Karl Philipp Moritz
Über den Begriff
des in sich selbst Vollendeten

[203] Es ist wohl wahr, daß wir die Grenzlinien schärfer ziehen müssen, als sie in der Natur gezogen sind, sobald wir den Unterschied zweier Dinge zum eigentlichen Gegenstande unsers Nachdenkens machen wollen.

Die Begriffe von Nutzen und Vergnügen aber verlieren sich so sehr ineinander und treffen so nahe zusammen, daß es fast unmöglich ist, sich das Angenehme und Nützliche in einer Gegeneinanderstellung zu denken. Das Nützliche ist so wie das Schöne nur eine besondere Art des Angenehmen.

Man hat den Grundsatz von der Nachahmung der Natur als den Hauptendzweck der schönen Künste verworfen und ihn dem Zweck des Vergnügens untergeordnet, den man dafür zu dem ersten Grundgesetze der schönen Künste gemacht hat. Diese Künste, sagt man, haben eigentlich bloß das Vergnügen, so wie die mechanischen den Nutzen, zur Absicht. –

Nun aber finden wir sowohl Vergnügen am Schönen als am Nützlichen: wie unterscheidet sich also das erstre vom letztern?

Bei dem bloß Nützlichen finde ich nicht sowohl an dem Gegenstande selbst als vielmehr an der Vorstellung von der Bequemlichkeit oder Behaglichkeit, die mir oder einem andern durch den Gebrauch desselben zuwachsen wird, Vergnügen.

Ich mache mich gleichsam zum Mittelpunkte, worauf ich alle Teile des Gegenstandes beziehe, d.h., ich betrachte [203] denselben bloß als Mittel, wovon ich selbst, insofern meine Vollkommenheit dadurch befördert wird, der Zweck bin.

Der bloß nützliche Gegenstand ist also in sich nichts Ganzes oder Vollendetes, sondern wird es erst, indem er in mir seinen Zweck erreicht oder in mir vollendet wird.

Bei der Betrachtung des Schönen aber wälze ich den Zweck aus mir in den Gegenstand selbst zurück: ich betrachte ihn als etwas nicht in mir, sondern in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht und mir um sein selbst willen Vergnügen gewährt; indem ich dem schönen Gegenstande nicht sowohl Beziehung auf mich als mir vielmehr eine Beziehung auf ihn gebe. Da mir nun das Schöne mehr um sein selbst willen, das Nützliche aber bloß um meinetwillen lieb ist, so gewährt mir das Schöne ein höheres und uneigennützigeres Vergnügen als das bloß Nützliche.

Das Vergnügen an dem bloß Nützlichen ist gröber und gemeiner, das Vergnügen an dem Schönen feiner und seltener.

Da das Nützliche seinen Zweck nicht in sich, sondern außer sich in etwas anderm hat, dessen Vollkommenheit dadurch vermehrt werden soll, so muß derjenige, welcher etwas Nützliches hervorbringen will, diesen äußern Zweck bei seinem Werke beständig vor Augen haben.

Und wenn das Werk nur seinen äußern Zweck erreicht, so mag es übrigens in sich beschaffen sein, wie es wolle; dies kömmt, insofern es bloß nützlich ist, gar nicht in Betracht.

Wenn eine Uhr nur richtig ihre Stunden zeigt und ein Messer nur gut schneidet, so bekümmere ich mich, in Ansehung des eigentlichen Nutzens, weder um die Kostbarkeit des Gehäuses an der Uhr noch um das Heft an dem Messer; auch achte ich nicht darauf, ob mir selbst das Werk in der Uhr oder das Heft an dem Messer gut ins Auge falle oder nicht. Die Uhr und das Messer haben ihren Zweck außer sich, in demjenigen, welcher sich derselben zu seiner [204] Bequemlichkeit bedienet; sie sind daher nichts in sich Vollendetes und haben an und für sich, ohne die mögliche oder wirkliche Erreichung ihres äußern Zwecks, keinen eigentümlichen Wert.

Mit diesem ihrem äußern Zweck zusammengenommen als ein Ganzes betrachtet, machen sie mir erst Vergnügen; von diesem Zweck abgeschnitten, lassen sie mich völlig gleichgültig.

Ich betrachte die Uhr und das Messer nur mit Vergnügen, insofern ich sie gebrauchen kann, und brauche sie nicht, damit ich sie betrachten kann.

Bei dem Schönen ist es umgekehrt.

Dieses hat seinen Zweck nicht außer sich und ist nicht wegen der Vollkommenheit von etwas anderm, sondern wegen seiner eigenen innern Vollkommenheit da. Man betrachtet es nicht, insofern man es brauchen kann sondern man braucht es nur, insofern man es betrachten kann.

Wir bedürfen des Schönen nicht so sehr, um dadurch ergötzt zu werden, als das Schöne unserer bedarf, um erkannt zu werden. Wir können sehr gut ohne die Betrachtung schöner Kunstwerke bestehen, diese aber können, als solche nicht wohl ohne unsre Betrachtung bestehen.

Je mehr wir sie also entbehren können, desto mehr betrachten wir sie um ihrer selbst willen, um ihnen durch unsre Betrachtung gleichsam erst ihr wahres Dasein zu geben.

Denn durch unsre zunehmende Anerkennung des Schönen in einem schönen Kunstwerke vergrößern wir gleichsam seine Schönheit selber und legen immer mehr Wert hinein.

Daher das ungeduldige Verlangen, daß alles dem Schönen huldigen soll, welches wir einmal dafür erkannt haben: je allgemeiner es als schön erkannt und bewundert wird; desto mehr Wert erhält es auch in unsern Augen.

Empfänden wir das Vergnügen an dem Schönen mehr um unsert- als um sein selbst willen, was würde uns daran liegen, ob es von irgend jemand außer uns erkannt würde?

[205] Wir verwenden, wir beeifern uns für das Schöne, um ihm Bewunderer zu verschaffen, wir mögen es antreffen, wo wir wollen: ja wir empfinden sogar eine Art von Mitleid beim Anblick eines schönen Kunstwerks, das, in den Staub daniedergetreten, von den Vorübergehenden mit gleichgültigem Blick betrachtet wird.

Auch das süße Staunen, das angenehme Vergessen unserer selbst bei der Betrachtung eines schönen Kunstwerks ist ein Beweis daß unser Vergnügen hier etwas Untergeordnetes ist, das wir freiwillig erst durch das Schöne bestimmt werden lassen, welchem wir eine Zeitlang eine Art von Obergewalt über unsre Empfindungen einräumen.

Während das Schöne unsre Betrachtung ganz auf sich zieht, zieht es sie eine Weile von uns selber ab und macht, daß wir uns in dem schönen Gegenstande zu verlieren scheinen; und eben dies Verlieren, dies Vergessen unserer selbst ist der höchste Grad des reinen und uneigennützigen Vergnügens, welches uns das Schöne gewährt.

Wir opfern in dem Augenblick unser individuelles eingeschränktes Dasein einer Art von höherem Dasein auf. Das Vergnügen am Schönen muß sich daher immer mehr der uneigennützigen Liebe nähern, wenn es echt sein soll.

Jede spezielle Beziehung auf mich in einem schönen Kunstwerke gibt dem Vergnügen, das ich daran empfinde einen Zusatz der für einen andern verlorengeht; das Schöne in dem Kunstwerke ist für mich nicht eher rein und unvermischt, bis ich die besondre Beziehung auf mich ganz davon hinweg denke und es als etwas betrachte, das bloß um sein selbst willen hervorgebracht ist, damit es etwas in sich Vollendetes sei.

So wie nun aber die Liebe und das Wohlwollen dem edlen Menschenfreunde gewissermaßen zum Bedürfnis werden können, ohne daß er deswegen eigennützig werde, so kann auch dem Manne von Geschmack das Vergnügen am Schönen durch die Gewöhnung dazu zum Bedürfnis werden, ohne deswegen seine ursprüngliche Reinheit zu verlieren.

[206] Wir bedürfen des Schönen bloß, weil wir Gelegenheit zu haben wünschen, ihm durch Anerkennung seiner Schönheit zu huldigen.

Ein Ding kann also nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst müßte auch alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne eigentlich zu nützen, nennen wir schön.

Nun kann aber das Unnütze oder Unzweckmäßige unmöglich einem vernünftigen Wesen Vergnügen ma chen.

Wo also bei einem Gegenstande ein äußerer Nutzen oder Zweck fehlt, da muß dieser in dem Gegenstande selbst gesucht werden, sobald derselbe mir Vergnügen erwecken soll; oder ich muß in den einzelnen Teilen desselben so viel Zweckmäßigkeit finden, daß ich vergesse, zu fragen, wozu nun eigentlich das Ganze soll. Das heißt mit andern Worten: ich muß an einem schönen Gegenstande nur um sein selbst willen Vergnügen Enden; zu dem Ende muß der Mangel der äußern Zweckmäßigkeit durch seine innere Zweckmäßigkeit ersetzt sein; der Gegenstand muß etwas in sich selbst Vollendetes sein.

Ist nun die innere Zweckmäßigkeit in einem schönen Kunstwerke nicht groß genug, um mich die äußere darüber vergessen zu lassen, so frage ich natürlicherweise: Wozu das Ganze? Antwortet mir der Künstler: »Um dir Vergnügen zu machen«, so frage ich ihn weiter: Was hast du für einen Grund, mir durch dein Kunstwerk eher Vergnügen als Mißvergnügen zu erwecken? Ist dir an meinem Vergnügen so viel gelegen, daß du dein Werk mit Bewußtsein unvollkommener machen würdest, als es ist, damit es nur nach meinem vielleicht verdorbenen Geschmack wäre; oder ist dir nicht vielmehr an deinem Werke so viel gelegen, daß du mein Vergnügen zu demselben hinaufzustimmen suchen wirst, damit seine Schönheiten von mir empfunden werden?

Ist das letztere, so sehe ich nicht ab, wie mein zufälliges Vergnügen der Zweck von deinem Werke sein könnte, da [207] dasselbe durch dein Werk selbst erst in mir erweckt und bestimmt werden mußte.

Nur insofern du weißt daß ich mich gewöhnt habe, an dem, was wirklich in sich vollkommen ist, Vergnügen zu empfinden, ist dir mein Vergnügen lieb; dies würde aber nicht so sehr bei dir in Betracht kommen, wenn es dir bloß um mein Vergnügen und nicht vielmehr darum zu tun wäre, daß die Vollkommenheit deines Werks durch den Anteil, den ich daran nehme, bestätigt werden soll.

Wenn das Vergnügen ein nicht so sehr untergeordneter Zweck oder vielmehr nur eine natürliche Folge bei den Werken der schönen Künste wäre, warum würde der echte Künstler es denn nicht auf so viele als möglich zu verbreiten suchen, statt daß er oft die angenehmen Empfindungen von vielen Tausenden, die für seine Schönheit keinen Sinn haben, der Vollkommenheit seines Werks aufopfert?

Sagt der Künstler aber: »Wenn mein Werk gefällt oder Vergnügen erweckt, so habe ich doch meinen Zweck erreicht«, so antworte ich: Umgekehrt! Weil du deinen Zweck erreicht hast, so gefällt dein Werk, oder daß dein Werk gefällt, kann vielleicht ein Zeichen sein, daß du deinen Zweck in dem Werke selbst erreicht hast.

War aber der eigentliche Zweck bei deinem Werke mehr das Vergnügen, das du dadurch bewirken wolltest, als die Vollkommenheit des Werkes in sich selber, so wird mir eben dadurch der Beifall schon verdächtig, den dein Werk bei diesem oder jenem erhalten hat.

»Aber ich strebe nur den Edelsten zu gefallen.« – Wohl! Aber dies ist nicht dein letzter Zweck; denn ich darf noch fragen: Warum strebst du gerade den Edelsten zu gefallen? Doch wohl, weil diese sich gewöhnt haben, an dem Vollkommensten das größte Vergnügen zu empfinden? Du beziehst ihr Vergnügen auf dein Werk zurück, dessen Vollkommenheit du dadurch willst bestätigt sehen.

Muntre dich immer durch den Gedanken an den Beifall der Edeln zu deinem Werke auf; aber mache ihn selber [208] nicht zu deinem letzten und höchsten Ziele, sonst wirst du ihn am ersten verfehlen.

Auch der schönste Beifall will nicht erjagt, sondern nur auf dem Wege mitgenommen sein.

Die Vollkommenheit deines Werks fülle während der Arbeit deine ganze Seele und stelle selbst den süßesten Gedanken des Ruhms in Schatten, daß dieser nur zuweilen hervortrete, dich aufs neue zu beleben, wenn dein Geist anfängt, laß zu werden; dann wirst du ungesucht erhalten, wornach Tausende sich vergeblich bemühen. Ist aber die Vorstellung des Beifalls dein Hauptgedanke und ist dir dein Werk nur insofern wert, als es dir Ruhm verschafft, so tu Verzicht auf den Beifall der Edlen.

Du arbeitest nach einer eigennützigen Richtung: der Brennpunkt des Werks wird außer dem Werke fallen, du bringst es nicht um sein selbst willen und also auch nichts Ganzes, in sich Vollendetes hervor.

Du wirst falschen Schimmer suchen, der vielleicht eine Zeitlang das Auge des Pöbels blendet, aber vor dem Blick des Weisen wie Nebel verschwindet.

Der wahre Künstler wird die höchste innere Zweckmäßigkeit oder Vollkommenheit in sein Werk zu bringen suchen; und wenn es dann Beifall findet, wird's ihn freuen, aber seinen eigentlichen Zweck hat er schon mit der Vollendung des Werks erreicht. So wie der wahre Weise die höchste, mit dem Lauf der Dinge harmonische Zweckmäßigkeit in alle seine Handlungen zu bringen sucht und die reinste Glückseligkeit oder den fortdauernden Zustand angenehmer Empfindungen als eine sichere Folge davon, aber nicht als das Ziel derselben betrachtet.

Denn auch die reinste Glückseligkeitslinie läuft mit der Vollkommenheitslinie nur parallel; sobald jene zum Ziele gemacht wird, muß die Vollkommenheitslinie lauter schiefe Richtungen bekommen.

Die einzelnen Handlungen, insofern sie bloß zu einem Zustande angenehmer Empfindungen abzwecken, bekommen [209] zwar anscheinende Zweckmäßigkeit aber sie machen zusammen kein übereinstimmendes harmonisches Ganze aus.

Ebenso ist es auch in den schönen Künsten, wenn der Begriff der Vollkommenheit oder des in sich selbst Vollendeten dem Begriffe von Vergnügen untergeordnet wird.

»Also ist das Vergnügen gar nicht Zweck?« – Ich antworte: Was ist Vergnügen anders oder woraus entsteht es anders als aus dem Anschauen der Zweckmäßigkeit? Gäbe es nun etwas, wovon das Vergnügen selbst allein der Zweck wäre, so könnte ich die Zweckmäßigkeit jenes Dinges bloß aus dem Vergnügen beurteilen, welches mir daraus erwächst.

Mein Vergnügen selbst aber muß ja erst aus dieser Beurteilung entstehen; es müßte also dasein, ehe es da wäre. Auch muß ja der Zweck immer etwas Einfacheres als die Mittel sein, welche zu demselben abzwecken: nun ist aber das Vergnügen an einem schönen Kunstwerke ebenso zusammengesetzt als das Kunstwerk selber, wie kann ich es denn als etwas Einfacheres betrachten, worauf die einzelnen Teile des Kunstwerks abzwecken sollen? Ebensowenig wie die Darstellung eines Gemäldes in einem Spiegel der Zweck seiner Zusammensetzung sein kann; denn diese wird allemal von selbst erfolgen, ohne daß ich bei der Arbeit die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen brauche.

Stellt nun ein angelaufener Spiegel mein Kunstwerk desto unvollkommener dar, je vollkommener es ist, so werde ich es doch wohl nicht deswegen unvollkommener machen, damit weniger Schönheiten in dem angelaufenen Spiegel verlorengehen?

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Moritz, Karl Philipp. Ästhetische Schriften. Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten. Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4355-4