Der Knabe von Budapest

»Arbeit gebt uns und gebt uns Brot!
wir leiden Kälte, wir leiden Not:
wir haben ein Recht aufs Leben –
das Recht nur sollt ihr uns geben!«
Ein Heer von abertausend Mann,
mit dröhnenden Schritten rückt es an,
zur Seite ihm Gier und Schrecken –
der Sturm rast um die Ecken.
Der Schneesturm pfeift. Aus dem warmen Haus
lugen Tschako und Helm heraus;
im kalten Schneelicht blitzen
goldene Knöpfe und Litzen.
– »Zurück! wir gaben euch Holz und Brot,
wir hatten Erbarmen mit eurer Not;
doch ein Recht auf Arbeit und Leben,
wer hat euch das gegeben? –«
[192]
Und lähmende Stille. Ein Wetterschlag
fuhr aus dem Himmel am kältesten Tag.
Dann – dröhnend wie Donnergrollen:
»Wir haben es, wenn wir wollen!«
Und hämmernd das Blut in den Schläfen braust,
an dem Türgriff rüttelt die Schwielenfaust,
auf dem Estrich krachen die Sohlen:
»Wir werden das Recht uns holen!«
– »Zurück! – Gewalt denn wider Gewalt!« –
Und der Säbel klirrt und die Büchse knallt.
»Zurück!« – und die Stürmenden weichen
über Wunde zurück und Leichen.
Aufbrüllt die Menge vor Scham und Wut –
und mitten in tosender Kämpferflut
mit blonden, flatternden Haaren
ein Knabe von dreizehn Jahren!
Der hebt die wehrende Hand – ein Schrei! –
ein Stauen und Stampfen . . . nun ist's vorbei:
im Straßengewühl zertreten!
Und fluchende Lippen beten . . .
»Und wenn das Recht von Gottes Hand
genagelt wär' an des Himmels Wand,
so wüchsen uns Geierschwingen –
wir werden das Recht erringen!
[193]
Zurück – für heute!! – was heulst du, Weib?
Auf diesem zuckenden Kinderleib
soll unser Recht auf das Leben,
ein blutendes Mal, sich heben! –«
Des Führers Wort grollt hart und heiß;
und still wird es und leer im Kreis.
Er kniet im fegenden Winde
bei seinem toten Kinde.
In wehenden Wirbeln treibt der Schnee
und kühlt die Wunden und löscht das Weh,
und hüllt in schützende Decken
die blutige Saat der Schrecken.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Gedichte. Gedichte. Sturmlieder vom Meer. Der Knabe von Budapest. Der Knabe von Budapest. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5481-E