32. Die zwölf Geister im Schloße.

Es war einmal ein armer Reisender, der kam ganz durchnäßt in ein Landstädtchen und bat einen Wirth um Herberge. Der Wirth aber wies ihn ab, weil alle Zimmer und Betten bereits besetzt seien. »Ist denn kein Winkel für mich mehr da?« sagte der Wandersmann. »Nein, sagte der Wirth, Alles ist besetzt bis auf das alte Schloß da. Darin mag aber Niemand wohnen und schlafen, und ich selbst möchte mich nicht hineinlegen.« »Warum denn nicht?« fragte der Reisende. »Weil Geister darin spuken, sagte der Wirth, und weil noch keiner, der sich hineingewagt hat, lebendig wieder herausgekommen ist.« Der Wandersmann aber war so müd und matt, daß er meinte, es sei einerlei,[118] ob er hier oder anderswo sein Leben laßen müße, und ließ sich getrost in das alte Schloß führen, legte sich zu Bett und schlief ein.

Als es aber eben zwölf schlug, hörte er im Nebenzimmer ein Geräusch, davon er aufwachte. Da sah er zwölf Ritter, die sich um einen Tisch herumsetzten und aus goldenen Bechern Wein tranken und Brot dazu aßen. Bald darauf kam auch Einer zu ihm an's Bett heran und bot ihm gleichfalls Wein und Brot, was er aber stillschweigend ablehnte. Dann kam ein zweiter, ein dritter und so der Reihe nach elf Ritter, von denen er nichts annehmen wollte. Als endlich aber der zwölfte kam und ihm den goldenen Becher mit Wein anbot, nahm er ihn und sprach:


Ich trinke Jesu Christi Blut,

Das komme mir und euch zu gut!


Da verschwanden plötzlich die elf Ritter; nur der zwölfte blieb und sagte zu dem Reisenden: »Jetzt endlich sind wir Alle durch Dich erlöst worden.« (Hätte er nämlich den Becher schon früher genommen, so würde die Erlösung nur die getroffen haben, die denselben ihm bereits angeboten.) »Dafür, sprach der Ritter weiter, sollst Du nun auch deinen Lohn erhalten!« Dann führte er ihn durch viele Gänge und Treppen in einen tiefen Keller hinab, zeigte ihm eine große Kiste und gab ihm den Schlüßel dazu und verschwand. Weil der Mann aber die Kiste allein nicht tragen konnte, ließ er sie stehen und legte sich wieder in sein Bett und schlief bis zum Morgen. Da traten drei Männer zu ihm herein und das waren die Knechte des Wirthes, die dachten schon, sie [119] müßten wieder eine Leiche heraustragen wie noch jedesmal, wenn Jemand es gewagt hatte, in dem Schloße zu schlafen; und sie verwunderten sich daher sehr, als sie dießmal den Mann noch am Leben sahen. »Da ihr doch gekommen seid, sprach er, um etwas fortzutragen, so könnt ihr anstatt meiner eine Kiste mitnehmen.« Dann führte er sie in den Keller und sie mußten die schwere Kiste in's Wirthshaus bringen. Hier erzählte der Mann nun Alles dem Wirthe, was ihm begegnet war und öffnete die Kiste. Da war sie mit lauter Goldstücken angefüllt. – Der Wirth aber freute sich, daß das verrufene Schloß nun endlich von den Geistern befreit worden war, und theilte das Geld mit dem armen Wanderer, so daß sie Beide plötzlich die reichsten Leute wurden.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meier, Ernst. Märchen. Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. 32. Die zwölf Geister im Schloße. 32. Die zwölf Geister im Schloße. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-331B-9