Oktober
Ein grauer Schleier hält die Stadt umwickelt,
Auf zwanzig Schritte macht das Auge Schicht,
Der nasse Staub mir in den Schnurrbart prickelt
Und rinnt mir kitzelnd über das Gesicht.
Schwer tropft das Wasser von den stummen Bäumen,
Als geisterblasser, fahler Strahlenkranz
Gewaltig lange Nebelstreifen säumen
Der Gaslaternen halbverwischten Glanz.
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Es wandelt vor mir her ein Liebespärchen
Und hält sich fest und innigheiß umschmiegt –
Das ist das alte, oft erzählte Märchen
Von ihm und ihr und daß sie sich gekriegt.
Ein Mann geht neben mir mit festem Tritte
Und pfeift ein Gassenliedchen laut und klar,
Er weiß, daß ihn in warmer, eigner Hütte
Sein Weib erwartet und der Kinder Schar.
Der Hoffnungsnebel hält sie all' umfangen,
Durchschimmern sehn sie ihren Zukunftsbau,
Vor meinen Augen ist der Dunst zergangen
Und ich weiß längst, daß alles schwarz und grau.
Vor meinem Blick zerriß der Nebelfetzen
Und was ich sah, war schlimmer als der Tod,
Denn grausig, wie der Babylonier Götzen,
Hat mir die Unbefriedigung zugedroht.
Kein Lebensweg führt an ein festes Ende,
Ein Ende jedes Strebens – eine Kluft!
Nach festem Boden fassen deine Hände
Und fassen haltlos in die graue Luft.
So große Worte und so kleine Triebe!
Der Ruhm? – Die Sucht, ein größrer Narr zu sein,
Bemäntelter Geschlechtstrieb – das heißt Liebe,
Die Wissenschaft – nutzlose Spielerein.
Und wenn du auch ein großes Ziel erstritten,
Und dich stolzlächelnd in das Grab gelegt –
Ach, Millionen haben schon gelitten,
Gleichgültig ist die Zeit vorbeigefegt.
Ach, Weltverbesserung und Mitleidsschmerzen,
Sie stopfen nicht das unheilbare Loch,
Es bluteten Millionen Menschenherzen
Und Millionen werden bluten noch.
Und Hunger, Wahnsinn, Morden, Lügen, Rauben,
Die werden sein, solang' die Welt besteht –
D'rum hüll' dich ein in Hoffen oder Glauben
Und laß es ruhig gehen wie es geht.
Münster, Oktober 1890