[25] Entwickelungs-Schmerzen

Ich werde an mir selbst zu Grunde gehn.
Ich, das sind zwei, ein Möchte sein und Bin, –
und jenes wird zum Schlusse dies erwürgen.
Das Möchte sein ist wie ein rasend Roß,
an dessen Schweif das Bin gefesselt ward,
ist wie ein Rad, darauf das Bin geflochten,
ist wie ein Mönch, der sich den Leib zerdornt,
wie eine Furie, deren Finger sich
in ihres Opfers Haar verstricken, wie
ein Vampyr, der am Herzen sitz und saugt
und saugt ...
Wohl wie ein Gott auch, der emporziehn will,
oder ein Weib, aus dessen Augen es
dem Wanderer entgegenlockt, und das
der atemlose Narr doch nie erreicht.
So sieht mein Ich von innen aus, von außen
ein Haus wie andre, hell die Fenster manchmal,
doch öfter dunkel. Stoß die Tür auf! schau
die schöne Eh' von Bin und Möchte sein!
Schaut nur hinein und ruft bedauernd ach!
und weh! und, wenns euch leichter macht, auch pfui!
Bin ich nicht Dichter? Hab ich nicht das Vorrecht –
oh welch ein Vorrecht! – jedem frechen Auge
die Räume meiner Häuslichkeit zu zeigen?
Hört doch mein Pathos, das euch jeden Winkel
beschreibt und tut, als hätt es just zum Zweck,
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ihn euch als Sehenswürdigkeit zu preisen.
Ists Eitelkeit, die mich zum Cicerone
der eignen Seele macht? ists Geiz nach Ehre?
Mangel an Scham, an Stolz, an Wert, an Tiefe?
Das alles ists wohl auch, doch ists noch mehr.
So etwas noch wie Rachsucht, Grausamkeit,
Blutgierde, Haß, Verachtung wider mich selbst,
so etwas, das nicht hat, was es erlechzt,
ein Durst nach Macht, der, ungestillt, verzehrt,
das Wär' ich! vor der kalten Sphinx Ich bin.
Ja, darum führ ich euch herum in mir,
weil ich mir selbst damit das Herz zerreiße,
mich selbst erniedre und zum Schwätzer mache;
es tut so wohl, wenn man den stumpfen Schmerz
laut bluten läßt aus aufgerissnen Wunden.
Und dann: Ihr seht ja nur das Blut und nicht
das Herz, daraus es stammt! Es lacht vielleicht,
wenn ihr des Blutes Färbung düster findet,
und weint gewiß, indes ihr wähnt, es lacht.
Wohl lud ich oft euch in mein Haus, – allein
die Dielen haben Doppelböden, Spiegel,
dreht man sie um, sind Türen insgeheim,
und im Getäfel schlafen weite Truhen.
Ihr wißt gar nichts. Und ob ich mich verlöre
in einem Strom von Worten! Werft euch lüstern
in diesen Strom! Da fließt er. Er gehört euch. –
Ich werde an mir selbst zu Grunde gehn.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Morgenstern, Christian. Gedichte. Ich und die Welt. Entwickelungs-Schmerzen. Entwickelungs-Schmerzen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3BBE-E