[101] Prag

Eine optimistisch gehaltene Städteschilderung in vier Bildern

1. Landschaftliche Reize usw.

I. Landschaftliche Reize usw.

Selten wissen Engländer oder Franzosen, wo Prag liegt, – denn sie haben, wie es in der Bibel steht, den besseren Teil erwählt.

Auf tschechisch heißt Prag: Prr – aha. Und nicht mit Unrecht.

Die Nebbich, die im südlichen Böhmen entspringt und sich schließlich doch in die Elbe ergießt, fließt klugerweise rasch an der Stadt vorüber.

Dem harmlosen Fremdling erscheint sie auf den ersten Blick mächtig wie der Mississippi, sie ist aber nur vier Millimeter tief und mit Blutegeln angefüllt.

Allerdings im März, wenn der Tauwind weht, gelingt es ihr, anzuschwellen, und sie gibt dann regelmäßig dem ruhmbedeckten Artilleristen, der auf dem »Hradschin« wohnt und Tag und Nacht die Stadt vor den Preußen beschirmt, willkommenen Anlaß, mit den Kanonen zu schießen.

Warnungsschüsse natürlich!

Als aber in neuerer Zeit bewilligt wurde, daß jeden Tag um die Mittagsstunde auch geschossen werden dürfe, war damit der letzte haltbare Grund gefallen,[102] die Regulierung der Nebbich länger aufzuschieben. –

Wieviel Monde noch, und man wird Prag sogar per Schiff verlassen können! –

Über die Nebbich führen sechs Brücken, darunter die alte berühmte »steinerne« Brücke, bei deren Bau bekanntlich als Bindemittel Eiweiß verwandt wurde.

Oder irre ich vielleicht? – Dann war es Bleiweiß.

Die Schweden wollten im Dreißigjährigen Krieg über diese Brücke von der Kleinseite her in die Stadt dringen, sind schließlich aber doch zurückgeschreckt.

Angeblich zerfällt Prag in mehrere Teile, – das ist aber nur so ein leeres Versprechen.

Von Süden, Osten und Norden ist es leicht zu erreichen, im Westen wird dies jedoch durch die böhmische Westbahn erfolgreich gehindert.

Wer sich aber darauf kapriziert, kann ganz gut von Furth i.W. aus zu Fuß gehen. – Ach Gott, die Wege sind ja gar nicht so schlecht. –

Übrigens soll sich jeder selber kümmern, der Prag einmal besuchen oder ansehen will.

Der »Verein zur Behebung des Femdenverkehrs« in der Ferdinandstraße vis-à-vis »Platteis«, schräg gegenüber dem Friseur Gürtler, das elfte Haus von Norden, numero conscriptionis 7814478189b gibt auf alle Fragen bereitwilligst Antwort. In böhmischer Sprache natürlich.

2. Inneres Leben

[103] II. Inneres Leben

Auf dem »Graben« ist etwas Sonnenschein.

Natürlich nur der Kommerzialrat Sonnenschein.

(Es unterliegt heute überhaupt nicht dem geringsten Zweifel mehr, daß Prag tatsächlich von orientalischen Kaufleuten, wie die Sage berichtet, gegründet wurde.)

Herr Sonnenschein steht gern bei dem Laden der Firma Waldek & Wagner, Gummiwaren und Uterusilien, – und auf seinem Antlitz ruht der Glanz, der von jeher großen Kaufleuten eigen war: Marco Polo, Fugger, Li-hung-tschang.

Er steht dort gern –, es ist mitten zwischen zwei Banken, der böhmischen Landesbank und der Kreditanstalt, und das macht immer ä guten Eindruck. – Und dann ist er stets schwarz angezogen.

– »Schwarz is immer elegant.« –

»Hab' dj' Ähre!« – hat jetzt jemand laut gegrüßt. –

Herr Feldeck von Feldrind ist es. – Ein feiner Kopf.

Die Brusttasche dick geschwollen. – Stearinkerzen hat er drin. – Er nimmt sie immer aus den Laternen seiner Equipage, damit sie der Kutscher nicht stiehlt.

Man dreht sich um: Ah!

[104] Die harmlose kleine Frau Doktor Teichhut ist vorbeigegangen. Klapp, klapp, klapp, mit hohen Absätzen. Sie imitiert sengenden Blick, sieghaft, als hätte sie ein neues Laster erfunden.

Und dort hält ein Wagen. Welch prächtiger Landauer!

Schau nur!

Die Gemahlin des Millionärs Steißbein sitzt darin und ißt mit bloßen Fingern kalte Linsen aus ihrer Pompadour.

Verlegen ruft die Tochter, die eben vorübergeht, ihr zu:

»Aber, Mámma, was eßt du das?!«

Jedoch die alte Dame läßt sich nicht beirren.

Ja, und wer ist denn das? – Schon aus Wien zurück? – Ah, da staun ich:

Der Berufsduellant Her Aaron Gedalje Hehler ist angekommen. –

Wer kennt ihn nicht!

Fünfundvierzig Kilo schwer, ist er die Leichtgewichtsbalmachome par excellence.

Sein unbändiger Mut ist Stadtgespräch, und ein Duell mit ihm muß etwa Schauderhaftes sein.

Gott sei Dank hat er noch keins gehabt.

Er macht einen äußerst verwegenen Eindruck, und daran ist weiter nichts Wunderbares, denn einer [105] seiner Ahnen schon hat sich kühn bis zu weiland Hermann dem Cherusker vorgedrängt, um sich das Knopperngeschäft im Teutoburger Wald nicht entgehen zu lassen.

Erst kürzlich wieder hat man ihn dekoriert, den Herrn Hehler, – von Armenien aus, zusammen mit dem Friseur Schicketanz und dem Diurnisten Oberkneifer aus Marienbad, aber gewiß nicht seiner Furchtlosigkeit oder unvergleichlichen Befähigung, die Ehrbegriffe im kabbalistischen Sinne zu deuten, wegen, sondern offenbar der Verdienste halber, die er sich in den Tagen, als er noch ungetauft und Kommis in der Zichorienbranche war, um Armenien und die angrenzenden Länder erworben hatte.

»Maj Kärl is ä hajpohrn Leedi,« singt er abends so gerne beim Wein, denn er liebt die englische Sprache, – der streitbare Herr Gedalje Hehler!

Jetzt aber, vorgeneigter Leser, folge mir willig ins Café Continental, es ist gerade gegenüber und das Herz Deutsch-Prags.

Siehst du, dort links mündet die Schwefelgasse, so benannt, weil sie täglich der tiefsinnige Rechtsgelehrte Jellinek durchquert, und dort rechts steht der Insektenpulverturm, der mit Recht die »Zeltnergasse« – abschließt.

[106] Für Leute, die noch nicht in Prag akklimatisiert sind, empfiehlt es sich ja allerdings, ehe sie zum Besuche des Caféhauses schreiten, sich längere Zeit in einem Wachsfigurenkabinett abzuhärten.

Man wird dann nicht so leicht erschrecken und manche kleine Freude haben, wenn man gelegentlich einen oder den anderen verbürgten Prager Ehrenmann kennen lernt und sich innerlich froh gestehen kann: hurra, ganz denselben Kopf habe ich ja schon in Spiritus gesehen.

Selbstverständlich ist und bleibt aber ein Panoptikum immer nur ein mildes Training, und so manchem, der unvorbereitet das Café betrat, ist der Schreck arg in die Glieder gefahren. –

Ahnungslos drängt man sich zwischen Sesseln hindurch, wehrt dankend dem aufmerksamen Kellner, der einem verbindlich sämtliche österreichischen Wochen-, Tages- und Sennesblätter anbietet, und sieht plötzlich auf:

Um Gottes willen, was ist denn das? –

Da sitzen ja drei assyrische Flügelstiere hinter einem Tisch? –

Mit langen, schwarzen viereckigen Bärten und glühenden Augen, und starren einem auf die Stelle, wo man die Brieftasche stecken hat.

Es sind aber nur der Herr Eisenkaß aus der Schmielesgase, der Herr Jettinger und der Spezialist[107] für unheilbare Krankheiten Doktor Paschory, und ihr Aussehen büßt viel an Schrecklichkeit ein, wenn sie aufstehen, denn sie haben krumme Hosen und den friedlichen Plattfuß.

Und in der Stammecke tagaus tagein, da sitzt ein Herr, der ist vielleicht gar kein Herr, sondern ein Kondor. Er ist immer à quatre épingles, aber er ist doch ein Raubvogel.

Er ist sogar ganz gewiß ein Raubvogel!

Wetten?

Seinen Namen habe ich vergessen, er soll eine »Seehandlung« betreiben, sagt man. – Heißt wohl, er handelt, was er »seht«. –

Mit seinen kleinen Augen, dem dünnen, faltigen Hals und dem riesigen Kondorschnabel ist er entsetzlich unheimlich anzuschauen; weiß Gott, man würde sich nicht wundern, wenn er plötzlich still in seine Tasche griffe, einen Haufen Gedärme hervorzöge und sie unter heiserem Geierschrei verzehren würde. –

Und jetzt steht plötzlich alles auf und grüßt ehrerbietig!?!

Ein würdevoll aussehender Herr ist soeben eingetreten, – ein kleines Unterschleifchen im Knopfloch – und dankt herablassend nach allen Seiten. –

Er war früher schon Ehrenmann. Aber nur Amateur. Jetzt ist er falscher Zeuge von Beruf.

Daher die allgemeine Beliebtheit.

3. Aufzug

[108] III. Aufzug

»Tratarah – Tratarah – Obácht – Obácht – Kanál – Kanáal.« Das Angriffssignal der Prager Bürgereskadron schallt durch die Straßen.

Ein Mann fehlt: – der Fiakerkutscher Kottysch hat in letzter Stunde sein Handpferd nicht hergeborgt.
Angsterfüllt schlottern die Greise auf ihren Gäulen im Asthmagalopp durch die Straßen.
Konkurs hippique!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Tsin – fum Trarah tsin – fum tsin – fum – – und die Grenadiere ziehen mit riesigen Damenmuffs aus schwarzem Pelz auf dem Kopfe über den Graben.

Die vernickelten Bajonette blitzen in der Sonne.

Ein kriegerisches Stimmungsbild von packender Gewalt!

Man fühlt, jeden Augenblick kann etwas Großes geschehen, vielleicht tritt Lohengrin plötzlich aus einem Anstandsort hervor und schließt sich an.

Voran todesmutig als Generalfeldmarschall der Hosenschneider Kvasnitschka.

Ja, ja, das sind die Grenadiere, vor denen sich schon Friedrich der Große so entsetzlich gefürchtet hat.

Eine halbe Stunde später, und wieder tönen Klänge durch die Luft.

[109] Diesmal mehr potpourriartig:


»Jäh, die Muh – sik, sie spie – lät so siß,
Geht ins Herz – und – in – die Fiß'.«

Diesmal ist es die Gilde der Müller!

Sie tragen weiße Strümpfe, gelbe Hosen, einen grünen Rock, violette Samtkappen – obendrauf Astrachan – der Quadratkilometer zwei Kreuzer – und gigantische Beile über den Schultern. –

Das alles bringt eben das Müllergewerbe so mit sich.

Kaum sind die vorbei, kommt es rot heranmarschiert. – Die böhmischen Turner – »Sokols« genannt – mit blutrotem Hemd, um die Grausamkeit anzudeuten, und der Eleganz und Behendigkeit wegen mit Schaftstiefeln angetan.

Eine hellblaue Fahne weht ihnen voran – dem Europäer ist wohl, wenn ihm etwas voranweht – darauf das silberne Wahrzeichen der slawischen Turnerschaft: Ein Geier mit einer Hantelstange in den Krallen. –

Denn der Geier ist und bleibt nun einmal das trefflichste Symbol für den Turner; – was ist der Affe dagegen?!

– Wer von uns hätte noch nicht Gelegenheit gehabt, zu belauschen, wie sich die Geier – wenn alles still ist – leise, leise in die Eisenhandlungen schleichen, – husch, die schwersten Hanteln ergreifen und[110] sich in die Lüfte schwingen, heimwärts, dem unwirtlichen Felsenhorste zu, um zu Hause ihrem Weibchen das Hantelstemmen beizubringen. –

Welch prächtiges Naturspiel!

Aufzug um Aufzug wälzt sich durch die Gassen, – den Schluß bildet eine kleine, ernste, schwarz gekleidete Schar: der Hausmeistersparverein »U Hadrbolce«.

Sie kommen aus der Teinkirche und haben dort zu Ehren ihres Obmannes, des Herrn František Fanfule, der – den heutigen Tag mitgezählt – nunmehr durch volle fünfundzwanzig Jahre niemals um ein Darlehen bei der Vereinssparkasse angesucht hat, – ein Hochamt zelebrieren lassen.

Jede Truppe zieht zuerst vor das böhmische Nationaltheater, jubelt dort, und dann geht es zum Deutschen Kasino.

Dort wird Halt gemacht und längere Zeit ein Wort wiederholt, das ungefähr soviel wie »Krepier!« bedeutet. –

Die Kasinoidioten aber sitzen währenddessen gleichmütig hinter den Fensterscheiben und fürchten sich nicht.

Ich bin unberufen kein Prager, würde mich aber auch nicht fürchten, denn der »Aufzug« ist in Prag etwas ganz Alltägliches.

[111] Überdies verfügt das Deutsche Kasino über geheime Hilfskräfte eigener Art.

Die Stadt steht nämlich bekanntermaßen auf einem Netz unterirdischer Gänge, und ein solcher geheimer Gang verbindet diesen Mittelpunkt Prager deutschen Lebens mit dem fernen, aber stammverwandten Jerusalem.

Wenn es nun wirklich einmal schief gehen oder die deutsche Burschenschaft Markomannia, woran, Gott soll hüten, allerdings kaum gedacht werden darf, – versagen sollte, so genügt ein einfacher Druck auf ä elektrische Knopp, und im Handumdrehen sind ein paar hundert frische Makkabäer zur Stelle.

Und da soll man sich dann nix sicher fühlen!!

4. Gesellschaft

IV. Gesellschaft

Bei Doktor Serbes ist Soiree. –

»Huhuu – huu – hu,« – es wird gesungen und Klavier gespielt.

Es ist schon zehneinviertel Uhr, und immer noch huuu – huhuu – wird gesungen. –

Dem Herrn Richtov knurrt der Magen.

Die Tochter des Hauses ist weiß lackiert.

Endlich wird serviert.

Krebse auf einer Schüssel, kleine steinharte Krebse, – denn der Monat hat vier »r«. –

[112] Aber in der Mitte (der Schüssel natürlich) liegt ein Hummer.

Man sticht hinein, es prasselt; der Hummer ist nur eine Attrappe.

Also an die Krebse! – Für jeden Gast ist einer da.

Plötzlich knallt es, – ein Herr ist mit dem Messer ausgerutscht und hat fast den Teller zertrümmert. Sein Krebs aber ist über den Tisch und unter das Buffet geflogen.

Die übrigen Gäste lassen entmutigt von den ihrigen ab, und das Gericht wird abgetragen.

Es werden Stimmen laut, einer oder der andere der Krebse müsse ein Briefbeschwerer gewesen sein.

Ein Lachs kommt, – – mit Kartoffeln.

Man will hineinstechen!

Ausgeschlossen!

Der Lachs ist roh. Nicht einmal ausgenommen.

Man nimmt Kartoffeln.

Der Lachs ist natürlich absichtlich nicht gekocht.

Er wird erst morgen mittag gekocht.

Schon wieder kracht etwas; der Terrier des Hauses ist unter das Buffet gekrochen und knackt den Krebs.

Also doch kein Briefbeschwerer!

Ein neuer Gang: – – – Lebkuchenherzen.

Jawohl, jawohl, Lebkuchenherzen!

[113] Und dann kommt das Dessert: die zwei Dienstmädchen bringen auf einem Tablett ein Kindergrab herein.

Ringsherum in Eierbechern ist Gefrorenes.

Das Kindergrab aber ist leider leer.

Dann sollte wieder – – huuuhuuuh – gesungen werden, aber das wird dem Herrn Richtov zu dumm, und er geht in die Küche und läßt auf seine Kosten von den Dienstmädchen hundert Paar heiße Würstel und zwanzig Liter Bier aus dem Wirtshaus holen.

Das freute alle sehr, und besonders die Familie Serbe, die ein über das andere Mal in die Hände klatscht und sagt, es kommt ihr so ungeheuer lustig und originell vor, wie da mit einem Schlage aus dem Souper ein Picknick geworden sei.

Und heiterer Laune essen sie sämtliche Würste auf bis zu


Ende. [114]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meyrink, Gustav. Erzählungen. Des Deutschen Spiessers Wunderhorn. Zweiter Teil. Prag. Prag. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-36DF-E