101. Das Osetal auf Sylt.
Ein Bauer, der in dem nordwestlichsten Hause des Dorfes Wenningstede wohnte, hatte in einem Jahre sein Heu glücklich geerntet und gab nun der Gewohnheit gemäß denen, die ihm dabei geholfen hatten, einen Ernteschmaus. Während der Mahlzeit entstand ein heftiger Streit unter den Gästen. Der Wirt mischte sich hinein und im Zorn erschlug er einen der Streitenden. Kaum war das Unglück geschehen, da erschrak er über seine Tat, floh aus seinem Hause und man suchte ihn in den folgenden Tagen überall vergebens; es hieß, er wäre von der Insel und damit den Händen der Justiz entkommen. Seine Gattin mußte nun die gewöhnliche Mannbuße statt seiner bezahlen und darum einen Teil des zum Hause gehörenden Landes verkaufen; sie ernährte sich und ihre Kleinen in Zukunft durch ihrer Hände Arbeit.
Jahre vergingen indes, ohne daß man von dem unglücklichen Totschläger etwas hörte. Fast schien sein Name und seine Tat vergessen zu sein, als das Gerücht entstand, die fromme unbescholtene Ose, des entwichenen Mörders Frau, sei schwanger. Das mußte nicht nur in dem einsamen Dorfe, sondern auf der ganzen Insel Aufsehn erregen und die Leute zerbrachen sich die Köpfe darüber, wer wohl der Freier der unglücklichen Frau sei. Die Neugierigsten gönnten sich eher keine Ruhe, als bis sie die Sache entdeckt hatten.
Da fand es sich denn, daß der Mörder gar nicht von der Insel gekommen sei, sondern seit jenem unglücklichen Tage sich in einer Höhle in den Wenningsteder Dünen verborgen gehalten hatte, und da von seiner Gattin so lange war ernährt worden. Seine langjährige Büßung und die Art und Weise seiner Erhaltung beschwichtigten jede bittere Erinnerung an das einst Geschehene und freudig ward der Wiedergefundene von allen [88] aufgenommen. Zum Andenken aber an die Treue der Gattin und ihre aufopfernde Liebe, mit der sie alles Unglück ertragen und überwunden und Mann und Kinder ernährt hatte, heißt das Dünental bis auf diesen Tag das Osetal.
Mitgeteilt durch Herrn Schullehrer Hansen auf Sylt.