[45] Tut sich – macht sich – Prinzeß

»Guten Morgen,« sagte das Gigerl und schob seinen gelbledernen Handkoffer auf das Tragnetz des Waggons.

»Ich hab' die Ehre« und »mein Kompliment wünsch' ich« grüßten die beiden behäbigen alten Herren, und zwar auffallend verbindlich, denn das Gigerl war sehr reich, wie jeder anständiger Prager wissen mußte, und hatte außerdem etwas Undefinierbares an sich – so eine Art schreckeinflößender Sicherheit.

Nachdem natürlich kein Mensch von dem beharrlich ausgerufenen »frischen Wasser« getrunken hatte, und jene übliche Viertelstunde verflossen war, die nötig ist, um den Laien glauben zu machen, das Eisenbahnwesen sei eine Wissenschaft, setzte sich der Zug langsam in Bewegung.

Die beiden würdigen alten Herren betrachteten mißgünstig die scharfe Bügelfalte an den Hosenbeinen des neuen Passagiers. –

Sie billigten solchen Tand natürlich nicht. – Ein charaktervoller Mann hat an den Knien knollenartige Ausbuchtungen der Hosen – er trägt breitkrempige Hüte, wenn schmalkrempige modern sind, [46] und umgekehrt. – (Die meisten Hutladen nähren sich von solchen ehrenfesten Leuten.) –

Und wie affektiert, den kleinen Finger mit einem Ring zu schmücken. – Wozu – um Gottes willen – hat man denn einen Zeigefinger! – An diesen gehört doch der Siegelring – mit den Initialen des Großvaters. –

Und gar die dumme Mode mit den schmalen Uhrketten! –

Da sieht meine schon ein bißl würdiger aus, dachte sich der Herr Baurat und sah stolz auf seinen geschmückten Bauch herab, auf dessen Mitte das anerkannt schöne und übliche Amethystberlocke baumelte.

»Können Sie mir vielleicht einen Gulden umwechseln!« fragte das Gigerl den zweiten alten Herrn, »ich muß nämlich dem Kofferträger noch schnell ein Trinkgeld hinauswerfen.«

Der Herr Oberinspektor fischte zögernd sein großes Portemonnaie mit dem schweigsamen Messingmaul hervor und machte ein Gesicht, wie wenn ihn jemand um tausend Gulden angepumpt hätte. –

Beim Öffnen fielen viele Münzen heraus, unter ihnen – o weh – auch der Milchzahn der kleinen Mizzi; – die des kleinen Franzl und des Max waren – Gott sei Dank – im inneren Fach. –

[47] Es ging aber nichts verloren, denn der junge Herr hatte Glück im Suchen und gute Augen. –

Eine ältliche Dame blieb im Wagenkorridor stehen. –

Der Herr Baurat grüßte verbindlich durch die offene Türe.

»Bitt' Sie, wer ist das?« fragte der Oberinspektor neugierig.

»Die – die kennen Sie nicht? Das ist doch die Frau Syrovatka, die was die Witwe ist nach dem gottseligen Oberlandesgerichtsrat. – Sie wohnt jetzt nach seinem Tode wieder bei ihrer Familie – Sie wissen doch: die Müllerischen von der obern Neustadt. – Ihren Papagei hat sie, hör' ich, aber weggeben müssen, damit er nicht zu viel ausplaudert vor den jungen Mädchen und so. – Na, sie wird ihn ja nicht zu sehr vermissen – sie und ihre Schwestern haben doch alles. – Bitt' Sie was, denn die, die haben's gut – das sind – das sind ...«

»Verdammte Spießbürger,« ergänzte doppelsinnig das Gigerl, schob das Kinn vor und zerrte mit dem Zeigefinger ungeduldig an dem Rande seines Stehkragens. –

Eine peinliche Stille entstand – der Baurat schwieg, der Oberinspektor spuckte verlegen zwischen seine Stiefel, und der vorlaute junge Mensch sag etwas gedrückt zum Fenster hinaus, an dem die vorüberfliegenden [48] Telegraphendrähte sich hoben und senkten.

Selbst der Zug schien den allgemeinen Druck mitzuspüren und schlug, wie um der bedenklichen Stimmung ein Ende zu bereiten, ein geradezu rasendes Tempo ein. –

Verfluchtes Gerumpel! – Die Waggons schleuderten und rasselten, die Fensterscheiben klirrten. –

Bald befanden sich die beiden Alten wieder auf den breiten Bahnen der üblichen Bürgergespräche.

Verstehen konnte man freilich nichts, denn das Rasseln war schauderhaft.

Nur hie und da tauchten ein paar abgerissene Sätze an die Oberfläche: »Ich wäre natürlich gar nicht gefahren, wenn ich gewußt hätt', daß das Barometer gefallen ist, – der Maxl, – Quarta – Kunstgeschichte – Griechisch, – unglaublich, mit was sich der Bub alles den Kopf einnimmt.« –

»Na, meine Tochter erst – nächsten Monat wird sie zwanzig – prachtvolles rotes Haar – hundsmager und hat immer so alberne Redensarten: den ganzen Tag hört man: ›tut sich, macht sich, Prinzeß‹ –, ganz sinnlos – das kommt von den dummen modernen Romanen – Maeterlink – Meyrink – Gehirnerweichung – polizeilich verbieten.« – –

Den jungen Mann mußte offenbar eine tiefe Sorge plötzlich überfallen haben, denn er hatte an [49] den Gesprächen nicht den geringsten Anteil genommen, vielmehr aufmerksam das grüne baumelnde Fensterband angestarrt und schließlich ein Notizbuch herausgezogen, in dem er angestrengt rechnete.

»Der Herr von Vacca wird's gewiß wissen,« störte ihn der Herr Baurat, als das Schleudern ein wenig nachließ: »Sagen Sie, bitte, wie heißt der Roman von Prévost, den sie jetzt im Sommertheater sogar aufführen?«

»Demi-vierges,« antwortete das Gigerl.

»Demi-vierges, ja richtig. – Sie, Herr Oberinspektor, ich sag' Ihnen – so was! Und das soll realistisch sein. So was gibt's ja gar nicht. Erstens kommt das in einem guten Haus nicht vor und zweitens bei uns in Prag schon garnicht.«

Das Gigerl grinste.

»Und den Helden in dem Roman versteht man überhaupt nicht. Was macht der ... der ..., wie heißt er denn geschwind?«

»Julien de Suberceaux,« half der junge Mann.

»Ja richtig, Suberceaux, – was treibt denn eigentlich der mit dem Frauenzimmer, ich versteh' das Ganze nicht.« –

Das Gigerl warf einen boshaften Blick auf den Sprecher.

Der eintretende Schaffner verlangte die Karten und ersparte ihm die Antwort.

[50] – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Wohin fahren eigentlich Herr von Vacca?« fragte leutselig wiederum der Herr Baurat.

»Ich? – Ich fahre nur bis Trautenau, eine ekstatische Frau ansehen. – Beglaubigter Fall.« –

»No natürlich, haben Sie schon wieder so was Verrücktes! Ekstase! Ich bitt' Sie, Ekstase! – Sowas! Ein gutes G'selchtes mit Kraut und Knödeln und ein paar Glas Pilsner ist die beste Ekstase.«

Pause. –

»Pilsner! Das ist halt ein Bierl,« meditierte der Alte.

Das Gigerl wollte eine heftige Antwort geben, spülte sie aber im letzten Augenblick mit einem Mundvoll Zigarettenrauch hinunter. Der Herr Baurat ging ohnehin sehr rasch auf ein anderes Thema über: »Sie sollten doch einen Leinwandüberzug über Ihren schönen Lederkoffer geben, Herr von Vacca, damit er nicht ruiniert wird.« –

»Da schaffe ich mir doch lieber gleich einen Leinwandkoffer an,« entgegnete der junge Mann mißlaunig, holte aber nach eine kleinen Weile ein Paket Photographien hervor, das er versöhnlich dem Alten reichte: »Interessiert Sie vielleicht sowas?«

Der Baurat rückte seine Brille zurecht und sah mit feistem Schmunzeln die Bilder durch, die er dann einzeln seinem Nachbarn reichte:

[51] »Die da, die Blonde, das ist ein strammes Mensch, – sowas zum Anhalten, ha, ha, ha.« – (Der Herr Oberinspektor stimmte vergnügt in das fettige Lachen ein.) – »Aber was ist denn mit der da, die hat ja gar keinen Kopf? – das magere Ding!« fuhr er fragend fort, schwieg aber plötzlich, – warum lächelte denn der junge Laffe gar so suffisant?

»Das!? – Das ist eine junge Dame,« war die Antwort, »nach dem Körper allein – ohne den Kopf kann sie eben ein Unberufener nicht erkennen!«

Wieder entstand eine lange Pause.

Eine Wolke war vor die Sonne getreten. Graues Licht lag über den fächerförmigen Äckern; – die scharfen Schatten waren verflattert. –

Erwartungsvoll hielt die Natur den Atem an.

»Meine Älteste, die Erne, wird jetzt auch bald heiraten,« platzte der Herr Baurat unvermittelt heraus.

Wieder allgemeine Stille.

»Sagen Sie, halten Sie von Telepathie – Gedankenübertragung – auch nichts?« hob das Gigerl an.

»Sie meinen die neueste drahtlose Telegraphie?« fragte der Oberinspektor.

»Nein, nein, – die spontane direkte Übertragung der Gedanken von Hirn zu Hirn: – ›Gedankenlesen‹ meinetwegen.«

[52] »Aber hören Sie mir solchen Ibsensachen auf, – so ein Unsinn,« spottete der Herr Baurat, »man weiß ja in der ganzen Stadt, Sie befassen sich gerne mit derlei Kram, aber mich kriegen Sie mit sowas nicht dran. Gedankenübertragung! – ha, ha, ha! – Wenn ich nicht die Bilder vorhin von ihnen gesehen hätte, ich möcht' wahrhaftig glauben, Sie sind wirklich so ein Phantast!«

Der junge Mann knipste mit seiner Zigarettendose.

»No, und die ohne Kopf haben Sie selbst photographiert?« fragte der Oberinspektor, »no und ist die was Feines?«

Das Gigerl schwang seine Handschuhe in der Luft und gähnte: »Tut sich, – macht sich, – Prinzeß.«

Dem Herrn Baurat fiel die Zigarre aus der Hand: »Wa wa ... tut sich, Prinzeß, wa ... was?« –

»Na ja,« sagte das Gigerl: »Das ist so eine gedankenlose Redensart von ihr.« –

Ein Ruck!

Der Lederkoffer fiel dem Herrn Baurat auf den Schädel.

Es hält der Zug.


»Trr – autenau, – Trauten – au.
Trrr – autenau.
Fünfzehn Minuten.«

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TextGrid Repository (2012). Meyrink, Gustav. Erzählungen. Des Deutschen Spiessers Wunderhorn. Zweiter Teil. Tut sich - macht sich - Prinzeß. Tut sich - macht sich - Prinzeß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3717-4