Seufzerlaube

Wie kommt's, daß heute so zerstreut ich bin?
Du grüner Buchenwald, du liegst mir im Sinn,
Du alte, laubverdeckte Seufzerlaube;
Der Sonnenschimmer übermalt den See,
Lautrufend kreist der Bussard in der Höh',
Und tief im Klotzow ruckst die Ringeltaube.
Lang' ist es her, seit ich dort träumend saß
Und Strafarbeit und Karzertür vergaß
Bei Drosselschlag aus grünbeschwerten Ästen;
Ein schwarzweißrotes Kielboot zog vorbei;
Es schallte Heines Lied der Loreley,
Und rote Lichter funkelten im Westen.
Grad' vor der Laube steht ein Lindenbaum,
Den Rindenschnitt an ihm erkennt man kaum,
Sechs Jahresringe zeitigte die Linde;
Im Juni war's, jung war das Buchenlaub,
Der Winter kam mit Frost und Flugschneestaub,
Die braunen Blätter tanzten wild im Winde.
Leb' wohl! Des Träumens ist schon längst genug,
Ich lese weiter in dem trocknen Buch –
Wann bin ich wieder in der Seufzerlaube?
Vielleicht, wenn Bart und Haare lange grau,
Wenn tot du oder eines andern Frau,
Doch tief im Klotzow ruckst dann noch die Taube.

Veröffentlicht 1891

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Gedichte. Junglaub. Seufzerlaube. Seufzerlaube. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-1EE7-1