Oskar Panizza
Selbstbiographie

[13] Oskar Panizza, Schriftsteller, geboren 12. XI. 1853 in Bad Kissingen, stammt aus belasteter Familie. Onkel litt an partiellem religiösem Wahnsinn und starb nach 15jährigem Irrenhausaufenthalt in der Irren-Abt. des Würzburger Juliusspitals. Ein anderer Onkel begieng in jugendlichem Alter Selbstmord. Eine Tante starb an Schlaganfall, eine andere Tante noch am Leben, ist psychisch sonderbar, teils gemacht geistreich, teils schwachsinnig. Alle diese Verwandtschaftsgrade beziehen sich auf die mütterliche Seite. Die Mutter noch am Leben jährzornig, energisch, starke Willensperson, fast männliche Intelligenz. Vater starb an Typhus, war von italienischer Abstammung, leidenschaftlich, ausschweifend, jährzornig und gewandter Weltmann, schlechter Haushalter. Von den Geschwistern des Patienten sind die zwei jüngeren, wie Patient selbst in früheren Jahren melancholischen Zufällen ausgesetzt gewesen. Jüngere Schwester begieng zweimal Selbstmordversuch (vielleicht kompliziert mit Hysterie). In der ganzen Familie besteht prävalierende Geistestätigkeit mit Neigung zur Diskussion religiöser Fragen. Mutter und Patient schriftstellern. Patient selbst litt an den üblichen Kinderkrankheiten, Masern, Keuchhusten, lernte sehr schwer lesen, zeigte keine Begabung, hatte bei seinen Geschwistern den Beinamen »der Dumme«, kam auf dem Gymnasium schwer vorwärts, war bei fruchtloser, üppiger Phantasie und steter Insich-Versunkenheit unfähig, die Notwendigkeit einer geregelten, systematischen Vorbereitung für einen Lebensberuf zu begreifen, wandte sich vorübergehend der Musik zu und absolvierte endlich in vorgerückten Jahren, 24 Jahre alt, das humanistische Gymnasium. Während seiner Masernerkrankung hatte er mit circa 12 Jahren einen leichten somnambulen Anfall: er verließ bei Tag in unbewußtem Zustand das Bett, lief im Krankenzimmer umher und wurde schließlich betend vor seinem Bette kniend gefunden und aus seinem Trans gerettet. Wandte sich nach absolviertem Gymnasium mit großer Liebe und Eifer dem medizinischen Studium zu, wurde Coassistent bei Ziemßen, arbeitete unter demselben auf dem klinischen Institut, promovierte 1880 mit summa cum laude und erhielt noch in demselben Jahre die Aprobazzion. Als Student infizirte er sich mit Lues, die, obwohl lege artis Jahre hindurch behandelt, noch heute in Form eines mächtigen gemma an der rechten[13] tibia manifest ist und jeder noch so energischen Behandlung durch Jodkali spottet. Nach Absolvierung seiner militärischen Dienstpflicht als Unterarzt im Militärlazaret und Ernennung zum Assistenzarzt II. Classe der Reserve ging Pazient, von Ziemßen mit zahlreichen Empfehlungen versehen, nach Paris, besuchte aber nur wenig Spitäler, sondern wante sich dem Studium der französischen Literatur, besonders der dramatischen, zu, für die ihn die Kenntnis der französischen Sprache, die im Elternhause in Folge hugenottischer Abkunft der Mutter stets gepflegt wurde, besonders geeignet machte. Im Jahre 1882 nach München zurückgekehrt, trat er als IV. Assistenzarzt in die Oberbairische Kreis-Irrenanstalt unter Gudden ein und servirte daselbst, inzwischen zum IV. (?) Assistenzarzt vorgerückt, während zweier Jahre. Beeinträchtigung seiner Gesundheit und wissenschaftliche und andere Differenzen mit seinem Schef ließen ihn 1884 diese Stelle aufgeben, und er wante sich nun, abgesehen von kleinen vorübergehenden medizinischen Dienstleistungen als prakt. Arzt, definitiv der Literatur zu, die seit Paris nicht mehr aus dem Auge verloren war. Teils unter Nachwirkung einer in der Irrenanstalt aufgetretenen gemütischen Depression, die fast ein Jahr anhielt, entstand das lirische Gedichtbuch »Düstre Lieder« (Leipzig 1885), das unter Heineschem Einfluß steht. Durch diese literarische Entlastung wesentlich gehoben und erfrischt, besuchte er noch im gleichen Jahre England, welchem Besuch eine intensive Beschäftigung mit der englischen Sprache und Literatur unter Mrs. Callway vorausgegangen war und woselbst er ein volles Jahr auf dem British Museum sich literarisch beschäftigte. Als Frucht dieses Aufenthaltes entstanden »Londoner Lieder« (Leipzig 1887). Im Herbst 1886, nach vorübergehendem Aufenthalt in Berlin, Rückkehr nach München, 1888 erschien »Legendäres und Fabelhaftes«, Gedichte, zum Teil die Frucht der Beschäftigung mit den altenglischen Balladen. In den folgenden Jahren Erlernung und Studjum der italjenischen Sprache und Literatur unter Sgra Luccioli in München, da intensive Beschäftigung mit fremden Sprachen und literarische Produktzjon als das beste Ableitungsmittel für allerlei psichopatische Anwandlungen sich herausstellte. Wiederholte Reisen nach Italien. Vom Jahre 1890 an erschienen in Folge Bekanntschaft mit M.G. Conrad eine Reihe von teils wissenschaftlichen, teils literarischen und künstlerischen Aufsätzen in der »Gesellschaft«, deren Begründer und Leiter M.G. Conrad war. Im Jahre 1899 waren schon »Dämmerungsstücke«, eine Sammlung fantastischer Novellen, die teilweise unter dem Einfluß [14] des amerikanischen Novellisten Edgar Poe stehen, erschienen. Durch M.G. Conrad in die »Gesellschaft für modernes Leben« in München eingeführt, hielt Pazient daselbst einige Vorträge, unter Anderem »Schenie und Wahnsinn« (München, Pößl 1891), die die Aufmerksamkeit der Behörden, die Feindschaft der ultramontanen Presse: »Sozialdemokraten im Frack« und Remonstrazzionen des Landwehr-Bezirks-Kommandos zur Folge hatten. Von letzterem Kommando zum Austritt aus der »Gesellschaft für modernes Leben« aufgefordert, weigerte sich Pazient und wurde in Folge dessen aus einem Militär-Verhältnis, in dem er inzwischen zum Assistenzarzt I. Classe vorgerückt war, mit »schlichtem Abschied« entlassen.

Ein Aufsatz des Pazienten »Das Verbrechen in Tavistock Square« (eine englische Erinnerung) im »Sammelbuch der Münchner Moderne« (München, Plößl, 1891) führte zu einer Erhebung der gerichtlichen Anklage wegen »Vergehens gegen die Sittlichkeit«, die aber von der Strafkammer des Amtsgerichts München I eingestellt wurde. Im Jahre 1892 erschien ein Tragi-Humoristikum »aus dem Tagebuch eines Hundes«, illustriert von Choberg in Leipzig. Im folgenden Jahr »Visjonen«, eine Novellensammlung, wieder zum Teil im fantastischen Stil und Auffassung Edgar Poe's. 1893 erschien »Die unbefleckte Empfängnis der Päpste« (Zürich, Schabelitz), ein in anscheinend serjösestem Stil durchgeführter teologischer Versuch, das von Pius IX. im Jahr 1894 proklamierte Dogma der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria auf die Päpste auszudehnen mit allen embriologischen, antropologischen und teologischen Konsequenzen, die Pazient nach dem Titelblatt aus dem Spanischen übersetzt hatte. Diese Schrift wurde in Folge Denunzjation in Stuttgart gerichtlich beschlagnahmt und im sogen. objectiven Verfahren für das ganze Deutsche Reich verboten. Heftige Kritiken von Seite der katolischen wie protestantischen kirchlichen Presse sowie öffentliche Warnungen vor Ankauf schlossen sich an. Im Jahre 1894 erschien »Der teutsche Michel und der römische Papst« mit Vorwort von M.G. Conrad, worin die gravamina Deutschlands gegen Rom in Tesenform tendenzjös, aber auf Grund geschichtlicher Nachricht und unter ausgiebiger Quellenangabe, zusammengefaßt waren. Dieses Werk wurde 1895 ebenfalls in objectivem Verfahren, d.h. nach Ablauf der zur Erhebung der Anklage und strafrechtlichen Verfolgung abgelaufenen Zeit, beschlagnahmt. 1894 erschien außerdem »die Himmelstragödie das Liebeskonzil« (Zürich, Schabeliz), in dem, unter Benützung eines Ulrich [15] von Hutten'schen Zitats, das Erscheinen der Sifilis in Italien zu Ende des XV. Jahrhunderts, als in Folge des lasterhaften Treibens am päpstlichen Hofe unter Alexander VI. erfolgt, in Form eines mittelalterlichen Misterjums unter moderner Beleuchtung durchgeführt ward. Dieses Buchdrama brachte den Pazienten im Frühjahr 1895 vor die (!) Münchner Asisen, wo er nach § 166 R.-Str.-G.-B. zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt wurde, ein Urteil, das bald darauf das Reichsgericht in Leipzig bestätigte. Patient verbüßte seine Strafe im Gefängnis zu Amberg, woselbst auf nachträgliche Geltendmachung des Einwurfs des Verteidigers auf Geisteskrankheit (ohne Befragen des Gefangenen) eine summarische Untersuchung desselben quoad psychen intactam erfolgte – »Sind Sie geisteskrank?« – »Nein.« –, die zu einem negativen Resultat führte. Nach verbüßter Strafe verabschiedete sich Pazient von München mit der kleinen Broschüre »Abschied von München« (Zürich 1896), die Beschlagnahmung und steckbriefliche Verfolgung des inzwischen nach Zürich übersiedelten Verfassers zur Folge hatte. Noch im gleichen Herbst veröffentlichte Pazient die sittengeschichtliche Studje »Die bayrischen Haberfeldtreiben« (Berlin, G. Fischer), in welcher auf Wunsch des ängstlich gewordenen Verlegers einige Stellen des Textes wie auch einige Verse der im Original mitgeteilten »Haberer-Protokolle«, die wenige Jahre vorher vom Pazienten in einem Aufsatz der »Neuen Rundschau« (im gleichen Verlage) anstandslos veröffentlicht worden waren, durch Punkte in dem bereits druckfertigen Saz ersetzt wurden.

Pazient hatte inzwischen das bayrische Indigenat aufgegeben, in der Absicht, nach zweijährigem Aufenthalt in Zürich das schweizerische Bürgerrecht zu erwerben. Im folgenden Jahre gründete Pazjent, da nun auch Schabeliz in Zürich Schwierigkeiten machte, seinen eigenen Verlag unter dem Titel der gleichzeitig gegründeten Zeitschrift »Züricher Diskussionen« und veröffentlichte die im Gefängnis zu Amberg entstandenen »Dialoge im Geiste Huttens«, in denen die Besprechung öffentlicher Zustände in dem frischen und unschenirten Stil der Streitschriften zu Beginn des XVI. Jahrhunderts versucht ward. Im folgenden Frühjahr 1898 schrieb Pazjent die politische Satire »Psichopatia criminalis« (Zürich, Verlag Zür. Diskussionen) über die Verfolgungswut der deutschen Staatsanwälte, unter Aufstellung einer eigenen politischen Geisteskrankheit, die das deutsche Publikum ergriffen habe, persiflirt ward. (Falsche Satzstellung!) Ihr folgte das auf rein historische(n!) Studjen aufgebaute Drama »Nero« (Zürich 1898). Im gleichen[16] Spätherbst wurde Pazjent angeblich wegen Verkehrs mit einer puella publica, die just das 15. Jahr erreicht hatte – in der Schweiz ist der geschlechtliche Verkehr mit Mädchen unter 15 Jahren unter Strafe gestellt, außerdem war durch Volksbeschluß die Duldung der Prostituzzion im Kanton Zürich aufgehoben – polizeilich ausgewiesen, als »Schmutziges Subject« in schweizerischen Blättern gebrandmarkt, und ihm auf der Züricher Polizei-Direktion auf erhobene Beschwerde gleichzeitig eröfnet, daß mit dieser Ausweisung aus dem Kanton Zürich seine Ausweisung aus der gesammten Schweiz identisch sei. Pazjent antwortete auf diesen Gewaltakt in der nächsten Nummer der Züricher Diskussionen unter ofner, rückhaltlosester Aufdeckung des Sachverhalts, der die eigene Person und ihren begangenen Fehl ohne Weiteres blosstellte, gleichzeitig aber auf die höchste Stelle in Berlin hinwies, deren Einflußnahme Pazjent bei dem ganzen Verfahren verspürt zu haben glaubte. In Paris, wohin Pazjent inzwischen verzogen war, wurden die Züricher Diskussionen trotz ihres jetzt widersprechenden lokalen Titels in verschärfter Tonart, besonders auf politischem Gebiet, fortgesetzt, und um Weihnachten des folgenden Jahres erfolgte als Frucht zurückgezogensten Lebens und unter Verwertung der frischesten, besten und unmittelbarsten Eindrücke der französischen Hauptstadt, die Gedichtsammlung »Parisjana«, in der der persönliche Widersacher des Verfassers, Wilhelm II., zum öffentlichen Feind der Menschheit und ihrer Kultur hingestellt, und wobei Gedankenfolge und Ausdrucksform an Schärfe bis zur äußersten ästhetisch läßigen Grenze ausgenützt wurden, Die Schrift wurde, wie vorausgesehen, in Deutschland beschlagnahmt, gegen den Verfasser erneuter Steckbrief erlassen, gleichzeitig aber, was nicht vorauszusehen war, das in Deutschland hypotekarisch festgelegte Vermögen desselben unter der geschraubtesten Motivierung – derselbe habe die Flucht ergriffen – konfiszirt. Pazjent sah sich nach einjährigem Ausharren in der peinlichsten Lage gezwungen, sich demjenigen Gerichte, welches den Steckbrief erlassen, München, auszuliefern – April 1901 – wurde hier in Haft genommen, nach 4 Monaten zufolge Beschlußes der Strafkammer auf 6 Wochen in die oberbairische Kreis-Irrenanstalt behufs Untersuchung seines Geisteszustandes übergeführt, und dann in einigen Wochen nach Rücklieferung ins Gefängnis ohne jede Bekanntgabe eines gerichtlichen Beschlußes in Freiheit gesetzt. Nach Zeitungsnotizen und einer mündlichen, nicht weiter kontrollirbaren Aussage des I. Staatsanwaltes am Amtsgerichte München I, Freiherrn von Sartor, an eine Privatperson [17] war das Verfahren gegen den Pazienten zufolge Gutachtens des Oberarztes der Münchner Kreis-Irrenanstalt Dr. Ungemach wegen Geisteskrankheit eingestellt worden. Pazjent veröffentlichte, nach Paris zurückgekehrt, noch einige Nummern Züricher Diskussionen (bis Nr. 32) und stellte dann, seit November 1901, zwar nicht seine schriftstellerische, aber, mangels eines Druckers, seine publizistische Tätigkeit ein. – Im November 1903 begannen gegen den Pazjenten, der in absolutester Zurückgezogenheit lebte, eine Reihe von Schikanen, die bei der Umfänglichkeit der Qurazjonen (quere-la?) auf das Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Detektivs schließen ließen. Und da das französische Gouvernement dem Pazjenten, wenn nicht sichtliches Wolwollen, in keinem Fall irgendwelche Feindseligkeit bewiesen hatte, so konnte nur an ausländische Detektivs gedacht werden, respective an eine im Ausland gegebene ordre, durch an Ort und Stelle geworbene französische Privat-Detektivs dem Pazjenten das Leben in Paris zu verleiden. Da derselbe, wie bereits erwähnt, seit 2 Jahren nichts mehr publiziert hatte, so mußte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß von anderer Seite, die den Ansichten des Pazjenten mehr weniger (!) freundlich gegenüber stand, dessen Manuscripte heimlich überwacht, vielleicht kopirt und, soweit sie den Ansichten der neuen Partei entsprachen, schließlich publizirt wurden, am Ende gar unter Benützung von Titel, Firma, Druck und Papier der eingegangenen Züricher Diskussionen. Nur so waren die neuen Feindseligkeiten gegen den Pazjenten, den man an gewisser Stelle jedenfalls für den Autor und verantwortlichen Herausgeber der suponirten Publikatzionen hielt, zu erklären. Denn daß die 2 Jahre vorher in München erfolgte Irren-Erklärung für ernst zu nehmen sei – so daß jedwelcher, freundlich oder feindlich ihm gegenüberstehende politische Partei sich gehütet hätte, sich um dessen Manuscripte zu bemühen – daran dachte Pazjent um so weniger, als auch in seiner Umgebung weder Franzosen noch Ausländer im Entferntesten daran dachten, ihn nicht für völlig geistig gesund zu erachten. Die Schikanen aber bestanden im Wesentlichen, unter Umgehung von Kleinigkeiten, wie Auslöschen des Herdfeuers, Verstopfung des Kamins, Abschneiden des Wassers, Beschädigung der Wohnungsschlösser (!!) in rafinirten, auf peinlichste Verletzung des Nervensistems berechneten Pfeifereien, Molestirungen mit allen möglichen die Gehörsnerven empfindlichst treffenden Instrumenten, die teils von einem Haus vis-à-vis in der rue des Abbesses, teils auf der Straße, ja sogar stellenweise im Wald von Montmorency, [18] wohin Pazjent regelmäßig jeden Sonntag sich begab, auf denselben einwirkten. Daß es sich hier um keine Gehörstäuschungen handelte, ergab der einfache Umstand, daß das Pfeifen in dem Augenblick verstummte, in dem Pazjent die Ohren zuhielt, was sicher nicht der Fall gewesen wäre, wenn dasselbe zerebralen Ursprungs gewesen wäre. Auch wurden jene Pfeifereien, die Pazjent als gegen sich gerichtet ansah, später in München, wo dieselben fortdauerten, von einwurfsfreien Zeugen, Ludwig Scharf und Comtesse zu Reventlow, bestätigt und nur hinsichtlich ihrer Bedeutung einigemale in Zweifel gezogen. Aber in Betreff dieser letzteren war an eine Misdeutung nach 3/4jährigem Dulden und Ausharren kaum noch zu denken. – Neben diesen mit voller Zielsicherheit ausgeführten Angriffen schien eine kleinere, weniger gefährliche, sicher nur in unmittelbarster Umgebung und in untergeordneten Händen von Concierges oder femmes de chambre sich abspielende Operation zu gehen (Satzbildung!) – eine Operation, der wol kein alternder Junggeselle entgeht – die der Verheiratung des Pazjenten. Sobald derselbe die Bewegung erkannte, fertigte er die lokalen Klatschbasen kurz ab und schrieb dann gelegentlich seiner in München lebenden Mutter, deren Verbindung mit gewissen Pariser Kreisen immerhin nicht ganz unmöglich war, daß bei der derzeitigen finanziellen Lage ihres Sohnes an eine Verehelichung gar nicht zu denken, derselbe auch weder Lust noch Zeit zu einer Ehe habe, am allerwenigsten, sollten die mitgeteilten Pfeifereien und sonstigen Schikanen am Ende mit diesem Projekt in Verbindung stehen, was ihm fast unmöglich erscheine, derselbe sich durch solch infame Mittel zur Wahl einer Ehegesponsin werde zwingen lassen. Auf dies hin erloschen die Eheintriguen, während die andern Molestirungen ihren Fortgang nahmen. Da die ersteren später in München, und zwar in groteskester und skurrilster Form wieder ans Tageslicht traten, so darf nicht übergangen werden, daß Pazjent die schwerwiegendsten Gründe gegen Eingehung einer Ehe aus Schonungs-und Schicklichkeitsgründen im Briefe an seine Mutter verschwiegen hatte. Die immerhin nicht gering zu nehmende Belastung von mütterlicher Seite, die noch immer manifeste Lues in Form einer gemma an der tibia dextra würden es heute, wo man gesetzlich den Geisteskranken, Ftisikern und Sifilitischen das Eingehen der Ehe zu verbieten vorgeschlagen hat, als ein Verbrechen, gar von Seite eines Arztes, erscheinen lassen, frivoler Weise eine dekrepite Descendez zu erzeugen. Es kommt hinzu, daß Pazjent zur Ausübung seiner literarischen Tätigkeit den weitaus größten Teil des Tages in absolutester [19] Einsamkeit und Abgeschlossenheit, bei guter Witterung auf ausgedehnten einsamen Spaziergängen, verbringen muß, Gewohnheiten, die sich immerhin mit einer Ehe nicht vertragen. Und sollten selbst die Produkte dieses literarischen Schaffens vom Publikum und Kritik geringst angeschlagen werden, für den Pazjenten sind sie nicht der Ausdruck einer Laune oder einer Willkür, sondern absolute Notwendigkeit behufs Entlastung des Gehirns. Er muß also den sicheren Weg gehen und behufs Aufrechterhaltung des psichischen Gleichgewichts im alten, erprobten Geleise weiter schreiten, und nicht Fantasmen nachjagen, die andern vielleicht höchst zweckmäßig, dem, den es angeht, aber als eine Gefährdung seiner Gesundheit erscheinen.

Nach mehr denn halbjähriger Fortdauer der oben geschilderten Molestirungen, die den Pazjenten schließlich auf seine Wohnung konzentrirten und mitten im Sommer auf die so notwendige Bewegung in frischer Luft verzichten ließen, entschloß sich derselbe, nachdem durch die intensive Beschäftigung mit wißenschaftlichen Arbeiten nicht die nötige Ablenkung erzielten, ziemlich plötzlich zur Abreise, und verlies am 23. Juni mit dem Abend-Schnellzug vom Lyoner Bahnhof aus Paris und kam über Dijon am folgenden Mittag in Lausanne (Schweiz) an. Zu seiner größten Verwunderung waren auch in Lausanne die Pfeifereien, wenn auch nicht entfernt in dem Mase, zu vernehmen. Es ergab sich daraus der zwingende Schluß, daß Paris nicht der einzige Herd der Feindseligkeit gegen den Pazjenten war. Was nun der eigentliche Grund dieser Manifestazionen war, blieb demselben verborgen. Derselbe erholte sich am Genfer See und in den umliegenden Wäldern, woselbst er, im Gegensatz zu Paris, niemals belästigt wurde, wesentlich, reiste aber nach 8 Tagen, da der Versuch, eine bescheidene Landwohnung zu finden, fehlschlug, über Bern, Zürich, Lindau nach München ab. Da hier ebenfalls die Molestirungen begannen, so präsentirte sich derselbe in der Kreisirrenanstalt München mit der Bitte um Aufnahme, um sich und Andern den Beweis zu liefern, daß er sich in seiner Auffassung, daß es sich um äußere, planmäßige Feindseligkeiten gegen seine Person handle, nicht getäuscht habe; wurde aber angeblich wegen Ueberfüllung abgewiesen. Er lies sich von Direktor Vokke bereden, in die Privat-Irrenanstalt Neu-Friedenheim einzutreten. Doch führte die Erkenntnis, daß er hier in nicht mißzuverstehender Weise schikanirt wurde, zu einer scharfen Auseinandersetzung mit dem Direktor Dr. Rehm, im Verlauf welcher der letztere den Pazjenten aufforderte, die Anstalt zu verlassen. [20] Pazjent mietete sich darauf in der Feilitzschstraße 59/II. rechts in einem bescheidenen Zimmer ein, abwartend, was kommen werde. Während des nun folgenden 1/4 Jahres, Juli bis Oktober, mied Pazjent vollständig die Stadt, ging fleißig im Engl. Garten und den umliegenden Gebieten spazieren, besuchte mit Eintritt der ungünstigen Jahreszeit am Vormittag die Staatsbibliothek, hielt sich aber in Uebrigen vollständig reservirt und pasiv, unter Erkenntnis, daß ein Wechsel seiner äußeren Situazzion nur durch seine Gegner, wie von ihm selbst, (?) herbeigeführt werden könne. Seine auf der Reise und in München entstandenen literarischen Arbeiten in Prosa wie gebundener Form, die nicht wenig umfangreich sind, würden, wenn Pazjent sich nicht sehr täuscht, bei keinem literarischen oder psichjatrischen Sachverständigen die Meinung krankhafter Expektorazjonen hervorrufen. Eine Verschärfung der Lage war insofern eingetreten, als jetzt im Gegensatz zu Lausanne und selbst zu Paris, auch Nachts schwere Belästigungen durch weittragende Pfeifen und Flöten metallischen Charakters und intensivster Beleidigug des Gehörorgans erfolgten. Nachdem schon in Paris einmal, einmal in Lausanne und einmal in Neufriedenheim Selbstmordneigung aufgetreten, (!) erfolgte am 9. Oktober in einem raptus von Verzweiflung und Hofnungslosigkeit (!) nach rascher Niederschrift eines Testaments der Beginn der Ausführung einer Selbstmord-Absicht durch Erhängen an einer einsam gelegenen Stelle des englischen Gartens. Doch Mutlosigkeit lies im letzten Moment den entscheidenden Sprung von dem bereits erkletterten Baum mislingen und mit tiefster Beschämung kehrte Pazjent, der 24 Stunden keine Nahrung zu sich genommen, in seine Wohnung zurück. Am 19. October griff Pazjent zu einem letzten im Verhältnis zu dem bereits voraufgegangenen, lächerlich dummen, aber vielleicht in seinen Konsequenzen doch wirksamen Mittel. Nachdem er an diesem Tag bereits sechsmal auf seinem Weg in die Staatsbibliothek und dann auf seinem einsamen Spaziergang durch Oberföhring und Umgebung, in nicht miszudeutender Weise angepfiffen worden war, ging er nach Hause, kleidete sich bis aufs Hemd aus, benutzte die milde Witterung und lief Nachmittag um 5 Uhr im Hemd durch die Sterneck-Maria-Josefa-Straße in die Leopoldstraße, in der Absicht, abgefaßt und auf Geisteskrankheit verdächtig in eine öffentliche Anstalt gebracht und dort von Sachverständigen untersucht zu werden: so das erreichend, was er 3 Monate vorher in der oberbairischen Kreisirrenanstalt vergeblich erstrebt hatte. Der Coup gelang. Ergriffen und in ein nächstes Haus geführt, gab er dem herbeieilenden[21] Schendarm einen falschen Namen, Ludwig Fromman, Stenograf aus Würzburg, an. Es wurde ein Sanitätswagen requirirt und Pazjent auf die Polizei gebracht, wo derselbe nach kurzem Examen durch den Herrn Bezirksarzt, auf die Irrenstation des städtischen Krankenhauses I/J überführt wurde

(17. Nov. 1904)

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TextGrid Repository (2012). Panizza, Oskar. Autobiographisches. Selbstbiographie. Selbstbiographie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-66DD-2