[103] Eine Mahnung

Vom dunkeln Fichtenwald umbraust
Lehnt die Ruine an dem Hügel;
Der Zahn der Zeit, des Sturmes Flügel
Sie haben tüchtig hier gehaust.
Rot glüht des Abendhimmels Feuer
Durch das gespaltne Dach herein,
Von dem geborstenen Gemäuer
Löst sich zerbröckelnd Stein um Stein.
Des Epheus grün Geflechte schlingt
Sich um die Pfeiler und Balkone
Ein Siegeszeichen, das, zum Hohne,
Natur, die ewig junge, schwingt!
Sie, die aus unerschöpfter Fülle
Stets neues kräft'ges Leben treibt,
Indeß zu Schutt und zu Gerülle
Das Werk der Menschenhand zerstäubt.
Und stille sinnend sitz' ich dort
So manchen sommerlichen Abend
Am Glück der Einsamkeit mich labend
Gestört von keinem Menschenwort,
Verkehrend nur mit den Gedanken
Die, wenn der Dämon in mir spricht,
Durch die bewegte Seele schwanken
Jetzt dunkel und jetzt wieder licht! –
[104]
So saß ich gestern erst, allein
Wie immer, in den öden Hallen
Und ließ an mir vorüberwallen
Phantast'scher Bilder bunte Reihn.
Ich fühlte sie mich überkommen,
Mich überwält'gen je und je;
Mein Herz war schwer und war beklommen
Von einem rätselhaften Weh.
Gedenken mußt' ich schwermutvoll,
In meines Geistes wachem Träumen,
Der Zeiten, wo in diesen Räumen
Der rasche Strom des Lebens schwoll!
Der längst zu Staub zerfallnen Herzen,
Die bang und freudig hier gepocht,
Von Wonnen bald und bald von Schmerzen
Von Lust und Jammer unterjocht!
Was schmeichelnd und was ungelind
Sich wechselnd in ihr Sein verwoben,
Ihr Lieben, Hassen ist zerstoben,
Dahingegangen in den Wind!
Wonach sie heißverlangend stritten
Bis zu dem letzten Kampf und Hauch,
Was sie genossen, was sie litten,
Entschwunden ist's, verweht wie Rauch!
Wie Rauch? Da sah ich an der Wand
An des Kamines spitzem Bogen
Die dunkle Spur, die hier gezogen
Des Herdes halbverglühter Brand.
Ich fuhr empor, von Grau'n durchschauert!
Erschüttert sah ich Glück und Leid
Der Menschenseele überdauert
Vom Sinnbild der Vergänglichkeit!
[105]
Ihr Toten! rief ich, tief und fest
Nun schlummernd in den Grabeshallen,
Seht hier von eurem Erdenwallen
Den letzten, einz'gen Erdenrest!
Der Rauch, der eure Hallen schwärzte,
Er zeigt sich noch der Enkel Blick, –
Von dem, was euch beglückte, schmerzte,
Blieb keine, keine Spur zurück!
O Gott! mein Gott! ist diese Welt
Des Menschen Grab wie seine Wiege?
Ist sie, auf kühner Fahrt zum Siege,
Nur deiner Kämpfer wandelnd Zelt?
Vermengt uns mit dem Staub der Erden
Ein unerbittliches Geschick?
Bleibt, weil wir ganz zum Lichte werden,
Kein Schatten hier von uns zurück? – –
Noch lange saß ich, wie gebannt,
Wie einer Geisterantwort harrend,
Mit unverwandtem Auge starrend
Auf jene Streifen an der Wand.
Dann schied ich, doch noch an der Pforte
Blickt' ich nach ihnen um; mir war's
Als läse ich die droh'nden Worte
Vom Gastmahl König Belsazars!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Gedichte. Lyrisches und Episches. Eine Mahnung. Eine Mahnung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-682A-D