[183] Die Königin unter den Bregen

Der Herr da drüben ist der Dr. Jorre.

Er besitzt ein technisches Bureau und verkehrt mit keinem Menschen.

Regelmäßig um ein Uhr ißt er im Restaurant des Staatsbahnhofes zu mittag, und wenn er eintritt, bringt ihm der Kellner die »Politik«. –

Dr. Jorre setzt sich immer darauf, nicht etwa aus Verachtung, sondern um sie jeden Augenblick bei der Hand zu haben, – denn er liest bruchstückweise während des Essens.

Er ist überhaupt ein eigentümlicher Mensch, – ein Automat, der niemals in Eile ist, niemand grüßt und nur das tut, was er will.

Gemütsbewegungen hat noch keiner an ihm wahrgenommen. –

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»Ich möchte mir eine Portemonnaiefabrik – egal wo, nur in Österreich muß es sein – errichten,« sagte eines Tages ein Herr zu ihm, – »so und so viel will ich daran wenden, – können Sie mir das besorgen, – samt Maschinen, Arbeitern, Bezugs- und Absatzquellen und so weiter und so weiter, – – kurz: ganz komplett?« –

[184] Vier Wochen später schrieb Dr. Jorre dem Herrn, daß die Fabrikgelände fix und fertig seien – an der ungarischen Grenze. Der Betrieb bei der Behörde angemeldet, – 25 Arbeiter und 2 Werkmeister vom Ersten des Monats ab angestellt, ebenso das kaufmännische Personal; Leder aus Budapest, – Alligatorenhäute aus Ohio unterwegs. – Bestellungen von Wiener Abnehmern zu günstigen Preisen in den Geschäftsbüchern bereits eingetragen. Bankverbindungen in den Hauptstädten angeknüpft.

Nach Abzug seines Honorars seien 5 fl. 63 Kr. von dem übergebenen Gelde übrig, die sich in Briefmarken in der linken Schublade des Schreibtisches im Chefzimmer befänden.

Solche Geschäfte machte Dr. Jorre.

Zehn Jahre hatte er auf diese Art schon gearbeitet und wahrscheinlich viel Geld verdient. Jetzt stand er wieder mit einem englischen Syndikat in Unterhandlungen, und morgen früh um acht Uhr sollten sie zum Abschlusse kommen. Eine halbe Million würde Dr. Jorre dabei verdienen, meinten seine Konkurrenten. –

Es könne gar nicht mehr gelingen, ihn noch aus dem Felde zu schlagen, glaubten sie. –

Die Engländer glaubten es auch nicht.

Dr. Jorre erst recht!

[185] »Kommen Sie morgen pünktlich ins Hotel,« sagte der eine Engländer.

Dr. Jorre gab keine Antwort und ging nach Hause. Der Kellner, der die Bemerkung gehört, lachte bloß.

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In Jorres Schlafzimmer steht nur ein Bett, ein Stuhl und ein Waschtisch. –

Totenstille im ganzen Haus.

Lang ausgestreckt liegt der Mann und schläft.

»Morgen soll er am Ziele seines Strebens sein, mehr besitzen, als er verbrauchen kann. Was wird er dann wohl beginnen? Welche Wünsche bewegen dieses Herz, das so freudlos schlägt?«

Das hat er wohl keinem Menschen je gesagt. – Er steht ganz allein in der Welt.

Ob die Natur zu ihm spricht, ob Musik, ob Kunst? – Niemand weiß es. – – – Es ist, als ob der Mann tot wäre, – kein Atemzug ist hörbar.

Das kahle Zimmer schläft mit ihm, – kein Knistern – nichts. – Solch alte Räume sind nicht mehr neugierig.

So verfließt die Nacht – langsam – Stunde um Stunde. – – – – – – – – – – – –

– War das nicht ein Schluchzen, – wie aus dem Schlaf? – Pah, – Dr. Jorre schluchzt nicht. – Auch nicht im Schlaf.

[186] Und jetzt ein Rascheln. – Es ist etwas herabgefallen, – ein leichter Gegenstand. – Eine dürre Rose, die an der Wand neben dem Bette hing, liegt auf dem Boden. – Der Faden, der sie gehalten, ist zerrissen; – er war schon alt – und morsch geworden. Ein Lichtschein fällt auf die Zimmerdecke – eine Wagenlaterne von der Gasse war es wohl. –

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Früh stand Dr. Jorre auf, wusch sich und ging ins Nebenzimmer. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch und starrt vor sich hin.

Wie alt und verfallen er heute aussieht! –

Draußen fahren Lastwagen; man hört sie über das Pflaster holpern. Ein nüchterner, öder Morgen, – halbdunkel noch, als ob es nie mehr freudiger Tag werden wolle. –

Daß die Menschen den Mut haben, da weiterzuleben!

Was soll das alles, – dieses mürrische Arbeiten im trüben Nebel!

Jorre spielt mit einem Bleistift. – Die Dinge stehen in wohlgeordneten Abständen auf dem Schreibtische. – Er klopft zerstreut mit dem Briefbeschwerer, der vor ihm liegt. Ein Basaltstück mit zwei gelbgrünen Olivinkristallen; – wie zwei Augen sehen ihn die Steine an. – Warum quält ihn das so? – Er schiebt den Block beiseite. –

[187] Immer wieder muß er hinschauen. – – – Wer hat ihn nur so angeblickt, so gelbgrün? Und noch vor ganz kurzer Zeit? – – – –

Bregen – – – – – – Bregen – – –

Was für ein Wort ist das nur? – Bregen? –

Er hält die Hand an die Stirn und sinnt. –

Ein Traumgesicht dämmert in seiner Seele. –

Heute nacht hatte er von dem Worte geträumt; – jawohl, – gerade vor wenigen Stunden:

Er war in den Herbst hineingeschritten, in eine fröstelnde Landschaft. – Weidenbäume mit hängenden Zweigen. Das Laub tot auf allen Sträuchern. – Dicht bedecken die abgefallenen Blätter die Erde, mit Wasserstaub bestanden, als ob sie die sonnigen Tage beweinten, wo sie noch in der Höhe – im Winde – gejauchzt und gezittert, die silbergrünen Weidenkinder. –

Es ist ein eigenes trostloses Rauschen, wenn der Fluß durch die dürren Blätter streift.

Ein brauner Pfad liegt zwischen wirren Sträuchern, die wie erstarrte Krallen in die nasse Luft greifen. – – Er sieht sich auf diesem Wege gehen. – Vor ihm humpelt ein altes Weib in Lumpen – tief gebückt – mit einem Hexengesicht. – Er hört ihren Krückstock auf die Erde stampfen. – Jetzt bleibt sie stehen.

[188] Ein Sumpf liegt vor ihnen im Dunkel der Ulmen, und grüne Schwaden decken die tückische Fläche. – Die Hexe reckt ihren Krückstock auf; die Decke zerreißt, – Jorre blickt in die unergründliche Tiefe. –

Die Wasser werden klar, – klar wie Kristall, – und da unten erscheint eine seltsame Welt. Immer höher hinauf taucht es: – Nackte Frauen wie Schlangen verschlungen bewegen sich dort; leuchtende Leiber schwimmen in wirbelndem Reigen. – Und eine mit grünen großen Augen, eine Krone im Haar, sieht herauf zu ihm und schwingt ein Zepter über die anderen. – Sein Herz schreit auf vor Weh unter diesem Blick; er fühlt, wie sein Blut diese Augen aufnimmt und wie ihr grüner Schein in ihm zu kreisen beginnt. –

Da läßt die Hexe den Krückstock sinken und sagt:


»Die einst deines Herzens Königin war, ist
Königin jetzt hier unter den Bregen!«

Und wie die Worte verklingen, schießen die dichten Schwaden über dem Sumpf zusammen.
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Die einst deines Herzens Königin war ...

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Dr. Jorre sitzt an seinem Schreibtisch, den Kopf auf die Arme gelegt, und weint.

[189] Es schlägt acht Uhr; er hört es und weiß, daß er fortgehen soll. – Aber er geht nicht. Was soll ihm auch das Geld! –

Der Wille hat ihn verlassen. –

»Die einst deines Herzens Königin war, ist Königin jetzt hier unter den Bregen.«

Er denkt es immerfort. – Das herbstlich spukhafte Bild steht unbeweglich vor seiner Seele – und die grünen Augen kreisen in seinem Blute. –

Was das Wort nur bedeuten mag? Er hat es nie im Leben vernommen und kennt seinen Sinn nicht. – Es heißt etwas Grauenhaftes, namenlos Trauriges, etwas Elendes – fühlt er –, und das freudlose Klappern der Lastwagen von der Straße her dringt wie beißendes Salz in sein krankes Herz.

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TextGrid Repository (2012). Meyrink, Gustav. Erzählungen. Des Deutschen Spiessers Wunderhorn. Zweiter Teil. Die Königin unter den Bregen. Die Königin unter den Bregen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-373D-0