Il Pensieroso

In einem Winkel seiner Werkstatt las
Buonarotti, da es dämmerte;
Allmählich vor dem Blicke schwand die Schrift...
Da schlich sich Julianus ein, der Träumer,
Der einzige der heitern Medici,
Der Schwermut kannte. Dieser glaubte sich
Allein. Er setzte sich und in der Hand
Barg er das Kinn und hielt gesenkt das Haupt.
So saß er schweigend bei den Marmorbildern,
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Die durch das Dunkel leise schimmerten,
Und kam mit ihnen murmelnd ins Gespräch,
Geheim belauscht von Michelangelo:
»Feigheit ist's nicht und stammt von Feigheit nicht,
Wenn einer seinem Erdenlos mißtraut,
Sich sehnend nach dem letzten Atemzug,
Denn auch ein Glücklicher weiß nicht, was kommt
Und völlig unerträglich werden kann –
Leidlose Steine, wie beneid ich euch!« 1
Er ging und aus dem Leben schwand er dann
Fast unbemerkt. Nach einem Zeitverlauf
Bestellten sie bei Michelangelo
Das Grabbild ihm und brachten emsig her,
Was noch in Schilderein vorhanden war
Von schwachen Spuren seines Angesichts.
So waren seine Züge, sagten sie.
Der Meister schob es mit der Hand zurück:
»Nehmt weg! Ich sehe, wie er sitzt und sinnt
Und kenne seine Seele. Das genügt.«

Fußnoten

1 Eigene Worte Julians in einem von ihm vorhandenen Sonett.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1892). 8. Genie. Il Pensieroso. Il Pensieroso. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-34BD-6