[9] Der Tod des Selchers Schmel

Eine schlaftrunkene Geschichte


Wenn einer glaubt, daß die geheimen Lehren des Mittelalters mit den Hexenprozessen ausgestorben sind, oder daß sie gar auf bewußter oder unbewußter Täuschung beruhen, – ist er arg im Irrtum.

Niemand hatte das besser begriffen als Amadeus Veverka, der heute im okkulten Orden der Hermetischen Brüderschaft von Luxor unter symbolistischem Gepränge zum »superieur inconnu« erhoben worden war und jetzt nachdenklich – durchschauert von den Lehren des Buches Ambertkend – auf einem behauenen Steinblock am Abhange der »Nusler Stiege« sitzt und schlaftrunken in die blaue Nacht hinausgähnt.

Der junge Mann läßt alle die fremdartigen Bilder im Geiste an sich vorüberziehen, die heute abend vor sein Auge getreten waren – er hört wie aus weiter Ferne noch die eintönige Stimme des Arche-Zensors Ganesha: »Die erste Figur, über welche man das Wort Hom aussprechen muß, zeiget sich unter einer schwarz und gelb gemischten Farbe, sie ist in dem Hause des Saturn. Wenn unser Geist einzig mit dieser Figur beschäftigt ist, wenn unsere Augen [10] fest auf sie geheftet sind und wir uns selbst den Namen Hom aus sprechen, so öffnen sich die Augen des Verstandes, und man erwirbt sich das Geheimnis – – –«

Und die Brüder des Ordens standen umher, das blaue Band um die Stirn geschlungen und die Stäbe mit Rosen bekränzt. – Freie Forscher, die die Tiefen der Gottheit ergründen, mit Masken und weißen Talaren angetan, damit keiner den andern kenne und keiner vom andern wisse. – [Wenn man sich aber auf der Straße begegnet, erkennt man sich am Händedruck.] –

Ja, ja – solche Institutionen sind oft unerforschlich und wunderbar. – – –

Amadeus Veverka greift unter seine Weste, ob er das Abzeichen seiner neuen Würde, die goldene Münze mit dem emaillierten Traubenkern noch habe, und schwelgt im Gefühle stolzer Überlegenheit über diese schlafenden Menschen im nächtlichen Häusermeer, die nichts Besseres kennen, als die Mysterien der Magistratserlässe und wie man gut esse und viel trinke.

Er wiederholt sich, an den Fingern zählend, all das, was von jetzt ab streng geheimzuhalten sei.

»Wenn das so fortgeht,« flüstert ihm jenes niederträchtige innere Ich zu, das begeisterter Poet so schön unter dem Sinnbild des »schwarzen [11] Ritters zur Linken« verhüllen, »so werde ich schließlich noch das Einmaleins geheimhalten müssen.«

Selbstverständlich jagte er mit einem energischen Fußtritt diesen Teufel in seine finstere Welt zurück, wie es einem jungen Superieur inconnu geziemt, und wie es die Brüderschaft von ihm erwartet. –

Die letzte Straßenlaterne in seiner Nähe hat man erdrosselt, und über der dunstverhüllten Stadt flimmert nur das schwache Licht der Sterne. – Sie blinzeln gelangweilt auf das graue Prag und gedenken trübselig der alten Zeiten, da noch der Wallensteiner von seinem Schlosse auf der Kleinseite grübelnd empor zu ihnen blickte. – Und wie die Alchimisten Kaiser Rudolfs in ihren Schwalbennestern auf der Daliborka nächtlich kochten und murmelten und erschreckt die Feuer löschten, wenn der Mars in Mondesnähe kam. – Die Zeiten des Nachdenkens sind um, und Prag liegt und schnarcht wie ein betrunkenes Marktweib.

Ringsum hügeliges Land. – Ernst und geheimnisvoll schweigt das Nusler Tal vor dem träumerischen Geheimjünger, – im fernen Hintergrunde die massigen tiefdunklen Wälder, in deren Lichtungen die Strolche schlafen, die bei der Polizei noch keine Anstellung als Detektivs gefunden haben.

[12] Weiße Nebel tanzen auf den nassen Wiesen –, aus tiefer Ferne ruft das verträumte Pfeifen der Lokomotive eine kranke Sehnsucht wach.

Amadeus Veverka denkt und denkt: Wie stand es doch in dem alten Manuskript über die verheißenen Offenbarungen der inneren Natur, das während der zwanglosen Besprechung Bruder Sesostris vorgelesen hatte?

»Wenn du in den Nachthimmel siehst und willst das Schauen erlangen, so richte deinen Blick auf einen Punkt, den du dir in weiter Ferne denkst, und schiebe ihn immer weiter und weiter von dir weg, bis du fühlst, daß die Achseln deiner Augen sich nicht mehr schneiden. – Dann wirst du mit den Augen der Seele sehen: ernste, traurige und komische Dinge, – wie sie im Buche der Natur aufgezeichnet sind –; Dinge, die keinen Schatten werfen. – Und dein Sehen wird mit dem Denken verschmelzen

Der junge Mann sieht hinaus in das wolkenlose Dunkel, bis er seine Augen vergißt. – Geometrische Figuren stehen am Himmel, wachsen und verändern sich, dunkler als die Nacht. – Dann schwinden sie und Geräte erscheinen, wie sie das banale Leben braucht: ein Rechen, eine Gießkanne, Nägel, eine Schaufel. – Und jetzt ein Sessel mit grünem Rips bezogen und mit zerbrochener Lehne.

[13] Veverka quält sich ab, die alte Lehne durch eine neue zu ersetzen. – Vergebens. – Jedesmal, wenn er glaubt, am Ziele zu sein, zerrinnt das Bild und fährt in seine alte Form zurück. – Endlich verschwindet es ganz, die Luft scheint wie Wasser und riesige Fische mit leuchtenden Schuppen und goldenen Punkten schwimmen einher. – Wie sie die purpurnen Flossen bewegen, hört er es im Wasser brausen. –

Erschreckt zuckt Amadeus zusammen. Wie ein Jäherwachender. – Ein eintöniges Singen dringt durch die Nacht. – Er steht auf: Ein paar Leute aus dem Volke. – Slawischer Singsang. Schwermütig nennen es die, die davon erzählen, und es doch nie gehört haben.

Glücklich der Sterbliche, der es nie vernommen. –

Im Westen ragt das Palais des Selchers Schmel.

Wer kennt ihn nicht, den Hochverdienten? Sein Ruhm klingt über die Lande bis an das blaue Meer. – Gotische Fenster schauen stolz hinab ins Tal. –

Die Fische sind verschwunden und Amadeus Veverka sucht von neuem das Sehfeld in der Unendlichkeit. Ein heller Fleck, kreisrund, der sich mehr und mehr weitet, leuchtet auf. Rosa Gestalten treten in den Brennpunkt, mikroskopisch klein und doch so scharf, wie durch eine Linse gesehen. – Von blendendem[14] Licht beschienen, – und die Körper werfen keinen Schatten.

Ein unabsehbarer Zug marschiert heran, rhythmisch im Takt, – es schüttert die Erde. Schweine sind es – Schweine! Aufrecht gehende Schweine! – Voran die edelsten unter ihnen, die ersten im Zuge der Seelenwanderung, die schon auf Erden die tapfersten waren – und jetzt violette Cereviskappen tragen und Couleurband, damit jeder sehe, in welcher Gestalt sie sich dereinst wiederverkörpern werden.

Es schrillen die Querpfeifen der Spielleute, – immer breiter drängen die rosa Gestalten, und in ihrer Mitte wankt ein dunkler, gebückter, menschlicher Schemen, gefesselt an Händen und Füßen. – Es geht zum Richtplatz, – zwei gekreuzte Schinkenknochen bezeichnen die Stätte. Schwere Ketten von Knackwürsten hängen an dem Gefangenen nieder und schleppen ihm nach in dem wirbelnden Staube. –

– Die Querpfeifen sind verstummt, es steigt der Kantus:


»Das ist der Selcher Schmel,

Das ist der Selcher Schmel,

das ist der lederne Selcher Schmel,

sa, sa

Selcher Schmel.

Das ist der Selcher Schmel!«


– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[15] Jetzt haben sie Halt gemacht, sammeln sich im Kreise und harren des Urteils. Der Gefangene soll sagen, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hat. Jedes Schwein weiß doch, daß man dem Beschuldigten alle Anklagspunkte zu nennen hat. Genau so, wie in einem Ehrenrate der Burschenschaft Markomannia. – –

Ein riesiger Eber mit blutiger Schürze hält die Verteidigungsrede.

Er weist darauf hin, daß der Angeklagte nur im besten Glauben und in flammender Begeisterung für die heimische Industrie zu handeln vermeinte, als er tausende und abertausende der ihrigen dem Magen der Großstadt überlieferte.

Alles umsonst. – Die zu Richtern ernannten Schweine lassen sich durch die Bestimmungen des Gesetzbuches nicht beirren und ziehen erbarmungslos die schon vorbereiteten Urteile aus den Taschen. Wie sie es so oft bei Lebzeiten gesehen haben, und wie es Sitte ist auf Erden. –

Der Verurteilte hebt flehend die Hände empor und bricht zusammen.

Das Bild erstarrt – verschwindet und kehrt von neuem wieder. – So rollt die Vergeltung ab, bis auch das letzte Schwein gerächt ist.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[16] Amadeus Veverka fährt aus dem Schlummer, er hat sich mit dem Kopf an den Griff seines Stockes gestoßen, den er in beiden Händen hält. Wieder fallen ihm die Augen zu und wirre Begriffe tanzen in seinem Hirn.

Diesmal wird er sich alles genau merken, damit er es weiß, wenn er erwacht.


Die Melodie will ihm nicht aus dem Kopf:


»Wer kommt dort von der Höh,

Wer kommt dort von der Höh?

Wer kommt dort von der ledernen Höh,

sa, sa

ledernen Höh,

Wer kommt dort von der Höh;«

und dagegen läßt sich nicht ankämpfen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meyrink, Gustav. Erzählungen. Des Deutschen Spiessers Wunderhorn. Zweiter Teil. Der Tod des Selchers Schmel. Der Tod des Selchers Schmel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-36F3-D