[95] Die Todeskarawane
Ein orientalisches Sittenbild von Dr. Karl May
Der Orient! Welche Fülle von phantastischen Vorstellungen knüpft der Nichtkenner an dieses Wort, und wie wenig hält das Morgenland das, was es verspricht! Es ist eine ganze, lange Reihe großer Enttäuschungen, die es demjenigen bietet, der unter der Voraussetzung hinkommt, dort alles duftiger, glänzender und schöner als in der Heimat zu finden. Hat der Osten wirklich mehr Licht, so ist dafür sein Schatten um so tiefer, und unter seiner sogen. Farbenpracht verbirgt sich ein Schmutz, der sonst seinesgleichen sucht, ein Sumpf, dessen Miasmen weit über seine Grenzen hinaus noch nachzuweisen sind. Bilden doch gerade die heiligsten und besuchtesten Orte der islamitischen Welt die Brutstätten jener verheerenden Epidemien, die alljährlich zur Zeit der großen Pilgerzüge sich stets von neuem entwickeln. In dem sunnitischen Mekka erhebt der Würgengel der Cholera seine Flügel, dessen Schläge selbst in Europa zu verspüren sind, und von Kerbela und Meschhed Ali, den beiden Wallfahrtsorten der Schiiten, aus nimmt die orientalische Pest ihren verderblichen Lauf.
Bekanntlich haben sich die Mohammedaner in die beiden gegnerischen Heerlager der Sunniten und der Schiiten geteilt. Die letztern behaupten, daß Ali, der Schwiegersohn Mohammeds, der rechtmäßige direkte Nachfolger des Propheten sei, und erkennen die drei ersten Khalifen Abubekr, Omar und Osman nicht als solche an. Diese Spaltung (Schia) führte schon zu Alis Zeit zu vielen blutigen Treffen, bis er in Kufa ermordet wurde. Das ihm dort errichtete Denkmal gab später Veranlassung zur Gründung der Stadt Meschhed Ali. Sein ältester Sohn Hassan starb in Medina an Gift, sein jüngster und Lieblingssohn Hussein fiel in der Ebene von Kerbela in einer Schlacht, die er den Sunniten lieferte; dort steht die ihm errichtete Grabmoschee, die der heiligste Wallfahrtsort der Schiiten ist.
Während die Sunniten meist Semiten (Araber) sind, hat die Schia ihre Anhänger bei den Ariern (Persern und Indern) gefunden, und der Haß zwischen ihnen ist noch heute so groß, daß ein Schiit lieber mit einem Christen oder gar Juden als mit einem Sunniten verkehrt. Diese Feindschaft schwillt alljährlich am höchsten an im Wallfahrtsmonat Muharrem, dessen zehnter Tag der Todestag Husseins ist. Am zehnten Muharrem ertönt ein Weheschrei von Borneo und Celebes über Indien und Persien bis nach Vorderasien, wo die Schia nur noch zerstreute Anhänger zählt, und dann giebt es auf dem ganzen Karawanenwege und besonders in Kerbela eine fanatische Aufregung, die an Scenen religiöser Ueberspannung nicht ihresgleichen hat. – Der Schiit glaubt nämlich, daß jeder Verstorbene der in Meschhed Ali oder gar in Kerbela begraben wird, direkt in das Paradies komme, ohne vorher über »es Ssireth«, die Brücke des Gerichtes, steigen zu müssen, und darum werden jahraus jahrein Abertausende von Leichen nach diesen beiden Orten gebracht. Der Arme, der die dazu nötigen Kosten nicht erschwingen kann, macht sich zu Fuße und bettelnd auf den Weg, um dort zu sterben. [95] Diese Zuzüge sind kurz vor dem zehnten Muharrem am stärksten. Da steigen die Leichenkarawanen der Perser, Afghanen, Beludschen, Inder u.s.w. vom iranischen Tafellande herab, und von allen Seiten werden Tote, die sich in jedem Stadium der Verwesung befinden, herbeigeschleppt, um gerade an diesem heiligsten der Tage einzutreffen. Welch ein Pesthauch so einen Zug begleitet, läßt sich denken. Die Hauptkarawane des Todes, die gewöhnlich am sechsten Muharrem das meilenweite Trümmerfeld von Babylon passiert, ist mehrere Stunden lang. Wie der Stift des Zeichners auf Seite 89 dieses Heftes veranschaulicht, wird ihr eine Fahne mit dem persischen Wappen (ein Löwe mit der hinter ihm aufsteigenden Sonne) vorangetragen. Es folgen braune, von der Sonnenglut ausgetrocknete Gestalten, die in müder Haltung auf ihren Tieren hängen oder mit abgematteten Füßen sich über den Boden schieben. In ihren Augen glüht der wildeste Fanatismus, und Flüche gegen die Sunna fließen von ihren Lippen. Die Reichen reiten köstlich aufgeschirrte Pferde und haben ihre verschleierten Frauen auf sorgfältig überschatteten Kamelen neben sich; die minder Begüterten sitzen auf abgetriebenen Maultieren oder Eseln. Dem Umsinken nahe Lasttiere tragen die Leichen in Särgen, die in der Hitze aufgesprungen sind, oder in Filz- und Bastdecken, aus denen die Produkte der Verwesung träufeln. Es kommen zerlumpte Fußgänger, die die sich zersetzenden Ueberreste ihrer Verwandten auf dem Rücken schleppen, und blutende Büßer, die sich den Leib und die Glieder zerfleischt haben; um dadurch Vergebung ihrer Sünden zu erlangen. So ziehen sie vorüber stunden- und stundenlang, begleitet von dem furchtbaren Gestank, den diese vom religiösen Wahnsinn erfaßten Menschen als »Wohlgeruch des Paradieses« bezeichnen, und der noch wochenlang verpestend auf der Gegend liegt. Scharen von Aasgeiern schweben über dem Zuge, um sich jedes stürzenden Tieres und jeder weggeworfenen Leiche, die ihrem Träger zu schwer wurde, zu bemächtigen.
Andre lebende Wesen fliehen beim Nahen der Todeskarawane, und zwar nicht bloß wegen der unerträglichen Ausdünstung derselben, sondern auch wegen der Gefahr, in die sich jeder Andersgläubige begiebt, der mit ihr zusammentrifft. Der Haß dieser Anhänger Alis und seiner Söhne hat sich auf dem Wege nach Kerbela zur Wut gesteigert; sie triefen von Verwünschungen ihrer Gegner, und wenn ein solcher so tollkühn wäre, ihnen nicht auszuweichen, sein Leben hinge an einem Haar. Wollte er es aber gar wagen, Meschhed Ali oder Kerbela zu betreten, so würde er sicher in Stücke zerrissen und unter ihren Füßen zu Brei zerstampft.
Sind sie dann am Ziel ihrer Wallfahrt angekommen, so ertönt die Stadt von einem ununterbrochenen Jammern über Husseins Tod, das bis zum letzten Muharrem währt; die Leichen werden flach im Sand verscharrt, aus dem sehr bald das Gespenst der Pest auf steigt und Opfer fordert, die nach Tausenden zählen. Wer ihr nicht unterliegt, der nimmt den Krankheitsstoff mit heim, der so über weite Länderstrecken getragen und verbreitet wird. Es giebt keine Regierung und keine Autorität, die die Macht besitzt, dagegen anzukämpfen, und so wird die Todeskarawane wohl noch lange das bleiben was sie ist: eins der düstersten Schattenbilder aus dem »herrlichen« Orient.
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