[9] Wer nie sein Brot mit Thränen aß

Nichts weiß ich von dem Vaterhaus,
Nichts von der Kindheit Paradiesen;
Früh trat ich in die Welt hinaus,
An meine eig'ne Kraft gewiesen.
Hinschwanden meines Frühlings Tage
In Sorg' und Arbeit, Müh' und Plage,
Das drohende Gespenst der Noth
Fühlt ich mich grauenhaft umschlingen,
Mit allen Kräften mußt ich ringen,
Wie oft mein Innerstes bezwingen,
Mich fügen fremdem Machtgebot!
Gepriesen seist du, Weltengeist!
Der mich gelehrt, was Leben heißt!
[10]
Die schönen Götterbilder, die
Mein tiefes Dunkel sanft durchlichtet,
In Schutt und Trümmer sanken sie,
Vom Leben schonungslos gerichtet.
Gestürzt die schimmernden Idole!
Die lohe Flamme todte Kohle!
Im Herzen tiefer stets der Sporn
Des Zweifels, kaum mehr zu ertragen,
Der Drang, durch all' die dunkeln Fragen
Mich kühn und siegreich durchzuschlagen
Zu der Erkenntniß Weiheborn!
Gepriesen seist du, Weltengeist,
Der mich gelehrt, was Kämpfen heißt!
Die Liebe, dran ich bis zum Sarg
Begeistert hoffte festzuhalten,
Des Meuchlers scharfe Waffe barg
Sie still in ihres Mantels Falten.
Getroffen von der Todeswunde
Rang bebend sich von meinem Munde
Der Schrei: »Auch du, mein Brutus! du?«
Doch unbeirrt von Schmerzensgluthen
Sandt' ich in heiligem Ermuthen
[11]
Ihm, der mich frevelnd hieß verbluten,
Noch einen Gruß des Segens zu.
Gepriesen seist du, Weltengeist,
Der mich gelehrt, was Lieben heißt!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Gedichte. Neue Gedichte. Wer nie sein Brot mit Thränen aß. Wer nie sein Brot mit Thränen aß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-678A-1