stiefmutter eine gewisse eigene Geselligkeit zu gestatten, und da Vittoria, von der jungen Baronin gutem Willen gerührt und beruhigt, sich dieser immer wieder mit der alten Neigung anschloß, übernahm Cäcilie ihr Mittleramt in der That mit Zuversicht und Freude.

Sie, die zuerst auf Vittoria's Unbesonnenheiten warnend hingewiesen hatte, gab es dem Freiherrn doch zu bedenken, daß Vittoria's Unstätigkeit erst seit ihrer Trennung von Valerio hervorgetreten [274] sei. Sie verlangte also, daß man Valerio so oft als möglich nach Hause kommen lasse. Sie setzte es durch, daß er, in dem sich auch eine auffallend schöne Stimme herauszubilden begann, die Mutter, wenn es sich irgend thun ließ, in die Theater begleitete; und Mutter und Sohn verlangten es nicht besser. Die Baronin verzichtete, wenn sie Valerio bei sich hatte, am Abende auf geselligen Besuch in ihren Zimmern, sie sang mit dem Sohne, dessen musikalisches Gedächtniß ein ganz ungewöhnliches war, und selbst Renatus und Cäcilie hatten ihr Vergnügen daran, wenn Valerio mit seiner feurigen Lebendigkeit ganze Scenen aus den Opern, in welche die Mutter ihn an den Sonntagen zu führen pflegte, vor ihnen nachzuspielen und zu singen unternahm.

Seine Vorliebe für das Zeichnen schien dadurch plötzlich in den Hintergrund zu treten. Er hantierte allerdings noch immer mit dem Bleistifte und der Feder, aber es waren nur noch Opern-Scenen, die er entwarf, wenn er nicht Karrikaturen auf seine Mitschüler und Vorgesetzten zeichnete, deren komische Wirkung bei unverkennbarer Aehnlichkeit in der ganzen Anstalt von sich sprechen machte.

Von Valerio's Verhalten in dem Kadettenhause war überhaupt nicht viel zu rühmen. Seine Zeugnisse erkannten zwar seine Begabung an, rügten jedoch seinen Mangel an Ausdauer und wahrer Arbeitslust, und kaum eine Woche verging, in welcher es für ihn nicht irgend ein Vergehen gegen die Disciplin der Anstalt zu büßen gegeben hätte. Wenn er auf solche Weise an einem Sonntage den Besuch bei der Mutter verscherzte, wußte er das nächste Mal durch verdoppelte Liebenswürdigkeit seine Bestrafung vergessen zu ma chen, und selbst Renatus, der sich vorgenommen hatte, ihn streng zu behandeln, fühlte sich oftmals wider seinen Willen von ihm hingerissen. Man mußte sich sagen, daß ein Knabe, der in so schrankenloser Willkür aufgewachsen [275] sei, es schwerer als Andere finden müsse, sich dem strengen Zwange zu fügen; sogar unter seinen Lehrern fanden sich Einer und der Andere, die für ihn sprachen, die der Ansicht waren, daß man mehr als mit Andern Geduld mit ihm haben und ihm Zeit vergönnen müsse, sich allmählich unterordnen und beherrschen zu lernen, wenn man seine ungewöhnliche Lebendigkeit nicht zu einem Nachtheil für ihn selber verkehren und ihn dahin bringen wolle, seinen fröhlichen Freimuth hinter der Maske einer erheuchelten Sinnesänderung zu verbergen, die vorzunehmen und aufrecht zu erhalten, eben ihm, bei seiner Lust am Darstellen, verlockend werden könnte.

Wie dem aber auch sein mochte, Valerio war in dem Kadettenhause eben so schnell der Liebling seiner Mitschüler geworden, als seine Mutter die Gesellschaft für sich gewonnen hatte. Seine auffallende fremdartige Schönheit, die Leichtigkeit, mit welcher er neben dem Deutschen das Französische und das Italienische sprach, die Bereitwilligkeit, mit der er Jedem zeichnete, was man von ihm verlangte, und seine erfinderische Phantasie, die ihn immer neue Spiele und neuen Zeitvertreib ersinnen ließ, führten ihm die Herzen seiner Altersgenossen zu, während seine ungewöhnliche Frühreife die älteren Kadetten belustigte. In der Einsamkeit seines heimathlichen Schlosses hatte er, Dank der Achtlosigkeit seiner Mutter, mehr von dem Leben erfahren, als es Knaben seines Alters sonst geschieht, und der freie Gebrauch, den er bis zu der Rückkunft seines Bruders von des verstorbenen Freiherrn reicher Büchersammlung machen dürfen, hatte die romantische und abenteuerliche Geistesrichtung Valerio's noch erhöht.

Es war eine Hauptbelustigung der älteren Zöglinge des Hauses, Valerio erzählen zu machen, sei es, daß er von seinem Leben auf dem Lande oder von seinen gegenwärtigen Besuchen in seines Bruders Hause und bei seiner Mutter plauderte. Sein lebhaftes Mienenspiel, seine Beobachtungs- und Nachahmungsgabe,[276] die Keckheit seiner Bemerkungen gewährten den jungen Leuten einen heitern Zeitvertreib. Sie hielten vor ihm auch nicht, wie vor den andern Knaben zurück. Mit Cherubin, dem schönen Pagen, wie sie ihn hießen, brauchte man sich auch nicht in Acht zu nehmen. Er wußte, was er sagen und wovon er schweigen sollte; er hatte das in Richten zwischen den beiden feindlichen Haushaltungen früh erlernt, und er hörte es gern, wenn man ihn den Pagen hieß.

Er hatte schon in der Heimath seinen Figaro gelesen, er hatte das Pagenlied stets vor allem Andern geliebt; und nun vollends, seit er mit der Mutter Mozart's Figaro auf der Bühne gesehen und gehört hatte, seit die Mutter und Emilio es rühmten, wie genau er das Mozart'sche Pagenlied behalten habe, ließ er sich den Namen im Kadettenhause doppelt gern gefallen. Vittoria selber nannte ihn bald nicht anders, und ihren Cherubino Sonntags, wenn sie Leute bei sich hatte, das »Voi che sapete« zum Flügel singen, ihren Cherubino von der Gesellschaft bewundern zu lassen, das war, wenn Renatus es nicht hinderte, ein Genuß, den sie sich und ihrem Sohne selten nur versagte.

[277]
7. Capitel
Siebentes Capitel

Die Aurikeln blühten schon, und die großen Dolden der Fliederbüsche strömten ihren Duft über die weiten Rasenplätze des alten Gartens von Tante Esther aus, als Seba eines Tages auch wieder ihren Kranz auf das Monument gehängt hatte und langsam, des schönen, warmen Frühlingswetters froh, durch die breiten Wege nach dem Zelte vor dem Gartensaale zurückging. Die Gräfin Eleonore war an ihrer Seite.

Die Genesene hatte noch nicht ihre völlige Frische wiedergewonnen, aber das Leben war doch wieder mächtig in ihr, und sie bedurfte des stützenden Armes ihrer Freundin nicht mehr. Sie ging frei und festen Schrittes neben ihr her, nur ihr Auge war nicht mehr so strahlend, als in den Tagen, in welchen Renatus sie hatte kennen lernen, und auch die stolze Zuversicht jener Zeit war nicht mehr in ihr.

Eine Weile schritt sie schweigend durch die Alleen, dann, als sie sich schon dem Zelte genähert hatten, unter welchem Davide saß, die ihr Töchterchen nährte, während der Knabe mit seinen von der Sonne schon gebräunten Armen sich in dem großen Garten, recht nach Menschenart, seinen eigenen Garten zu machen strebte, wendete Eleonore sich in einen der Seitenwege, und Seba's Arm in den ihren legend, führte sie sie mit sich fort.

Kommen Sie, meine Freundin, sagte sie, ein wenig will ich Sie noch für mich besitzen. Sind Sie erst wieder in dem Zelte, dann gehören Sie mir nicht mehr allein, dann gehören [278] Sie Ihren Kindern und Ihren Enkeln – Eleonore bezeichnete Tremann und die Seinen gegen Seba stets mit diesem Namen – und nicht nur Adel, wie es das französische Sprüchwort sagt, legt uns Verpflichtungen auf: auch Güte verpflichtet. Sie müssen gütig zu mir sein, weil Sie so gut gegen mich gewesen sind.

Seba drückte ihr mit freundlichem Worte die Hand, und Eleonore meinte nach einer kurzen Pause: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie tröstlich es mir ist, wenn ich Sie an jedem Tage mit derselben Herzenstreue das gleiche Liebeswerk verrichten und immer befriedigt von demselben wiederkehren sehe. Anfangs ging ich dazu mit, weil ich eben bei Ihnen bleiben, Sie begleiten wollte. Jetzt denke ich schon, wenn ich zu Ihnen komme, daß wir die Blumen pflücken und nach dem Denkmal tragen müssen, und ich glaube, wären Sie nicht hier, ich thäte, ohne Ihre Todten hier gekannt zu haben, ganz dasselbe. Es ist etwas Schönes um ein alltäglich Thun, es verbindet jeden unserer Tage mit der Vergangenheit und Zukunft, es gibt jedem Tage einen Mittelpunkt. Wenn ich – – ihre Stimme wurde weich – wenn ich fern von Ihnen sein werde, liebe Seba, werde ich zu Ihrem und der Ihren Angedenken an jedem Tage auch einen solchen Herzenskultus üben, und wie Sie unter den Lebenden der Todten denken, werde ich in meiner Einsamkeit mit noch größerer Liebe – ach, und mit welcher Sehnsucht! – an Sie Alle, die ich hier verlasse, denken.

Sie waren während dieser Worte nach der Seite des Gartens gekommen, an welcher Paul's Arbeitszimmer lagen, und dieser, der eben sein Tagewerk beendet hatte, trat, als er sie gewahrte, zu ihnen in den Garten hinaus.

Er sah sich zuerst nach seiner Frau und seinen Kindern um, erkundigte sich dann nach Eleonorens Ergehen und nannte es einen bequemen Zufall, daß sie eben da sei, da er einen Brief für sie erhalten habe. Sie fragte, woher derselbe sei.

[279] Er ist uns durch einen unserer römischen Geschäftsfreunde vor einer halben Stunde zugekommen, und ich hoffe, daß man ihn noch nicht zu Ihnen in das Hôtel geschickt hat, gab er ihr zur Antwort, während er hineinging, sich nach dem Briefe umzusehen.

Die Gräfin war bei der Nachricht bleich geworden, und die Bewegung, mit welcher sie das Schreiben aus Paul's Hand empfing, ließ ihre Freunde nicht darüber im Ungewissen, von wem es ihr kam. Auch wollten beide sich entfernen, ihr Zeit und Ruhe zum Lesen zu geben; aber wie ein Kind, das sich vor dem Alleinsein fürchtet, langte die Gräfin unwillkürlich nach der älteren Freundin Hand, und sich auf die nahe stehende Gartenbank niederlassend, bat sie leise: Bleiben Sie!

Es war ein langer Brief. Die Gräfin hatte ihn gelesen und noch einmal gelesen, dann ließ sie die Hand, mit der sie ihn hielt, auf ihre Kniee niedersinken und sah sinnend vor sich hin. Seba saß schweigend an ihrer Seite. Sie kannte die Erlebnisse der Gräfin jetzt in allen ihren Einzelheiten durch diese selbst, und Eleonore hatte auch vor Paul und vor Davide kein Hehl aus ihnen zu machen gewünscht, wennschon sie den Beiden nicht direkt davon gesprochen hatte. Nur von dem Religionswechsel und von ihren religiösen Zweifeln war zwischen ihr und Paul zum Oefteren die Rede gewesen, und er hatte es ihr nie verborgen, wie er über das blinde, unbedingte Glauben, wie er über den Glauben an positive Religion, wie er über den Gottglauben überhaupt denke und was er von jener Anschauung halte, die im neunzehnten Jahrhundert die Veredlung und Selbstvollendung des Menschen noch durch seine Einsamkeit erreichen zu können wähne. Aber er hatte diese Gespräche nie geflissentlich gesucht. Denn gerade weil Eleonore durch augenblickliche Entschlüsse, durch gewaltsame Eindrücke und durch die Macht einer ihr Herz beherrschenden mächtigen Leidenschaft zu [280] einem Abfalle von ihrer wahren Ueberzeugung und zu einem Handeln gegen die eigentlichen Bedingungen ihrer Natur verleitet worden war, meinte er, daß, wenn überhaupt eine Hülfe für sie möglich sei, ihr diese nur auf dem Wege der eigenen Einsicht und der ruhigen, sie zur Erkenntniß langsam führenden Erfahrung mit Erfolg bereitet werden könne.

So ließ denn auch Seba ihr eine Weile Zeit, sich zu sammeln, und erst als sie bemerkte, daß Eleonore es schwer finde, in diesem Augenblicke von sich zu sprechen, sagte sie: Sie haben einen Brief von dem Abbé erhalten?

Eleonore bejahte es, und was sie nie zuvor gethan hatte, sie reichte der Freundin das Schreiben hin.

»Ich komme von einer Reise zurück,« also hob es an, »die ich im Auftrage meiner Oberen unternommen und die mich durch den ganzen Winter und das ganze Frühjahr in den Geschäften unsers Ordens fern im Orient gehalten hat. Von den Ufern des Nil, an den heiligen Wassern des Jordan, von der Schädelstätte und an des heiligen Grabes geweihter Schwelle sind meine Gedanken zu Ihnen gegangen, und ich habe für Sie gebetet, Eleonore, gebetet, daß auch Ihnen der Friede kommen möge, mit dem ich an Sie denke; daß Ihre endliche Bekehrung zu der einzigen und alleinig wahren Lehre Sie reinigen und Ihren Sinn erheben möge, wie sie mich hinaushebt über mich selbst und über all mein menschliches Verlangen und Begehren. Ich habe Ihnen geschrieben und meine Briefe in unser Frauenkloster nach Trinità di Monte gesendet. Zurückgekehrt nach Rom, bin ich gegangen, Sie in den heiligen Mauern aufzusuchen, in denen ich Sie zu finden glauben mußte. Aber Sie waren nicht dort, und erst auf Umwegen habe ich erfahren, wo Sie weilen und daß Sie krank gewesen sind.

Weßhalb schrieben Sie mir nicht, weßhalb riefen Sie mich nicht? Ein Wort von Ihnen, das mich hätte ahnen lassen, Sie [281] bedürften meines Trostes, hätte mich zu Ihnen geführt. Streng, wie unsere Gesetze uns binden und unsere Oberen über uns walten, würde man es mir als mein Recht zuerkannt und nicht geweigert haben, Ihnen, deren Seele ich dem Lichte gewonnen, in den Stunden der Krankheit und der möglichen Entmuthigung meinen Beistand leisten zu dürfen, und Sie zu ihm und auf ihn hinzuweisen, der unser Stab und unsere Leuchte, unser ewiges Heilmittel und der Weg zu unserem ewigen Leben ist.

Sie waren dem Tode nahe, Sie sind genesen und Sie haben, ich weiß es, nicht einmal danach verlangt, Sich durch den Genuß des heiligen Abendmahles, Sich durch das erlösende Sakrament, der Gemeinschaft anzuschließen, der Sie angehören, Sich der Gnade und Vergebung zu versichern, die uns den Weg durch dieses Leben und den dunkeln Pfad in das Jenseitige ebnet und erhellt. Was soll ich davon den ken? Was bedeutet das?

Wäre es möglich, daß Ihre Seele wankend geworden ist? Wäre es möglich, daß Du sie vergessen könntest, die Schwüre, mit denen Du Dich mir und meinem Glauben zugeschworen? Daß Du sie vergessen könntest, die gesegnete Stunde, in der meine blutigen Thränen und die Angst meines durch Dich gemarterten Herzens Dich und mich neugeboren haben zu dem ewig unauflöslichen Bündnisse unserer Liebe in Gott? Solltest Du abfallen, untreu werden können mir, Dir selbst und ihm, dem Du gelobt hast, Dein Leben ausschließlich seiner Anbetung zu weihen?

Meine Seele erbebt vor dem Gedanken! Ich liege auf meinen Knieen, und meine starke, feurige Liebe für Dich ersehnt und erfleht von dem Höchsten Deine Treue für ihn. Ich zähle die Stunden, bis mir Kunde kommen wird von Dir, die Stunden, bis ich, an das Gitter des frommen Hauses tretend, mir werde sagen dürfen: es birgt wie ein goldener Heiligenschrein den[282] Schatz, den du der heiligen Gemeinschaft zugeführt, es umschließt das edle Herz, das du der Kirche zu gewinnen durch Gottes Gnade würdig befunden bist, und es erwächst in dieser gesegneten Mauern stiller Huth eine jener Frauenseelen für das Herrscheramt innerhalb der Kirche, der die Starken sich mit Anbetung und Wonne neigen.

Komm, meine Schwester! Komm, Du Ersehnte meiner Seele, laß mich die Stunde nicht mehr lange erwarten, in welcher unsere Seelen sich als zwei reine Flammen in der glühenden Begeisterung Eines Liebens, Eines Glaubens, Eines Hoffens zu Gott erheben. Meine ganze Seele schmachtet nach dem Glücke! – Komm, denn ich erwarte Dich!«

Seba faltete, ohne ein Wort zu sprechen, den Brief zusammen, und eben so lautlos warf Eleonore sich mit beiden Armen der Freundin um den Hals und weinte bitterlich. Seba drückte sie an sich und hielt sie sanft umfaßt.

Es war sehr still in dem Garten, Davide hatte sich entfernt, um das Kind, das an ihrem Busen eingeschlafen war, zur Ruhe zu bringen, der Knabe war ihr gefolgt, und Paul saß, die französischen Zeitungen lesend, in dem Schatten der großen, vor dem Gartensaale stehenden Bäume. Kein Lüftchen regte sich. Man hörte die Bienen leise summen, ehe sie sich in die Kelche der Blumen niedersenkten, in dem dichten Buschwerke sang und lockte die Nachtigall.

Richten Sie Sich auf, Eleonore, sagte Seba endlich. Es ist gut, daß dieser Brief gekommen ist. Sie hatten ihn erwartet; ich fühlte es Ihnen immer an. Was denken Sie zu antworten? Was wollen Sie thun?

Weiß ich's denn selbst? entgegnete die Gräfin, und nachdem sie noch einmal in ihr schwermüthiges Sinnen versunken war, sagte sie plötzlich: Es ist mir wie einem Träumenden zu Muthe. Was ich am deutlichsten wissen glaubte, was mich das Lebendigste, [283] das Nothwendigste dünkte, Alles, worauf ich mich stützen zu können wähnte, zerrinnt mir wie Nebel, wenn ich mein Auge darauf richte, und es thut sich mir hinter demselben eine Ferne, eine Weite auf, die mir fremd ist und in der ich mich nicht zurecht zu finden weiß. Ich möchte, wenn es möglich wäre – sie zögerte und schwieg.

Sie möchten Geschehenes ungeschehen machen können! fiel ihr Seba in die Rede, um ihr zu Hülfe zu kommen.

Ja! rief Eleonore, als habe Seba mit dem bloßen Aussprechen dieses Wortes eine Fessel von ihr genommen, ja! Ich wünschte, ich hätte mein ganzes Leben nicht gelebt!

So vergessen Sie es und beginnen Sie ein besseres, ein neues!

Kann man das? fragte Eleonore. Kann man es sich selber vergessen machen, was man empfunden hat?

Seba nahm sie bei der Hand. Sehen Sie, Eleonore, sprach sie sanft, seit mehr als zwanzig Jahren schaue ich dem Leben jener Bäume zu, die da drüben, jenseit des Flusses, in dem Garten stehen. Als ich zum ersten Male im Herbste ihr Laub erbleichen und zu Boden fallen sah, war ich jung wie Sie, und unglücklich, weit unglücklicher, als Sie, denn ich hatte mein Herz mit seiner reinsten Liebe einem Manne zugewendet, den ich verachten mußte, ich hatte durch meine Schuld mich selbst verloren; und ich sah in jenem Herbste auf die entblätterten Bäume hin und dachte: sie sind dein Bild, dein und ihr Frühling, deine und ihre Blüthenzeit sind hin, es ist Winter geworden und Alles ist todt und öde, todt und öde für immer!

Sie hielt inne, die Gräfin küßte ihr die Hand. Da glitt ein melancholisches Lächeln über Seba's Antlitz, und ihr Haupt mit seinen schönen Augen zu ihrer jungen Freundin wendend, sagte sie mit einem Tone, welcher dieser tief in's Herz drang: Und nun blicken Sie hinüber, ob ich mich nicht irrte? Ob das [284] Leben nicht viel mächtiger, die Welt in ihrem ewig waltenden Werden nicht viel wunderthätiger ist, als unser armes Herz in seinem kleinmüthigen Verzagen es für möglich hält? Jener Winter ist entschwunden, und mancher andere nach ihm, und jeder neue Frühling hat meinen alten Bäumen drüben neues Leben und neues Blühen gebracht, und in allem ihrem Blühen und Vergehen sind sie gewachsen und gewachsen, und der Abfall ihrer Blätter selbst hat dem Boden, der sie erzeugte, noch Wärme und noch neue Kraft verliehen! Und Sie wollten dem Leben entsagen, weil Sie einmal irrten? Sie wollten Sich gebunden glauben durch den Eid, den Sie in einer geflissentlich durch fremden Willen in Ihnen erregten leidenschaftlichen Ueberspannung geleistet haben? Wie dürfen Sie nur daran denken, einen unfreiwilligen Irrthum Ihres Verstandes, eine Uebereilung Ihres Herzens zu einer bewußten Lüge zu machen? Nimmermehr, Eleonore! Das darf, das kann nicht geschehen! –

Sie hatte die letzten Worte unwillkürlich mit erhobener Stimme gesprochen, so daß Paul und Davide, die herangekommen waren, sie vernommen hatten, und Paul die Frage aufwarf, wovon die Rede sei.

Seba gab ihm eine andeutende Antwort, aber Eleonore sagte sehr bestimmt: Wir sprachen von einem traurigen Gegenstande, von mir und meiner Zukunft, und es ist gut, daß Sie, meine Freunde, jetzt dazugekommen sind, denn ich fühle mich halt- und rathlos! Ich habe Stunden, in denen ich mich in Lebenslust an das Dasein klammern, und Tage, an denen ich aus Widerwillen gegen mich selbst, mich vor der Welt verbergen und ein Herz in Einsamkeit begraben möchte, das ... – Sie brach plötzlich ab, und nach kurzem Schweigen heftig auffahrend, rief sie: Wenn Sie es wüßten, wie man mich umworben hat, wenn Sie wüßten, wie ich in dem Glauben an eine große, reine Liebe mich mit Stolz zurückgehalten habe, von den Spielen [285] des Herzens, in denen die Mehrzahl der Frauen sich gefällt und genügt! Rein und ganz in meinem Empfinden, so hatte ich mich und alles, was ich habe und bin, mit meiner Liebe einst dem Manne hinzugeben gehofft, der mich zu seiner Gattin nehmen würde! Und sich jetzt sagen zu müssen, daß ich dies alles, daß ich diese große, diese umfassende Liebe, daß ich die tiefste Verehrung meines Herzens einem Manne entgegenbrachte, der mit kaltem Auge auf mich herniedersah, dem ich nichts, nichts gewesen bin, als der Gegenstand einer Berechnung, und der, als ich in Liebe zu seinen Füßen niedersank, es vielleicht bedachte, was mein Besitz dem Orden werth sei, in dessen Dienste er sich meiner zu bemächtigen wünschte ... – Sie brach noch einmal ab und sagte dann nach einer Pause wie im Selbstgespräche: Das denkt keines Menschen Seele aus!

Doch, rief Paul, der ihr achtsam zuhörend gefolgt war, doch! Und Seba's Hand ergreifend und schüttelnd, sagte er: Fragen Sie Seba, ob sie es nicht nachzudenken vermag, ob sie nicht Gleiches, ob sie nicht Schwereres erduldet hat! Und sie hat sich aufgerichtet in sich selbst, daß sie die Stütze und die Zuflucht aller derer geworden ist, die einer starken und geduldigen Liebe für sich nöthig haben! Was ist Ihnen denn geschehen, was haben Sie denn erlitten und erlebt?

Die Gräfin sah ihn betroffen, ja, mit Erstaunen an. Es ist wahr, fuhr er fort, Sie haben ein großes, ein schönes Capital von Liebe falsch angelegt, das ist aber auch Alles! Sie haben Sich in dem Manne betrogen, dem Sie es anvertrauten, und nur Sie, nicht er, tragen die Schuld davon! Sie sahen das Kleid, das er trug, Sie kannten die Grundsätze der Gemeinschaft, der er angehört! Wer hieß Sie der eiteln Verlockung nach Herrschaft nachgeben, mit der er zuerst verführend an Sie herantrat? Nicht er, Ihr Stolz hat Sie verleitet, die Freiheit, deren Sie nach allen Seiten hin genossen, gegen die [286] Unfreiheit zu vertauschen, die Ihnen Herrschaft über Andere und die blinde Unterordnung Anderer als ein Glück vorspiegelte! Nicht Ihre Liebe für den Abbé allein, Ihr Haß gegen Ihre Tante, ja, die ganze müßige, selbstsüchtige Abgeschlossenheit, in der Sie, wie Sie es mir geschildert haben, lebten, haben Sie dem Abbé in die Arme getrieben! Und jetzt, da Sie ihn kennen, jetzt wollen Sie aus falschem Ehrgefühl hingehen, Sich in einem Kloster zu verbergen? Sie wollten auch jetzt noch nach jener hochmüthigen Selbstbefriedigung suchen, die Sie der Erde und Ihren Mitmenschen entfremdet? Wie können Sie nur daran denken, noch länger ein Dasein zu führen, welches in unserer Zeit und bei unseren Erkenntnissen nicht mehr werth ist, daß man's lebt? – Er schüttelte mißbilligend sein ernstes Haupt, und der Gräfin fest in's Auge schauend, sprach er: Da wär's besser, Sie wären nicht genesen!

Die Frauen blickten besorgt auf Eleonore hin. Sie sah schweigend vor sich nieder. Paul störte sie in ihrem Sinnen nicht. Ein paar Mal schien es, als ob sie sprechen wolle, aber sie fand das Wort nicht oder sie vermochte sich nicht von den Vorstellungen loszureißen, mit denen sie sich bisher getragen hatte, und Davide, welche ihr dies nachempfand und ihr zu Hülfe kommen wollte, fragte: Aber was soll Eleonore denn jetzt thun?

Sie soll sich befreien und sich durch Selbstüberwindung selbst wieder gewinnen, wie unser Aller Vorbild, wie unsere Seba es gethan hat! Sie soll dem Abbé und der Habsucht seines Ordens den Triumph nicht vollenden, den sie ihnen zu bereiten auf bestem Wege war! rief Paul.

Er hielt inne. Ihr fragt mich, was die Gräfin thun soll? Erretten soll sie von dem schlecht angelegten Capitale ihrer Liebe, ihrer Freundschaft, was sie kann! Sie soll ihr Herz tapfer in die Hand nehmen, sie soll sich muthig ihren Irrthum, ihre Verblendung [287] eingestehen! Sich soll sie anklagen, nicht die Andern oder gar ihr Schicksal, und sie soll lieben, ihre Mitmenschen lieben lernen ...

O, rief Eleonore, und ihr Antlitz leuchtete in einer Verklärung, deren es früher nie theilhaftig geworden war, liebe ich Euch denn nicht? Wie eine zärtliche Mutter, wie liebende Geschwister seid Ihr mir gewesen! Mutterliebe und Geschwisterliebe und die Seligkeit, welche in der Ehe, in dem Lächeln eines Kindes liegen kann, Alles habe ich kennen und empfinden lernen hier bei Euch! – Aber wenn ich von Euch geschieden sein werde ...

Scheiden? fiel ihr Davide in das Wort, und die Gräfin in ihre Arme schließend, rief sie: Wer denkt denn an Scheiden, Eleonore? Du hast mich ja selbst Deine Schwester genannt! Du bleibst bei uns, bei Seba, bei Paul, bei mir, bei unseren Kindern! – Seba, Paul, sagt es ihr doch, daß sie nicht gehen soll, nicht gehen darf, daß sie unser, unsere Eleonore ist!

Sie konnte nicht weiter sprechen, die Gräfin hing an ihrem Halse, Seba legte ihre Hand sanft auf der beiden jungen Frauen Häupter, selbst Paul war sehr erschüttert. Die Blumen aber dufteten ruhig fort, die Bienen tauchten tief in ihre Kelche hinein, und die Nachtigallen lockten und sangen, während in dem leise aufgestiegenen Winde die Zweige der Bäume sich nickend hin und wieder bewegten und die Sonne ihre warmen Strahlen funkelnd durch die Blätter niedersendete.

Als Eleonore ihrer wieder mächtig geworden war, hielt sie Paul ihre Hand hin. Er schlug mit festem Schlage ein und schüttelte sie ihr wie einem Manne. Muth, Gräfin! sprach er mit der vollen Stimme, die schon in ihrem bloßen Klange etwas Ermuthigendes hatte. Die Welt geht nicht unter, wenn ein Stein unter unseren Füßen fortrollt, auf den wir mit Sicherheit treten zu können meinten! Irgendwo findet sich ein Ast, an dem [288] man sich halten kann, und – er reichte ihr mit schöner, herzgewinnender Freundlichkeit noch einmal seine Rechte hin – zur Noth bin ich auch noch da! Fragen Sie Seba und Davide, ob ich loszulassen pflege, was ich in die Hand genommen habe!

Lieber, lieber Freund! rief die Gräfin und blickte wie eine Tochter ergeben und vertrauensvoll zu ihm empor. Was soll ich thun? Sagen Sie's, ich folge Ihnen unbedingt!

Paul machte eine abwehrende Bewegung. Kein blindes Gehorchen, kein unbedingtes Vertrauen, liebe Gräfin! warnte er. Ich bin kein Priester! Aber ich würde mich freuen, wenn Sie mir den Brief zu lesen geben wollten, den Sie dem Abbé auf seine heutige Zuschrift senden.

Was soll ich ihm sagen? fragte sie, von dem Gedanken dieser unerläßlichen Annäherung ergriffen und erschreckt. Was soll ich ihm sagen?

Die Wahrheit! entgegnete ihr Paul.

Wird er Eleonore nicht festzuhalten streben? Wird er nicht Alles anwenden, sie uns zu entreißen? wendete Davide ein.

Gewiß! aber Eleonore ist ja nicht mehr allein in ihrem stolzen Haughton Castle! Sie ist in eines Bürgers Hause, sie hat sich ja eben freiwillig als der Unseren Eine unter meinen Schutz gestellt, und wenn wir auch nicht wie sie in ihrem freieren Vaterlande von uns sagen können: »Mein Haus ist meine Burg!« so bin ich doch Herr in meinem Hause, und sie soll, wie wir alle ruhig leben, ruhig schlafen, und sich frei bewegen unter meinem Dache und unter meinem Schutze, bis sie uns nicht mehr braucht, bis sie gelernt hat, wieder aus eigenem Antriebe ihren eigenen und, ich denke, einen schönen, neuen Weg zu gehen!

[289]
8. Capitel
Achtes Capitel

Nach großen Stürmen pflegen, wie in dem Leben der Völker, so auch in dem Leben der einzelnen Menschen, wenn die aufgeregten Wogen sich geebnet haben, lange und tiefe Windstillen einzutreten, in denen die Wasser sich beruhigen und allmählich so sanft hingleiten, daß man es leicht vergißt, wie es eben noch anders gewesen ist und was unter der glatten Oberfläche in der Tiefe schlummert. Was man erlebte, was man erlitt, wird von dem Einzelnen mehr und mehr vergessen, von der Gesammtheit überwunden und ausgeglichen. Man meint, es sei des Erfahrens nun genug gewesen, man hofft, der gewonnenen Einsicht in Ruhe froh werden zu können, man sieht rund um sich her vielfach ein Wachsen und Gedeihen, und da man ohne sein besonderes Zuthun von dem allgemeinen Elende sein reichlich Theil getragen, so wird man zu der Meinung verführt, daß man auch ohne sein besonderes Zuthun des Guten theilhaftig werden müsse, das sich um uns her entfaltet hat, und daß das allgemeine Wachsen und Gedeihen mit seiner Segensfülle zudecken müsse, was der Eine oder der Andere sich nicht gern eingestehen und gern verbergen möchte.

Handel und Wandel standen denn auch, nachdem wenig mehr als ein Jahrzehend seit der Befreiung Deutschlands von der Fremdherrschaft verflossen war, wieder in voller Blüthe. Die Industrie und der Landbau waren zu einem Aufschwunge gekommen, von dem man bis dahin in unserem Vaterlande noch[290] kaum eine Vorstellung gehabt hatte, und an der Spitze der bedeutendsten Unternehmungen fand man fast immer das mit jedem Jahre mächtiger werdende Tremann'sche Handlungshaus. Paul war einer der reichsten und zugleich einer der angesehensten Männer der Stadt und des Landes geworden. Sein Einfluß kam nicht nur dem eigenen Schaffen, sondern auch den Angelegenheiten der mit ihm verbundenen Menschen sehr zu Statten. Er selber hatte sich freilich schon von den Fabrik- und industriellen Geschäften zurückgezogen, die er bald nach Beendigung des Krieges mit Steinert und Herbert gemeinsam unternommen hatte, um sich gänzlich wieder dem großen Geldgeschäfte zuzuwenden; dafür arbeiteten aber die Söhne und Schwiegersöhne seiner beiden Freunde mit diesen jetzt gemeinschaftlich und einander in die Hände.

Eva war, wie sie das gewünscht hatte, in dem alten, auf das beste ausgebauten Amtshause in Rothenfeld mit ihrem Herbert angesessen. Sie sah in behaglicher Ruhe ihrem Lebensabende entgegen, während der junge Steinert, der seine Cousine Angelika geheirathet hatte, und Steinert's Schwiegersohn mit seiner Eveline, der Eine auf dem von Rothenfeld jetzt abgezweigten Vorwerke, der Andere in Neudorf sich tüchtig regten. Auf den Gütern, deren Ertrag nach dem Abgange von Adam Steinert in den letzten Lebensjahren des Freiherrn Franz so tief heruntergekommen war, daß er die Bedürfnisse der Herren von Arten nicht mehr deckte, fanden jetzt drei Familien ein reichliches Auskommen und ein immer wachsendes Gedeihen, weil sie selber schufen und erwarben, was sie brauchten, weil sie ihre Bedürfnisse und ihre Einnahmen in Einklang erhielten und weil ihre eigene Tüchtigkeit und Arbeitsamkeit den Arbeitern um sie her zu einem Antriebe und zu einer Ermuthigung gereichten, die den Gutsbesitzern ebenfalls zu Nutze kamen.

Ein Jahr nachdem Herbert sich in dem Rothenfelder Amtshause [291] niedergelassen hatte, war Seba in der Mitte des Sommers in ihre heimathliche Provinz zurückgekehrt, um ihr altes Vaterhaus einmal wiederzusehen und Herbert auf seinem Gute zu besuchen, und Eleonore hatte sie dabei begleitet. Seit die Gräfin in das Tremann'sche Haus gezogen und gleichsam ein Mitglied seiner Familie geworden war, trennte sie sich von Seba nicht. Sie waren einander in tiefem Verständniß nahe getreten.

Du hast so Viele gepflegt und gehegt, sagte die Gräfin bisweilen, daß es nur in der Ordnung ist, wenn sich endlich Jemand findet, der Dich nun hegt und pflegt. Davide hat ihren Mann, hat ihre Kinder; ich habe Niemanden als Dich, und es kommt Dir zu, daß ein Wesen um Dich ist, über welches Du ganz verfügen kannst. Wo Du bist, da bin ich, wo Du hingehst, gehe ich mit Dir!

Seba wollte das nicht gelten lassen, denn sie wünschte, Eleonore in einer ihr angemessenen Ehe glücklich zu sehen; aber es war, als hätte das Gemüth der Gräfin noch ein Ruhen nöthig, nachdem es ihr in schweren Kämpfen gelungen war, sich mit Hülfe ihrer Freunde völlig von den Banden frei zu machen, in denen der Abbé sie gehalten hatte; und Paul bestärkte sie in ihrer Hingebung an Seba.

Laßt sie ungestört gewähren, rieth er, wenn Davide in ihrem Glücke Heirathsplane für die Freundin machte. Für eine Eleonore kommt gewiß der Tag, an welchem die Freundschaft ihr nicht mehr allein genügt; laßt uns ihn erwarten.

Sie und Seba hatten in den letzten Jahren verschiedene große Reisen gemacht, sie waren auch einen Sommer in Haughton Castle gewesen. Aber Eleonore hatte in England nur ihre nächsten Anverwandten aufgesucht, und obschon von ihnen jetzt wieder bereitwillig empfangen, hatte sie sich doch nach Deutschland und in das Haus zurückgesehnt, in dem ihr zuerst selbstlose Liebe begegnet war und in dem sie es erlernt hatte, sich [292] im Anschlusse an ihre Umgebung, im engverbundenen Zusammenhange des Familienlebens durch Hingabe zu bereichern, durch Unterordnung zu erheben. Man dachte nicht daran, sie besonders aufzuklären, sie zu erziehen. Die Luft macht eigen und die Luft befreit. Man ließ das Leben walten.

Freilich wunderten die Leute, vor Allen Renatus und die Seinigen sich darüber, daß die Gräfin Haughton der Aufforderung ihres Gesandten, sich bei Hofe vorstellen zu lassen, nicht nachkam, daß sie noch immer in Deutschland, noch immer als eine Genossin des Tremann'schen Hauses lebte; man fand sich jedoch endlich damit ab, es ihr für eine ihrer englischen Grillen auszulegen, und des Freiherrn Angelegenheiten waren nicht der Art, ihm eine besondere Theilnahme an den Seelenzuständen der Personen einzuflößen, die nicht im nächsten Zusammenhange mit ihm lebten.

Renatus mochte es ansehen, wie er wollte, das Glück wendete sich ihm nicht wieder zu. Während in Paul's Hause eine ganze Schaar von Kindern in Kraft und Gesundheit heranwuchsen, war das einzige Töchterchen, welches Cäcilie ihrem Manne geboren hatte, ein schwächliches Kind gewesen, das bald gestorben war, und er hatte bisher vergebens auf die Geburt eines Sohnes gehofft, der seinen Namen erben und in die Zukunft tragen sollte. Die Aussicht, daß Valerio, daß der seinem Vater untergeschobene Sohn vielleicht der einzige Erbe des alten, schönen Namens derer von Arten werden könne, widerstand dem Freiherrn bei der eigenartigen Entwicklung dieses jungen Menschen mit jedem Jahre mehr, und etwas, woran er sich recht von Herzen freuen konnte, hatte Renatus nirgend.

Allerdings war seine Ehe eine würdige und friedliche; aber Vittoria war eine schwere Last für ihn und seine Frau, und auch seine Dienstverhältnisse gestalteten sich nicht so günstig, als er es erwartet hatte. Er wurde trotz der größten Pflichttreue [293] nicht befördert, das Avancement im Frieden war sehr langsam, und er konnte sich des Gefühles nicht erwehren, daß ein unbekanntes Etwas, daß ein heimliches Uebelwollen ihm, wohin er sich auch wende, hindernd im Wege stehe. Dazu kam er auch mit seinen Vermögensverhältnissen nicht, wie er es gehofft, in die Ordnung. Der Pächter hatte nicht den Muth, seine erarbeiteten Capitalien in das fremde Gut zu stecken, und der Freiherr keine Capitalien, mit denen er selber auf dem Gute etwas hätte unternehmen lassen können. Das Pachtgeld, welches regelmäßig genug einging, blieb immer nicht lange in des Freiherrn Händen, weil er gleich bei seiner Verheirathung eine Summe aufgenommen, die er zu verzinsen hatte; und es fanden sich, da die gesellschaftlichen Beziehungen des Freiherrn sich mit jedem Jahre ausdehnten und das Leben in der Residenz mit dem wachsenden Reichthume ihrer Bewohner auch glänzender und üppiger wurde, mit jedem Jahre irgend welche neue Ausgaben, denen man sich anstandshalber nicht zu entziehen vermochte und die ein Abzahlen des gemachten Anlehens hinderten.

Hier und da, wenn Cäcilie es sah, daß Renatus sich in Geldverlegenheit befand, wenn es sie drückte, daß man die eingehenden Rechnungen nicht gleich bezahlen konnte, wenn man die Handwerker und sonstigen Lieferanten um Geduld angehen mußte, hatte sie den Vorschlag gemacht, Renatus solle sich von der Garde zu einem der Linien-Regimenter versetzen lassen. Wenn man indessen von der Hauptstadt fortging, wenn man sich also auch aus den Kreisen des Hofes entfernte, so gab man damit alle die Vortheile auf, welche in monarchischen Staaten dem Staatsdiener aus der persönlichen Bekanntschaft mit seinem Herrn gelegentlich erwachsen können, und die man im Laufe der Jahre zu erreichen eben bemüht gewesen war. Eine Versetzung von der Garde zur Linie, eine Uebersiedelung in eine Provinzialstadt ließ sich aber, ganz abgesehen davon, daß sie dem Freiherrn [294] wie ein Herabsteigen erschienen wäre, ohne einen namhaften Geldaufwand auch nicht bewerkstelligen, den man denn, wie die beiden Gatten meinten, doch besser und dem Zwecke entsprechender in der Residenz verwerthen konnte.

Man blieb also beständig in einem Zustande des Wollens, des Erwägens, des Hoffens und des Sichtröstens, wenn wieder einmal, wie das mehrmals geschah, eine günstige Aussicht, auf deren Erfüllung man zuversichtlich gerechnet hatte, fehlgeschlagen war. Renatus mochte es Cäcilien nicht empfinden lassen, daß er Sorgen hatte; Cäcilie bemühte sich, ihm ihr Unbehagen zu verbergen, und mit ihren gegenseitigen Ermuthigungen täuschten sie sich selber und einander. Cäcilie hätte sich ein Gewissen daraus gemacht, der Mutter oder gar der Schwester, die sie ohnehin beide nur selten sah, einen Einblick in ihre Lage zu gestatten, und die Mutter und die Schwester befragten sie nicht darum. Sie waren zufrieden, daß Renatus und Cäcilie sich innerhalb ihrer Mittel mit Anstand zu erhalten schienen, daß die Hülfe und die mannigfachen Förderungen, welche die Gunst der Prinzessin Hildegarden gewährte, es dieser möglich machten, in jedem Jahre die Badereise zu unternehmen, ohne welche sie bei ihren Nervenleiden nicht mehr bestehen zu können glaubte; und wie denn bei jedem Uebel sich meist noch ein Gutes finden läßt, so fügte es sich, wie Hildegard sagte, doch sehr glücklich, daß sie und Graf Gerhard seit Jahren immer dieselben Badeorte zu besuchen hatten.

Der Graf war indessen in seiner Gesundheit durch den Gebrauch der Bäder nicht sonderlich gefördert worden. Die Lähmung seiner Glieder nahm im Gegentheile, wenn auch nur sehr allmählich, zu, und obschon er sich vortrefflich zu befinden behauptete, schüttelten seine Aerzte doch die Köpfe. Seine Zeitgenossen meinten, er sei kein junger Mann mehr und er habe viel mitgemacht; diejenigen indessen, welche ihn erst in den letzten [295] Jahren hatten kennen lernen oder die im Stande waren, einem Manne um seiner Liebenswürdigkeit willen seine unwürdige Vergangenheit zu vergessen, sagten, Graf Gerhard sei wie alter Wein, der durch die Jahre nur feuriger und anregender werde, und in der That schien er an Lebhaftigkeit des Geistes zu gewinnen, was er an körperlicher Beweglichkeit verlor.

Weil er sich nicht gern daran erinnern mochte, daß er ohne Hülfe sich nur mühsam aufrecht halten und bewegen konnte, ging er wenig aus. An jedem Mittage fuhr er eine Stunde in das Freie, gab bei diesem oder jenem Freunde eine Karte ab, sendete der einen Dame ein Buch hinauf, schickte der andern ein Billet mit einer Anfrage zu, und da es in jeder großen Stadt und an jedem Hofe eine Anzahl von Müßigen gibt, die froh sind, ein Stelldichein zu haben, an dem sie eine ihrer leeren Viertelstunden mit ihres Gleichen gemeinsam unterbringen können, so ward durch den Rest des Tages das Zimmer des Grafen von Besuchern selten leer. In dem Plaudern und Schwatzen er fuhr er, was ihm mitgetheilt zu haben man sich kaum bewußt war, und es währte gar nicht lange, bis sich der Glaube festgestellt hatte, daß Graf Gerhard einer der am besten unterrichteten Männer des Hofes sei, bei dem man nicht nur sichere Auskunft über alles, was im Augenblicke geschehe, sondern auch sehr wesentliche Aufschlüsse über die Vergangenheit im Allgemeinen erhalten könne.

Es ward Mode, mit dem Grafen bekannt zu sein und ihn zu besuchen, und da die fromme Mildthätigkeit der Prinzessin unter den ihrem Hofstaate angehörenden Frauen auch die Barmherzigkeit zum guten Tone stempelte, so fand man es schön und lobenswerth, als die Gräfin Hildegard, auf eine größere Geselligkeit fast ganz verzichtend, sich freiwillig zur Gesellschafterin ihres alten Freundes machte, der einst bestimmt gewesen war, ihr als Oheim noch näher verbunden zu werden.

[296] Sie und ihre Mutter brachten fast jeden Abend bei dem Onkel, wie sie ihn jetzt beständig nannte, zu. Sie machte seine Vorleserin, sie besorgte seinen Briefwechsel, wenn er sich einmal ermüdet fühlte, und einander stützend, tragend und lobpreisend, wo sie vor Dritten von einander zu sprechen hatten, gelangten sie dahin, sich ein Ansehen und eine Geltung, sich eine Anerkennung für ihr gegenseitiges Verhältniß zu erwerben, welche keiner von ihnen für sich allein jemals gewonnen haben würde, ganz abgesehen davon, daß der Gräfin durch ihre täglichen Abendbesuche bei dem Freunde eine ökonomische Erleichterung erwuchs, die sie heimlich doch in Anschlag brachte.

Es war früher einmal die Rede davon gewesen, dem Grafen, welchen seine Sprachkenntnisse und seine feinen Umgangsformen sehr wohl zu einem solchen Amte befähigten, zum Kammerherrn der Prinzessin zu ernennen; seine Krankheit hatte aber die Ausführung dieser Absicht verhindert, während dieser Krankheitszustand doch gerade seine Bedürfnisse erhöhte und ein vermehrtes Einkommen für ihn wünschenswerth machte. Der Graf besaß allerdings ein mütterliches Vermögen, das ihm spät genug zugefallen war, um von ihm vortrefflich angelegt und gut zu Rathe gehalten zu werden; indeß als jüngerer Sohn war er doch nichts weniger als reich, denn die Berka'schen Güter waren Majorate. Er hatte es also doppelt hoch zu schätzen, daß ihm durch die Verwendung der Prinzessin eine jener Präbenden verliehen wurde, welche über die Zeiten der Reformation hinaus zu Gunsten des Adels erhalten worden sind und deren geistlichen Titel Niemand mit mehr Anstand und mit besserer Laune zu tragen sich getrauen durfte, als Graf Gerhard Berka.

Man war schon wieder mitten im Sommer, und der Graf hatte eben eine jener kleinen Mittagsgesellschaften um sich versammelt gehabt, die er, seit er Domherr geworden war, scherzend nur noch seine Capitel nannte, als man ihm einen der [297] russischen Gesandtschaftsräthe meldete, der ihn persönlich zu sprechen wünsche. Der Graf kannte den Legationsrath, aber er hatte kein persönliches Umgangsverhältniß mit ihm. Ein Besuch desselben zu so ungewohnter Stunde mußte also irgend eine besondere Veranlassung haben, und der Legationsrath ließ den Grafen darüber auch nicht lange im Ungewissen.

Es ist uns heute, sagte er nach einigen einleitenden Begrüßungsworten, mit dem Petersburger Courier eine Privatmission zugegangen, die der hiesigen Gesandtschaft ganz ausdrücklich von dem Ministerium anempfohlen worden ist. Es handelt sich um eine Todesnachricht, um den Brief eines Verstorbenen an eine Dame der hiesigen Aristokratie, die, wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, Ihnen befreundet ist, mit Einem Worte, um einen Brief an die Gräfin Hildegard von Rhoden. Wissen Sie zufällig, ob die Gräfin irgend eine nähere Beziehung zu einem Herrn von Kabeniew gehabt hat, der zur Zeit des ersten Feldzuges Major gewesen ist, und der danach eben seiner Wunden wegen den Dienst verlassen hat?

Der Graf besann sich eine Weile, dann sagte er: Ich habe den Namen von der Gräfin nennen hören, dünkt mich.

Und Sie wissen nicht, ob Herr von Kabeniew ihr nahe gestanden hat, ob man befürchten müßte, ihr mit der Nachricht seines Todes eine Erinnerung zu erwecken, die, ihr von fremder Hand nahe gebracht, vielleicht peinlich für sie sein könnte?

Der Graf hatte dem Legationsrathe mit jener verbindlichen Achtsamkeit zugehört, welche ein Zeichen guter Erziehung ist. Jetzt wurde seine Miene plötzlich ernst und kalt, und mit dem Tone bestimmtester Abwehr sagte er: Ich meine mich zu erinnern, daß die Gräfin gegen mich hier und da eines Majors Kabeniew erwähnte, den sie in einem unserer Hospitäler durch eine lange Zeit gepflegt hat; aber wo oder wie sie den Gestorbenen auch kennen gelernt hat, so wird sie sicher das Andenken [298] an ihn nicht zu scheuen haben; dessen dürfen Sie versichert sein, mein Herr!

Der Legationsrath machte eine zustimmende Verbeugung. Ich war dessen selbst gewiß, Herr Graf, betheuerte er. Aber, was wollen Sie – es waren aufgeregte Zeiten, die Bewegung der Gemüther war eine gewaltige, und – er lächelte – nun, wir waren Alle jung, jünger vielleicht als unsere Jahre! Wo eine Welt in Flammen steht, faßt auch der Einzelne leicht Feuer, und es hat dann bisweilen doch sein Schmerzliches, auf eine solche alte Brandstätte zurückgeführt zu werden! – Gerade die außerordentliche Verehrung aber, deren die Gräfin genießt, machte es den Gesandten wünschen, sie wo möglich vor jeder Erschütterung zu bewahren, und die Auskunft, die ich von Ihnen, mein Herr Graf, zu erhalten die Ehre habe, bestätigt nur eine Vermuthung, die wir selber hegten. Herr von Kabeniew, ich darf Ihnen dies als einem Freunde der Gräfin wohl vertrauen, der unvermählt und ohne nahe Verwandte gestorben ist, hat der Gräfin Rhoden sein ganzes, äußerst beträchtliches Baarvermögen hinterlassen, das, falls sie etwa nicht mehr am Leben gewesen wäre, den hiesigen Hospitälern überwiesen werden sollte. Ich will mich also beeilen, noch heute mich des Auftrages meines Gesandten bei der Gräfin zu entledigen.

Er erhob sich; man wechselte noch einige Worte, welche sich zum Theil um die edlen Eigenschaften der Gräfin bewegten, und der Legationsrath hatte sich kaum empfohlen, kaum das Haus verlassen, als um die gewohnte Stunde die Gräfin und Hildegard sich bei dem Grafen einstellten. Sie fanden ihn erhitzt und aufgeregt. Sein Auge glänzte, seine Hände waren kalt und selbst der Ton seiner Stimme schien seinen Freundinnen ein veränderter zu sein.

Sie fragten, was ihm widerfahren sei. Er wich der Antwort aus, erkundigte sich nach ihrem Ergehen, nach den Vorkommnissen [299] des Tages; aber Hildegard sowohl als ihre Mutter fühlten ihm an, daß er zerstreut, daß er nicht bei der Unterhaltung sei, und man nahm also zu dem Buche seine Zuflucht, mit welchem man sich schon seit mehreren Abenden beschäftigt hatte. Indeß auch dieses Auskunftsmittel wollte heute nicht verschlagen. So oft Hildegard, welche die Vorleserin machte, ihr Auge von dem Buche aufhob, fand sie den Blick des Grafen in einer Weise auf sich gerichtet, die sie beunruhigte, und als sie einmal ihre Linke auf dem Tische ruhen ließ, so daß der Graf sie von seinem Platze aus erreichen konnte, ergriff er ihre Hand und führte sie an seine Lippen.

Das war sonst auch geschehen, und doch lag heute etwas Besonderes in des Grafen Thun, etwas Besonderes in dem Seufzer, mit dem er sich in seinen Sessel zurücklehnte und seine Augen mit seiner feinen, durchsichtig gewordenen Hand bedeckte.

Hildegard konnte nicht weiter lesen. Sie legte das Buch nieder, und sich über den Tisch zu dem Grafen neigend, sprach sie: Es ist etwas geschehen, lieber Onkel, etwas, das Sie betrübt, das also auch uns nicht gleichgültig sein kann. Ich fühle es unwiderleglich, ich empfinde es wie eine Ahnung und es ängstigt mich! Sagen Sie es, sprechen Sie es aus, geliebter Onkel, was haben Sie, was ist vorgefallen?

Der Graf stützte mit der geschlossenen Hand sein Haupt, und es leise und traurig wiegend, sagte er: Wir werden nicht mehr oft beisammen sitzen!

Was soll das heißen? riefen Mutter und Tochter wie aus Einem Munde.

Aber statt ihnen zu antworten, entgegnete der Graf: Wie durfte ich darauf auch rechnen? Wie konnte ich nur wähnen, daß so viel Anmuth, Geist und Güte allein dazu geschaffen wären, den Niedergang eines Daseins wie das meinige zu verschönen! Und Hildegarden's Hände ergreifend, zog er sie näher [300] an sich heran und nöthigte sie damit unmerklich, sich von ihrem Platze zu erheben.

Sie begriff nicht, was der ganze Vorgang bedeuten konnte, indeß sie war stets geneigt, bei irgend einer Gefühlsergießung mitzuwirken, und sich auf das Polster niederlassend, das zu des Grafen Füßen lag, sagte sie, die Mutter anblickend: Mama, frage Du den Onkel, womit Deine Hildegard es verschuldet hat, daß er ihr mit seinem Zweifel an der Treue ihrer Freundschaft heut' so wehe thut!

Nein, rief der Graf, schweigen Sie, schweigen Sie, meine Freundin, damit ich mich fassen, mich überwinden kann! Ihre Ankunft überraschte mich und ließ mir nicht die Zeit, mich zu sammeln. Sie wissen es ja, ich bin ein Egoist, ich kann nicht, kann nicht selbstlos lieben, wie Sie beide, wie die theure Hildegard. So eigensüchtig, so ganz auf dieses lieben Wesens Nähe ist mein Sinn und meine Zuversicht gestellt, daß selbst sein Glück mich nicht mit dem Gedanken aussöhnt, es künftig, es vielleicht bald entbehren zu müssen.

Die Worte des Grafen wurden den Frauen immer räthselhafter, aber seine Erregtheit theilte sich ihnen mit, und die Gräfin, welcher der Vorgang doch bedenklich scheinen mußte, verlangte endlich eine bestimmte Erklärung desselben.

Der Graf gewährte ihnen dieselbe nur auf seine Weise. Er fragte, ob er sich irre, wenn er glaube, von Hildegard den Namen eines Majors von Kabeniew gehört zu haben. Ob er sich täusche, wenn er meine, daß der Major ihr seine Hand angetragen und sie dieselbe wegen ihrer Verlobung mit Renatus ausgeschlagen habe.

Nein, nein, rief Hildegard, Sie irren nicht! Aber was ist's mit dem Major?

Da legte der Graf seine Hand auf Hildegard's Schulter und sagte: Was es mit ihm ist? – Er entreißt mir meines [301] Lebens einziges, wahres Glück! Er ist gestorben – und Sie, Hildegard – Sie sind seine Erbin. Sein Testament liegt auf der russischen Gesandtschaft; man hat sich bei mir erkundigt, ob man's Ihnen unvorbereitet übermachen dürfe. Morgen schon wird es in Ihren Händen sein, morgen sind Sie eine reiche Erbin! – Und was werde ich Ihnen dann noch sein? – Was kann mein mäßiges Vermögen, das einst das Ihrige werden sollte, Ihnen dann noch bedeuten?

Es entstand eine lange Pause, denn man geht aus großer Beschränkung nicht zu großer Lebensfreiheit über, ohne eine Wandlung, eine Erschütterung in sich zu spüren. Hildegard hatte den Reichthum stets ersehnt und ihre verhältnißmäßige Armuth war ihr nach der fehlgeschlagenen Hoffnung auf ihre Verheirathung doppelt drückend gewesen. Sie wußte, daß Herr von Kabeniew sehr reich gewesen war, und die Aussicht, jetzt plötzlich zu einem bedeutenden Vermögen zu gelangen und vor allen Dingen dadurch unabhängiger, reicher, freier zu werden als Renatus, als Cäcilie, schwellte ihre Brust mit einer nie gekannten Freude. Nicht nur ihr Glück genoß sie, sie genoß im voraus auch bereits das Erstaunen und wo möglich die Demüthigung der beiden Menschen, die sie tödtlich haßte, denn sie gehörte zu den verbitterten Naturen, deren Freude der Unterlage eines fremden Schmerzes nöthig hat, um voll und ganz zu sein. Kein Wort, nur ein laut aufgeschrieenes Ach! entrang sich ihrer Brust, und beide Arme um der Mutter Nacken werfend, weinte sie, als solle es ihr das Herz zersprengen.

Die Gräfin weinte ihre Freudenthränen mit ihr. Auch ihr fiel eine schwere Last vom Herzen. Graf Gerhard saß in seinem Sessel und wendete sein Auge nicht von ihnen. Endlich, als er meinte, daß die Frauen sich mit ihren Gefühlsergüssen genug gethan hätten, richtete er sich empor, die Schelle zu ziehen.

Das lenkte Hildegard von sich selber ab. Sie eilte hinzu, [302] ihm die Mühe zu ersparen, und erkundigte sich, was er wünsche.

Ich will den Diener nach einem Wagen für Sie senden, sagte er.

Sollen wir Sie verlassen? fragte Hildegard.

Der Graf sah schwermüthig zu ihr empor. Sie werden zu Hause möglicher Weise schon die Dokumente finden, welche der Legationsrath Ihnen auszuliefern hatte. Es ist natürlich, daß Sie dieselben zu lesen, daß Sie Sich mit der Mutter zu besprechen wünschen, und ich habe Sie, liebe Hildegard, ja nun gesehen! Fahren Sie nach Hause, theures Kind!

Die Gräfin und Hildegard weigerten sich dessen; er bestand jedoch auf seinem Vorschlage. Ich habe ja Freude, sprach er, wenn ich Ihrer denke, und – an das Alleinsein werde ich mich gewöhnen müssen! Er reichte ihr die Hand. Als sie sich zu ihm neigte, zog er sie, als könne er seiner Empfindung nicht widerstehen, auf das Polster zu seinen Füßen nieder, und ihr Haupt in seine beiden Hände fassend, küßte er ihr Haar mit leiser Lippe.

Einmal, einmal nur, rief er, wie seiner selbst nicht mächtig, einmal, Du sanfter Engel, sollst Du es im Beisein Deiner edlen Mutter von mir hören, daß Du mein Erlöser gewesen bist, daß ich, der das Leben von seinen höchsten Höhen bis hinab in seine treulosen Tiefen ausgekostet zu haben wähnte und der an nichts glaubte, auf nichts vertraute, in Dir das Ideal gefunden habe, das mich bereuen, wünschen, glauben, hoffen und mich auferbauen lehrte! Einmal muß ich es Dir sagen, daß ich Dich liebte, seit ich Dich kennen lernte, daß ich den thörichten Knaben haßte, der Dich und Deine reine Liebe nicht zu würdigen verstand, und daß ich jetzt die Stunde segne, in der er Dich von sich stieß, denn Du bist jetzt frei, und das Leben wird Dir seine schönsten Kränze nicht versagen!

[303] Er brach ab und hüllte sein Gesicht in seine Hände. Hildegard hatte ihr Haupt an des Grafen Schulter gelehnt, sein Arm umfing sie; die Gräfin stand bestürzt an ihrer Seite, aber die Verherrlichung des von ihr so vorzugsweise geliebten Kindes that ihr wohl. Hildegard erschien ihr wieder jung und schön, wie sie jetzt, von dem letzten Schimmer des Abendsonnenscheines umflossen, vor dem Grafen knieete, dessen gehobene Stimmung den ursprünglichen Adel seiner Züge trotz seiner Jahre und seiner Krankheit mehr als gewöhnlich hervortreten ließ.

Endlich richtete er das Haupt der jungen Gräfin empor, und noch einen Kuß auf ihre Stirn drückend, während er ihrer Mutter die Hand hinüberreichte, sprach er: Nun ist's gut! Nun geh', nun geh', Du liebes Kind, und denk' nicht mehr an mich! Leb' wohl! – Leben Sie wohl, Hildegard! Leben auch Sie wohl, theure Mutter! Wir sehen uns nicht wieder!

Onkel, mein Freund, mein theurer Freund, rief Hildegard, was soll das heißen? Nehmen Sie das Wort zurück!

Er schüttelte verneinend das Haupt und gab ihr, als könne er nicht sprechen, ein Zeichen, sich zu entfernen.

Hildegard blieb vor ihm stehen. – Ich komme morgen wieder! sagte sie!

Er wendete sich von ihr ab. – Nein, das geht über meine Kraft! Wie soll ich künftig schweigen, da das unselige Geständniß meinen Lippen nun entflohen ist? sprach er dumpf in sich hinein.

Hildegard regte sich nicht; der Gräfin begann die Scene peinlich und bedenklich zu werden. Sie nahm die Tochter bei der Hand. – Komm, komm, mein Kind, sagte sie, der Onkel ist zu sehr ergriffen, und auch Du bist sehr erschüttert. Wir haben Alle, Alle Fassung nöthig! – Sie wollte die Tochter mit sich fortführen. Hildegard wendete ihr Antlitz nach dem[304] Grafen zurück; er hatte das Haupt auf seine Arme niedersinken lassen, die auf dem Tische ruhten.

Da machte sich Hildegard von der Mutter los, und noch einmal vor dem Grafen niederknieend, rief sie: So kann ich ihn doch nicht verlassen! Und warum soll ich denn auch von ihm gehen? – Weinen Sie nicht, weine nicht, mein Freund, ich bleibe! Wo soll ich denn auch bleiben, als bei Dir, der mir beigestanden hat in meiner größten Noth?

Engel des Lichtes, sprich es, sprich es noch einmal aus, dieses Wort, das mich beseligt! rief der Graf, und es war vergebens, daß die Mutter es versuchte, dem Vorgange das Gepräge einer förmlichen Verlobung zu entziehen.

Hildegard lag in des Grafen Armen, er küßte ihr Haupt, ihre Hände; sie nannte sich glücklich in dem Besitze seiner Liebe, und noch einmal genoß der fünfzigjährige und kranke Mann den Triumph, sich eines Weibes zu bemächtigen, dessen er nicht werth war, weil die unklare Herzensüberspanntheit Hildegard's ihm dazu die Handhabe darbot.

Es dunkelte schon, als die Gräfin mit der Tochter sein Haus verließ. Er war sehr mit sich zufrieden. Es war ihm ein Meisterstreich gelungen, und er hätte nur gewünscht, ihn irgend Jemandem mittheilen zu können. Nie zuvor hatte er daran gedacht, Hildegard zu seiner Erbin einzusetzen; er hatte sich überhaupt nie mit seinem Testamente beschäftigt. Es war ihm stets zuwider gewesen, auf sein einstiges Ende hinzublicken, denn er fühlte in sich noch Lust, zu leben, und die Nachricht von der reichen Erbschaft seiner Freundin Hildegard hatte ihm plötzlich die Aussicht eröffnet, sich größere Lebensbequemlichkeit, sich noch größere Lebensfreiheit zu verschaffen, als bisher.

Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er sich sagen mußte, er sei Bräutigam, er habe sich verlobt. »Ward je in dieser Laun' ein Weib gefreit? Ward je in dieser Laun' [305] ein Weib gewonnen?« fragte er sich selber, Shakespeare's Worte brauchend, den er anzuführen liebte.

In seine Genugthuung mischte sich jedoch ein Schmerz. Die Anspannung seiner Kräfte hatte ihn erschöpft. Es kam wie eine Reue über ihn. Er hätte jung, er hätte noch ganz er selber sein mögen! Aber er nannte diese rückblickende Wehmuth eine Schwäche, eben eine Folge der Anstrengung, die er sich zugemuthet hatte. Er ließ sich gegen seine Gewohnheit Wein hinstellen, trank ein Paar Gläser davon, und als er dann sein Lager aufsuchte, und das auf dem Nachttische liegende Buch aus der Hand legte, waren es philosophisch-religiöse Fragen, Fragen, mit denen sein völliger Unglaube sich zu beschäftigen liebte, unter denen ihm endlich das Bewußtsein schwand und Schlaf und Traum ihn sanft umfingen.

[306]
9. Capitel
Neuntes Capitel

Die Gräfin und Hildegard hatten die Ruhe nicht so leicht gefunden. Das Erbe, welches der Letzteren zugefallen, war noch weit beträchtlicher, als man es erwartet hatte, und der Gedanke, die Tochter ohne alle Nothwendigkeit mit dem Grafen Gerhard sich verbinden zu sehen, dessen Vergangenheit, trotz der Gunst und königlichen Gnade, deren er sich gegenwärtig rühmen durfte, doch immer eine bedenkliche blieb und für den eine Herstellung nicht zu hoffen war, während man ein langes, furchtbares Siechthum für ihn befürchten mußte, widerstrebte der verständigen Einsicht der Mutter auf das höchste. Aber ihre Vorstellungen, ihre Bitten, ihre Ermahnungen scheiterten an Hildegard's Entschlossenheit.

Der Graf hatte sich seit Jahren ihrer Neigung zu bemeistern gewußt, er hatte sich ihr so geschickt und mit so vielem Behagen an der von ihm verübten Täuschung immer als einen durch sie Bekehrten dargestellt, ihre Neugier auf die Geheimnisse in seiner Vergangenheit war von ihm so unmerklich geweckt und befriedigt worden, seine halben Bekenntnisse hatten ihre Begriffe von Sitte, von des Mannes ihm oft verderblicher Freiheit und von des Weibes großmüthig verzeihender Liebe so verfälscht, daß die Gräfin es plötzlich mit Erstaunen wahrnahm, wie der Boden sich verändert hatte, auf welchem ihre Tochter stand. Es fiel ihr schwer, zu glauben, daß Hildegard, obschon sie in der Mitte der Dreißiger war, für den um zwanzig Jahre älteren, kranken [307] Mann je etwas Anderes als antheilvolles Mitleiden, als eine dankbare Ergebenheit empfunden haben könne. Indeß Hildegard hatte sich so fest in den Gedanken eingelebt, der Schutzengel des Grafen zu sein, und dieser hatte während ihres ersten gemeinsamen Aufenthaltes in dem Badeorte die leidenschaftlich erregte Empfindung und die nicht minder aufgeregte Sinnlichkeit des von Renatus verlassenen Mädchens von Anfang an so geschickt von Renatus auf sich zu übertragen gewußt, daß Hildegard schon lange an den Grafen gekettet gewesen war, ohne sich dessen bewußt zu sein. Trotz aller Vorstellungen der Mutter nannte sie sich entschieden glücklich, dem geliebten Manne, dem sie, und sie allein, den Glauben an alles Edle und Erhabene wiedergegeben hätte, den Abend seines Lebens verschönen zu können, und in seiner reinen, sie anbetenden Liebe einen reichen Ersatz für die Leiden zu finden, welche der Leichtsinn des Freiherrn Renatus ihr bereitet hatte.

Alles, was die Gräfin von der Tochter an dem Abende erlangen konnte, war das Zugeständniß, daß die Verlobung nicht bekannt gemacht werden solle, ehe man nicht die Prinzessin, welche sich Hildegarden stets als eine so gnädige Beschützerin gezeigt, davon in Kenntniß gesetzt und ihren Rath und ihre Zustimmung dazu erbeten haben würde. Aber schon bei ihrem Erwachen begrüßten ein Brief und eine Sendung des Grafen seine Braut, und noch ehe die Stunde gekommen war, in welcher man daran denken konnte, die Prinzessin aufzusuchen und bei ihr vorgelassen zu werden, brachte einer ihrer Lakaien Hildegarden ein paar Zeilen von der Prinzessin eigener Hand, mit denen sie ihr zu der Wendung, welche ihr Schicksal genommen habe, ihren Glückwunsch aussprach. Sie nannte es schön, daß ihr früheres Liebeswerk ihr die Möglichkeit gewähre, in Werken der Liebe fortzufahren, und die Prinzessin rühmte dabei die Herzensfeinheit des Grafen ganz ausdrücklich, der ihr [308] vor allen Andern die Mittheilung des geschlossenen Bundes habe zukommen lassen, da er sicher gewesen sei, daß sie sich jedes Guten freuen würde, welches Hildegarden von der Vorsehung beschieden sei.

Damit stand nun die Verlobung als eine Thatsache fest. Denn der Graf hatte sich nach seiner früheren Geschäftserfahrung rechtzeitig daran erinnert, daß es Fälle gibt, in denen man rasch handeln und den Andern zuvorkommen muß, wenn man seiner Sache sicher sein will, und die Genugthuung, die er über seine Entschlossenheit fühlte, verlieh ihm, wie er meinte, wirklich eine neue Kraft.

Es war noch früh am Morgen, als er schon bei der Braut erschien, und es sah aus, als habe er heute des Dieners, auf dessen Arm er sich zu stützen pflegte, kaum noch nöthig. Hildegard eilte ihm auch gleich entgegen, ihm ihren Arm zu reichen, und der Graf hatte es so geschickt erlernt, sich mit allerlei kleinen Künsten von einem Platz zu dem andern fortzuhelfen, daß selbst die Gräfin Rhoden sich es nicht versagte, heute der Hoffnung auf seine Herstellung Raum in sich zu geben.

Die Mutter hatte gewünscht, ihrer verheiratheten Tochter gleich am Morgen die Nachricht von Hildegard's Erbschaft und Verlobung zukommen zu lassen, aber diese war anderer Meinung. Sie beabsichtigte, der Schwester die Kunde selbst zu überbringen, und das konnte nicht sogleich geschehen. Der frühe Besuch des Grafen, eine Besprechung mit dem Gesandten, die gerichtlichen Vollmachten, welche die neue Erbin auszustellen hatte, nahmen Zeit in Anspruch. Es verstand sich von selbst, daß die Verlobten sich ihrer Beschützerin, der Prinzessin, präsentirten, und es war natürlich, daß die Braut ihre jetzigen Möglichkeiten zu benutzen und sich für die Vorstellung bei der Prinzessin und eben so für den Besuch bei ihrer Schwester nach ihren neuen Verhältnissen einzurichten begehrte.

[309]

Unter Besorgungen, Berathungen und Einkäufen gingen die Stunden hin. Hildegard und der Graf waren beide nicht die Stärksten, die ungewohnten Anstrengungen ermüdeten sie, Einer war für den Andern auf Schonung bedacht, man mußte etwas Ruhe haben, und der späte Nachmittag kam also heran, ehe man sich anschickte, zu der Schwester hinzufahren.

Die Stadt war schon leerer geworden, der König hatte sich, wie alljährlich, in ein böhmisches Bad begeben, die übrigen Hofstaaten rüsteten sich ebenfalls zum Aufbruche, und obgleich die Residenz damals noch nicht so groß war, daß man nicht bald vor das Thor gekommen wäre und außerhalb desselben nicht noch Feld und Wald und Wiesen genug gefunden hätte, suchte doch, wer es ermöglichen konnte, sich auch damals eine Veränderung des Aufenthaltes zu bereiten. Cäcilie und Vittoria aber weilten in der Stadt, denn Renatus war im Beginne des Sommers längere Zeit zum Ankaufe der Remonte-Pferde auswärts gewesen und war nun wieder seit einigen Tagen mit seinem Regimente zu den großen Manövern nach einer der benachbarten Provinzen kommandirt. Man konnte seiner Rückkehr erst in einigen Wochen entgegensehen.

Die Sonne brütete über der Straße und glänzte blendend aus den gegenüberliegenden Fensterreihen wieder. Hier und da wirbelte der Südostwind die Staubmassen empor, daß man sie wie Wolken vorüberziehen sah. Vor dem Hause belud man einen großen Reisewagen mit Koffern und Schachteln. Der Wirth, ein reicher Kaufmann, der das Erdgeschoß bewohnte, ging mit seiner Familie in ein Bad und wollte die kühlere Nacht für den Beginn seiner Reise benutzen. Cäcilie und Vittoria saßen schon eine geraume Zeit schweigend neben einander. Endlich erhob Cäcilie sich, und die Fensterflügel öffnend sagte sie: Welch ein staubiger Brodem auf diesen Straßen liegt!

Ja, entgegnete Vittoria, ich dachte es eben! Was für ein [310] Land und was für ein Leben ist es, in denen man mitten in der besten Jahreszeit sich den grausigen Winter ersehnt!

Cäcilie setzte sich wieder zu ihr. In Richten muß es heute schön sein! hob sie nach einer Weile an.

In dem leeren, wüsten Schlosse? entgegnete die Andere, und sich fächelnd, wie es ihre Gewohnheit war, rief sie nach längerem Schweigen: Wenn man nur wenigstens eine Stunde in das Freie fahren könnte!

Renatus hat die Pferde verkauft und noch keine ihm passenden gefunden – wir müssen uns gedulden, bis er wiederkommt! bedeutete Cäcilie wie entschuldigend, und schloß mit der Bemerkung, daß es innen in dem Zimmer erträglicher als draußen sei, das Fenster, welches sie eben erst geöffnet hatte.

Sie nahm ein Buch zur Hand und fing zu lesen an, aber man konnte sehen, daß sie nicht dabei war. Sie blätterte hin und her, legte es fort, griff nach einem Zeitungsblatte und schien auch von diesem nicht gefesselt zu werden. Vittoria sah ihr gelangweilt und ermüdet zu.

Die Aussicht, einen ganzen Sommer in diesen engen Stuben zu verbringen, rief sie dann mit Einem Male aus, ist mir wirklich ganz entsetzlich! – Und nach einer neuen Pause sagte sie, ihre eben erst gethane Aeußerung halbwegs vergessend: Ich wollte, Renatus hätte mich wenigstens gelassen, wo ich war – was hatte ich hier in der Stadt zu suchen?

Cäcilie antwortete ihr nicht gleich. Sie fühlte sich selbst gedrückt. Die neue Trennung von ihrem Manne ward ihr schwer, der ungerechte Vorwurf, den die Stiefmutter ihm machte, that ihr weh.

Renatus hat es gut gemeint, sagte sie endlich, und mich dünkt, Du von uns Allen hättest die meiste Befriedigung hier in der Stadt gefunden. Wenigstens hast Du oft genug versichert, daß Dir hier ein neues Leben aufgegangen sei. Du hast [311] Freunde gefunden, der Kronprinz zeichnet Dich aus, Du hast Genüsse aller Art ...

Beklage ich mich denn? fiel Vittoria ihr nach der Weise aller Derer in das Wort, die, keines zusammenhängenden Denkens gewohnt, von jeder in ihnen an geregten Vorstellung auf einen völlig veränderten Standpunkt geführt werden. Ich beklage mich ja nicht! Ich meine, ich hätte es von jeher bewiesen, daß ich mich in das Unabänderliche zu fügen und daß ich auch zu schweigen weiß!

Was nennst Du das Unabänderliche? fragte Cäcilie.

Glaubst Du, entgegnete die Stiefmutter, daß es behaglich ist, daß es für eine Frau, die, wie ich, Herrin in ihrem Hause zu sein gewohnt war, behaglich ist, abhängig wie eine Klosterschülerin zu sein?

Mich dünkt, Du wärst so ziemlich die Herrin in unserem Hause! wendete Cäcilie ein.

Vittoria lachte. Nennst Du es Herrin sein, wenn mein Sohn, wenn Renatus mich förmlich unter Deine Kontrole stellt? Wenn er mir die Weisung hinterläßt, daß ich in seiner Abwesenheit keine Besuche machen, Niemanden empfangen soll ....

Vittoria, rief die junge Baronin, entstelle die Thatsachen nicht! Renatus hat Dich nur gebeten, Emilio nicht bei Dir zu sehen, weil ....

Weil Emilio Dir den Hof macht! warf Vittoria ein.

Cäcilie wurde blaß vor Zorn. Laß das, ich bitte Dich! sagte sie sehr fest. Emilio's plötzliche Galanterie für mich täuscht weder meinen Mann noch mich! Sei zufrieden, wenn wir schweigen – das Schweigen ist nicht immer leicht!

Und schweige ich denn nicht, füge ich mich denn nicht in alles, was Renatus fordert? meinte Vittoria, die von ihrem früheren Klosterleben her ein Vergnügen in dem kleinlichen [312] Kriege mit ihrer Umgebung fand, das sie sich, sobald sie Langeweile hatte, nicht versagte.

O ja, rief Cäcilie, gewiß, Du schweigst, aber man sieht es Dir an, wie unbehaglich Du Dich fühlst, wie widerwillig Du Dich dem unerläßlich Gebotenen fügst! Und glaube mir, das lastet so schwer, so schwer auf meinem Manne und auch auf mir, fuhr sie, wider ihren Willen heftig werdend, fort, daß wir .... – Sie brach plötzlich ab.

Vittoria fragte, ob sie nicht vollenden wolle.

Indeß die junge Frau hatte sich schon wieder zusammengenommen. Sie bereute ihre Aufwallung, denn Renatus wollte durchaus den Frieden in seinem Hause aufrecht erhalten haben, und bemüht, dieses Ziel zu erreichen, bemüht, ihrem Manne vielleicht durch eine Erörterung mit seiner Stiefmutter das Leben zu erleichtern, sagte sie, sich überwindend: Du bist wirklich nicht gerecht gegen uns, beste Vittoria! Du weißt es, glaube ich, wirklich nicht, wie schwer der arme Renatus es hat! Er thut für Dich und für uns alle, was er kann, aber .... – sie zögerte auf's Neue und sagte dann endlich, als müsse es einmal ausgesprochen werden: Er will freilich nicht, daß Du darum weißt, indeß Du kannst ja ohne das seine Handlungsweise nicht begreifen, und ich kenne ja auch Deine Liebe für ihn und mich, wennschon Du manchmal an die unsere für Dich nicht glauben willst! – Sie machte eine Pause, dann fuhr sie fort: Heute zum Beispiel – wie gern wollte ich Dir einen Wagen holen lassen! Ich führe ja auch selbst gern vor das Thor hinaus! Aber unsere Einkünfte sind nicht groß, und das Leben kostet hier so viel! Dazu .... – sie näherte sich der Stiefmutter, nahm ihre Hand und sagte: Versprich mir, daß Niemand, am wenigsten Renatus darum erfährt, und laß es Dich nicht kränken, wenn ich sage, daß das ganze Unheil nur von des Vaters falscher Großmuth herrührt – dazu ist Renatus seit den beiden letzten[313] Jahren immer in großer Geldverlegenheit gewesen. Wir haben schon im vorigen und in diesem Winter überlegt, wie wir es machen könnten, uns zurückzuziehen, ohne ein unangenehmes Aufsehen zu erregen, und nöthig wäre es, denn Renatus hat, von einem Wechselgläubiger gedrängt, sich schon vor anderthalb Jahren entschlossen, von unserem Pächter Vorschüsse zu nehmen. Es bleibt ihm in diesem Jahre also nichts mehr übrig, als die auf ihn laufenden unglückseligen Wechsel verlängern zu lassen, was neue, größere Kosten machen wird, während wir mit unserem Gehalte beim besten Willen nicht im Stande sind, unsere Ausgaben zu bestreiten! Hättest Du ihn je gesehen, wie ich, wenn die Zahlungstermine nahe kommen – und er hat ja schon in dem zweiten Jahre unserer Ehe die Hypothekenlast auf Richten noch erhöhen müssen – Du würdest Dich nicht mehr über ihn beschweren!

Die Stiefmutter hörte ihr ruhig zu, aber Cäcilie merkte, daß sie mit ihren Worten nicht den erwarteten Eindruck auf sie machte, denn Vittoria sagte, offenbar gelangweilt, sie verstehe von diesen Angelegenheiten nichts.

Gewiß, hob die junge Baronin, weil sie lebhaft wünschte, ihrem Manne vor Vittoria's Ansprüchen Ruhe zu schaffen, so freundlich als sie konnte, noch einmal an, Du verstehst das nicht genau, und ich – ich habe ja auch davon nichts verstanden oder vielmehr nie recht daran gedacht, bis ich es Renatus endlich anmerkte, daß ihn etwas drückte! Nun ich ihn aber gefragt habe, nun er mir Alles vertraut hat, nun ich weiß, weshalb Renatus für den Sommer unsere Wagenpferde verkauft und den Kutscher und den Diener bis zum Winter abgeschafft hat, nun ertrage ich, weil es ja dem geliebten Renatus zu Hülfe kommt, den heißen, einsamen Sommer hier in unserem Hause auch weit besser! Und ich meine, auch Du wirst Dich gedulden um seinetwillen, Liebe! Er hat's gewiß nicht leicht, er hat oft schwere [314] Tage, und er ist ein Herr von Arten, von dem man in der Gesellschaft und im Regimente etwas erwartet! Er muß doch leben, wie es einem Arten zukommt!

Cäcilie fand eine Beruhigung darin, daß sie dies endlich ausgesprochen hatte. Sie hoffte durch diesen Beweis ihres unbedingten Vertrauens ihre Schwiegermutter mit den Einschränkungen auszusöhnen, die sich aufzuerlegen sie ihrem Manne versprochen hatte; aber Vittoria faßte es anders auf.

Ich habe Dich nicht unterbrechen mögen, Kind, sagte sie; indeß ich begreife nicht, weßhalb Du mir solche Mittheilungen machst, obenein, wenn Renatus Dir dies verboten hat. War ich es, die den Eintritt in die Welt begehrte, die unsere Vorstellung am Hofe forderte? Oder meinst Du, daß mein Luxus Deines Mannes Geldverlegenheit verschuldete?

Nein, nein, gewiß nicht! besänftigte sie Cäcilie, die bereits einzusehen begann, daß sie einen Mißgriff gethan hatte. Aber Du hegtest doch so gut wie ich die Neigung, die Gesellschaft kennen zu lernen, und Renatus hielt und hält es noch für nöthig, daß wir uns in ihr bewegen!

So muß er auch die Mittel schaffen, daß wir's können, entgegnete Vittoria mit großem Gleichmuthe, und er hat Unrecht, daß er Dich und mich mit Angelegenheiten peinigt, in denen wir ihm doch nicht helfen können! Sein Vater that das nie! Er machte Alles mit sich selber ab. Er war nicht kleinlich!

Renatus weiß davon zu sagen! fuhr Cäcilie auf; aber sie unterdrückte, was sie noch hatte hinzufügen wollen, und schweigend und in sich versunken blieb sie in dem Zimmer neben ihrer Schwiegermutter sitzen.

Sie war dieses Zusammenlebens mit Vittoria von Herzen müde, sie war der Nothwendigkeit des Scheinenmüssens höchlich satt. Wäre sie nicht in der Liebe ihres Mannes so glücklich gewesen, hätte sie sich nicht damit getröstet, daß er sich glücklich [315] in seiner Ehe mit ihr fühle, sie würde Hildegard oft um das ruhig bescheidene Leben in ihrer Mutter Hause beneidet haben. Bisweilen, wenn die Zahlungstermine für die Wechselschulden ihres Mannes herankamen, wenn sie berechnen konnte, wie jedes fortschreitende Halbjahr sie mit wachsender Gewalt in eine immer tiefere Verwirrung ihrer Verhältnisse hinabzog, hatten ihre Sorge und ihre Liebe für den Gatten ihr die verschiedensten Plane zu seinem Beistande eingegeben. Sie hatte sich an Eleonore, an Seba, an Tremann, an den Kronprinzen wenden und ihn um ein Darlehen angehen wollen, das mäßig zu verzinsen und dann allmählich abzuzahlen, nicht über ihre Kräfte gegangen wäre; indeß die leiseste Andeutung einer solchen Möglichkeit hatte stets ihres Gatten Zorn erregt, und sich bescheidend, weil sie nichts zu ändern vermochte, hatte sie sich gewöhnt, am Tage den Tag zu leben und sich mit den kleineren und größeren Entbehrungen und Ersparnissen zu beschwichtigen, die sie unter annehmbaren Vorwänden sich aufzuerlegen und den Ihren abzugewinnen geschickt erlernt hatte. Ward Renatus das gewahr, so schlug es ihn nieder, und seine Zärtlichkeit suchte dann nach einem Anlaß, Cäcilie für ihr Opfer freigebig zu entschädigen; aber sie hatte die Sorglosigkeit verloren, sich daran zu freuen, und auch jetzt war sie in trübe Befürchtungen versunken, als ein Wagen vor ihrer Thüre vorfuhr und der Diener des Grafen ihr seinen Herrn und die Comtesse Rhoden meldete.

Um diese Stunde? riefen beide Frauen, da der Graf, wenn er nicht das Theater oder ausnahmsweise eine Gesellschaft besuchte, gegen den Abend nicht mehr ausfuhr; es blieb ihnen jedoch nicht lange Zeit, über den Anlaß seines Kommens nachzudenken, denn auf Hildegard's Arm gelehnt, trat der Graf in das Zimmer ein, und sich auf den Sessel niederlassend, den sein Diener ihm schnell herbeiholte, sagte er: Um Vergebung, meine Freundinnen, daß wir Sie zu ungewohnter Stunde stören, aber [316] Glück ist etwas so Seltenes, daß ich meinte, ein paar Glückliche müßten zu jeder Zeit willkommen sein! Erlauben Sie also, fügte er lächelnd hinzu, daß wir uns Ihnen als Verlobte vorstellen!

Als Verlobte? wiederholten Cäcilie und Vittoria, ihren Ohren kaum vertrauend, und während die Letztere sich noch bemühte, ihr Erstaunen über dieses unerwartete Ereigniß in Glückwünschen zu verbergen, hatte Hildegard der Schwester Hände bereits ergriffen, und ihr tief in die Augen blickend, sprach sie in ihrem sanftesten Tone: Sieh', Cäcilie, nun ist Alles zwischen Dir und mir vergessen und Alles wieder, wie es war! Ich darf wohl sagen, wie es geschrieben steht: sie dachten es böse mit mir zu machen, aber der Herr hat es wohl gemacht! – Ich bin sehr glücklich, so glücklich, daß ich Dir Dein Glück von Herzen gönne! Schreibe das Renatus, oder ich will es lieber selber thun! Nicht wahr, geliebter Gerhard, wir wollen an Renatus schreiben? Ich denke, es soll ihm wohlthun, und auch Dir, Cäcilie, wird es das Herz befreien, daß ich glücklich, ja daß ich sehr glücklich bin!

Sie umarmte Cäcilie, sie umarmte Vittoria, sie war voller Zärtlichkeit, voller Vergebung für die Schwester, und doch war jedes ihrer Worte wie darauf berechnet, Cäcilie zu verwunden.

Mit großem Geschicke wußte sie, ohne der Gegenstände irgend zu erwähnen, die Schwester auf die neue, reiche Kette, an der sie ihre Uhr trug, auf den feinen florentiner Hut, auf den prächtigen türkischen Shawl aufmerksam zu machen, und von ihrer nahe bevorstehenden Hochzeit wie von der Badereise zu sprechen, die sie gleich nach der Hochzeit unternehmen würden. Nur ganz beiläufig erzählte sie, daß sie einen neuen Reisewagen kaufen werde, weil auf des Grafen Wagen für ihre Kammerjungfer nicht der nöthige Platz vorhanden sei, und von allen ihren beabsichtigten Anschaffungen sprechend, gelangte sie endlich [317] an das von ihr ersehnte Ziel, der Schwester die Mittheilung von dem reichen Erbe zu machen, welches ihr anheimgefallen war.

Dann erhob sie sich plötzlich mit der Bemerkung, daß es Zeit zum Aufbruche sei, und noch im Fortgehen wiederholte sie es der Schwester, daß sie und der Graf dem Freiherrn schreiben würden, um ihm Kenntniß von ihrem Glücke zu geben.

Gaetana brachte eben die Lampe in das Zimmer, als der Graf mit Hildegard sich entfernte.

Ist das Vorhaus schon erleuchtet? fragte Cäcilie lebhaft.

Die gnädige Frau haben ja befohlen, die Lampe in dem Vorhause immer so spät als möglich anzuzünden! wendete die Dienerin ein.

Cäcilie schwieg und biß sich in die Lippe. Hildegard wird immer einen gut erleuchteten Vorsaal, wird immer einen Bedienten haben! dachte sie in ihrem Innern, und von einer bittern Empfindung hingenommen, verließ sie das Gemach. Sie wollte wenigstens allein sein.

[318]
10. Capitel
Zehntes Capitel

Graf Gerhard hatte es im Scherze stets gesagt, er halte es mit Montecuculi, denn zum Leben wie zum Kriegführen brauche man Geld und Geld und Geld, und er verstand es in der That vortrefflich, das große Vermögen seiner Frau mit Anstand zu benutzen.

Die Hochzeit des Grafen war wenig Wochen nach seiner Verlobung gefeiert worden; die Neuvermählten waren in ein Bad, aus diesem zu einem Winteraufenthalte in den Süden gegangen, und nach ihrer Rückkehr in die Heimath hatten sie das inzwischen nach des Grafen Angabe eingerichtete Haus bezogen, welches sie nun bereits seit drei Jahren inne hatten. Kein Haus in der ganzen Stadt war so geschmackvoll und so wohnlich als das des Grafen Berka ausgestattet. Pracht und Bequemlichkeit gingen in demselben Hand in Hand, und wie seine Wohnung, so war alles, was ihm gehörte, auf das Beste ausgewählt.

Er ließ seine Wagen und seine Pferde aus England kommen, er hielt sich einen französischen Koch, sein Keller war der bestversehene der Residenz, seine Kleidung von der zweckmäßigsten englischen Façon; nur seine Gesundheit und seine Kraft konnte das Vermögen seiner Frau, das er seit seiner Rückkehr aus Italien durch mannigfache Spekulationen sogar noch zu vermehren gewußt hatte, ihm nicht mehr erkaufen.

Aber man bewunderte die Selbstbeherrschung, mit der er [319] seine wachsenden Beschwerden trug, den Muth, mit dem er gegen seine fortschreitende Lähmung ankämpfte, und vor Allem pries man die schöne Hingebung, mit welcher die Gräfin Berka ihn vergessen zu machen strebte, daß ihr an seiner Seite doch eine schwere Aufgabe zu Theil geworden war.

Es gab nicht leicht ein Ehepaar in der Gesellschaft des hohen Adels, das mehr der allgemeinen Gunst und Theilnahme genoß, als Graf Gerhard und die Gräfin Hildegard; man konnte sich auch kein würdigeres Familienverhältniß denken, als das, welches zwischen der alten Gräfin Rhoden und den Berka's herrschte, bei denen sie jetzt lebte. Die Einigkeit der Mutter und der Tochter, die schönen weltmännischen Manieren des Grafen, der Gräfin edler Sinn für Häuslichkeit machten, daß es Jedem wohl ward, der über ihre Schwelle trat; und da man wegen der Kränklichkeit des Grafen große Gesellschaften zu geben so viel als möglich vermeiden mußte, so hatte Hildegard sich entschlossen, Mittags immer ein paar Plätze für gute Freunde an ihrem Tische bereit zu halten und allabendlich für dieselben um die Theestunde zu Hause zu sein.

Man rechnete es ihr sehr hoch an, daß sie ihrem Gatten zu Liebe auf alle Geselligkeit außer ihrem Hause verzichtete, und selbst die Prinzen und Prinzessinnen suchten sie dafür zu entschädigen, daß sie sich's versagte, an den Hof zu gehen. Ihre Beschützerin, die alte Prinzessin, empfing sie in den Morgenstunden, in denen sie sonst Niemanden anders bei sich sah; die jüngeren Prinzessinnen fuhren gelegentlich bei der guten Gräfin Berka vor, die an der Spitze aller wohlthätigen Unternehmungen stand und deren Religiosität, obschon sie eine Katholikin war, sich von jeder Ausschließlichkeit, vor aller Unduldsamkeit fern zu halten wußte. Selbst auf ihren Gatten, der es mit der Religion sonst leicht genug genommen hatte, wirkte der fromme Sinn der Gräfin Hildegard mit Segen ein. Der Graf fuhr regelmäßig [320] an jedem Sonntage in die Kirche, die der Hof besuchte, und das Einzige, was seine Frau bedauerte, war ihr einstiger Uebertritt zur katholischen Kirche, zu welchem sie von der Mutter in ihrer Kindheit bestimmt worden war und der sie jetzt in gewissem Sinne von ihrem Gatten und von ihren fürstlichen Beschützern und Freunden trennte.

Es war durchaus angenehm, mit den Berka's eng verbunden zu sein, und Hildegard war für ihren Umgang sehr wählerisch geworden. Sie hielt es für nothwendig, Jeden und Alles zurückzuweisen, was den Grafen aufregend oder störend berühren konnte, den man nach des Arztes Ausspruch vor heftigen Gemüthsbewegungen bewahren sollte, und sie nannte es gegen ihre vertrauten Freunde eine Rücksicht auf das Empfinden ihrer Mutter, daß sie den Freiherrn von Arten und seine Familie trotz ihrer sehr verschiedenen Lebensansichten bei sich sah. Denn, sagte sie eines Tages zu einer ihrer näheren Freundinnen, der Graf ist mit dem ganzen Thun und Treiben seines Neffen gar nicht einverstanden, und selbst mein Zusammenhang mit meiner armen Schwester ist leider ein sehr oberflächlicher geworden. Ich komme so selten in Cäciliens Haus. Sie wissen's ja, ich verlasse den Grafen ungern, und, ich bekenne Ihnen offen, die Baronin Vittoria ist mir nicht sympathisch, ist mir's nie gewesen!

Sie lehnte sich mit diesen Worten in ihren Sessel zurück und nahm ihre Stickerei wieder zur Hand, die für eine der Weihnachts-Ausstellungen bestimmt war, welche sie alljährlich in den schönen Räumen ihres Hauses abhielt. Die Freundin, an welche diese Worte gerichtet wurden, war die Mutter von des Königs Adjudanten. Ihr Mann war General gewesen, ihr zweiter Sohn bekleidete eine Instructorstelle im Kadettenhause.

Die Mittheilung der Gräfin Berka hatte sie nicht überrascht. Man wußte, daß die beiden Familien wenig Gemeinschaft hielten, und eben deßhalb konnte die Generalin die Frage an die Gräfin [321] richten, ob sie denn von der Unannehmlichkeit schon unterrichtet sei, die den Major von Arten eben in diesen Tagen betroffen habe.

Eine Unannehmlichkeit? wiederholte Hildegard. Was ist denn geschehen? Ich weiß von nichts, die Arten's waren seit mehr als vierzehn Tagen nicht in unserm Hause. Ich bitte, sprechen Sie; Sie beunruhigen mich auf das Aeußerste. Die arme Cäcilie!

Die Generalin ließ sich nicht lange bitten. – Es betrifft glücklicher Weise, sagte sie, dieses Mal den Major nicht selbst; es ist nur eine widerwärtige Sache mit dem jüngeren Arten. Man hat ihn von der Anstalt fortgewiesen.

Fortgewiesen? wiederholte Hildegard, und sich zu ihrem Manne wendend, meinte sie: Du behältst also auch damit leider wieder Recht, lieber Gerhard! Also von der Anstalt fortgewiesen?

Es war unmöglich, ihn zu halten! versicherte die Generalin. Mein Sohn sagte mir, er habe in Rücksicht darauf, daß der junge Arten zu Ihrer Familie gehört, das Aeußerste gethan, diese Maßregel zu hindern; aber der Leichtsinn des jungen Menschen sei unverbesserlich gewesen und man habe um der übrigen Kadetten willen nicht länger Nachsicht üben dürfen.

Der Graf wollte wissen, was man Valerio zur Last lege. Die Generalin sagte, wie sie von ihrem Sohne erfahren habe, sei der junge Arten immer kein sonderlicher Schüler gewesen und habe seit Jahren vielfachen Anlaß zu Klagen gegeben. Einen Liebeshandel mit der Tochter eines der unteren Beamten, dem man vor einigen Monaten auf die Spur gekommen sei, habe man vertuscht; man habe ihn oftmals wegen seines Hanges zum Spotte verwarnt, die Karikaturen, die er gezeichnet und in der Anstalt in Umlauf gesetzt, geflissentlich übersehen, bis man neulich ein getuschtes Blatt in verschiedenen Exemplaren vorgefunden[322] habe, durch welches die Liebhaberei Sr. Majestät für das Theater und namentlich für das Ballet in wahrhaft empörender Weise zum Gegenstande des Spottes, zu einer Karikatur gemacht worden sei.

Und was ist danach geschehen? erkundigte sich der Graf.

Die Generalin zuckte die Schultern. – Es wäre natürlich meines Sohnes Pflicht gewesen, sagte sie, betreffenden Ortes davon Anzeige zu machen, aber eben weil mein Sohn um Ihretwillen auch an dem Major Antheil nimmt, hat er davon abgestanden. Er hat den Major sofort von dem Vorfalle benachrichtigt, man hat den jungen Arten in seine Familie zurückgeschickt, und der Direktor der Anstalt hat dem Major den Rath ertheilt, den jungen Menschen so bald als möglich von hier fort und in eine andere Lebensbahn zu schaffen, da er ohnehin sehr phantastisch sein soll.

Das kommt von der Mutter! meinte der Graf, während Hildegard die Gräfin Rhoden, welche hinzugekommen war, mit einem Bedauern, dem der Ausdruck ihrer Züge völlig widersprach, von dem Geschehenen in Kenntniß setzte.

Die Generalin bemerkte, der verstorbene Freiherr Franz sei auch sehr phantastisch gewesen.

Der Graf fragte, was sie mit der Erinnerung sagen wolle.

Die Generalin erwiderte, daß leider der Apfel selten weit vom Stamme falle.

Wenn ihn der Baum getragen hat, gewiß nicht! entgegnete der Graf; aber an wie manchen alten Baumes Stamm findet man Früchte, die von außen hinübergeworfen worden sind und auf die das Sprüchwort also wenig paßt.

Die Generalin sah ihn überrascht und neugierig an. Hildegard, der die schweren seidenen Kleider und die kleinen weißen Spitzentücher, die sie über ihre noch immer lang herniederfallenden, röthlich-blonden Locken zu knüpfen pflegte, ein jugendlich [323] matronenhaftes Ansehen gaben, hob die Augen mit ihrem sanftesten Blicke bittend zu ihrem Gatten auf, und der Graf versagte es sich also, die Neugier der Generalin zu befriedigen. Aber diese gab ihre Erwartung so leichten Kaufs nicht für verloren.

Nehmen Sie es mir nicht übel, rief sie, als müsse sie ihr Herz endlich einmal von einem schweren Zweifel zu befreien suchen, ist denn irgend etwas daran, daß die Vergangenheit der Baronin nicht ganz makellos ist, und ist's denn wirklich wahr, was man sich von der Liaison der Baronin Vittoria mit Emilio erzählt? Ich würde mir, darauf kennen Sie mich ja, eine solche Frage sicherlich nicht gestatten, wenn ich nicht zuverlässig hoffte, von Ihnen zu erfahren, daß man der Baronin Unrecht thue, aber – unvorsichtig bleibt es doch, daß man Emilio auch jetzt noch in des Freiherrn Hause sieht.

Die Gräfin Rhoden, deren Mutterherz durch den neuen Kummer, welcher jetzt über Cäcilie wieder hereinbrach, doch bewegt ward, sagte, die Generalin irre, wenn sie glaube, daß Emilio noch zu den Umgangsgenossen ihrer Kinder zähle. Man empfange ihn seit nahezu einem Jahre nicht mehr.

Es war auch gar nicht möglich, länger ein Auge zuzudrücken, fügte Hildegard hinzu, als müsse sie diese Erklärung geben, denn Emilio trieb seine Schauspielkunst in meines Schwagers Hause so con amore, daß er, um sein Verhältniß zu der Baronin Vittoria zu verbergen, nicht übel Lust bezeigte, sich als den Verehrer meiner Schwester darzustellen.

Das wird ihm nicht eben schwer gefallen sein, meinte die Generalin, denn die Baronin Cäcilie wird mit jedem Jahre schöner. Sie wird Ihnen, liebe Rhoden, seit sie voller geworden ist, nur immer ähnlicher.

Die Mutter nahm das Lob der Tochter, das ihr zu gleich schmeichelte, freundlich auf. Hildegard sagte, Cäcilie werde doch [324] gar zu stark, und kaum hatte die Generalin sich entfernt, als Hildegard die Mutter fragte, ob sie nicht anspannen lassen solle und ob sie nicht gemeinsam zu Cäcilie fahren wollten, nachzuhören, was dort wieder vorgefallen sei und was man etwa für sie thun könne. – Cäcilie bemitleiden zu gehen, war die Gräfin Berka immer bei der Hand, und ihr Mitleid war der Schwester und dem Schwager nicht das Leichteste, das sie zu tragen hatten.

Auch jetzt wieder lasteten ihre Zustände schwer auf diesen Beiden. Valerio war seit dem vorigen Tage in des Freiherrn Hause. Es hatte heftige Auftritte und die unangenehmsten Verhandlungen gegeben. Cäcilie sah mit Kummer, wie die Furchen auf ihres Gatten Stirn sich mit jedem neuen Jahre vertieften, wie sein ganzer Sinn sich verdüsterte und seine Reizbarkeit sich krankhaft steigerte. Auch der Vorfall mit Valerio hatte ihn wieder sehr niedergeschlagen, während der Jüngling selber und seine Mutter das Geschehene äußerst leicht zu nehmen schienen.

Vittoria sagte, sie habe immer die Ueberzeugung gehegt, ihr Sohn sei nicht dazu geschaffen, in dem geistlosen Zwange der militärischen Disciplin seine glänzende Begabung untergehen zu lassen. Ihr Blut, das Blut eines glücklicheren Volkes, lebe in seinen Adern. Die Natur habe ihn bestimmt, ein Künstler zu werden, und die Natur lasse sich nicht überwinden, sie räche sich, wenn man ihr Gewalt anthue. Auch Valerio sprach von seinem eigentlichen Berufe, von seinem inneren Müssen. Der Freiherr beachtete ihre Worte kaum. Der Gedanke, daß der Jüngling, den er in großmüthiger Liebe als seinen Bruder gelten lassen, der seinen Namen trug, daß ein Freiherr von Arten wegen einer unwürdigen Handlung aus dem Kadettenhause ausgestoßen worden sei, brannte als eine Schmach in des Freiherrn Seele, und es hatte ihn eine große Ueberwindung gekostet, sich heute zur Parade zu begeben. Allerdings hatte Niemand mit ihm von dem Vorgange gesprochen, aber der Major [325] zweifelte nicht daran, daß er vielen seiner Nebenoffiziere bereits bekannt gewesen sei. Es war gestern ein Sonntag gewesen; die Kadetten hatten ihren Urlaub gehabt, in Hunderten von Familien hatte man das Ereigniß gestern fraglos mitgetheilt, und Renatus hatte es auf der Parade in den Mienen seiner Kameraden zu lesen gemeint, daß sie sich Gewalt anthäten, der Angelegenheit nicht zu erwähnen.

Der Freiherr brachte am Mittage keinen Bissen über seine Lippen. Er stand vom Tische auf, weil er es nicht ertragen konnte, Vittoria's Gleichmuth und die unverminderte Eßlust anzusehen, mit der Valerio sich Genüge that.

Als man sich von der Mahlzeit erhob, folgte Cäcilie ihrem Gatten in sein Zimmer. Er bemerkte sie kaum. Gesenkten Hauptes, die Hände auf den Rücken gelegt, ging er auf und nieder. So pflegte sein Vater umherzuwandern, wenn ihn Sorgen drückten, wenn er etwas mit sich abzumachen hatte; aber Renatus war nicht mehr, wie einst der Freiherr, in den großen Gemächern des Richtener Schlosses, in denen man seiner Aufregung weit ausschreitend Luft machen konnte, und die Bewegung in dem engen Zimmer steigerte seine Heftigkeit, statt sie zu mäßigen. Er kam sich wie ein Gefangener vor, er meinte, die Wände immer näher zusammenrücken zu sehen, es versetzte ihm den Athem, und sich rasch umwendend, wie Einer, der sich zur Wehre setzen muß, schellte er dem Diener.

Cäcilie fragte, was er wünsche.

Ich muß mit dem Burschen zu Ende kommen! gab er ihr zur Antwort und befahl dem Diener, ihm Valerio zu rufen, der auf dem andern Flügel bei der Mutter wohnte.

Ohne eine Bewegung zu verrathen, trat derselbe bei ihm ein. Er war zu einem vollendet schönen Jünglinge erwachsen. Seine Gestalt war hoch und tadellos, der Italiener war in jedem seiner Züge, in seiner ganzen Haltung, vor Allem in [326] seinem Mienenspiele und in seiner Geberdensprache unverkennbar, und selbst die steif machende militärische Schulung hatte den freien Adel seiner Bewegungen nicht zu unterdrücken vermocht.

Du hast mich rufen lassen, Bruder? fragte er, als er bei Renatus eintrat.

Dieser hatte sich niedergesetzt, als wolle er sich damit zur Ruhe zwingen, und langsamer sprechend, als er sonst pflegte, sagte er: Ich habe Dich kommen lassen, um von Dir selber zu erfahren, welche Vorstellung Du Dir von Deiner Zukunft machst. Daß Du fort mußt, weißt Du, daß Du kein Vermögen hast, auf welches Du Dich irgend stützen dürftest, habe ich Dir gesagt, als ich Dir den Rath ertheilte, in das Heer einzutreten, und als die Gnade unseres Königs Dir die Aufnahme in das Kadettenhaus bewilligte.

Er hielt inne. Valerio regte sich nicht. Er hatte den Arm auf einen kleinen Schrank gestützt, der dem Spiegel gegenüberstand, und Cäcilie, die besorgt der Unterredung folgte, konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß Valerio auch in diesem Augenblicke noch mehr mit sich und seiner schönen Stellung, als mit den Worten seines Bruders beschäftigt sei.

Ich spreche nicht davon, hob der Freiherr, da Valerio schwieg, auf's Neue an, ich spreche nicht davon, wie Du Sr. Majestät dem Könige die Gnade gedankt hast, die er Dir angedeihen lassen; das würde, wie Du Dich erwiesen hast, eine vergebene Mühe sein. Laß uns also kurz zur Sache kommen! Was soll aus Dir werden? Was denkst Du mit Dir anzufangen?

Valerio änderte seine Stellung nicht; aber er hob den Kopf, den er bis dahin gesenkt gehalten hatte, in die Höhe und sagte: Fragst Du mich das im Ernste, Bruder?

Mich dünkt, entgegnete der Freiherr bitter, Deine Lage ist nicht dazu angethan, mir Lust zum Scherzen einzuflößen!

[327] Nun denn, rief Valerio, wenn es Dein Ernst ist, wenn Du mir jetzt wirklich endlich die Freiheit geben willst, über mich selber eine Meinung zu haben und über mich zu verfügen, so will ich Dir sagen, was ich wünsche! – Er zögerte, als habe er ein Bedenken, es auszusprechen; dann aber faßte er sich ein Herz, zog mit rascher Bewegung einen Sessel heran, und sich seinem Bruder gegenüber niederlassend, sagte er: Du bist immer gut gegen mich gewesen, und ich habe Dich immer lieb gehabt, Renatus; aber Du hast meine Natur nicht verstanden, hast mich nie aufkommen lassen ....

Du machst Vorwürfe, wo Du Dich entschuldigen solltest, fiel der Freiherr ihm in die Rede; die Taktik ist nicht neu, aber sie ist hier nicht angebracht. Ich habe es heute nicht mit Deinen Bekenntnissen, nicht mit Betrachtungen über die Vergangenheit zu thun, die jetzt zu nichts mehr führen. Beantworte mir rund und nackt die Frage: Was soll aus Dir werden?

Da hob der junge Mann seinen vollen Blick auf den Freiherrn und meinte: Wenn Du auf mich geachtet hättest, brauchte ich Dir das nicht erst zu sagen! Ich werde zur Bühne gehen!

Valerio! rief der Freiherr, als traue er seinen Ohren nicht, und plötzlich die stolze Oberlippe aufwerfend, daß seine Miene, so wenig seine Züge dem Vater glichen, dem Ausdrucke des verstorbenen Freiherrn von Arten äußerst ähnlich wurde, sprach er mit schneidender Kälte: Aber freilich, Du bist kein Arten!

Er wurde blaß, als das Wort seinem Munde entflohen war. Er hätte viel darum gegeben, es nicht ausgesprochen zu haben, sehr viel! Denn er erschrak vor dem wilden Blicke des jungen Mannes, der ihm gegenübersaß, vor dem unheimlichen Zucken seines schönen Mundes.

Sie schwiegen beide; Cäcilie klopfte das Herz, daß sie [328] wähnte, die Andern müßten es hören können. So entschwanden ein paar Minuten. Renatus konnte zu keinem Entschlusse kommen. Einmal stand er auf dem Punkte, seinen Ausspruch als eine bildliche Redeform auszugeben, dann wieder meinte er mit der Enthüllung dieses Geheimnisses einen Zügel gewonnen zu haben, durch den er den unruhig phantastischen Sinn des jungen Mannes wirksam lenken könnte; aber Valerio's heißes Blut trieb ihn zu schnelleren Entscheidungen, als Renatus sie zu fassen gewohnt war, und sich hoch aufrichtend wie ein tragischer Held, denn bei seiner Künstlernatur war er sich selbst in diesem Augenblicke noch ein Gegenstand der Darstellung, sagte er: Ich hoffe, meines Vaters Namen wirst Du mir wohl lassen müssen, da er diesen nicht, wie seinen Besitz, ausschließlich nur auf Dich vererben konnte! Meinen Namen wenigstens danke ich doch Deiner brüderlichen Gnade nicht!

Nicht? rief Renatus, der jetzt seiner selbst nicht länger Herr war, nicht? – Und er hätte in seiner zornigen Empörung Tausende hinzuwerfen vermocht, hätte er die Beweise von Vittoria's Untreue, von Valerio's unrechtmäßiger Geburt dem Jünglinge unter die Augen halten können, der ihm zu trotzen wagte, nachdem er Unehre auf den alten Namen seines Hauses gebracht hatte. – Frage Deine Mutter, ob Du ein Arten bist! Frage Deine Mutter, ob sie und Du nicht meinem Schweigen, meiner Ehrfurcht vor dem Namen meines theuren Vaters die Stellung verdanken, die ihr einnehmt! Ein Wort von mir ....

Er brach ab und bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen. So weit hatte man ihn gebracht, so weit war er von sich selber und von den Ehrbegriffen seines Hauses abgefallen, daß er dem Leichtsinne eines Jünglings wie Valerio das Geheimniß anvertraute, welches der verstorbene Freiherr der Ehre seines Sohnes zu hüten gegeben hatte! So weit hatte er sich vergessen, daß er Vittoria, die Freundin seiner Kindheit und Jugend, daß er die [329] Mutter bloßstellte vor dem Urtheile ihres Sohnes – eines jungen Menschen, dessen Keckheit vor keinem Aeußersten zurückschrak! Seine Unzufriedenheit mit sich selber kannte keine Grenzen, er schämte sich vor seinem eigenen Weibe; und wie konnte er jetzt noch darauf hoffen, ein irgend erträgliches Verhältniß zwischen Vittoria und Cäcilien aufrecht zu erhalten, da er selber Vittoria als eine Ehebrecherin angeklagt, da er es Cäcilien jetzt verrathen, was er auch ihr bisher mit ängstlicher Geflissenheit verborgen und fern gehalten hatte!

Wie ein Wetterstrahl war das unglückselige Wort zwischen sie Alle niedergefahren, Alles zerstörend, Alle lähmend. Renatus rang nach Fassung; aber es war Valerio, der sich zuerst bezwang, der sie zuerst erlangte.

Die wilde Aufregung in seinen Mienen hatte nachgelassen, seine Stimme klang weich, und in einer Weise, welche seine große Erschütterung verrieth, sagte er: Du hast ein Wort ausgesprochen, über das ich in's Klare kommen muß! Es zwingt mich, Dir eine Frage vorzulegen: War es nur der Zorn, der Dich jene Worte brauchen ließ, oder sagtest Du die Wahrheit? Bin ich des Freiherrn Sohn, oder bin ich's nicht? – Ist's deßhalb, daß ich fast ohne Antheil an unseres Vaters Erbe blieb, obschon unsere Güter nicht Majorate sind? – Ist's deßhalb, daß meine Mutter in einer Weise von Deinem guten Willen abhängt, die für die Wittwe unseres Vaters mir schon seit lange unbegreiflich erschienen ist? Bin ich Dein Bruder, bin ich's nicht? – Und wieder in seinen Trotz zurückfallend, rief er heftig: Ich muß doch wissen, wer ich bin! Dies wenigstens, diese Wahrheit habe ich von Dir zu fordern!

Der Freiherr maß ihn vom Wirbel bis zur Sohle. Das Pathetische in des Jünglings Erscheinung, das ihm immer mißfällig gewesen war, reizte ihn jetzt doppelt. Alles, was er seit Jahren und Jahren Lästiges und Schweres um Vittoria's [330] wegen auf sich genommen, alle die Opfer, die er für sie und auch für Valerio gebracht, die quälenden Eindrücke, welche er seit gestern um des Letzteren willen durchzumachen gehabt hatte und mit denen er noch nicht zu Ende war, belasteten den Freiherrn wie ein einziger, gewaltiger Druck. Sein ganzes Leben war von Rücksichten auf seines Vaters Willen, auf die Ehre seines Hauses und Namens geleitet und bestimmt worden, und was hatte er damit erreicht? Es war genug der Opfer, der Rücksichten auf Andere! Nur an sich selber, an seine persönlichen Verhältnisse, an die Aufrechterhaltung seines Namens und seiner Ehre hatte er noch zu denken; es war Zeit, seine Rechnung mit denen abzuschließen, die ihm dies erschwerten. In ihm, dessen war er sich bewußt, lebte der wahre Sinn seines Geschlechtes, er mußte sich und für sich die Möglichkeit des Fortbestehens zu erhalten suchen. Wollte er nicht untergehen zusammt dem Weibe, das sich ihm in Liebe anvertraut, so mußte er, wie bei einem Schiffbruche, endlich Alles von sich stoßen, was sich hemmend an ihn klammerte, was sich wider ihn zu erheben drohte, und finster, wie der Geist, der über dieser Stunde waltete, sagte er: Was fragst Du mich? Lege diese Frage Deiner Mutter vor!

Valerio erhob sich, sein Antlitz war todtenblaß geworden; auch der Freiherr war aufgestanden. Wo willst Du hin? fragte er, da Jener sich zur Thür wendete.

Ich gehe, meiner Mutter die Frage vorzulegen, die .... er hielt inne und sagte dann sehr fest: mir Freiheit schaffen soll!

Halt, rief der Freiherr, vergiß es nicht, daß Du unseren Namen trägst und daß ich Dein Vormund, daß ich für Dich verantwortlich bin!

Besorgen Sie nichts, Herr von Arten! entgegnete der Jüngling mit einer Entschiedenheit und zugleich mit einem Tone des Spottes, der ihn für Renatus und Cäcilie völlig zu einem [331] Fremden machte – besorgen Sie nichts! Aber zum Dienen bin ich nicht geschaffen! Wäre es mir nicht gelungen, mich durch jene Zeichnung von diesem Rocke – er riß die Uniform vom Leibe und trat sie in wild aufwallender Heftigkeit unter die Füße – von diesem Rocke und von der Sklaverei, zu der er mich verdammte, zu befreien, so hätte ich mir durch die Flucht geholfen; denn mich des Namens zu entäußern, der mir nichts werth ist in der Laufbahn, die ich einzuschlagen denke, war ich ohnehin entschlossen! – Ich begehre Ihres Namens nicht!

Renatus trat in rascher Bewegung auf ihn zu, seine Hand erhob sich – – aber wie im Entsetzen über sich selber blieb er mitten im Zimmer stehen. Geh! sagte er so tonlos, daß er seine eigene Stimme nicht erkannte.

Valerio hörte es nicht mehr. Er hatte das Gemach bereits verlassen, seine Uniform blieb auf dem Boden liegen.

[332]
11. Capitel
Eilftes Capitel

Als die Gräfin Berka fast um dieselbe Stunde bei der Schwester vorfuhr, wurde ihr Besuch nicht angenommen, und Hildegard erzählte dies ihrem Gatten und der Mutter mit dem Zusatze, daß sowohl Cäcilie als Vittoria zu Hause gewesen wären, denn in ihren beiden Zimmern habe sie Licht gesehen.

Ich habe das Meine gethan, ihnen meine schwesterliche Theilnahme zu beweisen, sagte sie; man muß jetzt abwarten, bis sie kommen.

Indeß der nächste Morgen brachte nur ein paar Zeilen von Cäcilie, in denen sie der Schwester ihr lebhaftes Bedauern aussprach, daß es ihr gestern unmöglich gewesen sei, sie zu empfangen. Eine unangenehme Angelegenheit, die ihr und ihrem Manne allerdings nicht unerwartet gekommen sei, habe sie hingenommen und gebe ihnen eben in diesen nächsten Tagen mancherlei zu bedenken und zu ordnen. Sei das geschehen, so würden Hildegard und die Mutter die Ersten sein, zu denen sie eile, um ihnen Nachricht von der neuen Einrichtung zu geben, die sie und Renatus für sich zu machen beschlossen hätten.

Die Schwestern waren schon seit lange auf den Fuß jener ganz äußerlichen Rücksicht und Höflichkeit gekommen, hinter denen die völlige Entfremdung sich verbirgt. Hildegard lächelte, als sie dem Grafen das Billet der Schwester hinhielt. Die Mutter aber hatte Mitleid mit Cäcilien. Sie fuhr am Nachmittage zu ihr.

An dem Zimmer Vittoria's vorübergehend, bemerkte sie, [333] wie man in demselben einen Koffer packte, und sie war kaum bei ihrer Tochter eingetreten, als sich Renatus zu ihnen gesellte.

Obschon er sich auf Cäcilie unbedingt verlassen konnte, sah er es doch seit lange nicht mehr gern, wenn sie mit einem der Ihrigen allein beisammen war. Er wußte das Gemüth seiner Frau mannigfach belastet und bedrückt; und er besorgte, die Macht der Gewohnheit und der alten Zusammengehörigkeit möchte ihr der Mutter oder der Schwester gegenüber doch einmal Geständnisse oder Klagen über ihre Lage entlocken, die er laut werden zu lassen nicht wünschen konnte.

Noch ehe die Mutter eine Frage gethan hatte, dankte der Freiherr ihr dafür, daß sie gekommen sei, und sagte, sie kenne ja von seinem Vater her die alte Arten'sche Maxime, Verdrießlichkeiten mit sich selber abzumachen, und sie werde sich also deßhalb gestern nicht gewundert haben, daß er seine Frau abgehalten, den Besuch der Schwester anzunehmen.

Sie wissen, liebe Mutter, Cäcilie ist sehr weich, es faßt sie daher Alles mehr als nöthig an, namentlich, wenn sie mich ergriffen sieht, und ich war das gestern in der That! Wir haben große Unannehmlichkeiten mit Valerio!

Die Gräfin gab sich das Ansehen, als wisse sie noch nicht, was vorgegangen sei. Sie wollte ihrem Schwiegersohne mit feinem Takte die Freiheit lassen, ihr in der ihm zusagendsten Weise zu berichten, was er eben für angemessen hielt.

Dem Freiherrn war das sehr willkommen. In leicht hingeworfener Weise erzählte er, wie wenig ernsthaft Valerio seine Studien betrieben, wie schwer er sich in die militärische Zucht gefunden und wie nachtheilig die an und für sich edle und schöne Kunstliebe seiner Mutter auf den Jüngling eingewirkt habe. Er erinnerte die Gräfin daran, wie Valerio habe Maler werden wollen, nun, seit Emilio und Vittoria es ihm in den Kopf gesetzt hätten, daß er eine der seltensten Stimmen besitze, sei er [334] auf noch viel verkehrtere Plane gekommen. Er habe nichts als seine thörichten Liebhabereien betrieben, habe sich in der Anstalt unmöglich gemacht, und nach längeren Berathungen sei man denn gestern dahin übereingekommen, ihn auf eine süddeutsche landwirthschaftliche Akademie zu senden. Valerio verlange durchaus nach einer größeren Freiheit; man wolle also versuchen, ob er Neigung für die Landwirthschaft gewinnen könne, und müsse dann zusehen, wie man später für ihn ein Fortkommen ermögliche, mit dem es nicht so dränge, als man es ihm darstelle, denn er sei im Grunde doch erst achtzehn Jahre alt.

Die Gräfin nahm das ganz so auf, wie Renatus es aufgenommen zu sehen wünschte. Sie sagte, er thue wohl daran, wenn er die Sache nicht so schwer als Cäcilie auffasse. Valerio sei ja nicht der erste junge Mensch, der den Seinen einmal Sorge mache; man möge bedenken, daß seine Erziehung früher verabsäumt worden sei, daß sie und Hildegard schon lange vor des Freiherrn Heimkehr darauf gedrungen hätten, den lebhaften Knaben einer männlichen Aufsicht zu übergeben und ihn von der Mutter fortzunehmen. Sie und Hildegard hätten sich auch stets darüber gewundert, und Graf Gerhard – sie könne das jetzt wohl sagen – habe es nie gebilligt, daß Renatus es Vittoria erlaubt, den Sohn in alle Opern und Concerte mitzunehmen und ihn in ihren Soiréen singen zu lassen ...

Sie war bei aller Milde und bei allem Mitleid dennoch auf dem besten Wege, es der Tochter und dem Schwiegersohne zu beweisen, daß ihnen nur geschehe, was sie verdienten und verschuldet hätten, und weil Cäcilie fürchtete, ihr Gatte könne darauf in seinem Unmuthe eine die Gräfin verletzende Entgegnung machen, bemerkte sie, natürlich trage Vittoria's große Schwäche an dem ganzen Unheil Schuld, und die Mutter sei es auch, die ihnen gestern die meisten Schwierigkeiten in den Weg gelegt hätte.

[335]

Ihre Eigenwilligkeit, ihre Launen werden wirklich immer störender für uns, unser bester Wille, meine größte Nachgiebigkeit vermögen ihr nicht genug zu thun, und, Cäcilie konnte ihr Empfinden nicht mehr beherrschen, und Herr muß Renatus in seinem Hause zuletzt doch bleiben! fuhr sie unwillkürlich auf.

Dem Freiherrn kam die plötzliche Aufwallung seiner Frau nicht ungelegen, denn sie gab ihm Anlaß, mit der Thatsache herauszurücken, die man der Gräfin vor allen Dingen mitzutheilen hatte. Ruhig, ruhig, mein Kind, sagte er, Du weißt, daß Du von Vittoria's Grillen nicht lange mehr zu leiden haben wirst.

Die Gräfin sah ihn, sah die Tochter fragend an. Renatus bemerkte das. Ich muß eine Aenderung machen, sagte er. Cäcilie kommt wirklich neben Vittoria nicht zur Ruhe. Ich habe daher meiner Stiefmutter gestern den Vorschlag gemacht, sich selbständig einzurichten. Sobald sie eine ihr zusagende Wohnung gefunden haben wird, verläßt sie unser Haus.

Gottlob! rief die Gräfin, die in der That sich dieses Entschlusses um der Tochter willen freute; aber Renatus hörte darin nur einen Vorwurf, den ihm die Mutter machte, und, wie alle schwachen und eben deßhalb eitlen Menschen, stets geneigt, von einer zu der anderen Meinung überzugehen, wenn sie ihr eigenes Ansehen oder ihre eigene Einsicht dadurch aufrecht erhalten zu müssen glauben, erklärte er plötzlich, daß die Trennung von seiner Stiefmutter natürlich nicht heute und nicht morgen vor sich gehen könne und werde. Er sagte, daß er Vittoria, wie sich das von selbst verstehe, nicht drängen, daß er ihr Zeit lassen wolle, Alles nach ihrem Belieben einzurichten, und daß leicht möglich, da eben jetzt, inmitten des Vierteljahres, die Zahl der freistehenden Wohnungen eine beschränkte sei, der Winter darüber verstreichen könne.

Die Gräfin nahm das auf, wie es ihr von ihrem Schwiegersohne dargestellt wurde; sie überlegte jedoch innerlich, daß Renatus [336] vielleicht eben jetzt die Ausgaben für einen solchen Umzug und für Vittoria's besondere Einrichtung zu machen scheue, da die bürgerliche Ausstattung und die Reise Valerio's schon Kosten verursachen mußten, und nach Mittheilungen und Fragen, von deren Oberflächlichkeit und innerer Unwahrheit beide Theile überzeugt waren, fuhr die Gräfin wieder fort, ohne sich die völlige Zerstörtheit in dem Wesen ihres Schwiegersohnes recht erklären zu können.

Der Vorfall mit Valerio war freilich arg genug; aber je mehr die Gräfin darüber nachsann, um so weniger hieß sie es gut, wenn durch dieses Ereigniß ein öffentlicher Bruch in dem Arten'schen Familienleben herbeigeführt werden sollte. Es war nach ihrer Meinung eine Sache, die man möglichst im Stillen abthun, um derentwillen man nicht an die große Glocke schlagen mußte. Zu Hause wieder angekommen, beklagte sie es, daß Renatus und Cäcilie, trotz mancher gar vortrefflichen Eigenschaften, so wenig Takt besäßen, und sie bedauerte es, daß man nicht wagen dürfe, ihnen einen unumwundenen Rath zu ertheilen, weil man leider nicht mehr wissen könne, in wie weit sie ihm nachzukommen im Stande wären.

Hildegard bemerkte darauf, sie danke Gott täglich dafür, daß er ihr so schöne, so einfache Lebensverhältnisse zubereitet habe und daß sie hier in ihrem Hause mit ihrem Gatten und mit der Mutter ein so klares, ruhiges Dasein hätten.

Eben darum, bat die Gräfin, müsse man nachsichtig gegen die arme Cäcilie sein. Man müsse die Hände liebevoll über sie breiten, denn sie trage an ihrem Leben schrecklich schwer.

Der Graf meinte, wem nicht zu rathen sei, dem sei auch nicht zu helfen. Renatus habe ihm nicht folgen wollen, als er ihn vor Jahren darauf hingewiesen, daß er wohl daran thun würde, sich von der Sorge für Vittoria und Valerio möglichst zu befreien. Nun trage er die Folgen seines falschen Handelns, [337] und es sei keine von seines Neffen kleinsten Thorheiten, den völlig mittellosen Sohn Vittoria's jetzt auf eine landwirthschaftliche Akademie zu senden. Es ist geradezu unbegreiflich, rief der Graf, denn ich möchte wissen, wessen Güter Valerio einst verwalten soll!

Während man aber noch in dieser Weise mit den Vorgängen in der Arten'schen Familie beschäftigt war, ließ sich durch einen seiner Comptoir-Beamten bei Tremann ein junger Mann melden, der ihn zu sprechen wünsche, und gleichzeitig mit dem Diener, welcher die Lampe auf den Schreibtisch seines Herrn niedersetzte, trat Valerio bei ihm ein.

Paul hatte ihn nur einmal an einem Gesellschaftsabend im Arten'schen Hause gesehen, als der Jüngling mit seiner Mutter und mit Emilio unter großem Beifalle verschiedene Terzette gesungen hatte. Das war aber über anderthalb Jahr her, Valerio war in der Zeit völlig herangewachsen, der frühe Bart der Südländer kräuselte sich bereits voll auf seiner Oberlippe, und die bürgerliche Kleidung veränderte ihn noch mehr, so daß Paul ihn mit der Bemerkung empfing, daß er ihn kaum wiedererkenne.

Das darf mich nicht wundern, entgegnete der junge Mann, denn ich habe ja nur einmal die Ehre gehabt, Sie im Hause des Herrn Majors von Arten zu sehen; trotzdem aber habe ich eine Bitte an Sie zu richten.

Es fiel Paul auf, daß Valerio von seinem Bruder in so gezwungener Weise redete, und es lag überhaupt etwas ihn Befremdendes in der ganzen Haltung des Jünglings. Er nöthigte ihn also, sich zu setzen und ihm zu sagen, was er wünsche.

Ich würde es nicht wagen, Sie mit meinen Angelegenheiten zu behelligen, hob Valerio fest und ohne alle Verlegenheit an, wären Sie nicht ein paar Jahre lang mein Vormund gewesen und hätte ich nicht von meiner Mutter es einmal zufällig [338] erfahren, daß Sie auch in Ihrer Jugend aus Verhältnissen entflohen sind, die Ihnen unerträglich geworden waren. Ich befinde mich in der gleichen Lage ...

Durchaus nicht! fiel ihm Paul in die Rede, und da Valerio vor diesem Worte inne hielt, sagte Jener: Sie haben eine Mutter am Leben, sind unter dem Schutze eines älteren Bruders in eine gewiesene Laufbahn getreten, in welcher Ihr Name Ihnen von Nutzen ist: das sind Vorzüge, deren ich mich nicht erfreute. Wenn Sie dieselben augenblicklich etwa nicht hoch anschlagen sollten, werden Sie bei der Laufbahn, die Sie erwählten, wahrscheinlich später anders darüber denken!

Erlauben Sie mir, Ihnen eine Bemerkung zu machen, sagte der junge Mann. Ich habe die militärische Laufbahn nicht erwählt, ich bin zu ihr durch meine Mittellosigkeit gezwungen worden. Meine ganze Seele war von meiner frühesten Kindheit an nur auf Ein Ziel, auf die Kunst gestellt. Als Knabe wollte ich Maler werden, weil ich ein Höheres nicht kannte.

Und was hinderte Sie daran? fragte Paul.

O, rief Valerio, ich war ja ein Herr von Arten! Ein Edelmann, ein Herr von Arten kann kein Maler werden; er kann malen, sagte mir der Major, wenn er Zeit und Lust dazu hat, so viel er mag. Ein Herr von Arten kann nicht von seiner Hände Arbeit leben, kann nicht um Geld für Krethi und Plethi Bilder malen. Ein Edelmann lebt für sich auf seinen Gütern, von seinen Renten oder in seines Königs Dienst.

Ueber Paul's Antlitz flog ein leises Lächeln; es entging der feinen Beobachtung des Jünglings nicht, und durch dasselbe noch ermuthigt, sagte er: Das Testament des Freiherrn Franz, das mich und meine Mutter ganz von dem guten Willen seines Sohnes abhängig macht, hat Sie wahrscheinlich, als Sie es kennen lernten, über Verhältnisse aufgeklärt, die mich, seit ich darüber nachzudenken vermochte, viel beschäftigten, und – er [339] stockte ein wenig, setzte jedoch mit Selbstbeherrschung hinzu: die ich seit gestern verstehen gelernt habe. Vor sechs Jahren indessen, als wir Richten verließen, war ich ein Knabe und hatte zu gehorchen. So wurde ich für den Soldatenstand bestimmt. –

Aber, fiel ihm Paul, der die Unterredung nicht über die Gebühr verlängert zu sehen wünschte, in die Rede, Sie sind nicht in Uniform! Was bedeutet das?

Ich bin aus dem Kadettenhause ausgestoßen, antwortete Valerio, ohne eine Miene zu verziehen, und ich bin überhaupt ein Ausgestoßener! Ich führe den Namen der Freiherren von Arten jetzt nicht mehr!

Sie führen den Namen Ihres Vaters nicht mehr? Was wollen Sie damit sagen? fragte Paul, dem die Festigkeit des Jünglings Wohlgefallen an ihm einzuflößen anfing.

Valerio zog einen Brief hervor und reichte ihn Tremann hin. Er war von Renatus an Valerio geschrieben. Der Freiherr hielt dem jungen Manne in strengen, trockenen Worten noch einmal den Fehltritt vor, dessen derselbe sich schuldig gemacht hatte, erwähnte des Streites, der gestern zwischen ihnen vorgefallen war, sprach von der Unmöglichkeit, daß er Valerio, wie dieser und seine Mutter es forderten, seine Einwilligung zu einer Künstler-Laufbahn auf der Bühne geben könne, so lange er den Namen eines Herrn von Arten trage, und wies ihn an, reiflich zu überlegen, was er jetzt anzufangen denke, da der Freiherr sich weder in der Lage, noch veranlaßt fände, ihn lange und kostspielige Versuche mit seiner Berufswahl anstellen zu lassen.

Paul fragte, weßhalb der Freiherr ihm dies geschrieben und nicht gesagt habe.

Valerio entgegnete, er habe des Freiherrn Haus mit Bewilligung seiner Mutter gleich gestern verlassen, um es nicht wieder zu betreten.

Und was beabsichtigen Sie jetzt zunächst? erkundigte sich [340] Paul, der nun einsah, daß die Sache ernster war, als sie ihm zuerst erschienen.

Ich will einen Namen nicht mehr führen, sprach Valerio mit einem Selbstgefühle, das seine ohnehin edle Gestalt noch höher adelte, den man mich nur aus Gnade bisher hat tragen lassen. Ich habe dem Major geschrieben, daß ich entschlossen sei, fortan auf den Namen seines Vaters zu verzichten und mir meinen Weg zu suchen, wo er für mich zu finden ist. Mit meiner Stimme, mit meiner musikalischen Begabung und mit meiner Begeisterung für die Kunst kann es mir nicht fehlen, mir als Sänger eine unendlich glänzendere und unabhängigere Zukunft zu bereiten, als sie mir im Heere und im Dienste werden könnte. Mein eigenes Bewußtsein und meines bisherigen Lehrers und Freundes Emilio Ausspruch sind mir dessen Bürge.

Der junge Mann brach ab, als schäme er sich dieses eigenen Lobes. Paul schwieg ebenfalls.

Wie jedem auf sein eigenes Leben achtsamen Menschen, war es Paul bisweilen wohl begegnet, daß er in irgend einem bestimmten Augenblicke bei irgend einem ganz plötzlich eintretenden, unvorherzusehenden Ereignisse die Empfindung gehegt hatte, als habe er das schon einmal erlebt oder als habe er gewußt, daß und wie dies eben jetzt geschehen müsse; aber nie zuvor war er von diesem Eindrucke so betroffen worden, wie von dem Gegenbilde, welches Valerio's Vorhaben ihm zu seinen eigenen Jugenderlebnissen jetzt vor Augen stellte.

Ihm, dem unbezweifelten Erben seines Blutes, dem Sohne seiner Liebe, hatte der Freiherr Franz einst den Namen derer von Arten aus Standesrücksichten versagt, während er mit eben diesem Namen, aus denselben Standesrücksichten den im Ehebruche von Vittoria erzeugten Knaben zu bedecken sich verpflichtet gehalten hatte. Und vor Paul, der einst entflohen war, weil [341] sein Vater ihm die Anerkennung und seinen Namen geweigert hatte, stand jetzt eben jener dem Freiherrn untergeschobene und von ihm doch anerkannte Sohn, entschlossen, den Namen Arten von sich abzuwerfen, um in Freiheit der ihm angeborenen Begabung zu entsprechen. Schnell wie diese Gedanken in Tremann sich erzeugten und an einander reihten, entstand durch sie doch eine Unterbrechung in dem Zwiegespräche; und mit unruhiger Spannung blickte Valerio zu dem älteren Manne hinüber, bis dieser die Frage an ihn richtete, welchen Beistand und welche Hülfe er von ihm begehre.

Ich habe davon sprechen hören, daß Sie Mitbesitzer der Schiffe sind, die zwischen Hamburg und England den Personenverkehr besorgen, sagte der Jüngere. Meine Mittel sind beschränkt ... Er hielt inne, und eine heiße Röthe überflog sein schönes Antlitz; er war des Bittens, er war es noch nicht gewohnt, Hülfe begehren zu müssen. – Ich möchte nach London gehen, den Unterricht des dort lebenden größten Sängers zu genießen. Verschaffen Sie mir eine freie Ueberfahrt, und – in Ihrem Hause lebt die Gräfin Haughton; sie hat sicherlich Verbindungen in England. Ich möchte, bis ich zur Bühne gehen kann, Unterricht zu ertheilen versuchen, portraitiren. Ich treffe gut!

Seine Festigkeit drohte ihn zu verlassen, und er wartete mit sichtbarer Unruhe auf die Antwort Tremann's, als dieser statt derselben die Frage an ihn richtete, ob der Major von Arten von diesen Absichten und von dem Besuche, welchen Valerio ihm jetzt eben mache, unterrichtet sei. Der Jüngling verneinte dies.

So erlauben Sie, versetzte Paul, daß ich mich erst mit dem Herrn Major verständige, ehe ich Ihnen sage, ob ich etwas und was ich für Sie thun kann.

Valerio erhob sich. Sie weisen mich zurück! meinte er, [342] und man konnte ihm den gekränkten Stolz und die schmerzliche Enttäuschung in jeder Miene ansehen.

Nein, entgegnete ihm Paul, aber Sie sind unmündig. Ich muß erst wissen, wie Ihr Vormund über Ihre Plane denkt.

Valerio blieb zögernd stehen; er schien etwas sagen zu wollen und den Muth dazu nicht zu finden. Endlich stieß er rasch die Worte hervor: Entflohen Sie denn mit Erlaubniß?

Paul blickte den Jüngling ruhig an und sagte mit seinem schönen, ruhigen Ernste: Nein; aber ich hatte Niemandem von meinem Vorhaben gesprochen und von Niemandem Hülfe dabei begehrt! Ich verließ mich auf mich selbst!

Valerio schlug beschämt die Augen nieder. Paul hatte indeß durchaus nicht beabsichtigt, ihn zurückzuscheuchen, und stets zum Begütigen geneigt, fügte er sofort hinzu: Ich war ein Kind, das man zur Verzweiflung getrieben hatte. Ich wußte, ich übersah nicht, was ich that, denn ich kannte vom Leben und von der Welt weit weniger, als Sie, und ich tadle es durchaus nicht, daß Sie Sich an mich wandten, im Gegentheile! – Er sann einen Augenblick nach, blickte auf einen Kalender, der zur Seite seines Schreibtisches hing, und sagte dann: Kommen Sie morgen um die gleiche Stunde wieder zu mir, und Ihre Hand darauf, junger Mann, jetzt, da Sie mit mir über Ihre Zukunft Rücksprache genommen haben, treffen Sie keine Entscheidung über Sich, ohne daß ich davon weiß!

Er hielt ihm die Hand hin; Valerio schlug mit neu belebter Hoffnung herzhaft in die dargebotene Rechte. Dann hieß Paul ihn gehen, und kaum hatte der Jüngling ihn verlassen, so setzte Jener sich nieder, an Renatus zu schreiben.

[343]
12. Capitel
Zwölftes Capitel

Der Verkehr und der Zusammenhang zwischen den Familien von Paul und von Renatus, die nach Eleonorens Genesung Anfangs eine Art von Lebhaftigkeit gewonnen hatten, waren allmählich wieder geringer geworden und hatten sich in den letzten beiden Jahren auf jene Einladungen zu großen Festlichkeiten beschränkt, mit denen man sich gleichgültigen Herzens und oft widerwillig genug gegen die große Anzahl derjenigen sogenannten guten Freunde abzufinden sucht, die zu sehen oder gar zu sprechen man kein sonderliches Verlangen trägt und die man doch nicht durch gesellschaftliche Vernachlässigung zu Feinden werden lassen mag. Wenn man einander traf, ergingen Vittoria und Cäcilie sich immer in Erklärungen und Betrachtungen darüber, wie es habe geschehen können, daß man einander so lange nicht gesehen, und Seba's und Daviden's Arglosigkeit war stets bereit, die Gründe gelten zu lassen, welche von Jenen vorgebracht wurden. Paul aber, der, ohne von Natur zum Mißtrauen geneigt zu sein, die Menschen besser als die Frauen kannte, sah und beurtheilte die Gründe, aus welchen Renatus sich von ihm zurückhielt, in einer anderen Weise.

Er kannte die Einkünfte des Freiherrn so genau, als dieser selbst, und Renatus wußte, daß Paul ein guter Rechner sei. Es konnte also dem Freiherrn, der sich für verpflichtet erachtete, einen Aufwand zu machen, welcher bei Weitem über seine Mittel ging, in keinem Falle erwünscht sein, einen Beobachter neben [344] sich zu haben, der nach seinen Grundsätzen eine solche Handlungsweise entschieden tadeln mußte, und Paul trug seinerseits auch kein Verlangen danach, näher in die gegenwärtigen Verhältnisse des Freiherrn eingeweiht zu werden. Was er davon gelegentlich und zufällig erfuhr und sah, bestätigte ihm nur die Lehre von der wachsenden Schnelligkeit, mit welcher die einmal ins Gleiten gerathene Lawine dem Abgrunde zurollt. Was geschehen würde, darüber war Paul schon lange nicht mehr im Zweifel; wann und wie es geschehen würde, ließ sich fast auch mit Sicherheit berechnen.

Richten war so verschuldet, daß die Zinszahlungen von einem Vierteljahre zum andern immer schwerer wurden. Steinert schrieb, daß es ein Jammer sei, in welcher Weise der Amtmann, dessen Reich in Kurzem dort zu Ende gehen mußte, auf dem Gute wirthschafte, und wenn Paul in den kaufmännischen Kreisen, in welchen er arbeitete, von den Wechseln auch nichts zu sehen bekam, die in den Händen der Wucherer auf Renatus in Umlauf waren, so erfuhr er doch hier und da, daß der Major von Arten mancherlei bedenkliche und gefährliche Spekulationen für sich ma chen ließ, und sein Zutrauen zu des Freiherrn Umständen ward dadurch natürlich nicht gehoben.

Renatus selber war dabei nicht wohl zu Muthe. Er hätte es anders, er hätte gern geordnete Verhältnisse haben mögen, aber wie konnte er zu diesen je gelangen, ohne sein Leben völlig umzubrechen, ohne dem Grafen Gerhard und dessen Frau das Feld zu räumen, ohne sich ihrem Urtheil und dem Urtheil aller seiner Standesgenossen auf Gnade oder Ungnade zu überliefern?

Daß Hildegard ihm und Cäcilien nie vergeben werde, daß sie ihn und die Schwester hasse, und daß Graf Gerhard ihm übel wolle, darüber war Renatus ganz im Klaren. Aber er sagte sich nicht, daß es in solchen Verhältnissen gerathen sei, die Trennung zwischen sich und seinen Feinden zu einer vollständigen[345] zu machen. Er mochte in dem sehr angesehenen und viel besuchten Hause seines Onkels und seiner Schwägerin nicht fehlen; er meinte, durch seine bloße Anwesenheit in demselben Hildegard's feindseligen Aeußerungen eine Schranke setzen zu können, und in der That hörte auch von der Gräfin Berka Niemand ein hartes Wort über den Freiherrn oder über dessen Familie. Sie beklagte ihre Schwester nur, und dazu hatte sie jetzt mehr als jemals Grund.

Man wußte es in der Gesellschaft, daß die Vermögenslage des Majors von Arten sehr zerrüttet sei, man sprach über das immer noch fortdauernde bedenkliche Verhältniß zwischen Vittoria und dem Sänger, von Valerio's Entfernung aus der Anstalt, von der zwischen Renatus und seiner Stiefmutter beabsichtigten Trennung, und Renatus konnte sich endlich nicht darüber täuschen, daß man um alle diese Dinge wußte, daß Jeder sie nach seiner Weise beurtheilte und besprach.

Er befand sich in einer Verfassung, in welcher nichts ihn überraschte und Alles ihm gleichgültig zu werden begann, weil er keinen rechten Ausweg mehr vor sich sah. Das Ende des Jahres stand vor der Thüre, es waren Forderungen aller Art in nächster Zeit zu befriedigen. Er wußte es, daß ihm dies unmöglich sein werde, daß Richten zum Verkaufe kommen mußte, und er konnte sich es nicht vorstellen, wie er leben solle ohne den, wenn auch nur noch anscheinenden Besitz dieses seines Stammgutes. Er wußte eben so wenig, wie er sich und die Seinigen von dem Einkommen erhalten solle, das seine militärische Stellung ihm eintrug und das obenein durch Abzüge aller Art verkürzt zu werden drohte, wenn man es erst erfahren hatte, daß er ruinirt sei. Er fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger, der auf leckem Boote im offenen Meere treibt, er mußte sich sagen, daß Rettung ihm nur durch ein Wunder werden könne, [346] und wie er auf ein solches auch bisweilen hoffen zu können wünschte, er vermochte es nicht.

In dieser Lage fand ihn die Anfrage, welche Tremann wegen Valerio's an ihn richtete, und wenn schon Paul durch dieses Ereigniß lebhaft an den Wechsel der Dinge und der Zeiten erinnert worden war, so war die Wirkung auf den Freiherrn noch weit stärker. Er hätte Valerio Vorwürfe darüber machen mögen, daß er sich an einen Dritten, daß er sich an Paul um Hülfe gewendet habe; aber er 'fühlte sich jetzt dazu nicht mehr berechtigt. Er hatte den Brief noch nicht beantwortet, in welchem Valerio ihm, unter Emilio's Anleitung, den Vorschlag gemacht, daß er den Namen von Arten ablegen und unter dem italienischen Namen seines wahren Vaters auf die Bühne gehen wolle, wenn Renatus ihm nur für die nächsten Jahre noch das ihm zustehende, freilich sehr geringe Jahrgeld zu zahlen geneigt sei, welches Valerio nach dem Testamente des Freiherrn Franz zu beanspruchen das Recht besaß.

Renatus hielt das Schreiben Tremann's lange in seiner Hand. Die Wogen, die ihn bedrohten, stiegen immer höher, das Boot, das ihn trug, sank immer tiefer hinab, es war im Grunde ein Glück zu nennen, wenn er es, gleichviel wie erleichtern konnte; aber es krampfte ihm das Herz in der Brust zusammen, als er sich dies nicht mehr wegzuläugnen vermochte. Er mußte froh sein, wenn er sich Valerio's auf gute Art entledigen konnte, er mußte den Handel – der Freiherr brauchte dieses Wort mit einem Gefühle tiefer Selbsterniedrigung – er mußte den Handel mit dem jungen Manne eingehen, obschon er zuverlässig wußte, daß er nicht im Stande sein werde, das Versprechen zu halten, auf welches Valerio sich stützen wollte, und das er ihm zu leisten sich endlich doch von der Noth gedrungen fand.

Tremann's Vermittlung kam ihm dabei, wie unwillkommen [347] sie ihn im ersten Augenblicke auch bedünkte, endlich als eine sehr erwünschte vor. Er schrieb ihm gleich in der Frühe des nächsten Morgens, daß er ihm für die Mittheilung danke, die er eben jetzt von ihm empfangen habe, und daß er ihn sogar bitte, mit dem jungen Manne, der sich seiner brüderlichen Fürsorge zu entziehen wünsche, in seinem Namen zu verhandeln. Da Valerio eine glänzende musikalische Begabung zeige, keine Neigung für die ihm bestimmte militärische Laufbahn hege, in der er sich ohnehin unmöglich gemacht habe, und da er sich zu keinem andern, seinem Stande angemessenen Lebenswege entschließen wolle, so finde er sich, so schwer ihm dies auch ankomme, doch genöthigt, der Entfernung Valerio's und seiner musikalischen Ausbildung – von der Bühne zu sprechen, konnte Renatus auch jetzt noch sich nicht entschließen – Nichts in den Weg zu legen. Daß Valerio den Namen von Arten unter diesen Verhältnissen nicht führen könne, verstehe sich von selbst. Gerade deßhalb sei er selber aber behindert, den Weg des jungen Mannes zu fördern, und er werde sich daher Paul und der Gräfin Eleonore verpflichtet fühlen, wenn sie Valerio die Hand zur Ausführung seines Vorhabens bieten wollten, bei welcher derselbe auf das ihm zustehende Jahrgeld rechnen könne.

Dem Briefe war eine Summe als Reisegeld und als vierteljährige Pensionszahlung für Valerio beigefügt, und das ganze Schreiben war in einer Form gehalten, die man unter den obwaltenden Umständen schicklich nennen und gelten lassen konnte. Aber dem Freiherrn zitterte die Hand, mit welcher er die fünf Siegel mit dem Arten'schen Wappen auf den Geldbrief drückte, und das alte fortis in adversis brannte ihm wie eine schwere Mahnung in die Seele. Er hatte sein Lebensschiff in einer Weise erleichtert, die er vor sich und seinem Gewissen nicht verantworten konnte, und er hatte dazu noch das Bewußtsein, sich auch damit keine wirkliche Rettung bereitet zu haben.

[348] Es litt ihn nicht in seinem Hause; er mochte auch keinen der Seinigen sehen. Trotz des übeln Wetters machte er einen langen Spaziergang in den Park. Er hatte ein Bedürfniß, allein zu sein und die schwer beladene Brust zu dehnen. Als er am Mittage wiederkehrte, war Vittoria abwesend. Cäcilie sagte, die Mutter habe den Wagen anspannen lassen, um Valerio seinen Koffer hinzubringen, und auch um sich in der Stadt nach einer Wohnung für sich umzusehen.

Der Wagen kam ohne Vittoria zurück; sie hatte sich bei einer Freundin absetzen lassen, bei der sie speisen wollte. Der Freiherr und seine Frau nahmen ihre Mahlzeit einsam ein; man war überzeugt, daß Vittoria mit ihrem Freunde und ihrem Sohne bei der Freundin zusammentreffe. Renatus äußerte sich heftig darüber; Cäcilie, die seine Gereiztheit und seine Verdüsterung gewahrte, versuchte eben für diesen Tag und diesen Fall Vittoria zu entschuldigen.

Am Abende war ausnahmsweise einmal eine geladene Gesellschaft bei der Gräfin Berka. Cäcilie und Renatus hätten sich gern von dem Besuche derselben befreit. Weil sie aber die Sicherheit in ihren Verhältnissen verloren hatten, wollten sie durch ihr Fortbleiben keine Fragen veranlassen, sondern auf dieselben, wenn sie etwa gethan werden sollten, lieber durch persönliche Zurechtlegungen antworten, und etwas später, als die Einladung es bestimmte, langten sie in dem Berka'schen Hause an.

Die Gesellschaft war bereits versammelt, und täuschte die Verstimmung und Unruhe die beiden Eheleute oder herrschte wirklich eine augenblickliche Pause in der Unterhaltung, genug, sie glaubten Beide zu bemerken, daß man bei ihrem Eintreten schwieg und daß man sie mit einer Art von Neugier betrachtete. Das raubte Cäcilien die Fassung, welche sie ohnehin den Tag hindurch nur mühsam in sich aufrecht erhalten hatte, und sich an die Schwester wendend, machte sie eine überflüssige und eben [349] darum nicht geschickte Entschuldigung für ihr verspätetes Erscheinen.

Hildegard, die gerade von den ausgezeichnetsten Personen ihres Kreises umgeben war, hielt Cäcilie mit der ganzen vornehmen Anmuth, die sie sehr wohl zu entwickeln verstand, die Hand entgegen und sagte freundlich: Wie magst Du darüber nur ein Wort verlieren! Ich versichere Dich, ich habe den ganzen Tag an Euch gedacht und immer zu Dir fahren wollen, weil ich glaubte, Du würdest Dich nicht aufgelegt fühlen, auszugehen. Indeß es ist gut, daß Ihr Euch überwunden habt, es zerstreut Euch doch. Sei herzlich willkommen!

Sie küßte die Schwester dabei, was sie sonst in der Gesellschaft nie gethan hatte; aber es überlief Cäcilie kalt bei ihren Worten, und sie wendete sich ängstlich um, zu sehen, ob Renatus Hildegard's Aeußerung nur nicht vernommen habe. Den aber hielt Graf Gerhard neben seinem Sessel fest, und Cäcilie konnte nicht gleich zu ihm kommen, denn Hildegard hatte den Arm der Schwester in den ihrigen gelegt und führte sie mit sich herum. Es war von ihr offenbar auf eine besondere Schaustellung abgesehen; sie wollte darthun, daß sie ihre Schwester aufrecht zu erhalten und in Schutz zu nehmen denke. Aber weßhalb das? Was bedeutet das? fragte diese sich mit wachsender Beklemmung.

Renatus seinerseits verstand eben so wenig, was die Gräfin Berka mit ihrer auffallenden Zärtlichkeit für Cäcilie, mit ihrer besonderen Zuvorkommenheit für ihn selbst beabsichtige, die ihm den ganzen Abend drückend blieb. Er fühlte sich so niedergeschlagen, so gepeinigt, so beunruhigt, daß er es bereute, gegen seine Neigung und Stimmung unter Menschen und in Gesellschaft gegangen zu sein. Er hatte keine Ruhe zu irgend einer Unterhaltung; er ging, gegen seine sonstige Gewohnheit, von einer Gruppe zur andern, er hätte sich gern heiter, sorglos zeigen, [350] sich und Andere täuschen mögen, und doch wußte er, daß in wenig Tagen oder Wochen seine Lage vor Aller Augen offen sein würde, daß der Concurs über ihn hereinbrechen müsse, dem durch ein Abkommen vorzubeugen oder aus dem sich zu erheben für ihn kaum eine Möglichkeit vorhanden war. Ein Schmerz, der sich bis zur Verzweiflung an sich selber steigerte, fraß an seinem Herzen, und mit ungeheurer Gewalt wälzte sich wie ein Alp das Bewußtsein über ihn: daß sein Unglück größer sei, als er selbst und seine Kraft.

Zwischen dem kleinen Empfangszimmer und dem großen Saale befand sich ein Cabinet, das von beiden Seiten mit schweren Thürvorhängen versehen war. In der runden Vertiefung am oberen Ende stand ein Sopha. Es war, wenn man aus dem Saale kam, nicht sichtbar, und als Renatus vorhin durch das Cabinet gegangen war, hatte er es leer gefunden, da die Gesellschaft nicht sehr zahlreich war. Sich einen Augenblick Ruhe zu verschaffen, trat er hinein und setzte sich in die Sopha-Ecke nieder.

Aber kaum hatte er den Platz eingenommen, als sich zwei Männer plaudernd in die Brüstung der Thüre stellten, deren Stimmen Renatus sofort erkannte. Der ältere von ihnen, Graf Aurel, war ein Jugendgenosse des Grafen Gerhard, einer der bekanntesten Lebemänner der Stadt, der andere ein Gesandtschafts-Sekretär, dem Berka'schen Hause eng befreundet. Sie sprachen in gleichgültiger Weise über die Verhältnisse der anwesenden Personen.

Es war bereits von Diesem und Jenem die Rede gewesen, wie Renatus aus den einzelnen, zu ihm dringenden Worten hatte entnehmen können, als er plötzlich seinen Namen zu hören glaubte.

Er hätte diese Maßregel, wie die Gräfin richtig bemerkte, nur früher treffen müssen, sagte scherzend der Gesandtschafts-Sekretär.

[351] Was wollen Sie? entgegnete der Graf; die Baronin Vittoria soll ein bedeutendes Legat von dem verstorbenen Freiherrn in Händen haben, und der Major ist ruinirt! Da hat er wohl ein Auge zugedrückt, und – der Graf lachte – die Baronin Cäcilie ist ja auch eine leidenschaftliche Sängerin; er wird das Terzett, denn ein solches soll es in der That gewesen sein, nicht haben stören wollen.

In diesem Augenblicke, noch ehe der in allen Nerven erbebende, unfreiwillige Hörer sich von seinem Sitze zu erheben vermochte, wurden die beiden Sprechenden in ihrer halblaut geführten Unterhaltung durch die herantretende Hausfrau unterbrochen, welche den Gesandtschafts-Sekretär aufforderte, irgend eine Nachricht aus der Hauptstadt seines Landes, die er ihr bei seiner Ankunft mitgetheilt hatte, einem Kreise neugieriger Gäste bekräftigend zu wiederholen. Der junge Diplomat folgte der Gräfin Berka in den Saal, und Graf Aurel, der bei Hildegard's Anfrage an den Marquis sich höflich einige Schritte zurückzuziehen wünschte, trat für einen Augenblick in das oben erwähnte Seitengemach.

Er war lange im Militär gewesen und ein Mann von erprobtem Muthe, aber er konnte sich einer Aeußerung des Erschreckens nicht erwehren, als er sich plötzlich und unerwartet dem Freiherrn von Arten gegenüber sah, dessen von der Blässe des Todes überzogenes, von Leidenschaft entstelltes Antlitz ihm versteinernd entgegenstarrte. Als ein Mann von Welt übersah er sofort die nothwendigen Folgen des unglückseligen Zufalles, der den Freiherrn zum Hörer jener beleidigenden Worte gemacht hatte; allein der Umstand, daß der Marquis sich bereits entfernt und daß jetzt kein anderer Zeuge als der Beleidigte selbst zugegen war, ließ den Grafen einen Augenblick lang an die Möglichkeit irgend einer Ausgleichung oder doch an die Abwendung des Aeußersten denken.

[352] In Erwägung der fürchterlichen Lage, in welcher der Freiherr sich befand, schien es dem Grafen, dem ohnehin ein solches Begegnen mit den nächsten Anverwandten des ihm eng befreundeten Hauses höchst unwillkommen sein mußte, sogar von der Ehre als eine Pflicht geboten, selbst einen Schritt über das gewöhnliche Maß hinaus zu thun, und schon begann er an den noch immer ihm schweigend Gegenüberstehenden in diesem Sinne das Wort zu richten, als der Freiherr mit einer nicht mißzudeutenden Bewegung ihm die Rede abschnitt.

Die Lehne des Sessels, die Renatus' Rechte umkrampft hielt, brach unter dem Drucke, als er mit hohler, vor innerem Grimme bebender Stimme die Worte hervorstieß: Sagen Sie Ihrem Partner, das Duett, das ich so eben von Ihnen Beiden vortragen hörte, sei eben so falsch, als der, der es anstimmte, ehrlos ist! – und seiner selbst nicht mehr mächtig, den abgezogenen Handschuh dem Grafen in das Gesicht schleudernd, verließ er hoch aufgerichtet das Gemach.

Ein Gefühl wilder Befriedigung war über ihn ge kommen. Er hatte jetzt endlich einen Gegenstand gefunden, gegen den er die Empfindungen richten konnte, welche kurz zuvor in seinem Busen gegen ihn selbst gewendet gewesen waren. Er fühlte sich befreit von dem Alpdrucke, der auf ihm gelastet hatte.

Sein Schicksal selbst, jenes Schicksal, das über seinem Hause noch immer gewacht und die Glieder dieses Hauses vor offenbarer Schmach und Schande noch stets bewahrt, es hatte ihm den Ausweg gewiesen, den er zuweilen im Drange und in der geheimen Noth dieser letzten Wochen durch Selbstmord sich zu öffnen gedacht hatte. Jetzt war er sicher, wie es ihm zukam, als ein Edelmann zu sterben – und er war des Daseins und des Lebens von Herzensgrunde müde.

Stolz, sicher, mit festem Blicke des blitzenden Auges die Anwesenden messend, durchschritt er den Saal und näherte sich [353] dem Gesandtschafts-Sekretär. Graf Aurel wünscht Ihnen, Herr Marquis, eine Mittheilung zu machen! sprach er mit lächelnder Miene zu dem jungen Diplomaten, der sich bei diesen Worten zum Erstaunen der Nächststehenden sichtbar entfärbte, aber, schnell wieder gefaßt, sich eilig zu dem Grafen in das Nebenzimmer begab.

Es entstand eine kleine Bewegung, man sah sich nach den betheiligten Personen um; indeß es waren alles Leute von Welt, die Formen der guten Gesellschaft zogen sich über der augenblicklichen Störung, deren Ursache Niemand mit heftiger Neugier auf die Spur zu kommen suchte, schnell wieder zusammen, und da der Abend schon vorgerückt war und man im Berka'schen Hause um des Grafen willen nie spät zusammen blieb, fiel es nicht auf, daß Graf Aurel und der Marquis sich bald empfahlen und auch Renatus seine Gattin zum Aufbruche anmahnte.

Früh am anderen Morgen, als Renatus noch mit Cäcilie beim Frühstücke war, meldete man ihm den Besuch eines seiner Kameraden. Cäcilie wunderte sich über den frühen Besuch, indeß er flößte ihr keinen Argwohn, keine Besorgniß ein, und auch der Name des Gemeldeten fiel ihr durchaus nicht auf. Es war ein Vetter des Grafen Aurel, der mit Renatus in demselben Regimente diente und mit dem der Freiherr immer auf gutem Fuße, in einem angenehmen kameradschaftlichen Verhältnisse gestanden hatte.

Der Besuch währte für die frühe Stunde ungewöhnlich lange, so daß Cäcilie, als Renatus endlich zu ihr wieder zurückkam, sich erkundigte, was der Rittmeister ihm gebracht habe. Er sagte, sie solle nicht neugierig sein, und klagte sich an, daß er sie verwöhnt habe; da er das alles aber freundlich, ja, scherzend aussprach, gab sie sich auch bald zufrieden, und es war davon die Rede nicht mehr.

[354] Der Tag verging unter Besorgungen aller Art äußerlich in gewohnter Weise. Am Vormittage erhielt Renatus einen Brief von Paul, in welchem dieser ihm anzeigte, daß er und die Gräfin Haughton für Valerio die nöthigen Schreiben besorgt hätten und daß er den jungen Mann, da in drei Tagen das nächste Packetboot nach London abgehe, angewiesen habe, sich für die heutige Abendpost zur Reise nach Hamburg einschreiben zu lassen. In einem Billet von Valerio, das beigefügt war, ersuchte dieser den Freiherrn, ihm persönlich Lebewohl sagen zu dürfen, und Renatus war jetzt dazu geneigt, dem Verlangen zu willfahren.

Valerio war, da er am Nachmittage zu dem Freiherrn kam, weich und sehr bewegt. Nicht als ob er in sich unsicher oder in seinem Vorhaben und in seinen Hoffnungen schwankend geworden wäre, nur der Abschied von den Seinen schien ihm schwerer zu fallen, als man es erwartet hatte.

Er hatte, wie er es gleich nach der Stunde ihres Zusammenstoßes gethan, den Freiherrn als einen Fremden mit seinem Titel anreden wollen; aber da er nun vor Renatus hintrat, fiel es ihm auf, daß dieser bleicher und sehr ermüdet aussah, und weil der Jüngling meinte, es sei der Kummer über ihn, der den Freiherrn also verwandelt habe, warf er sich demselben mit Leidenschaftlichkeit an die Brust.

Ich lerne es nicht, ich lerne es nicht, Dich als einen Fremden anzusehen! rief er mit überströmender Empfindung – habe ich Dir doch mehr, weit mehr zu danken, als wenn Du mein Bruder wärest, und ich habe Dir es schlecht gelohnt!

Renatus drückte ihn an sein Herz und redete ihm ernsthaft zu. Valerio wollte, daß er ihm ganz ausdrücklich seine Verzeihung aussprechen solle, und der Freiherr that es. Er zeigte sich ebenfalls erschüttert, schloß Valerio's Haupt in seine Hände und küßte ihn, da sie schieden, als ob er segnend einen Sohn [355] entließe. Cäcilie weinte, indeß es wurde ihr doch leichter, da sie sich jetzt sagen konnte, ihre große Bangigkeit und die Schwermuth ihres Mannes, die ihr im Lauf des Tages aufgefallen war, würden durch die Trennung von Valerio herbeigeführt.

Sie verließ den Gatten so wenig als sie konnte, und er schien es gern zu sehen, daß sie blieb, selbst als er am Abende lange Zeit schreibend an seinem Arbeitstische saß. Ein paar Mal meinte sie ihn seufzen zu hören, und sie wollte ihn fragen, was ihn drücke, aber sie unterließ es, weil sie wußte, daß er dies nicht liebe, daß er eben jetzt, am Ende des Jahres, der unerfreulichen Geschäfte die Menge habe.

Abends, als sie den Thee einnahmen, zu dem Vittoria sich eingestellt hatte, war Renatus ruhiger, als in den ganzen letzten Wochen. Er schien die Andern und sich selber zerstreuen zu wollen und machte die Unterhaltung fast ganz allein. Er kam mehrmals auf seinen Vater, auf seine verstorbene Mutter, auf die Zeit zu sprechen, in welcher er noch ein Knabe gewesen und Vittoria in sein Vaterhaus gekommen war. Dann erging er sich in Betrachtungen über das, was man in dem Leben des Menschen die höhere Fügung nenne, und über die geheimnißvolle Grenze zwischen dem sogenannten freien Wollen und dem unabweislichen Müssen. Es war das schon ein Lieblingsthema seines Vaters gewesen, und Renatus hatte, wenn er sich dem Nachdenken und Sprechen über dasselbe hingab, es stets geliebt, den Menschen mit einem Baume zu vergleichen. Auch jetzt kam er bald wieder auf dieses ihm genehme Bild zurück.

Wie kann von einem freien Willen die Rede sein, sagte er, wo wir, wie der Baum, unser eigentliches Wesen und Gepräge als ein angestammtes in uns tragen und Boden und Luft, die wir auch nicht frei erwählen, unsere Entwicklung bedingen? Der Baum mag seine Blätter im Winde spielen lassen und seine Aeste nach der Sonne wenden; das ist seine ganze Freiheit, und [356] selbst diese geringe Freiheit ist Naturnothwendigkeit. Alles für ihn und Alles für uns ist vorbestimmtes Müssen. Wir genießen und erleiden, was uns zuerkannt ist, wir können dem uns zugewiesenen Loose nicht entgehen, gleichviel, ob wir's aus den Händen eines blinden Schicksals oder einer göttlichen Allweisheit zugetheilt erhalten.

Vittoria achtete auf solche Auseinandersetzungen in der Regel wenig, sie war dazu, wie sie es zu nennen pflegte, sich nicht wichtig genug. Cäcilie aber meinte es sich erklären zu können, wie ihr Gatte eben heute zu solchen Betrachtungen gedrängt werde, und sie bemerkte zu ihrem Troste, daß ihn dieselben sichtbar beruhigten. Er verlangte, als man sich schon trennen wollte, die beiden Frauen noch singen zu hören, und da Vittoria, von der Musik erschüttert und an Valerio erinnert, plötzlich zu weinen begann, schloß Renatus sie in seine Arme und sprach ihr liebreich und tröstend Muth ein.

Du bist auch ein armer, aus seiner Heimatherde unfreiwillig herausgenommener Baum, sagte er, und Du hast eben deßhalb des Erleidens auch Dein Theil gehabt. Laß uns hoffen, daß es dem jungen Stamme, den wir jetzt Luft und Erde nach seinem Belieben suchen lassen, besser gehen werde, wenn es uns im Augenblicke auch schwer gefallen ist, ihm seinen Willen zu vergönnen.

Er schlief in der Nacht nicht viel und erhob sich zeitig. Er hatte Cäcilien gesagt, daß er in der Frühe ein wichtiges Geschäft zu ordnen habe, und da sie wußte, wie drückend solche Angelegenheiten in der Regel für ihn waren, fiel es ihr nicht auf, daß er bei ihrem gemeinsamen Frühstücke weniger als sonst genoß. Als er sich dann angekleidet hatte und sich entfernen wollte, sah Cäcilie, daß er in voller Uniform war. Der Gedanke, daß Renatus eben jetzt zu seinem Chef gehe, um ihm die üble Lage, in der er sich befinde, zu entdecken und mit ihm Rath zu [357] halten über die Schritte, die er thun solle, ein öffentliches Aufsehen möglichst zu vermeiden, fuhr ihr erschreckend durch den Sinn. Sie wollte ihn fragen, aber sie fürchtete, ihm dadurch nur noch eine neue Pein aufzulegen, und von Liebe und Mitleid überwältigt, schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und küßte ihn. Er drückte sie mit tiefer Inbrunst an sich, sie gaben sich die zärtlichsten Namen, Cäcilie mußte weinen.

Wir lieben einander doch! rief sie endlich, als wolle sie ihm den Trost vorhalten, der ihnen schon über manchen Kummer fortgeholfen hatte.

Ja, und ich liebe Dich sehr, denke daran und vergiß das nicht! gab Renatus ihr zurück. Auch ihm war das Auge feucht geworden, aber er riß sich los und ging die Treppe festen Schrittes hinunter.

Cäcilie trat an das Fenster und sah, wie er in den Wagen stieg. Er blickte noch einmal aus dem Schlage zu ihr hinauf und grüßte mit der Hand. So schieden sie.

[358]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel

Am Mittage durchlief das Gerücht die Stadt, daß der Major Freiherr von Arten im Duell erschossen sei.

Man erzählte es Paul, als er eben in die Börse eintrat, denn man wußte, daß er mit dem Freiherrn in mannigfachem Verkehr gestanden habe. Trotz seiner gewohnten Festigkeit bemerkte man, daß ihn die Nachricht sehr erschrecke. Er suchte sich so schnell als möglich frei zu machen, gab seinem Disponenten die nöthigen Anweisungen für die heute zu ordnenden Geschäfte und fuhr augenblicklich nach dem Artenschen Hause.

Alles war dort in der völligsten Zerstörung. Vittoria lag in heftigen Krämpfen, Cäcilie rang an der Leiche ihres Gatten, die man vor einer Stunde in seinem Wagen nach Hause gebracht hatte, verzweiflungsvoll die Hände, ihre Mutter und ihre Schwester waren bei ihr. Die Gräfin Berka war die Einzige, die ihrer selber Herr war und große Fassung zeigte.

Sie war es auch gewesen, die in dem Zimmer des verstorbenen Freiherrn einen von ihm an seine Gattin zurückgelassenen Brief aufgefunden hatte. Ein paar andere Briefe hatten daneben gelegen, einer davon war an Paul gerichtet, und Hildegard, welche die Leitung aller Angelegenheiten übernommen zu haben schien, händigte ihm denselben aus. Er lautete:

»Wenn Sie diesen Brief empfangen, bin ich nicht mehr am Leben, und es sind die Wünsche eines Hingegangenen, die er Ihnen überbringt. Möge Ihr großer Sinn sie Ihnen heilig machen.

[359] Die Vorsehung, die uns aus Einem Stamme erstehen ließ und unsere Lebenswege dennoch trennte, hat uns in den letzten Jahren in ihrer Weisheit einander angenähert, als wolle sie mir den Pfad zeigen, auf dem ich zu gehen, und die Weise angeben, in welcher ich das Erlöschen unseres alten Stammes in dem Augenblicke zu verhindern habe, in welchem der Letzte Derer, die bis jetzt den Namen unseres Hauses mit Recht besessen, von der Erde scheidet.

Das Blut der Freiherren von Arten fließt in Ihren Adern; meines hingegangenen Vaters Ebenbild, die Züge unserer Ahnen leben in Ihnen, und selbst – ich habe, da der Himmel mir keine Kinder gegeben hat, dies stets mit schmerzlicher Rührung wahrgenommen – in Ihren Söhnen leben sie noch fort. Wie mein Vater in dem Sinne und nach dem Ehrengebote unseres Standes und unseres Hauses handelte, als er es sich versagte, Sie öffentlich als seinen Sohn anzuerkennen, so handle ich, ich bin deß sicher, in seinem Geiste und in dem Geiste unseres Hauses, wenn ich danach trachte, den edlen, alten Namen der Freiherren von Arten-Richten nicht untergehen zu lassen.

Meine Vermögensverhältnisse, die Sie kennen, machen es für die Baronin Cäcilie unmöglich, die Richtener Güter zu behalten, und ich weiß es aus dem Munde meines verstorbenen Lehrers und Erziehers, des Caplans, daß Ihre Mutter am Vorabende ihres freiwilligen Todes Sie ermahnt hat, nach dem Besitze des Schlosses zu streben, das sie Ihnen an jenem Abende als Ihres Vaters Haus bezeichnete.

Es war das eine Vorstellung, die mir alle Zeit quälend gewesen ist, seit sie, es war als ich in den russischen Feldzug ging, zuerst in mir erweckt wurde, und sie hat mich, wie eine unheimliche Ahnung, stets befallen, so oft ich in Ihre Nähe gekommen bin. Dieses Geständniß, welches Ihnen zu machen ich jetzt kein Bedenken trage, wird Ihnen Vieles in meinem Verhalten [360] gegen Sie erklären, das Ihnen vielleicht bisher nicht verständlich gewesen ist und Sie zu nachtheiligen Ansichten über mich verleitet haben mag.

Was mich einst von Ihnen fern hielt, führt mich jetzt, da ich mein Leben und das Schicksal unseres Hauses in großem Ueberblicke betrachte, auf Sie und zu Ihnen zurück.

Ich habe Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen, der sich als den ersten Edelmann seines Landes anzusehen geruht und dessen Gnade ich mich versichert zu halten Ursache habe, die Verhältnisse unseres Hauses aus einander gesetzt. Wenn dieser Brief in Ihre Hände kommt, hat Seine Königliche Hoheit auch mein Ansuchen bereits empfangen, und ich zweifle nicht, daß es bei ihm eine geneigte Stätte finden und daß Er Selber wünschen wird, den Namen eines alten Geschlechtes, das schon vor den Hohenzollern in unserer Heimath angesessen gewesen ist, auch für die Zukunft zu erhalten.

Richten muß verkauft werden; kaufen Sie es an! Vereinigen Sie die Güter wieder, deren mich zu entäußern ich gezwungen war, und führen Sie in Sich und Ihren Kindern den Namen unseres gemeinsamen Vaters weiter fort. Unser Wappen wird in Ihren Händen wohl aufgehoben sein. Sie haben sein fortis in adversis! beherzigt und bewährt.

Und so empfangen Sie mit dem Segen und den Wünschen, die ich Ihnen über mein Leben hinaus für das Gedeihen unseres Geschlechtes zurufe, auch meine letzten Bitten. Es sind ihrer nicht viele, und sie sind selbstverständlich. Nehmen Sie Sich berathend und hülfreich meiner theuren Cäcilie, meiner Witwe an; stehen Sie auch der Baronin Vittoria und ihrem Sohne mit Ihrer Erfahrung großmüthig zur Seite und sorgen Sie dafür, daß ich in unserer Familiengruft in Rothenfeld bestattet werde. Es ist ein erhebender Gedanke in jenem biblischen ›zu seinen Vätern versammelt werden‹!

[361] Und damit ›Lebewohl‹! Möge der neue Stamm, den Sie begründen, glücklicher sein, als ich es gewesen bin! Des Himmels Segen über sein Gedeihen!«

Schweigend und in tiefe Gedanken versunken, hielt Paul das Blatt eine Weile in seinen Händen; schweigend und in tiefe Gedanken versunken stand er an des Freiherrn schöner Leiche. Cäcilie war wie vernichtet. –

Noch vor dem Ende des Jahres ward der Sarg, in dem Renatus ruhte, nach Rothenfeld gebracht. Cäcilie hatte gewünscht, die Leiche ihres Gatten zu seiner letzten Stätte zu begleiten, und Herbert war ihr eine Strecke entgegengereist, um die trauernde Witwe zum Verweilen in seinem Hause einzuladen. Man mochte sie nicht in das verödete Schloß nach Richten gehen lassen. –

Im Frühjahr kam Richten zum Verkauf. Es war zwischen den Freunden, zwischen Steinert, Herbert und Paul, von Anfang an fast selbstverständlich gewesen, daß Einer von ihnen, daß Paul es an sich bringen müsse. Er hatte schon lange daran gedacht, einen Landbesitz zu erwerben, auf welchem er alljährlich ein paar Monate mit den Seinen in ruhiger Zurückgezogenheit verleben könne, und bei seinem großen Vermögen war es ohnehin gerathen, einen Theil desselben in Grund und Boden festzulegen. Allerdings gab es südlichere Gegenden, deren Naturschönheit verlockender gewesen wäre; aber die Aussicht, Steinert und Herbert zu Nachbarn zu bekommen, die Gewißheit, daß ihre Aufsicht und Erfahrung seinem Besitze zu Statten kommen werde, waren hoch zu veranschlagen, und über dies alles hinaus, Paul läugnete sich das keineswegs fort, wirkten seine Jugend-Eindrücke bestimmend auf ihn ein.

Es war ein eigenartiges Empfinden, mit welchem er den Kauf-Contract über die Richtener Güter unterzeichnete, eine [362] ergreifende Erinnerung, mit welcher er als Besitzer mit den Seinen in Schloß Richten einzog.

Die Erntezeit war, als er in Richten eintraf, schon vorüber, denn es hatte der unerläßlichen Instandsetzungen in dem seit Jahren nicht bewohnten Schlosse doch so viele gegeben, daß trotz der Bemühungen der beiden Herbert's der Monat August herangekommen war, ehe man daran denken konnte, das Schloß mit Behagen zu beziehen.

Nun hatten die neuen Eigenthümer sich in demselben heimisch eingerichtet, und am ersten Sonntage, den man mit Ruhe dort verlebte, waren die befreundeten Familien von Neudorf und von Rothenfeld mit ihren verheiratheten Kindern und Enkeln nach Richten herübergekommen.

Mit großer Genugthuung, aber doch innerlich bewegter, als er es zeigte, saß Paul an dem Mittage mit seiner Familie und seinen Gästen auf der Terrasse, die nach dem Parke hinunterführte. Man hatte in dem chinesischen Häuschen am oberen Ende der Terrasse, das Herbert nicht verändern lassen, ein Frühstück für die große, buntgemischte Gesellschaft aufgetragen. Es waren stattliche Greise, tüchtige Männer und Jünglinge, heitere Matronen, fröhliche junge Frauen und dazu Kinder beiderlei Geschlechtes, die sich in ihrer lauten Lust kaum Genüge zu thun wußten.

Seba mit ihrem sanften Ernste saß an Eleonorens Seite; sie konnte nicht aufhören, an die Baronin Angelika zu denken, die hier an derselben Stelle einst ihre Eltern bewirthet, die hier in solcher milden Herbstessonne die letzten Tage ihres Lebens zugebracht hatte, und auch in Herbert tauchte ein altes, schönes Erinnern mit seiner stillen Wehmuth auf. Fast in Allen lebte mehr oder weniger deutlich das Bewußtsein der großen Wandlungen, welche sich in ihnen selber und während der letzten vierzig Jahre auch in der Erkenntniß und in dem Gemeingefühl der ganzen Menschheit befreiend und erlösend vollzogen hatten.

[363] Während man in gutem Gespräche so beisammen saß, brachte der Diener dem neuen Besitzer von Richten die Briefe, welche von seinem Geschäftsführer ihm regelmäßig nach dem Gute gesendet wurden. Paul legte sie ruhig zur Seite, da er in diesem Augenblicke sie doch nicht zu erledigen und zu beantworten vermochte; nur ein Brief schien ihm durch Form und Siegel aufzufallen, und er eröffnete ihn. Er kam aus dem Kabinette des Kronprinzen.

Eine flüchtige Röthe und ein feines Lächeln flogen über das Angesicht des Lesenden. Seba und Davide blickten ihn fragend an.

Es ist eine Gnade, die man mir anzuthun denkt, sagte er gelassen. Der König ist, wie es in dem Schreiben heißt, nicht abgeneigt, mich in Anerkennung meiner Verdienste um die heimische Industrie und als jetzigen Besitzer der Güter eines edeln Hauses unter Beilegung des Namens und Titels der Herren von Arten, wie der Letzte dieses Hauses und Stammes es von ihm erbeten hat, in den Adelstand zu erheben.

Die Anwesenden sahen einander an und blickten dann fragend auf den Sprechenden.

Paul hatte das Schreiben bereits wieder zur Seite gelegt. Die Sache kommt mir nicht unerwartet, sagte er. Der Staat ist klug genug, sich der Besitzenden so viel als möglich versichern und den finanziellen Schwerpunkt so viel als möglich dem Bürgerthum entziehen zu wollen. Ich hatte es für sehr wahrscheinlich gehalten, daß man mir dieses Anerbieten machen würde.

Und Du hast es nicht gehindert? fragte Steinert, dessen fester, aber eben deßhalb zum Argwohn geneigter Bürgersinn sich nicht gleich in die Handlungsweise des Freundes zu finden wußte.

Wie sollte ich ablehnen, was man mir noch nicht angeboten hatte? entgegnete Paul. Aber sei unbesorgt, alter Freund, ich gehöre weder zu denen, die Gnaden zu erbitten, noch zu [364] denen, die unerbetene Gnade anzunehmen gewohnt sind! – Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: Der verstorbene Freiherr Renatus hat es auf seine Weise wohlgemeint und er hat als ein wahrer Repräsentant seiner Kaste nur an sich und seine Ehre, an sich und seinen Stamm und an die Erhaltung seines Namens gedacht, nicht an mich, an meine Ehre und an meinen Stamm. Er konnte es sich von seinem Standpunkte aus nicht denken, daß ich keines andern Namens begehren kann, als dessen, welchen ich selber mir erschaffen habe, und daß derjenige, der mich aus meinem Stande in einen andern nicht nur versetzen, sondern sogar erheben zu können glaubt, mich und meine ganze Vergangenheit beleidigt; denn er erniedrigt in mir nicht nur mich selbst, sondern alle Diejenigen, welche mit mir bisher als mit Ihresgleichen in achtendem Vertrauen verbunden gewesen sind. Und ich lebe der sichern Hoffnung: von uns Allen, die wir heute hier in meinem Hause beisammen sind, soll keiner je danach verlangen, etwas Anderes zu sein, als ein unbescholtener, unabhängiger Mann, ein nützlicher Bürger seines Vaterlandes! Darauf laßt uns anstoßen, daß ein starker, freier Bürgersinn auch unter unsern Kindern und Kindeskindern mächtig sein und daß er die Freiheit, deren wir nach allen Seiten noch bedürfen, heraufführen helfen möge über unser Volk und über die ganze Welt!

Er hob sein Glas, sie drängten sich Alle um ihn; seine Brust athmete frei und stolz.

Am Abende, da alle seine Gäste unter seinem Dache bereits die Ruhe gesucht hatten, trat er mit Daviden noch einmal aus seinem Zimmer auf die Terrasse hinaus. Er hatte seinen Arm um seines Weibes schlanken Leib gelegt, und in stillem Frieden wandelten sie langsam und schweigend hin und wieder.

Der Mond war inzwischen emporgestiegen, die Nacht war sehr warm, der volle Duft der Levkojen und des Reseda erfüllte die ganze Luft. Fortgezogen von der Schönheit der Nacht, [365] stiegen die Beiden von der Terrasse hinunter und gingen dem Flusse zu, über dessen Wasser die Mondstrahlen eine goldene Brücke bauten.

Jenseit des Wassers blieben die beiden Eheleute stehen. Das Schloß lag vor ihnen, der Mond erhellte es in seiner ganzen Stattlichkeit.

Sieh, sagte Paul, hier habe ich gestanden, hier an dieser Stelle, mit meiner armen Mutter an dem Tage, ehe sie sich das Leben nahm. Aber es war ein rauher, kalter Abend, der Nebel stieg von dem Wasser empor, die welken Blätter flogen in der Luft empor. Ich wunderte mich damals über die vielen Schornsteine des Schlosses und über die vielen Fenster, denn ein so großes Gebäude hatte ich nie zuvor gesehen, und weil die untergehende Sonne sich in den Fenstern spiegelte, fragte ich die Mutter, wer darin wohne. – Er hielt inne, dann sagte er sehr bewegt: Du kommst nicht hinein, sprach sie zu mir; hinter den blanken Fenstern, in denen die Sonne sich spiegelt, werden glückliche Kinder wohnen ...!

Er konnte nicht weiter sprechen, trotz seiner Kraft überwältigte ihn diese Erinnerung doch. Davide umschlang ihn, in Verehrung, in Glück und Liebe zu ihm emporsehend.

O, mögen sie immer, immer glücklich sein, die geliebten Kinder, denen Du dieses Haus bereitet hast! rief sie mit hoffendem Wunsche aus.

Sie werden es bleiben, sprach Paul, der sich schnell wieder ermannte, wenn Du mir hilfst, sie dahin zu erziehen, daß sie, in sich selbst beruhend, in der Arbeit ihren Beruf, in der Freiheit ihre Ehre, in der ganzen Menschheit ihre Brüder erkennen lernen, und wenn sie maßvoll und ohne Eitelkeit im Glücke, wie der Wappenspruch dieses Hauses lautet, »stark im Ungemache sind«. Laß uns danach trachten, laß uns darauf hoffen und vertrauen!

Fußnoten

1 Ich bin im dritten Kreis des ew'gen, kalten, gottverfluchten Regens!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Lewald, Fanny. Romane. Von Geschlecht zu Geschlecht. Von Geschlecht zu Geschlecht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EAB9-A