252. Die Schnitterin.

Der einzige Sohn einer Ballumerin ward eines schweren Verbrechens angeklagt und schuldig befunden. Da er zum Tode verurteilt war, eilte die Mutter in der Angst ihres Herzens zu dem Gerichtsherrn, dem Grafen von der Schackenburg, warf sich ihm zu Füßen und bat flehentlich um Gnade für ihren Sohn, den einzigen Trost und die einzige Stütze ihres [170] Alters. Schon stand die Sonne im Mittag; da sprach der Graf um des flehenden Weibes los zu werden: »Kannst du, noch ehe die Sonne untergeht, mir drei Äcker Gerste schneiden, so soll dein Sohn frei sein.« Da ging die Mutter aufs Feld und schwang die Sichel; ein Schwaden sank nach dem andern nieder, sie schaute nicht um und auf, bald lag der eine Acker, dann der zweite und eben als die Sonne verschwand, fiel der letzte Halm. Aber von der übermäßigen Arbeit erschöpft oder vor Freude über das kaum gehoffte Gelingen sank sie selber zusammen und man trug sie tot vom Felde. – Auf dem Kirchhofe in Ballum liegt sie begraben. Dort zeigt man noch einen grauen, bemoosten Leichenstein, den man einst zu ihrem Gedächtnis ihr aufs Grab legte. Ein Weib mit einer Sichel und einigen Garben im Arme ist darauf ausgehauen.


Nach einer Mitteilung des Herrn Schullehrers Hansen auf Sylt. Vgl. Uhlands Gedicht »Die Mähderin«.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. Märchen und Sagen. Sagen, Märchen und Lieder. Zweites Buch. 252. Die Schnitterin. 252. Die Schnitterin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4FE6-D